World of Warcraft: Jaina Prachtmeer - Gezeiten des Krieges - Christie Golden - E-Book

World of Warcraft: Jaina Prachtmeer - Gezeiten des Krieges E-Book

Christie Golden

3,5

Beschreibung

Die Asche des Weltenbebens ruht über den so unterschiedlichen Königreichen Azeroths. Während sich die geschundene Welt langsam von den Folgen der gewaltigen Katastrophe erholt, setzt die berühmte Magierin Lady Jaina Prachtmeer alles daran, die Beziehung zwischen Allianz und Horde wieder zu verbessern. Denn unlängst haben wachsende Spannungen die beiden Fraktionen an den Rand eines neuen Krieges geführt, der den letzten Rest an Stabilität zu zerstören droht in der World of Warcraft. Düstere Nachrichten erreichen Jainas geliebtes Stadt Theramore. Eines der mächtigsten Artefakte des blauen Drachenschwarms - die Fokussierende Iris - wurde gestohlen. Um die mysteriösen Umstände der Tat zu klären, entschließt sich Jaina zu einem ungewöhnlichen Bündnis mit dem ehemaligen blauen Drachenaspekt Kalecgos. Gemeinsam wollen die beiden ruhmreichen Helden dem dreisten Diebstahl auf den Grund gehen. Doch es droht bereits weiteres Unheil am Horizont. Garrosh Höllschrei versammelt die Armeen der Horde zu einer Invasion Theramores. Ungeachtet steigender Unzufriedenheit in den eigenen Reihen, strebt der skrupellose Kriegshäuptling eine neue Ära der Herrschaft der Horde an. Seine unstillbare Gier nach Macht lässt ihn dabei zu den brutalsten Mitteln greifen, um jene mundtot zu machen, die es wagen könnten, seine Position als Anführer in Frage zu stellen. Allianztruppen sammeln sich in Theramore, um den Angriff der Horde abzuwehren. Doch sie rechnen nicht mit dem tatsächlichen Ausmaß der verschlagenen und heimtückischen Strategie des Kriegshäuptlings. Garroshs Angriff wird Jaina unwiderruflich verändern und die Friedenshüterin in eine chaotische, alles verschlingende Macht verwandeln - auch bekannt als: Gezeiten des Krieges.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 620

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,5 (2 Bewertungen)
1
0
0
1
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bereits erschienen:

WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3

WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4

WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7

WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0

WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0

WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals

Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3

WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit

Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4

WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2

WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis

Keith R.A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3

WARCRAFT Band 1: Der Tag des Drachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1266-6

WARCRAFT Band 2: Der Lord der Clans

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1337-3

WARCRAFT Band 3: Der letzte Wächter

Jeff Grubb – ISBN 978-3-8332-1338-0

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 1: Die Quelle der Ewigkeit

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1092-1

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 2: Die Dämonenseele

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1205-5

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 3: Das Erwachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1202-4

Weitere Infos und Titel unter:

www.paninicomics.de

Jaina Prachtmeer

Gezeiten des Krieges

Von Christie Golden

Ins Deutsche übertragen

von Mick Schnelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In neuer Rechtschreibung.

Amerikanische Originalausgabe: „WORLD OF WARCRAFT: Jaina Proudmoore – Tides of War“ von Christie Golden, erschienen bei Gallery Books/Simon and Schuster, Inc., August 2012.

Deutsche Übersetzung © 2012 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2012 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten. „WORLD OF WARCRAFT: Jaina Proudmoore“, WORLD OF WARCRAFT, Blizzard Entertainment sind Marken und/oder eingetragene Marken von Blizzard Entertainment, Inc. in den USA und/oder anderen Ländern.

Übersetzung: Mick Schnelle

Lektorat: Andreas Kasprzak, Gesa Grünewald

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Titelillustration von Glenn Rane/Blizzard Entertainment

Satz: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8332-2690-8

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2523-9

www.paninicomics.de

www.blizzard.de

Dieses Buch ist meinem geliebten Vater gewidmet:

James R. Golden

1920–2011

Ein wahrer Paladin ist ins Licht

hinübergegangen.

Ich liebe dich, Dad.

Denn nicht Licht ist von Nöten, sondern Feuer;

nicht sanfter Regen, sondern Donner. Wir brauchen

das Unwetter, den Sturm und das Erdbeben.

– Frederick Douglass

1. KAPITEL

Die Dämmerung stand kurz bevor, und die zumindest ansatzweise warmen Farben des Tages machten kälteren Blau- und Lilatönen Platz. Stechende, messerscharfe Schneeflocken wirbelten hoch über Kaltarra durch die Luft. Andere Wesen hätten hier gezittert und ihre Augen abgeschirmt, ihr Fell oder ihre Federn aufgeplustert oder ihre Mäntel enger um die Schultern geschlungen. Der große blaue Drache hingegen schenkte Schnee oder Wind keinerlei Beachtung, während er mit träge schlagenden Flügeln dahinglitt. Er war losgeflogen, um die scharfen Zähne der eisigen, schneegepeitschten Luft zu spüren, in der vergeblichen Hoffnung, sie möge seine Gedanken reinigen und seinen Geist beruhigen.

Obgleich noch jung – nach den Maßstäben seiner Art –, hatte Kalecgos bereits gewaltige Veränderungen innerhalb seines Volkes erlebt. Zudem war er der Auffassung, die blauen Drachen hätten schon unendlich viel ertragen müssen. Zweimal hatten sie ihren geliebten Aspekt, Malygos, verloren; erst für mehrere Jahrtausende an den Wahnsinn, dann schließlich an den Tod. Die blauen Drachen – die klügsten Wesen und Beschützer der arkanen Magie in der Welt Azeroth – waren der Schwarm, der am meisten nach Ordnung und Ruhe strebte, und es war ebenso ironisch wie tragisch, dass sie am wenigsten in der Lage zu sein schienen, mit einem solchen Chaos umzugehen.

Doch selbst inmitten dieses Umbruchs waren ihre Herzen rein geblieben, und so hatte der blaue Drachenschwarm nicht den kompromisslosen Pfad gewählt, den Malygos’ verstorbener Blutserbe, Arygos, repräsentierte, sondern den friedlicheren, lebensbejahenderen Weg, den Kalecgos ihnen gewiesen hatte. Diese Wahl hatte sich als die richtige erwiesen, denn Arygos hatte gar nicht vorgehabt, ein hingebungsvoller Verwalter des Schwarms zu sein, vielmehr hatte er sie alle betrogen. Er hatte versprochen, sein Volk dem finsteren – und ganz und gar wahnsinnigen – Drachen Todesschwinge auszuliefern, sobald es beschlossen hätte, ihm zu folgen. Stattdessen hatten sich die blauen Drachen mit den roten, grünen und bronzenen Schwärmen – und einem wahrlich einzigartigen Orc – zusammengetan, um dieses mächtige Monster zu besiegen.

Als Kalecgos nun am dunkler werdenden Himmel dahinflog und sich der Schnee lavendelfarben unter ihm tönte, musste er daran denken, dass die Schwärme durch diesen Sieg auf gewisse Weise auch sich selbst geopfert hatten. Es gab keine Aspekte mehr, auch wenn die Drachen, die dieses Amt früher innegehabt hatten, noch leben mochten. Der Kampf gegen Todesschwinge hatte ihnen alles abverlangt, und obwohl Alexstrasza, Nozdormu, Ysera und Kalecgos am Ende noch gestanden hatten, waren ihre Aspekt-Mächte doch verschwunden – aufgezehrt in jenen letzten Augenblicken der Schlacht. Die Aspekte waren nur für diesen einen Zweck erschaffen worden, und nun, da ihr Ziel erreicht war, hatten sie ihr Schicksal erfüllt.

Es gab allerdings auch noch eine andere, weniger deutliche Nebenwirkung: Die Schwärme waren sich ihrer Rolle in der Welt und ihrer Aufgaben stets völlig sicher gewesen. Aber nun, da der Moment, für den man sie erschaffen hatte, gekommen – und wieder verstrichen – war, welchen Sinn hatte ihre Existenz da noch? Viele blaue Drachen waren bereits davongeflogen; einige von ihnen hatten um seine Erlaubnis gebeten, bevor sie den Nexus verließen. Auch wenn er nicht länger die Mächte eines Aspekten besaß, war Kalecgos doch noch immer ihr Anführer. Sie hatten ihm erzählt, dass sie rastlos seien und herausfinden wollten, ob es einen anderen Ort auf dieser Welt gab, wo ihre Fähigkeiten und Talente willkommen wären. Die anderen waren einfach verschwunden – an einem Tag hier, am nächsten schon fort. Die Drachen, die noch auf Kaltarra geblieben waren, steigerten sich entweder immer mehr in eine Aufgewühltheit hinein oder ergaben sich der Niedergeschlagenheit, die sich wie eine Krankheit unter ihnen ausbreitete.

Kalecgos raste dem Boden entgegen und drehte eine Schleife, sodass die kalte Luft seine Schuppen streichelte. Dann breitete er die Flügel aus und ließ sich von einem Aufwind wieder in die Höhe tragen. Doch seine Gedanken waren noch immer grüblerisch und traurig.

So viele Jahre, selbst während Malygos’ Wahnsinn, hatten die blauen Drachen eine Aufgabe gehabt, aber die Frage, was sie in einem Augenblick wie diesem tun sollten, war nur lautlos gedacht oder leise geflüstert worden. Kalecgos konnte nicht anders, als zu überlegen, ob er seinen Schwarm vielleicht enttäuscht hatte. Wäre es ihnen unter der Führung eines wahnsinnigen Aspekts besser ergangen? Die Antwort war „Natürlich nicht“, aber dennoch … dennoch.

Er schloss die Augen, allerdings nicht wegen des nadelspitzen Schnees, sondern allein aufgrund des Schmerzes.

Mit ihren Herzen haben sie darauf vertraut, dass ich sie anführen kann, und damals, glaube ich, habe ich sie würdig geführt. Aber … jetzt? Welchen Platz haben die blauen Drachen – haben irgendwelche Drachen überhaupt – in einer Welt, in der die Stunde des Zwielichts vereitelt wurde? Steht uns nur noch eine endlose Nacht bevor?

Er fühlte sich schrecklich einsam. Was die Führerschaft des blauen Drachenschwarms betraf, so hatte er sich selbst von Anfang an für die denkbar unwahrscheinlichste Wahl gehalten. Schließlich hatte er sich nie wirklich wie ein typischer blauer Drache gefühlt. Während er nun dahinflog, mutlos und von wachsenden Zweifeln geplagt, erinnerte er sich aber, dass es zumindest eine gab, die ihn besser als alle anderen verstehen konnte. Er legte sich auf die Seite und krümmte seinen gewaltigen Körper leicht, dann schlug er mit den Flügeln und sauste in Richtung des Nexus zurück.

Er wusste, wo er sie finden konnte.

Kirygosa, Tochter von Malygos und Schwester von Arygos, saß in ihrer menschlichen Gestalt auf einer der magischen, leuchtenden Plattformen, die um den Nexus herum in der Luft schwebten. Sie trug nur ein langes, weites Kleid, und ihr blauschwarzes Haar war nicht geflochten. Mit dem Rücken hatte sie sich an einen der schimmernden silberweißen Bäume gelehnt, die einige der Plattformen schmückten. Hoch über ihr zogen blaue Drachen ihre Kreise, ganz genau so, wie sie es schon seit Jahrhunderten getan hatten, eine endlose Patrouille, auch wenn es inzwischen keine Gefahr mehr für den Schwarm zu geben schien. Kirygosa schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit, ihr Blick war trübe und ziellos, so als hätte sie sich in Gedanken verloren. Doch was es war, das ihren Geist beschäftigte, vermochte Kalecgos nicht zu sagen.

Sie drehte sich zu ihm herum, als er näherkam, und sie lächelte schmal, als sie erkannte, dass er keiner der Wächter des Nexus war. Er landete auf der Plattform und nahm seine Halbelfengestalt an, und nun wuchs ihr Lächeln in die Breite, während sie ihm eine Hand entgegenstreckte. Er küsste sie liebevoll und setzte sich dann neben Kirygosa auf den Boden, seine langen Beine ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, darum bemüht, einen gelassenen Eindruck zu machen.

„Kalec“, sagte sie liebevoll. „Was führt dich an diesen Ort der Reflexion?“

„So etwas soll das hier also sein?“

„Für mich schon. Der Nexus ist mein Zuhause, und ich möchte mich nicht zu weit davon entfernen, aber es ist gar nicht so einfach, dort drinnen einen stillen Ort zu finden, wo man allein sein kann.“ Sie wandte sich ihm zu. „Darum ziehe ich mich hierhin zurück, wenn ich nachdenken möchte. Du scheinst aus einem ganz ähnlichen Grund gekommen zu sein.“

Kalec seufzte. Seine Freundin, von der er oft wie von einer Schwester dachte, war einfach zu scharfsichtig, als dass er seine Sorgen vor ihr verbergen könnte. „Ich bin geflogen“, sagte er.

„Vor deinen Pflichten kannst du nicht davonfliegen, ebenso wenig wie vor deinen Gedanken“, erklärte Kirygosa sanft, während sie die Hand ausstreckte und seinen Arm drückte. „Du bist unser Anführer, Kalec. Und du hast uns weise geführt. Arygos hätte den Schwarm vernichtet – und die ganze Welt mit ihm.“

Kalec zog die Augenbrauen zusammen, als er an die trostlose Vision dachte, die Ysera, der frühere Aspekt der grünen Drachen, vor nicht allzu langer Zeit mit ihnen geteilt hatte. Es war die Stunde des Zwielichts gewesen – eine, in der alles Leben ausgelöscht wurde, vom Gras und den Insekten über die Orcs, Elfen, Menschen und all die anderen Geschöpfe von Land und Meer bis hin zu den mächtigen Aspekten selbst, von denen jeder durch seine eigenen, einmaligen Fähigkeiten getötet wurde. Am Ende war sogar Todesschwinge gestorben, gemeinsam mit dem Rest von Azeroth – aufgespießt wie eine groteske Trophäe auf dem Turm des Wyrmruhtempels. Kalecgos erschauderte. Selbst jetzt noch verstörte ihn die Erinnerung an Yseras melodiöse, aber gebrochene Stimme, die erklungen war, während sie den anderen diese Vision gezeigt hatte.

„Ja, das hätte er“, brummte Kalec. Diesem Teil ihrer Aussage stimmte er zu. Einem Teil ihrer Aussage stimmte er zu, aber nicht allem.

Ihre blauen Augen suchten seinen Blick. „Lieber Kalec“, sagte sie, „du warst schon immer … anders.“

Trotz seiner düsteren Stimmung flackerte kurz ein wenig Heiterkeit in ihm auf, und er verzerrte seine attraktiven Halbelfenzüge zu einer Grimasse. Kirygosa lachte. „Genau das meine ich.“

„Es ist nicht immer gut, anders zu sein“, entgegnete er.

„Aber es ist deine Natur, und weil du anders als die anderen bist, hat dich der Schwarm auserwählt.“

Sein Frohmut schmolz dahin, und als er sie ansah, war er wieder vollkommen ernst. „Aber glaubst du auch“, fragte er traurig, „dass sie mich jetzt noch immer auserwählen würden, meine liebe Kirygosa?“

Die Wahrheit auszusprechen war für Kirygosa schon immer eine der größten Tugenden gewesen. Sie erwiderte seinen Blick und suchte nach einer Antwort, die einerseits wahr, aber auch tröstlich war, doch sie schien keine finden zu können. Kalecs Herz wurde schwerer. Wenn ihm nicht einmal seine geliebte Freundin, seine Schwester im Geiste, ermutigende Worte anbieten konnte, dann hatte er mehr Grund zur Sorge, als ihm bislang klar gewesen war.

„Was ich glaube, ist …“

Er sollte nie erfahren, was sie dachte, denn in diesem Augenblick unterbrach ein plötzlicher, schrecklicher Laut ihre Unterhaltung – die verzweifelten und entsetzten Schreie der blauen Drachen. Über ein Dutzend von ihnen stob aus dem Nexus hervor und flog wild durcheinander. Einer von ihnen brach plötzlich von den anderen fort und raste gezielt auf die Plattform zu. Kalec sprang auf die Beine, während sämtliches Blut aus seinem Gesicht wich. Kiry stand neben ihm, eine Hand vor dem aufgerissenen Mund.

„Lord Kalecgos!“, schrie Narygos. „Wir sind am Ende! Alles ist verloren!“

„Was ist denn geschehen? Beruhige dich und sprich langsamer, mein Freund!“, sagte Kalec, obwohl die schiere Panik und das Grauen, das Narygos ausstrahlte, auch sein Herz schneller schlagen ließen. Der andere Drache war eigentlich nur selten aus der Ruhe zu bringen, und auch zu der Zeit, als Kalec und Arygos um das Amt des Aspekts gestritten hatten, war er einer der besonneneren und aufgeschlosseneren gewesen. Ihn so aufgewühlt zu sehen, erschreckte Kalecgos.

„Die Fokussierende Iris ist verschwunden!“

„Verschwunden? Wie meinst du das?“

„Man hat sie gestohlen!“

Kalec starrte ihn an. Ihm wurde ganz übel vor Grauen, und die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Die Fokussierende Iris war für die blauen Drachen nicht nur ein Gegenstand von ungeheurer arkaner Macht, sondern auch ein wertvoller Schatz, der sich schon länger im Besitz ihres Schwarmes befand, als sich irgendjemand erinnern konnte. Wie viele solcher Gegenstände war er an sich weder gut noch böse, aber er ließ sich sowohl für edle als auch für finstere Zwecke einsetzen – beides war in der Vergangenheit schon geschehen; so hatte man ihn benutzt, um die arkane Energie von Azeroth zu bündeln, aber ebenso, um eine schreckliche Kreatur zum Leben zu erwecken, die nie auch nur einen Atemzug hätte tun dürfen.

Der Gedanke, dass die Iris nun nicht mehr da war, sondern verschwunden, in den Händen eines anderen, der ihre Kräfte einsetzen könnte …

„Darum haben wir sie doch an einen anderen Ort gebracht“, murmelte Kalecgos. Noch keine zwei Tage war es her, da hatten er und ein paar andere vorgeschlagen, die Fokussierende Iris aus dem Auge der Ewigkeit fortzuschaffen und in einem geheimen Versteck unterzubringen – aus Angst, dass genau so etwas geschehen könnte. Er erinnerte sich noch, wie er den anderen blauen Drachen seine Begründung vorgetragen hatte: Viele unserer Geheimnisse sind bereits bekannt, und jeden Tag verlassen mehr Brüder und Schwestern den Schwarm. Einige dort draußen werden sich dadurch ermutigt sehen. Schon früher sind Fremde in den Nexus eingedrungen und haben die Fokussierende Iris für finstere Zwecke eingesetzt. Wir müssen sie bewachen … denn falls sich in einigen Teilen von Azeroth bereits herumgesprochen hat, dass sich dieses Artefakt im Nexus befindet, können wir davon ausgehen, dass es eines Tages wieder ungeschützt sein wird.

Nun war dieser Tag also gekommen, wenn auch nicht so, wie Kalec es vorausgesehen hatte. Die blauen Drachen hatten beschlossen, eine kleine Gruppe solle das Artefakt auf die Gefrorene See hinaustragen, auf dass es – wie er gehofft hatte – sicher in verzaubertem Eis eingeschlossen werde. Dort würde niemand es finden, ein Brocken gefrorenen Wassers, der in Wahrheit aber so viel mehr war.

Kalec kämpfte um seine Beherrschung. „Warum sagst du, dass sie gestohlen wurde?“ Bitte, flehte er, auch wenn er nicht wusste, an welche Macht diese Bitte gerichtet war, bitte, lass es nur ein Missverständnis sein!

„Wir haben nichts von Veragos oder den anderen gehört, und die Fokussierende Iris ist auch nicht dort, wo sie sein sollte.“

Die blauen Drachen, die im Verlauf der langen Jahrhunderte die meiste Zeit mit dem Artefakt verbracht hatten, waren besonders empfänglich für seine Aura, und Kalecgos hatte sie gebeten, der Reise der Iris mit ihren Sinnen zu folgen. Inzwischen hätte der Schatz längst gut geschützt am Grunde des Meeres liegen müssen, und diejenigen, die ihn dorthin gebracht hatten, hätten auch schon wieder zurück sein sollen. Natürlich gab es andere Erklärungen dafür, die längst nicht so düster waren. Dennoch wechselte Kalecgos sofort in seine Drachengestalt und flog schnell zum Nexus hinüber, dicht gefolgt von Kirygosa und Narygos.

Er wusste, dass diese anderen Möglichkeiten nichts als falsche Hoffnungen waren, wenn er auch nicht sagen konnte, warum er sich da so sicher war. Kalecgos leitete sein Volk erst seit ein paar Monaten, zunächst als Aspekt und nun als Anführer. Während dieser kurzen Zeit waren schon zwei der schlimmsten Katastrophen eingetreten, die dem blauen Drachenschwarm überhaupt widerfahren konnten.

Kalecgos landete im kalten, höhlenartigen Inneren des Nexus und wurde von einem vollkommenen Chaos begrüßt.

Alle schienen gleichzeitig aufeinander einzureden, und jede Faser ihrer riesigen, reptilienartigen Körper verströmte Angst und Zorn. Einige Drachen saßen indes zusammengekauert und seltsam still da, was Kalecgos noch mehr als das Geschrei alarmierte. Zugleich fiel ihm auf, wie viele Mitglieder des Schwarms schon fort sein mussten. Und die wenigen, die noch geblieben waren, wünschten sich nun ohne Zweifel, dass auch sie den Nexus verlassen hätten, bevor dieses Unheil über sie gekommen war.

Er behielt seine wahre Gestalt bei und rief den anderen zu, still zu sein, doch nur eine Handvoll gehorchte diesem Befehl, die anderen schrien weiterhin durcheinander.

„Wie konnte das nur geschehen?“

„Wir hätten mehr Drachen losschicken sollen; ich hatte doch gesagt, wir hätten mehr Drachen losschicken sollen!“

„Das war von Anfang an eine närrische Idee. Wäre die Iris hiergeblieben, wir hätten sie jede Sekunde bewachen können!“

Kalecgos donnerte seinen Schwanz auf den Boden. „Ruhe!“, brüllte er, und das Wort hallte durch den Raum.

Die Drachen verstummten abrupt, und nun richtete sich jeder Kopf auf den Anführer des Schwarms. In einigen Gesichtern sah Kalec das schwache Schimmern der Hoffnung, es werde sich hier gewiss nur um ein Missverständnis handeln, das er irgendwie aufklären könnte. Andere starrten ihn aus wütenden, missmutigen Augen an; ohne Zweifel gaben sie ihm die Schuld für das, was geschehen war.

Sobald er ihre volle Aufmerksamkeit hatte, begann Kalecgos zu sprechen. „Bevor wir uns in wilden Spekulationen ergehen, sollten wir erst einmal überlegen, was wir wirklich wissen“, erklärte er. „Der blaue Schwarm zittert nicht vor Ängsten, die allein einer fiebrigen Fantasie entstammen.“

Einige der Drachen senkten bei diesen Worten die Köpfe, während ihre Ohren beschämt nach unten sackten. Ein paar andere aber zuckten empört hoch. Um sie würde sich Kalec später kümmern. Jetzt musste er erst einmal die Fakten in Erfahrung bringen.

„Ich habe es zuerst gespürt“, sagte Teralygos. Er war einer der Ältesten des blauen Schwarms, der entschieden hatte hierzubleiben. Einst hatte er sich auf die Seite von Kalecs Rivalen Arygos gestellt, doch seitdem dieser als Verräter enttarnt und anschließend getötet worden war, hatte Teralygos gemeinsam mit den meisten anderen Kalec die Treue gehalten, auch noch, nachdem er seine Aspekt-Fähigkeiten eingebüßt hatte.

„Du bist schon seit Langem ein Wächter unseres Heimes, Teralygos; und groß ist der Dank, den wir dir alle schulden“, erwiderte Kalec, die Stimme voller Respekt. „Was hast du gespürt?“

„Der Pfad, den Veragos und die anderen nehmen sollten, war nicht der direkteste Weg“, erklärte Teralygos. Kalec nickte. Man hatte beschlossen, dass es zu riskant wäre, wenn jemand eine Gruppe von blauen Drachen zu sehen bekäme, die kerzengerade auf ihr Ziel zuflogen, noch dazu mit einem rätselhaften Gegenstand. Stattdessen war die Gruppe in Form zweibeiniger Gestalten aufgebrochen. Das ließ die Reise zwar länger und umständlicher werden, aber so würden sie wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregen, sollten feindlich gesonnene Augen sie entdecken. Falls sie tatsächlich auf dem Boden angegriffen worden waren, dann hätten sie eigentlich in Sekundenschnelle ihre menschenähnliche Gestalt ablegen und ihre wirkliche annehmen können. Fünf Drachen sollten es mit jedem aufnehmen können, der in der Ödnis lauerte und hoffte, eine kleine Karawane ausrauben zu können.

Dennoch …

„Ich kenne sämtliche Biegungen auf dieser Route“, fuhr Teralygos fort. „Ich und die anderen – Alagosa und Banagos –, wir haben jeden Schritt unserer Brüder und Schwestern verfolgt. Und bis vor ungefähr einer Stunde war noch alles in Ordnung.“

Teralygos’ Stimme klang rau vom Alter, und bei dem letzten Wort bebte sie. Kalec behielt den Blick fest auf den Drachen gerichtet, doch er spürte, wie Kirygosas Kopf in einer Geste der Unterstützung an seiner Schulter entlangstreifte.

„Was ist dann geschehen?“

„Dann sind sie stehen geblieben. Bis zu diesem Moment waren sie marschiert, ohne auch nur eine Sekunde haltzumachen. Nach einer kurzen Pause bewegte sich die Iris zwar wieder, nun aber nicht mehr nach Westen, nicht auf die Gefrorene See zu … sondern nach Südwesten, und zwar viel schneller, als Veragos und die anderen sie zuvor transportiert hatten.“

„Wo haben die Träger haltgemacht?“

„An der Küste des Meeres. Inzwischen befindet sich die Iris schon weit im Süden. Und je weiter sie sich von mir entfernt“, schloss Teralygos niedergeschlagen, „desto schwächer wird die Verbindung.“

Kalecgos blickte Kirygosa an. „Nimm ein paar Drachen mit und flieg zur Küste! Seid aber vorsichtig! Findet heraus, was dort geschehen ist!“

Sie nickte, dann wandte sie sich an Banagos und Alagossa, und einen Moment später hoben die drei schon ab und flogen mit mächtigen Flügelschlägen aus dem Nexus. Auf dem Luftweg war es nicht weit bis zum Meer; sie würden bald wieder zurückkehren.

Zumindest hoffte Kalec dies.

„Oh nein!“, wisperte Kirygosa. Sie zögerte einen Moment und verharrte dann schwebend über dem Boden, während sie versuchte, eine Bedrohung in der Nähe aufzuspüren. Doch sie konnte nichts spüren. Die Feinde waren schon lange fort; zurückgeblieben war nur, was sie hier angerichtet hatten.

Sie faltete ihre Flügel zusammen und ließ sich grazil auf den Boden fallen, dann beugte sie traurig den geschmeidigen Hals.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war diese Stelle nur ein unauffälliger, wenngleich unwirtlicher Streifen Schnee gewesen – pur, rein und in seiner Schlichtheit beruhigend. Wäre hier jemand vorbeigekommen, er hätte eine weiße Weite gesehen, unterbrochen allein vom gelegentlichen Braun oder Grau eines Felsens. Hier und da gab es auch Streifen gelblichen Sandes, die sich dem hungrigen, kalten Ozean furchtlos entgegenstreckten.

Nun hatte sich der Schnee in einen roten Matsch verwandelt, in dem ein paar gezackte schwarze Krater klafften, die aussahen, als wären Blitzschläge in den gefrorenen Boden gefahren, den der weiße Schnee einst bedeckt hatte. Felsbrocken waren vom Boden empor- oder von den Steilwänden abgerissen und in die Ferne geschleudert worden, und sogar an einigen dieser Steinblöcke klebte trocknendes Rot. Als Kirygosa und die anderen in der Luft schnüffelten, nahmen sie den kupfernen Geruch von Blut wahr, aber auch den nachwirkenden Gestank dämonischer Aktivität und das einzigartige, unbeschreibliche Odeur von einer Milliarde anderer Zauber.

Doch die Angreifer hatten auch herkömmliche Waffen verwendet; ihre scharfen Augen entdeckten Wunden in der Erde, die das Werk von Speeren waren. Einige Pfeile hatten sich bis zur Fiederung in den Boden gebohrt.

„Die niederen Rassen“, grollte Banagos. Ihr Herz schmerzte zu sehr, andernfalls hätte ihn Kirygosa für solch beleidigende Worte getadelt. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er recht hatte, auch wenn es natürlich unmöglich schien, genau zu sagen, welche Rasse für dieses Blutbad verantwortlich war oder welchem Bündnis die Angreifer angehörten.

Kirygosa verwandelte sich in ihre menschliche Gestalt, und nachdem sie sich eine Locke langen blauschwarzen Haares hinter das Ohr gestrichen hatte, näherte sie sich respektvoll den Leichen ihrer gefallenen Schwarmbrüder. Fünf von ihnen waren einmal aufgebrochen, um die Fokussierende Iris zu schützen, und fünf waren bei dem Versuch gestorben, diese Aufgabe zu erfüllen. Der sanftmütige und weise Veragos, der älter als die anderen und der Anführer der Gruppe gewesen war. Rulagos und Rulagosa, Lebensgefährten, die in menschlicher Gestalt wie Zwillinge aussahen. Die beiden waren gemeinsam gestorben, dicht nebeneinander und in derselben Haltung, ihre Hälse von Pfeilen durchbohrt – im Tod waren sie sich ebenso ähnlich gewesen wie zuvor im Leben. Tränen füllten Kirygosas Augen, als sie sich umdrehte und zu Pelagosa hinabblickte. Man konnte sie nur noch anhand ihrer zierlichen Gestalt erkennen; Pelagosa hatte schon immer zu den Kleinsten des blauen Schwarms gehört, und obwohl sie noch jung gewesen war (nach den Maßstäben der Drachen zumindest), war sie im Umgang mit dem Arkanen weit über ihr Alter hinaus erfahren gewesen. Wer auch immer sie niedergestreckt haben mochte, er musste ebenfalls mit Magie gekämpft haben, denn sie war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Lurugos hatte vermutlich die meiste Gegenwehr geleistet, lag seine Leiche doch ein Stück abseits der anderen. Versengt, steif gefroren, teilweise unter dem Wasser am Strand verborgen, gespickt mit Pfeilen, die wie Stacheln aus seinen Schultern und Beinen ragten; doch er hatte nicht aufgegeben, und Kirygosa war überzeugt, dass sein Körper sogar dann noch ein oder zwei Herzschläge weitergekämpft hatte, als man ihm mit einem präzisen Hieb einer scharfen Waffe bereits den Kopf von den Schultern gehackt hatte.

Banagos trat in seiner menschlichen Gestalt hinter sie und drückte ihre Schulter. Rasch legte sie ihre Hand auf die seine.

„Ich weiß nur wenig über die niederen Rassen“, sagte er. „Aber ich sehe hier alle möglichen Arten von Waffen und Anzeichen dafür, dass Magie benutzt wurde – dämonische ebenso wie arkane.“

„Jede Rasse könnte hierfür verantwortlich sein“, erklärte Kiry.

„Dann wären wir vielleicht gut beraten, wenn wir sie alle auslöschen“, brummte Banagos. Seine Stimme zitterte vor Trauer, und seine blauen Augen waren von nicht vergossenen Tränen rot. Er hatte die kleine Pelagosa geliebt, und sobald sie das richtige Alter erreicht hätte, wären sie zu Partnern geworden.

„Nein“, schnappte Kiry scharf. „Diesen Weg wählen nur die Gedankenlosen, Banagos, und das weißt du auch. Pelagosa hat ebenfalls daran geglaubt. Es sind nicht ›sie alle‹, die das hier getan haben, ebenso wenig, wie ›alle‹ Drachen die jüngeren Rassen zum Vergnügen angreifen und Unschuldige niedermetzeln. Wir wissen, warum unsere Brüder und Schwestern getötet wurden. Es war nicht der Hass auf unser Volk, der die Feinde antrieb. Jemand möchte die Fokussierende Iris für seine – oder ihre – eigenen Machenschaften einsetzen, nur darum geht es hier.“

„Fünf Drachen“, stöhnte Alagosa. „Fünf von uns. Fünf unserer Besten. Wer könnte stark genug sein, um sie zu überwältigen?“

„Das“, erklärte Kiry, „müssen wir eben herausfinden. Banagos, kehr zum Nexus zurück und überbring den anderen die traurige Nachricht! Alagosa und ich werden hierbleiben und … uns um die Leichen unserer Gefallenen kümmern.“

Sie hatte ihm dadurch weitere Pein ersparen wollen, aber Banagos schüttelte den Kopf. „Nein. Sie wäre meine Partnerin geworden. Ich … möchte mich selbst um sie kümmern. Und auch um die anderen. Du stehst Kalecgos am nächsten, also wird es wohl das Beste sein, wenn er es von dir erfährt, und zwar so bald wie möglich.“

„Wie du wünschst“, entgegnete Kiry sanft. Ein letztes Mal blickte sie auf die leblosen Körper der blauen Drachen hinab. Im Tod waren sie in ihrer menschlichen Gestalt gefangen, einer Gestalt, die die meisten von ihnen verabscheuten. Anschließend schlug sie die Augen traurig nieder und schnellte in den Himmel hinauf. Ihre Flügel peitschten die Luft, als sie nach einer Rolle zurück in Richtung des Nexus raste. Nun galten ihre Gedanken nicht länger den Gefallenen, sondern den Mördern. Wer mochte stark genug sein, um einen solchen Angriff erfolgreich durchzuführen? Und aus welchem Grund hatten sie die Drachen überfallen?

Sie konnte die schlimmsten Befürchtungen bezüglich der verschollenen Gruppe bestätigen, aber das war auch schon alles, was sich mit Gewissheit sagen ließ, und Kiry hoffte inständig, dass Kalec in ihrer Abwesenheit etwas Neues herausgefunden hatte.

Kalecgos wusste, dass die Fokussierende Iris mit jeder verstreichenden Sekunde weiter in Richtung Süden getragen wurde. So wurde es schwerer und schwerer, sie zu orten. Doch er hatte einen Vorteil, den seine Brüder nicht besaßen. Obwohl er nicht länger der Aspekt der blauen Drachen war, führte er sie noch immer an, und dieses Band zwischen ihm und seinem Schwarm, welches durch das Echo der Aspekt-Fähigkeiten noch verstärkt wurde, schien seine Verbindung mit der Iris zu vertiefen. Als Teralygos gesagt hatte, dass er das Artefakt kaum noch spüren konnte, hatte er die Augen geschlossen und tief eingeatmet. Nun stellte er es sich in seinem Geist bildlich vor, hatte sich ganz darauf konzentriert, bis er es fühlen konnte, und …

Und da war es. „Die Iris befindet sich jetzt in der Boreanischen Tundra, nicht wahr?“, fragte er Teralygos, die Lider noch immer zusammengekniffen.

„Ja, und jetzt …“ Die Worte endeten in einem kurzen, entsetzten Schrei. „Sie ist fort!“

„Nein, sie ist noch da“, widersprach Kalec. „Ich kann sie noch immer spüren.“

Einige der Drachen seufzten erleichtert. Da sagte eine leise Frauenstimme: „Sie wurden alle ermordet, Kalecgos. Alle fünf.“

Er öffnete die Augen und blickte Kirygosa traurig an, während sie beschrieb, was sie, Banagos und Alagosa entdeckt hatten. „Und du kannst nicht sagen, ob es Menschen, Elfen oder Goblins waren?“, fragte er, als sie fertig war. „Gab es da vielleicht ein Stück Stoff von einem Banner oder eine besondere Pfeilfiederung?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Farben, die wir fanden, machten einen willkürlichen Eindruck. Fußspuren gab es auch keine. Der Schnee war zu stark geschmolzen, und sie waren schlau genug, den weicheren Sand zu meiden und keine Blutspuren auf den Felsen zu hinterlassen. Kalecgos, alles, was wir mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass jemand gewusst hat, wo sie zu finden war. Diese Angreifer waren stark genug, um fünf Drachen abzuschlachten, bevor sie sich mit der Fokussierenden Iris davonstahlen. Wer immer sie sind, sie wussten ganz genau, was sie taten.“

Ihre Stimme wurde bei diesem letzten Satz noch ein wenig leiser. Kalec nickte ihr zu. „Vielleicht stimmt das. Aber wir wissen auch, was wir tun müssen.“ Er sprach diese Worte mit einer Überzeugung aus, die er nicht einmal ganz empfand. „Ich kann spüren, in welche Richtung sich die Iris bewegt, und ich werde ihr folgen und sie zurückbringen.“

„Du bist unser Anführer, Kalecgos“, protestierte Kirygosa. „Wir brauchen dich hier!“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das tut ihr lieber nicht“, erklärte er leise. „Ich bin euer Anführer, und genau aus diesem Grund muss ich gehen. Es wird Zeit, dass wir uns den Tatsachen stellen. Der Schwarm löst sich auf. Viele unserer Brüder und Schwestern sind bereits in die weite Welt davongeflogen. Früher einmal wussten wir, welche Rolle wir zu spielen hatten; aber jetzt fehlt uns dieser Antrieb. Und nun ist auch noch unser wertvollstes magisches Relikt, das uns nicht nur als Werkzeug dient, sondern auch als Symbol, gestohlen worden. Fünf Drachen liegen in ihrem Blut, weil sie es bewachten. Es ist meine Aufgabe, euch zu führen und zu schützen, aber ich … ich werde dieser Aufgabe nicht gerecht.“

Es schmerzte, das zuzugeben. „Ich habe versagt, in dieser Sache und vielleicht auch in anderen. Ihr braucht mich hier nicht, und ich kann nicht bei euch bleiben, mich sorgen und auf und ab gehen, während andere ausziehen, um unseren gestohlenen Schatz zurückzuholen. Diese Pflicht fällt mir zu – nur, indem ich mich ihr stelle, kann ich euch wirklich führen und schützen.“

Einige der Drachen wechselten Blicke, aber keiner von ihnen erhob Einspruch. Kalecgos hatte jedes Wort, das er ausgesprochen hatte, ernst gemeint. Doch in einem Punkt hatte er nicht die ganze Wahrheit gesagt; ja, es war seine Pflicht, die Iris zurückzuholen, aber er hatte verschwiegen, dass er auch gehen wollte. Wenn er sich unter die niederen Rassen mischte, fühlte er sich mehr zu Hause als hier im Nexus, wo er den Schwarm angeblich anführte. Er bemerkte, dass Kiry ihn anblickte. Zumindest sie schien seine tieferen Beweggründe zu erkennen – und sie billigte sie.

„Kirygosa, Tochter von Malygos“, sagte er, „stütze dich auf die Weisheit von Teralygos und den anderen und sei meine Stimme, solange ich fort bin!“

„Niemand kann deine Stimme ersetzen, mein Freund“, entgegnete sie sanftmütig, „aber ich werde mein Bestes tun. Falls jemand unsere Fokussierende Iris in dieser großen Welt wiederfinden kann, dann bist du es, denn keiner von uns kennt Azeroth besser als du.“

Mehr gab es nicht zu sagen. Schweigend katapultierte sich Kalecgos in die Luft, dann flog er in den kalten, verschneiten Tag hinaus, immer diesem schwachen, zerrenden Gefühl nach, das ihm sagte: Hier entlang, hier entlang. Kirygosa glaubte also, dass er Azeroth besser kannte als jeder andere blaue Drache. Er konnte nur hoffen, dass sie damit recht hatte.

2. KAPITEL

Baine Bluthuf blickte sich unsicher um, als er und seine kleine Gruppe die Stadt Orgrimmar betraten. Als einziges Kind von Cairne, dem zu Lebzeiten innig geliebten und nun im Tod tief betrauerten Oberhäuptling der Tauren, hatte Baine die Stellung eingenommen, die sein Vater so viele Jahre innegehabt hatte. Es war eine Verantwortung, nach der er eigentlich nie wirklich gestrebt hatte, und er war zu gleichen Teilen von Demut und Bedauern erfüllt gewesen, als er sie schließlich angenommen hatte. Das war noch gar nicht so lange her, und doch hatte sich die Welt in der kurzen Zeit, die seither vergangen war, in scheinbar jeder Hinsicht verändert.

Seine persönliche Welt war in der Nacht zerschmettert worden, als sein Vater in einem Mak’gora, einem rituellen Duell, getötet worden war. Cairne war gegen Garrosh Höllschrei angetreten, der erst vor Kurzem von Thrall zum neuen Kriegshäuptling der Horde ernannt worden war. Eigentlich hatte er vorgehabt, ehrenhaft zu kämpfen, doch jemand anders hatte etwas dagegen gehabt: Magatha Grimmtotem, eine Schamanin, die lange einen Hass gegen Cairne gehegt hatte und danach strebte, die Tauren anzuführen. Sie hatte die Klinge von Garroshs Axt Blutschrei nicht mit Salböl, sondern mit Gift bestrichen. Dieser Betrug hatte den edlen Cairne das Leben gekostet.

Garrosh hatte sich aus dem Konflikt herausgehalten, der im Anschluss an diese Ereignisse ausgebrochen war, als Magatha die Führung der Tauren unverfroren für sich in Anspruch gennommen hatte. Baine hatte die Möchtegern-Thronräuberin besiegt und sie verdammt, gemeinsam mit allen anderen, die sich weigerten, ihm loyal zu folgen. Anschließend hatte er selbst dem Kriegshäuptling der Orcs die Treue geschworen, und zwar aus zweierlei Gründen – erstens, weil sein Vater es so gewollt hätte, und zweitens, weil er wusste, dass er nur auf diese Weise sein Volk beschützen konnte.

Seitdem war Baine Bluthuf nicht mehr nach Orgrimmar gekommen. Er hatte niemals das Verlangen danach gespürt, und jetzt, da er hier war, wünschte er sich noch mehr, dass er diesem Ort für immer hätte fernbleiben können.

Doch Garrosh hatte die Anführer der verschiedenen Rassen vorgeladen, und da er Grom Höllschreis Sohn nun einmal seine Unterstützung zugesichert hatte, war Baine dieser Einladung nachgekommen, ebenso wie all die anderen auch. Sich Garroshs Wunsch zu widersetzen, hätte einen offenen Krieg bedeuten können.

Baine und sein Gefolge ritten auf ihren Kodos durch die schweren Stadttore, und mehr als einer der Tauren blickte dabei mit nervös zuckenden Ohren zu dem hoch aufragenden Gerüst und dem gewaltigen Kran empor, der über ihnen von einer Seite auf die andere schwang. Orgrimmar war nie so ländlich und idyllisch gewesen wie Donnerfels, aber nun wirkte es durch und durch martialisch. Riesige Eisenkonstruktionen, schwer und schwarz und unheilvoll, hatten die einfachen Holzhütten ersetzt, angeblich, um „einen weiteren Brand zu verhindern“, wie Garrosh gesagt hatte. Baine wusste aber, dass es Höllschrei ebenso darum ging, Erinnerungen an die alten Hochzeiten der Horde zu erwecken. Jeder sollte wissen, dass man die Orcs, und infolgedessen die gesamte Horde, ernst nehmen musste – auch nach dem Chaos des Kataklysmus und der folgenden Schreckensherrschaft von Todesschwinge. In Baines Augen drückten diese hässlichen Veränderungen aber keinesfalls Stärke aus, vielmehr stellte das „neue Orgrimmar“ für ihn ein Sinnbild der Dominanz, der Eroberung, der Unterdrückung dar. Das harte, gezackte Metall, das hier allgegenwärtig schien, war eine Bedrohung, kein Schutz. Er fühlte sich jedenfalls alles andere als sicher an diesem Ort, und er glaubte, dass es jedem anderen Wesen, das kein Orc war, ebenso ergehen musste.

Garrosh hatte sogar die Festung Grommash aus dem Tal der Weisheit, wo sie seit der Gründung der Stadt unter Thralls Herrschaft gestanden hatte, ins Tal der Stärke versetzen lassen – eine Entscheidung, die, wie Baine fand, viel über das Wesen des Kriegshäuptlings verriet. Als sich die Tauren der Festung näherten, schloss sich ihnen in ihrem roten und goldenen Ornat eine Gruppe von Blutelfen an. Lor’themar Theron, der seine lange hellblonde Mähne zu einem Haarknoten nach oben gebunden hatte und sein Kinn mit einem kleinen Streifen Bart schmückte, blickte zu Baine hinüber und nickte ihm gelassen zu. Bluthuf erwiderte die Geste.

„Baine, mein Freund!“, rief da plötzlich eine ölige, fröhliche Stimme. Baines Kopf ruckte nach rechts herum, dann nach unten. Ein verschlagen wirkender, fettbäuchiger Goblin mit einem leicht lädierten Zylinder auf dem Kopf winkte ihm gutgelaunt zu, während er auf seiner Zigarre herumkaute.

„Du musst Handelsprinz Jastor Gallywix sein“, sagte Baine.

„Der bin ich, in der Tat, der bin ich“, erwiderte der Goblin enthusiastisch und schenkte ihm ein zähnestarrendes, leicht raubtierhaftes Grinsen. „Und ich bin genauso erfreut, heute hier sein zu dürfen, wie du es sicher auch bist. Mein erster offizieller Besuch an Kriegshäuptling Garroshs Hofe!“

„Ich weiß nicht, ob ich es einen Hof nennen würde“, erwiderte Baine.

„Ah, wollen wir mal nicht so kleinlich sein. Ich bin trotzdem erfreut, ja. Wie geht es euch denn so, drüben in Mulgore?“

Baine musterte Gallywix. Es war keineswegs so, dass er prinzipiell etwas gegen Goblins hatte; um die Wahrheit zu sagen, stand er sogar tief in der Schuld von Gazlowe, dem Goblin-Herrscher über die Hafenstadt Ratschet. Als Magatha nämlich Donnerfels angegriffen hatte, hatte Gazlowe Baine seine Zeppeline, Waffen und Krieger für einen (nach Goblin-Standards) wirklich großzügigen Preis zur Verfügung gestellt. Diese Unterstützung war für Bluthuf von unschätzbarem Wert gewesen. Nein, Baine hatte nichts gegen Goblins im Allgemeinen, nur gegen dieseneinen Goblin. Falls es stimmte, was seine Kundschafter ihm erzählten, gab es aber niemanden, der Gallywix leiden konnte, nicht einmal seine eigenen Leute.

„Wir bauen unsere Hauptstadt wieder auf und treiben die Stacheleber zurück, die in unser Territorium drängen. Die Allianz hat erst vor Kurzem Camp Taurajo zerstört, und wir haben ein großes Tor errichtet, damit sie nicht weiter vordringen können.“

„Oh, tja, das tut mir leid. Und Glückwunsch!“ Gallywix lachte. „Und viel Glück mit alldem, hm?“

„Äh … danke“, sagte Baine. Trotz ihrer geringen Größe schlängelten sich die Goblins durch den Strom der anderen Horderassen, um als Erste die Festung Grommash zu betreten. Baine zuckte mit dem Ohr, dann seufzte er und stieg von seinem Kodo. Nachdem er einem wartenden Orc die Zügel in die Hand gedrückt hatte, stapfte anschließend auch er selbst durch den Eingang der Festung.

Diese Inkarnation von Grommash war, wie alles andere im „neuen“ Orgrimmar auch, weniger persönlich und dafür deutlich kriegerischer – bis hin zum Thron des Horden-Kriegshäuptlings. Unter Thralls Herrschaft waren der Schädel und die Rüstung des Dämons Mannoroth, dessen Blut einst die Orcs verdorben hatte, und der auf heldenhafte Weise von Grom Höllschrei besiegt worden war – auf einem gewaltigen Baumstumpf am Eingang der Feste ausgestellt gewesen, als Symbol seines größten Triumphes. Aber Garrosh hatte sie von dort entfernt, um seinen eigenen Thron damit zu schmücken. Was Thrall für die gesamte Horde zugänglich gemacht hatte, war durch ihn zu einem persönlichen Tribut geworden. Er trug sogar zwei Hauer des Dämons als Schulterpanzer. Jedes Mal, wenn Baine den neuen Kriegshäuptling sah, sackten seine Ohren angesichts dieses Affronts herab.

„Baine“, rief eine raue Stimme, und als sich der Taure umdrehte, stieg zum ersten Mal, seit er Donnerfels verlassen hatte, eine Woge der Freude in ihm hoch.

„Etrigg“, sagte er in freundschaftlichem Ton und umarmte den alten Orc. Es schien, als wäre dieser ehrenhafte Veteran das letzte Mitglied von Thralls ursprünglichem Beraterstab, das noch übrig geblieben war. Er hatte Thrall gut und loyal gedient, und auf seinen Wunsch hin war er in Orgrimmar geblieben, um Garrosh mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dass der neue Kriegshäuptling noch keine Intrige gesponnen hatte, um den alten Orc aus dem Weg zu räumen, ließ Baine hoffen. Ettrig war es gewesen, der als Erster das Gift an Garroshs Waffe, Blutschrei, entdeckt hatte, und ebenso war er es gewesen, der dem jungen Kriegshäuptling erklärt hatte, dass man ihn benutzt hatte, um Cairne auf unehrenhafte Weise zu ermorden. Baine hatte Ettrig schon immer respektiert, aber durch diese Tat hatte sich der Orc seine ewige Freundschaft verdient.

Baine kniff die braunen Augen zusammen, als ihm der Ausdruck auf Ettrigs Gesicht auffiel. Er versuchte, möglichst leise zu sprechen – keine leichte Aufgabe für einen Tauren – und fragte: „Ihr seid nicht glücklich über das Thema der heutigen Zusammenkunft, nicht wahr?“

Ettrig schnitt eine säuerliche Grimasse. „Das ist noch eine Untertreibung. Und ich bin nicht mal der Einzige, der so denkt.“ Er klopfte dem jungen Anführer der Tauren auf den Arm, dann trat er zurück und bedeutete Baine, sich zum traditionellen Platz seines Volkes zu begeben, links vom Thron des Kriegshäuptlings. Zumindest hatte Garrosh nicht versucht, die Tauren von ihrem Platz zu verbannen. Baine fiel aber auf, dass Lor’themar nun auf der rechten Seite des Thrones saß, und neben der rot-goldenen Pracht der Blutelfen leuchtete die grüne Haut der Goblins. Sylvanas und ihre Verlassenen hatten direkt den Orcs gegenüber Platz genommen, und Vol’jins Trolle saßen neben Baine. Die Orcs, denen die Ehre zuteilwurde, diesem Treffen beiwohnen zu dürfen – die meisten von ihnen waren Kor’kron, die traditionellen Leibwächter des Kriegshäuptlings –, standen kerzengerade in einem Kreis um die versammelten Abgesandten herum.

Baine erinnerte sich noch daran, wie ihm sein Vater von ähnlichen Treffen in Orgrimmar erzählt hatte. Damals waren solche Anlässe ebenso von Lachen, Festmählern und festlicher Atmosphäre bestimmt worden wie von Debatten und Diskussionen. Baine sah jedoch keinerlei Anzeichen, dass es heute ein Festmahl geben würde. Im Gegenteil, dachte er, und nahm einen Schluck abgestandenen Wassers aus dem Trinkschlauch, der von seinem Gürtel hing. Es war eine gute Idee gewesen, dass er und seine Leute ihr eigenes Wasser mitgebracht hatten. Andernfalls wären die Tauren inzwischen wohl schon zusammengebrochen, in dieser Stadt unter der glühenden Sonne, wo die Eisengebäude all die Hitze absorbierten.

Die Sekunden verrannen, und allmählich wurden die versammelten Anführer und ihre Begleiter unruhig. Leises Gemurmel breitete sich unter den Verlassenen aus, und Baine gewann den Eindruck, als wäre „Geduld“ eine Tugend, die nicht jeder der Untoten beherrschte, obwohl sie dieses Wort nur allzu gerne benutzten, wenn sie andere tadelten. Seine scharfen Taurenohren schnappten ein gezischtes Flüstern von Sylvanas auf, und daraufhin erstarb das Gemurmel abrupt.

Ein Orc in der Uniform der Kor’kron trat nach vorn. An einer Hand hatte er nur noch drei Finger, und eine fahle Narbe, die sich scharf von seiner dunkleren Haut abhob, beschrieb ein Zickzackmuster über sein gesamtes Gesicht, und dann bis hinunter zu seinem Hals. Rote Kriegsbemalung, die wie vergossenes Blut aussah, zierte seine Züge und Arme. Doch es waren nicht diese Eigenheiten, die Baine veranlassten, die Augen zusammenzukneifen, als er den Neuankömmling betrachtete. Es war der Farbton der rot bemalten Haut.

Dunkelgrau.

Das bedeutete zweierlei. Zum einen, dass der Orc ein Mitglied des Schwarzfelsclans war – ein Clan, der viele berüchtigte Mitglieder hervorgebracht hatte –, und zweitens, dass dieser Orc schon seit Jahren nicht mehr das Licht der Sonne gesehen hatte. Er hatte im Inneren des Berges Schwarzfels gelebt und Thralls Feinden gedient.

Namen, die sein Vater nur mit ernster Stimme ausgesprochen hatte, hallten in Baines Kopf wider: Schwarzfaust, der Zerstörer, Kriegshäuptling der Horde und geheimes Mitglied des Schattenrates, unter dessen Herrschaft die ersten Hexenmeister aufgetaucht waren, die es in seinem Volk je gegeben hatte; sein Sohn Dal’rend, genannt „Rend“, der sich jahrelang in den Tiefen der Schwarzfelsspitze verborgen hatte und Thralls Herrschaft nicht anerkennen wollte. Von all den Orcs des Schwarzfelsclans hatte Thrall nur von den wenigsten mit Respekt gesprochen. Eine Handvoll unter viel zu vielen. Dass diesem augenscheinlich kampferfahrenen Veteran die Ehre zuteil wurde, die Zeremonie zu eröffnen – sogar noch vor den Kor’kron –, verstärkte Baines Sorge über das, was da kommen mochte.

Der Veteran machte eine herrische Geste, und mehrere grünhäutige Orcs traten vor, in den Händen lange, verzierte Schimärenhörner. Mit präzisen Bewegungen hoben sie die Hörner an ihre Lippen, dann holten sie tief Luft und bliesen hinein. Ein lang gezogener, tiefer, hohler Laut dröhnte durch den Saal, und trotz der gegenwärtigen Situation spürte Baine, wie sein Geist diesem Aufruf zur Ordnung folgte. Als der Klang verhallt war, traten die Orcs in die Schatten zurück.

Der Schwarzfelsorc ergriff mit einer tiefen, rauen Stimme, die den gesamten Raum erfüllte, das Wort.

„Euer Anführer, der mächtige Garrosh Höllschrei, kommt näher! Zeigt ihm eure Ehrerbietung!“ Der Orc schlug sich mit der heilen Hand gegen die stämmige Brust und wandte sich dem Eingang zur Festung Grommash zu.

Garroshs brauner Körper war mit Tätowierungen bedeckt, und selbst auf seinem Unterkiefer waren schwarze Muster zu erkennen. Seine Brust war nackt, doch auf den Schultern trug er Mannoroths gewaltige Hauer, bedeckt mit Stacheln, und um seine Mitte lag ein Gürtel mit einem geschnitzten Totenschädel, welcher in seiner Form an den Kopf des großen Dämons erinnerte, der den Thron zierte. Als er Blutschrei, die legendäre Waffe seines Vaters, in die Höhe reckte, hallte der Saal kurz vor Jubelschreien und -rufen wider, und Garrosh stand genießerisch da und saugte es in sich auf. Dann senkte er die Axt wieder und öffnete den Mund.

„Ich heiße euch alle willkommen“, sagte er, während er die Arme in einer allumfassenden Geste ausbreitete. „Ihr seid wahre Diener der Horde. Euer Kriegshäuptling hat euch gerufen, und ihr seid gekommen.“

Wie abgerichtete Wölfe, dachte Baine. Er versuchte, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken, schaffte es aber nicht. Thrall hatte niemals so zu seinen Untertanen gesprochen.

Garrosh fuhr indes fort: „Viel ist geschehen, seit ich zum Kriegshäuptling wurde. Wir haben uns Herausforderungen und Gefahren gegenübergesehen, Feinden, die unsere Welt und unsere Lebensweise bedrohten. Und doch haben wir obsiegt. Wir sind die Horde. Wir werden niemals zulassen, dass jemand unseren Willen bricht!“

Noch einmal hob er Blutschrei, und noch einmal brachen die versammelten Orcs daraufhin in ein lautes Geheul aus. Die anderen Mitglieder der Horde stimmten in den Jubel mit ein, selbst Baine, denn hier ging es darum, ihre Unterstützung für die mächtige Horde zu zeigen, der sie alle angehörten. Zumindest in diesem Punkt hatte Garrosh recht: Wer sich ein Mitglied der Horde nannte, der würde sich von nichts und niemandem entmutigen lassen – nicht von einer zerschmetterten Welt, nicht von einem wahnsinnig gewordenen Aspekt und auch von sonst nichts.

Nicht einmal von dem Mord an einem Vater.

Garroshs Lippen um seine Hauer verzogen sich zu einem zustimmenden Lächeln, als er zu seinem Thron hinüberging, dann hob er den Arm, um Stille einzufordern. „Ihr habt mich nicht enttäuscht“, erklärte er. „Ihr seid die besten Vertreter eurer Rassen – ihre Anführer, ihre Generäle. Und genau darum habe ich euch hierhergerufen.“

Er setzte sich und bedeutete den anderen mit einem Winken, dass sie ebenfalls Platz nehmen durften. „Es gibt eine Bedrohung, die diese Welt schon viel zu lange heimsucht, und jetzt ist die Zeit gekommen, sie ohne jede Gnade auszulöschen. All die Jahre, die wir bereits im Schatten dieser Gefahr stehen, haben wir sie ignoriert, in dem Irrglauben, dass es nur eine kleine Schande wäre, sie zu tolerieren, eine Schande, die der mächtigen Horde nicht zu schaden vermag. Doch damit ist jetzt Schluss. Ich habe es schon früher gesagt, und jetzt sage ich es wieder: Jede Schande ist eine große Schande! Jede Bedrohung ist eine große Bedrohung! Und wir werden sie nicht länger dulden!“

Ein Schauder rann durch Baines Körper, und er musste an Etriggs Reaktion auf seine Frage vorhin denken. Schon, als der Befehl an die Anführer der Horde ergangen war, sich in Orgimmar zu versammeln, hatte er geahnt, was Garrosh ihnen allen sagen wollte, aber er hatte gehofft, dass er sich irrte.

Der Orc sprach weiter: „Wir müssen unser Schicksal erfüllen. Und es gibt ein Hindernis auf dem Weg zu diesem Schicksal – eines, das wir unter unseren Füßen zermalmen sollten wie das unbedeutende Insekt, das diese Gefahr in Wahrheit darstellt. Die Würmer der Allianz begnügen sich nicht länger damit, die Östlichen Königreiche in ihrem Würgegriff zu halten. Viel zu lange – denn auch nur ein Moment wäre schon zu lange! – haben sie sich in unsere Lande hineingegraben, in unser Territorium. Nach Kalimdor.“

Baine schloss einen Moment lang gequält die Augen.

„Stück für Stück stehlen sie uns unsere Bodenschätze, und ihre bloße Anwesenheit beschmutzt unsere Erde! Sie wollen uns verkrüppeln, verhindern, dass wir wachsen und uns zu den Höhen aufschwingen, von denen ich weiß – mit absoluter Sicherheit weiß –, dass wir sie erreichen können! Denn mit ganzem Herzen glaube ich, dass es nicht unser Schicksal ist, auf unseren Knien herumzurutschen und die Allianz um einen Frieden anzubetteln. Es ist unser Recht, dieses Land Kalimdor zu bewohnen und zu beherrschen. Es gehört uns, und als solches werden wir es zurückfordern!“

Garroshs Orcs brüllten zustimmend. Das heißt, zumindest die meisten, die, die bei den Kor’kron und dem Schwarzfelsorc standen. Einige andere murmelten jedoch nur leise vor sich hin. Viele Mitglieder der Horde folgten dem Beispiel der Kor’kron, wobei einige voller Überzeugung skandierten, während andere deutlich weniger Enthusiasmus an den Tag legten, wie Baine auffiel. Er selbst blieb ruhig sitzen. Ein paar seiner Tauren applaudierten und stampften mit ihren Hufen auf den Boden – ihr Volk war von den jüngsten Veränderungen nicht verschont geblieben. Die Allianz hatte sich von der Feste Nordwacht aus vorgearbeitet, angetrieben von falschen Nachrichten, wonach die Tauren einen Angriff planten, und dann hatten sie Camp Taurajo dem Erdboden gleichgemacht. Die einzigen Einwohner, die das Dorf jetzt noch aufwies, waren Plünderer. Viele Tauren waren bei dem Angriff gestorben, andere waren zur Vendettakuppe geflohen, von wo aus sie sporadische Angriffe auf die Späher der Feste Nordwacht starteten, und wieder andere hatten sich im Camp Una’fe in Sicherheit gebracht, ihrer „Zufluchtsstätte.“

Bei seiner Reaktion auf diese Aggression hatte Baine den Schwerpunkt darauf gelegt, sein Volk zu schützen. Die Straße nach Mulgore war einst offen gewesen; nun hatten sie das Große Tor, wie sie es nannten, geschlossen, um jede Möglichkeit für einen groß angelegten Vorstoß der Allianz im Keim zu ersticken. Die meisten Tauren waren damit zufrieden, dass man dieses Tor gebaut hatte; es dürstete sie nicht nach Rache. Ein paar andere wollten den Angriff nicht einfach so vergessen. Baine konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Er herrschte nicht mit eiserner Hand über sein Volk; die Tauren folgten ihm aus eigenem Willen und voller Zuneigung – und vermutlich nicht zuletzt auch aus Respekt vor seinem Vater. Dennoch waren sie ihm gegenüber offen, und jeder, der mit Baines Entscheidung nicht einverstanden war, so wie Grimmtotem, oder sich entschloss, die Allianz von der Vendettakuppe auf eigene Faust anzugreifen, wurde zwar aus Donnerfels verbannt, musste darüber hinaus aber keine Bestrafung fürchten.

Seine Gedanken richteten sich wieder auf das Hier und Jetzt, als der Jubel leiser wurde und Garrosh mit seiner Rede fortfuhr.

„Darum beabsichtige ich, die Horde auf eine Mission zu führen, die uns auf unseren rechtmäßig vorbestimmten Pfad zurückbringen wird.“ Er hielt inne und ließ seinen Blick über das Meer aus Gesichtern schweifen, um den Augenblick in die Länge zu ziehen. „Unser erstes Ziel wird die Feste Nordwacht sein. Wir werden sie bis auf die Grundmauern niederbrennen. Und nachdem wir dieses Gebiet als unser Land zurückgefordert haben, werden wir uns dem nächsten Schritt zuwenden – Theramore!“

Baine konnte sich nicht erinnern, von seinem Stuhl hochgefahren zu sein, aber plötzlich stand er auf seinen Hufen – und er war nicht der Einzige. Natürlich erfüllte Jubel die Luft, doch kurz darauf folgten protestierende Rufe.

„Kriegshäuptling! Lady Jaina ist zu mächtig!“, schrie jemand. Es klang wie einer der Verlassenen. „Sie hat sich die ganze Zeit über zurückgehalten. Doch provoziert Ihr sie jetzt, dann bedeutet das Krieg – einen Krieg, auf den wir nicht vorbereitet sind!“

„Mehr als einmal hatte sie Gelegenheit, uns durch Gewalt oder Betrug zu schwächen, doch stets hat sie sich gerecht verhalten!“, donnerte Baine. „Ihre diplomatischen Bemühungen und ihre Entscheidung, mit Kriegshäuptling Thrall zusammenzuarbeiten, haben zahllose Leben gerettet! Ohne Grund in ihr Reich einzufallen, das mehrt ganz sicher nicht die Ehre der Horde, und ein närrisches Unterfangen wäre es obendrein!“

Viele der Anwesenden murmelten zustimmend. Andere Anführer der Allianz waren ihnen verhasst, aber Lady Jaina genoss in Teilen der Horde großen Respekt. Es machte Baine Mut, als er dieses Murmeln hörte. Garroshs nächste Worte schleuderten ihn jedoch in den Sog der Verzweiflung zurück.

„Zunächst einmal“, schnappte Garrosh, „hat Thrall mir die Führung der Horde übertragen. Was auch immer er getan oder nicht getan hat, jetzt ist es bedeutungslos. Von nun an zählen allein meine Entscheidungen. Ich bin der Kriegshäuptling, dem ihr alle Treue geschworen habt, und diejenigen unter euch, die meinen Plan jetzt schon ablehnen, wissen noch nicht einmal, worum es dabei wirklich geht. Also schweigt und hört zu!“

Das Stimmengewirr verebbte, aber nicht all jene, die von ihren Stühlen aufgesprungen waren, setzten sich wieder hin.

„Ihr reagiert so, als wäre die Eroberung von Theramore das Ziel unserer Mission. Doch lasst mich euch sagen, das ist nur der Anfang! Ich spreche nicht nur von der Vernichtung der menschlichen Siedlungen in Kalimdor, sondern auch, und zwar noch vehementer, von der Vertreibung der Nachtelfen. Sollen sie doch in die Östlichen Königreiche fliehen, während wir ihre Städte zerstören und uns ihre Vorräte nehmen!“

„Sie alle vertreib’n?“, fragte Vol’jin verwirrt. „Sie leb’n schon länger hier als wir. Und wenn wir so etwas versuch’n, wird sich die Allianz auf uns stürz’n wie die Bienen auf den Honig! Ihr würdet ihnen nur den Vorwand biet’n, den sie brauch’n!“

Langsam wandte sich Garrosh zum Anführer der Dunkelspeertrolle herum, und Baine erschauderte innerlich. Vol’jin hatte nach dem Tod von Cairne zu Garroshs lautesten Kritikern gehört, und zu sagen, dass die beiden nicht viel füreinander übrig hatten, wäre eine Untertreibung gewesen. Garrosh hatte die Dunkelspeertrolle in die Elendsviertel von Orgrimmar gezwungen, und in seinem Zorn über diese Schmähung hatte Vol’jin seinen Leuten befohlen, Orgrimmar ganz zu verlassen. Heute kam der Anführer der Trolle nur noch dann in die Stadt, wenn man es ihm befahl.

„Das Hin und Her in Eschental dauert nun schon beinahe seit dem Tag an, als wir in diese Welt kamen. Es macht mich krank“, grollte Garrosh. Baine wusste, dass der Orc noch immer nicht über die letzte Niederlage hinweg war, die ihm Varian Wrynn dort beigebracht hatte. „Und was mich mit noch mehr Übelkeit erfüllt, ist unsere eigene Unfähigkeit, zu erkennen, was wir tun können und tun müssen. Die Nachtelfen behaupten, sie wären barmherzig und weise, und doch ermorden sie unsere Brüder, bloß weil sie auf der Suche nach lebensspendendem Schutz ein paar Bäume fällen! Die Nachtelfen haben lange genug hier gelebt. In Zukunft soll man sie in diesen Landen nur noch als böse Erinnerungen kennen. Die Zeit ist gekommen, da die Horde über diesen Kontinent herrscht! Also lasst uns herrschen! Aus diesem Grund ist Theramore auch so wichtig, seht ihr das denn nicht?“ Er starrte die Mitglieder der Horde an, als wären sie kleine Kinder. „Wir zermalmen Theramore, und falls die Allianz Verstärkung aus dem Süden schickt, drängen wir sie zurück. Und dann … bekommen die Nachtelfen, was sie verdienen.“

„Kriegshäuptling!“ Einer Frau gehörte diese Stimme, die zugleich melodisch und eisig klang. Sylvanas Windläufer, einstige Befehlshaberin der Windläufer der Hochelfen und nun die Anführerin der Verlassenen, erhob sich und blickte Garrosh aus hell leuchtenden Augen an. „Vielleicht schickt die Allianz wirklich keine Verstärkung. Zumindest nicht sofort. Stattdessen werden sie sich uns in den Östlichen Königreichen zuwenden und ihren Zorn an uns auslassen – an meinem Volk und den Sin’dorei.“

Beinahe flehend blickte sie zu Lor’themar hinüber, doch das Gesicht des Blutelfenführers blieb regungslos. „Varian wird gegen meine Grenzen ziehen und uns vernichten.“ Die Bemerkung galt zwar Garrosh, aber Sylvanas’ Augen blieben weiter auf Lor’themar gerichtet. Baine fühlte mit ihr; sie hoffte auf die Unterstützung von jemandem, der sie ihr nach allen Regeln der Vernunft eigentlich auch geben sollte, doch sie erhielt keine.

„Kriegshäuptling? Dürfte ich kurz mit Euch sprechen?“ Das war Ettrig, der sich mit all dem Respekt, den er seinem Herren schuldete, an Garrosh wandte.

„Ich kenne deine Meinung bereits, mein Berater“, brummte der Orc.

„Aber wir nicht“, rief Baine. „Etrigg war ein Freund meines Vaters und einer von Thralls Ratgebern. Er kennt die Allianz besser als die meisten von uns. Gewiss werdet Ihr nichts dagegen haben, wenn wir hören, was solch ein weiser Ältester zu sagen hat, oder?“

Der Blick, den ihm Garrosh daraufhin zuwarf, hätte selbst Steine zum Schmelzen gebracht. Der Taure hielt ihm jedoch mit gespielter Ruhe stand. Schließlich nickte der Häuptling Etrigg dann aber doch zu. „Sag, was du zu sagen hast!“, befahl er barsch.

„Es ist wahr, dass die Horde schon viel getan hat, um sich von dem Kataklysmus zu erholen“, begann der alte Orc. „Und das alles unter Eurer Herrschaft, Kriegshäuptling Garrosh. Ihr habt recht. Dieser Titel steht Euch rechtmäßig zu, und es ist an Euch, die Entscheidungen zu treffen. Aber ebenso tragt Ihr auch die Verantwortung. Denkt bitte eine Sekunde über die Konsequenzen nach, die diese Entscheidung haben würde!“

„Die Nachtelfen wären endlich fort, die Allianz hätte Angst, uns anzugreifen, und Kalimdor würde wieder der Horde gehören. Das wären die Konsequenzen, Ältester.“ Garrosh sprach das Wort ohne jeden Respekt aus. Tatsächlich klang es aus seinem Mund geradezu verächtlich. Baine fiel auf, dass zwei oder drei Orcs ob seines Tonfalls die Brauen zusammenzogen, bevor sie neugierig Etriggs Worten lauschten.

Der Berater schüttelte den Kopf. „Nein“, entgegnete er. „Das ist es, was Ihr hofft. Ihr hofft, Euch diesen Kontinent zu eigen machen zu können. Und vielleicht wird es Euch auch gelingen. Aber Ihr würdet dadurch einen Krieg beginnen, der Armeen in allen Ecken der Welt betreffen würde. Horde und Allianz würden sich in einem Konflikt gegenüberstehen, der Jahre andauern und unsere Ressourcen aufzehren würde. Ist denn der Preis, den wir gezahlt haben, nicht schon hoch genug?“ Die Orcs, die so aufmerksam gelauscht hatten, nickten nun. Einen von ihnen erkannte Baine als einen Ladenbesitzer hier aus Orgrimmar. Ein anderer, der zustimmend den Kopf neigte, war überraschenderweise eine der Wachen, wenn auch kein Mitglied der Kor’kron-Elite.

„Preis?“, echote eine leicht schrille Stimme. „Ich habe nicht gehört, dass Kriegshäuptling Garrosh einen Preis erwähnt hat, Etrigg, mein Freund.“ Natürlich war es Handelsprinz Gallywig. Die Spitze seines Zylinders war alles, was man von ihm sehen konnte, aber die wogte lebhaft auf und ab, während er seine Rede schwang. „Ich höre nur eines aus seinen Worten heraus: Profit für uns alle. Warum nicht expandieren und die Ressourcen unserer Feinde übernehmen, während wir sie von unserem Land vertreiben? Selbst ein Krieg kann ein gutes Geschäft sein, wenn man es nur richtig anstellt!“

Baine hatte genug. Wie dieser gierige, selbstgefällige Goblin leichtfertig Scherze über das Blut von Helden und Feinden machte, das nur der Profite wegen vergossen werden sollte, dies zwang ihn, sein besonnenes Schweigen zu brechen.

„Garrosh!“, rief er. „Es gibt keinen hier, der behaupten wird, dass ich die Horde nicht liebe. Und ebenso kann niemand bestreiten, dass ich Euren Titel ehre.“

Garrosh sagte nichts. Er hatte bestimmt nicht vergessen, dass er Baine seine Hilfe vorenthalten hatte, als sie dringend benötigt wurde, dennoch respektierte ihn der Taure nach wie vor als Kriegshäuptling. Davon abgesehen hatte Baine einmal sogar Garroshs Leben gerettet. Darum verbot er ihm nicht das Wort … zumindest noch nicht.

„Ich kenne diese Lady. Ihr nicht. Sie hat unermüdlich auf den Frieden hingearbeitet, weil sie wusste, dass wir keine Monster sind, sondern Personen – so wie jene Personen, die die Allianz bilden.“ Seine stechenden Augen glitten über die Menge hinweg, und jeder Hitzkopf, der versucht war, hochzufahren und zu protestieren, weil er Menschen, Nachtelfen, Zwerge, Draenei, Worgs und Gnome als „Personen“ bezeichnete, war schlau genug, sich auf die Zunge zu beißen, als er seinem Blick begegnete. „Sie hat mir in ihrem Haus Hilfe und Unterkunft gewährt. Sie stand mir bei, wenn nicht einmal Mitglieder der Horde dies getan hätten. Sie hat es nicht verdient, so verraten zu werden, und …“

„Baine Bluthuf!“, knurrte Garrosh, während er mit wenigen Schritten zum Oberhäuptling der Tauren hinüberstampfte. Baine überragte ihn zwar um ein ganzes Stück, doch davon ließ sich der Orc nicht einschüchtern. „Ich rate dir, hüte deine Zunge, falls du nicht das Schicksal deines Vaters teilen möchtest!“

„Ihr meint, durch Betrug zu sterben?“, schnappte Baine zurück.

Garrosh brüllte. Der Erzdruide Hamuul Runentotem trat im selben Augenblick vor wie Etrigg, und dann schob sich jemand zwischen Baine und Garrosh – der Schwarzfelsorc. Er berührte Baine nicht, aber der Taure konnte dennoch das Feuer des Hasses fühlen, das die paar Zentimeter zwischen ihnen erfüllte. Die Augen des Orcs blitzten, aber ihr eisiger Blick kühlte die Hitze seines Zornes nicht ab, sondern verstärkte sie sogar noch. Ein Schauder des Unbehagens rann durch Baines Körper. Wer war dieser Krieger?

„Malkorok“, zischte Garrosh. „Das reicht.“