Warcraft - Christie Golden - E-Book

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Christie Golden

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Beschreibung

Die friedliche Welt Azeroth sieht sich plötzlich am Rande eines verheerenden Krieges, als ihre Ländereien von bislang unbekannten und furchteinflößenden Gegnern bedroht werden. Bei den Fremden handelt es sich um Orcs, die ihrer sterbenden Heimat den Rücken gekehrt haben, um neue Lebensräume zu erobern. Als sich ein Portal öffnet, das beide Welten verbindet, prallt eine Armee, die den sicheren Untergang vor Augen hat, auf ein Heer von zu allem entschlossenen Verteidigern. Das Schicksal ganzer Völker liegt nun in den Händen zweier Helden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Beginn einer epischen Saga über Macht und Opferbereitschaft, in der der Krieg viele Gesichter hat und eine Niederlage keine Option ist …

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AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

WARCRAFT: Der offizielle Roman zum Film

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3267-1

WARCRAFT: Durotan – Die offizielle Vorgeschichte zum Film

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3266-4

WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2

WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9

WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde

Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5

WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3

WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben –Die Vorgeschichte zu Cataclysm

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4

WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7

WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0

WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0

WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals

Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3

WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit

Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4

WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2

WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis

Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3

Weitere Titel und Infos unter: www.paninibooks.de

Der offizielle Roman zum Kinofilm

Von Christie Golden

Ins Deutsche übertragenvon Andreas Kasprzak

Lektorat: Hans Linkfür Grinning Cat Productions

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: „WARCRAFT – The official Movie Novelization“ by Christie Golden published by Titan Books, a division of Titan Publishing Group Ltd., London, May 2016.

© 2016 Legendary

© 2016 Blizzard Entertainment, Inc.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak und Tobias Toneguzzo

Lektorat: Hans Link für Grinning Cat Productions

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDWCFR002E

ISBN 978-3-8332-3380-7

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3267-1

1. Auflage, Juni 2016

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Prolog

Der Thronsaal von Sturmwind badete im Mondschein. Er ließ den weißen Stein des verwaisten Herrschersitzes schimmern, als wohnte diesem ein ureigener Glanz inne, und verwandelte die goldenen Löwen zu dessen Füßen in silberne Bestien mit leeren Augenhöhlen. Kaltes, milchiges Licht brach sich in den klaren Linien der zur Schau gestellten Waffen und machte aus den Schatten in den Ecken, in die seine blassen Finger nicht reichten, Horte grundloser Finsternis. In dem magischen Dämmer hätte jemand mit lebhafter Fantasie durchaus den Eindruck gewinnen können, dass die dekorativen Rüstungen, die längs der Wände Wache standen, womöglich doch nicht leer waren.

Nur eine einzelne Lampe machte dem Mond seine uneingeschränkte Vorherrschaft streitig. Sie warf ihr warmes, rötliches Licht auf das aufmerksame Gesicht eines Jungen, der zwei geschnitzte Spielfiguren in Händen hielt. Eine war ein Soldat in einer bemalten Version jener Rüstungen, die an verschiedenen Stellen in dem stillen Saal dräuten. Die andere Figur war eine gedrungene Bestie – grün, mit Stoßzähnen und einer Axt, die beinahe anderthalb mal so groß war wie ihr hölzerner Widersacher.

Auf dem Boden lagen noch andere Soldaten und Monster. Die meisten der Spielzeugungetüme standen noch.

Die meisten der Spielzeugsoldaten hingegen waren umgeworfen.

Der Raum hellte sich auf, als die Tür geöffnet wurde. Der Junge drehte sich um, verärgert darüber, gestört zu werden, und einen Moment lang sah er die Gestalt, die eingetreten war, grimmig an, bevor er sich wieder seinem Spiel zuwandte.

„Sieh an“, sagte der Mann mit jugendfrischer Stimme. „Hier versteckst du dich also.“

Ein Prinz versteckt sich nicht, dachte der Junge. Er geht hin, wo immer er hingehen will, wenn er allein sein möchte. Mit Verstecken hat das nichts zu tun.

Der Mann trat neben ihn. Im matten Schein der Lampe war sein Haar nicht ganz so grau wie sonst, und auch die Narbe, die vom Kinn hoch zu seinem Auge verlief, wirkte nicht ganz so hässlich wie am helllichten Tage. Er blickte auf die Szene hinab, die der Junge mit seinen Figuren nachgestellt hatte. „Wie läuft die Schlacht?“

Als würde er das nicht sehen. Als würde er sich nicht daran erinnern.

Zuerst sagte der Junge nichts; stattdessen starrte er die kleinen grünen Spielfiguren nur an, ehe er schließlich mit zorniger Stimme sagte: „Jeder Orc verdient den Tod. Wenn ich König bin, mache ich’s wie Lothar und bringe sie alle um!“

„Lothar ist Soldat“, sagte der Mann, nicht unfreundlich. „Er kämpft, weil das seine Pflicht ist. Eines Tages wirst duKönig sein. Und dann ist es deine Pflicht, einen gerechten Frieden herbeizuführen. Findest du nicht, dass wir mittlerweile genug Krieg hatten?“

Der Junge antwortete nicht. Ein gerechter Frieden. Genug Krieg.

Unmöglich.

„Aber ich hasse sie!“, rief er. Seine Stimme hallte von den Wänden wider, viel zu laut in der Stille. Mit einem Mal brannten ihm Tränen in den Augen.

„Ich weiß“, sagte der Mann ruhig. Er verzichtete darauf, den Jungen für seinen Ausbruch zu tadeln, was den Prinzen ein wenig beruhigte. „Doch Krieg ist nicht die Antwort auf alles. Du musst erkennen, dass nicht alle Orcs böse sind, selbst wenn es so scheinen mag.“

Der Junge runzelte die Stirn und warf dem Mann einen skeptischen Blick zu. Khadgar war sehr weise, doch was er da sagte, war für den Jungen ganz und gar unvorstellbar.

„Weißt du“, fuhr Khadgar fort, „die Orcs stammen von einer anderen, weit entfernten Welt.“ Er hob die Hand und bewegte seine Finger. Eine rötlich orangene Kugel erschien in seiner Hand. Nun war das Interesse des Jungen geweckt, und er schaute aufmerksam zu. Er liebte es, zu sehen, wie Khadgar seine Zauber wirkte. Die Kugel drehte sich, umgeben von grüner, knisternder Energie. „Ihre Welt starb“, erklärte Khadgar. „Sie wurde von einer dunklen Magie verschlungen, die man die Teufelsseuche nannte.“ Die Augen des Prinzen weiteten sich, als der seltsame grüne Schein die braune, staubig wirkende Welt zu verschlingen schien. „Die Orcs mussten fliehen. Hätten sie das nicht getan … wären auch sie untergegangen.“

Der Prinz hatte kein Mitleid für die Orcs oder ihre sterbende Welt übrig. Seine Finger schlossen sich fester um den Spielzeugorc, den er mit einer Hand umklammert hielt. „Stattdessen sind diese grünen Monster einfach in unsere Welt eingefallen!“

„Sie waren auch nicht alle grün, als sie nach Azeroth kamen. Ich wette, dass wusstest du nicht.“

Der Prinz schwieg lieber, statt sein Unwissen einzugestehen, doch seine Neugierde war geweckt.

„Grün waren nur jene von ihnen, die mit der Fel-Magie vergiftet waren“, erklärte Khadgar. „Diese Magie hat sie verwandelt. Einst jedoch sind wir einem Orc begegnet, der sich dem verderbten Zauber widersetzte. Einem Orc, der diesen Krieg beinah verhindert hätte. Er hieß … Durotan.“

Die Kammer der Luft brauchte keine Fenster, denn wie ihr Name schon sagte, bestand sie aus Luft – und nichts weiter.

Fremde, die dieses Ortes ansichtig wurden, hätten wohl ihren Augen nicht getraut, gleichermaßen ergriffen von Furcht und Schönheit, und sich gefragt, wie der Rat der Sechs hier verweilen konnte, ohne sich um seine Sicherheit zu sorgen. Aber hier gab es keine Fremden und würde es niemals welche geben, hier in der Violetten Zitadelle der Kirin Tor.

Genau wie die Magie war auch diese Kammer allein Zauberern vorbehalten.

Der blaue Himmel und die weißen Wolken, die als Wände und Decke dienten, hoben sich von den Gold- und Purpurtönen des Steinbodens ab, den ein intarsiertes Symbol zierte – ein stilisiertes, wachsames Auge. Der Junge, der eintrat und erst in der Mitte dieses Raumes stehen blieb, fand, dass das Zeichen und das, wofür es stand, heute eine noch größere Berechtigung besaßen als je zuvor.

Der Junge war elf, von durchschnittlicher Größe, mit braunem Haar und Augen, deren Farbe von Blau zu Grün wechselte, je nachdem, wie das Licht auf sie fiel. Er trug ein weißes Gewand, und die ganze Aufmerksamkeit des gesamten Rats der Kirin Tor ruhte allein auf ihm.

Sie standen hoch über ihm auf einer ringförmigen Plattform, in violette Roben gewandet, auf die dasselbe Auge aufgestickt war, das vom Boden emporblickte. Die Sechs und die Augen, die sie trugen, schauten auf den Jungen hinab, wie er selbst vielleicht ein Insekt beäugt haben mochte. Indes, ihre brütenden Blicke machten ihm keine Angst – wenn überhaupt, weckten sie bloß seine Neugierde, und so hielt er ihrem Starren tapfer stand, ja, zog sogar fragend eine Augenbraue hoch.

Eine der Gestalten, ein großer, dürrer Mann mit einem Vollbart, der so weiß war wie die Magie, die die Wände des Turms durchströmte, suchte den Blick des Jungen und nickte beinah unmerklich. Er begann zu sprechen, und seine sonore Stimme hallte eindrucksvoll in der gewaltigen Kammer wider.

„Es gibt die These, dass jeder Stern am Himmel eine eigene Welt ist“, sagte der Erzmagier Antonidas. „Und dass es auf jeder dieser Welten vor Leben nur so wimmelt. Was sagt unser Novize zu dieser Annahme?“

Der junge Novize zu Füßen der Sechs antwortete prompt. „Keine Welt ist wie Azeroth“, entgegnete er. „Die Schönheit von Azeroth ist ebenso einmalig wie seine Lebensfreude und sein Übermaß an allem Guten.“

„Und wem kann die Obhut eines solchen Schatzes anvertraut werden?“

„Dem, der die Mächte der Magie bändigt, um die Sicherheit unserer Welt zu gewährleisten“, sagte der Novize. „Dem Wächter.“

„Ich verstehe.“ Auf Antonidas’ schmalen Lippen zeigte sich der winzigste Anflug eines Lächelns. Der Novize fragte sich, ob er sich bemühen sollte, ein bisschen demütiger zu klingen. Doch ehrlich gestanden hatte er sich dies alles schon vor einer Ewigkeit eingeprägt.

„Alle Mächte?“, fragte Antonidas.

„Nein“, entgegnete der Novize sogleich. „Die dunklen Mächte sind tabu. Die dunklen Mächte sind das Abbild der Verderbnis.“ Er merkte, dass er anfing, in einen Singsang zu verfallen, und biss sich fest auf die Lippe. Er konnte es sich nicht leisten, dass sie glaubten, er nähme dies alles nicht ernst.

„Die dunklen Mächte“, fuhr er fort – diesmal angemessen feierlich –, „kehren den, der sie nutzt, gegen seine besten Absichten.“

„Und was lernen wir daraus?“

„Dass Magie gefährlich ist und von den Händen jener ohne entsprechende Ausbildung ferngehalten werden muss. Keine andere Rasse als die Kirin Tor, ganz gleich, ob Mensch, Zwerg, Gnom oder Elf – darf Magie benutzen.“

Die Magie gehört uns allein, dachte der Novize, während er verfolgte, wie der Strom der silbrig-weißen Flüssigkeit durch die Wände und die Decke der Kammer der Luft floss. Nicht, weil wir geizig sind, sondern weil wir damit als Einzige richtig umzugehen wissen.

Er musterte Antonidas sorgsam und sah, wie sich die Schultern des Erzzauberers entspannten. Den ersten Teil der Prüfung hatte er hinter sich gebracht, ohne es zu vermasseln. Gut.

Der ältliche Zauberer lächelte ein wenig; seine Augen blickten gütig. „Wir spüren deine Macht, Medivh“, erklärte er dem Novizen. „Wir bewundern deine Konzentration und deinen Wissensdurst. Wir prüfen und erkunden deine Kräfte, so gut wir eben können, doch bedauerlicherweise kann die wichtigste aller Fragen erst beantwortet werden, wenn es bereits zu spät ist.“

Medivh versteifte sich. Zu spät? Was meinte Antonidas damit?

„Das Leben eines Wächters verlangt nach Opfern, von denen du dir jetzt noch nicht den geringsten Begriff machen kannst. Dennoch fragen wir dich schon heute, da du als Knabe vor uns stehst, ob du bereit bist, dich für alle Zeiten dieser Berufung zu verschreiben?“

Antonidas’ Augen wurden schmaler und seine Stimme härter. Jetzt kommt’s, dachte Medivh. „Bist du gewillt, dich auf jede nur erdenkliche Weise auf jenen Tag vorzubereiten, an dem du der Meister des Turms von Karazhan sein wirst?“

Medivh zögerte nicht: „Das bin ich.“

„Dann beweise dich!“

Die Kreatur wurde aus den Schatten geboren, die selbst die Lichtmagie nicht zu vertreiben vermochte. Aus einem Splitter Dunkelheit verwandelte sie sich in ein ausgewachsenes, unförmiges tintenschwarzes Ding, das über dem Jungen aufragte. Medivh ging instinktiv in Kampfposition – eine Reaktion, die ihm mit solchem Nachdruck eingedrillt worden war, dass er handelte, ohne nachzudenken. Das Monstrum öffnete sein Maul voller Zähne, die so lang waren wie Medivhs Arm, und stieß eine Reihe von Lauten aus, die dafür sorgten, dass sich dem Jungen die Eingeweide zusammenzogen. Als das Ding über ihm emporragte, erkannte er, dass es weder so etwas wie natürliche Tiefe noch klare Konturen besaß. Das ließ es nur noch furchteinflößender wirken – ein Albtraumgeschöpf mit Händen, die in rasiermesserscharfen Klauen endeten …

Keine natürliche Tiefe, keine klaren Konturen.

Die Kreatur war nicht real. Natürlich war sie nicht real! Medivh warf einen raschen Blick in die Runde und sah sofort, dass der Zauberer Finden etwas in seinen dichten, buschigen weißen Bart murmelte. Der Junge hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen.

Er hob seine Hand. Auf seiner Handfläche bildete sich eine kleine Kugel aus gleißender weißer Energie, die Medivh geradewegs nach Finden schleuderte. Die weiße Kugel flachte sich zu einem kleinen Rechteck ab, das sich mit solcher Macht um Findens Kiefer wickelte, dass der ältliche Zauberer ins Wanken geriet. Seine Gefährten hielten ihn aufrecht; die einzige Verletzung, die der Magier davontrug, galt wahrscheinlich seinem übermäßig aufgeblähten Ego.

Das Schattending verschwand. Medivh schaute zu Antonidas empor und gestattete sich den leichtesten Anflug eines Lächelns. Antonidas’ Augen tanzten, als sich ihre Blicke trafen.

„Das war zwar nicht ganz das, was ich erwartet hatte“, gab der Erzzauberer zu, „aber … wirkungsvoll.“

Der Boden unter Medivhs Füßen begann sich zu bewegen. Überrascht sprang er zurück und verfolgte, wie sich die intarsierte Pupille des Auges der Kirin Tor öffnete wie eine Iris. Medivh stand da wie gebannt, als ein Wasserschwall sprudelnd aus der Öffnung quoll, und stieß ein scharfes Keuchen aus, als ihm klar wurde, dass es sich bei dem, was er für aufgewühltes Wasser gehalten hatte, in Wahrheit um eine weiße Flamme handelte, die unfassbarerweise in der wässrigen Tiefe brannte.

Über ihm murmelte Antonidas eine Zauberformel und schwebte von dem Ring weiter oben behutsam herab, um sich lächelnd neben seinen Schüler zu stellen.

„Gib mir deine Hand, Medivh“, sagte Antonidas. Schweigend gehorchte der Junge und legte seine kleine, blasse Hand in die seines Meisters, deren Haut weiß wie Papier war. Der Erzzauberer drehte die Hand um, sodass Medivhs Handfläche nach oben wies. „Der Tag wird kommen, an dem dich der Ruf ereilt, zu dienen.“

Medivhs Blick glitt von Antonidas’ zerfurchtem, ernstem Gesicht zu der weißen Flamme und wieder zurück. „Der Schwur, den du leistest, ist mit Licht geschmiedet“, fuhr der Magier fort. Mit einer seiner Hände hielt er weiterhin Medivhs Hand umfasst, während er den weißen Ärmel des Jungen mit der anderen mit einem Geschick bis zum Ellbogen hochkrempelte, das angesichts von Antonidas’ Alter ein wenig überraschte. Behutsam drehte er Medivh so, dass der Junge dem Feuer gegenüberstand, das in den Tiefen des Wassers brannte. Medivh zuckte zusammen; das unnatürliche, aber wunderschöne weiße Feuer war heißer, als er erwartet hatte. Sein Blick fiel auf seinen ausgestreckten Arm, und er fühlte einen Knoten des Unbehagens in seiner Magengrube, einen kalten Klumpen angesichts der unvorstellbaren Hitze.

„Kein Zauberer soll dir ebenbürtig sein, und keiner dein Meister. Deine Verantwortung wird absolut sein.“

Antonidas gab Medivhs Hand frei und schob ihn vorwärts. Die Augen des Jungen weiteten sich, und sein Atem ging schneller. Was auch immer jetzt passieren würde: Er wusste, dass es ihn nicht umbringen würde. Der Rat würde ihn nicht töten.

Oder doch?

Würden sie ihn sterben lassen, wenn sie ihn in irgendeiner Hinsicht als mangelhaft befanden? Bis zu diesem Moment war ihm dieser Gedanke noch nie in den Sinn gekommen, und die Kälte in seinem Innern nahm zu, breitete sich mit jedem Schlag seines rasch klopfenden Herzens weiter aus und ließ ihn frösteln, obwohl er sein Gesicht am liebsten von der Hitze des magischen Feuers abgewandt hätte. Sein Instinkt schrie ihm zu, seine Hand zurückzureißen, doch der Druck in seinem Rücken trieb ihn erbarmungslos vorwärts. Mit staubtrockenem Mund versuchte Medivh krampfhaft zu schlucken, während sich sein Arm der flackernden weißen Flammenzunge näherte.

Plötzlich schoss die Flamme vor und schlang sich einer qualvollen Umarmung gleich um Medivhs ausgestreckten Arm. Tränen schossen ihm in die Augen, als die Flamme ihm ein Muster in die Haut sengte. Er zerbiss einen Schrei zwischen den Zähnen und zog seinen Arm zurück. Der Geruch seines eigenen verbrannten Fleisches füllte seine Nasenlöcher, als er auf die vormals makellose Haut seines Unterarms hinabstarrte.

Das noch immer rauchende Auge der Kirin Tor begegnete seinem Blick. Er war angenommen worden. Gezeichnet.

Der Schmerz nagte nach wie vor an ihm, doch seine Ehrfurcht verscheuchte ihn. Langsam hob Medivh den Blick, um die Männer und Frauen anzusehen, die nur Sekunden zuvor ihr Urteil über ihn gefällt hatten. Alle sechs hatten ihre Häupter jetzt in einer Geste der Zustimmung gesenkt … der Zustimmung – und des Respekts.

Kein Zauberer soll dir ebenbürtig sein, und keiner dein Meister.

„Wächter“, sagte Antonidas, und seine Stimme zitterte vor Stolz.

1

Die Reise war lang und anstrengend gewesen – härter, als Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, es je für möglich gehalten hätte.

Der Clan der Frostwolf-Orcs war als einer der letzten dem Ruf des Hexenmeisters Gul’dan gefolgt. Wie ihre alten Geschichten erzählten, waren die Frostwölfe früher einmal Nomaden gewesen – bis einer ihrer Häuptlinge, der dem Frostfeuergrat fast ebenso treu ergeben war wie seinem Clan, die Geister um die Erlaubnis gebeten hatte, dort bleiben zu dürfen. Sie hatten seinem Wunsch stattgegeben, und für eine Zeit, die fast so lang währte wie ihr Behüter, Väterchen Berg, war der Clan im Norden geblieben. Unabhängig, stolz und stark im Angesicht jeder Herausforderung, die sich ihm gestellt hatte.

Doch irgendwann war Väterchen Berg aufgebrochen, um flüssiges Feuer auf ihr Dorf zu ergießen, und so waren die Frostwölfe gezwungen gewesen, ihr unstetes Nomadenleben wieder aufzunehmen. Ihre Wanderschaft hatte sie von Ort zu Ort geführt, und obwohl der Clan große Not litt, hatte Gul’dan, der Hexenmeister – eine gebeugte, unheilvolle Gestalt, deren Haut in einem unnatürlichen Grün schimmerte –, sie zweimal bitten müssen, sich seiner Horde anzuschließen, bevor Durotan schließlich eingewilligt hatte. Es war ihm keine Wahl geblieben, wenn sein Volk überleben sollte.

Gul’dan war mit großen Versprechen zu den angeschlagenen Frostwölfen gekommen, und Durotan war entschlossen, den Hexenmeister beim Wort zu nehmen. Draenor, ihre Heimat ebenso wie die der Geister von Erde, Luft, Wasser, Feuer und Leben, lag im Sterben. Gul’dan jedoch behauptete, eine andere Welt zu kennen, eine Welt, in der die stolze Rasse der Orcs fette Beute jagen, ihr Maß an kaltem, klarem Wasser trinken und so leben konnte, wie es ihnen von Natur aus zugedacht war – mit Leidenschaft und Stolz. Es war ihnen nicht bestimmt, im Staub zu kriechen, ausgezehrte Opfer der Verzweiflung, während ihre ganze Welt um sie herum verdorrte und einging.

Denn genau das taten die Frostwölfe jetzt, als sie sich die letzten paar Meilen ihrer erschöpfenden Reise dahinschleppten. Einen geschlagenen Vollmond lang war sein Clan vom Norden her bis zu diesem ausgedörrten, sengend heißen Ort gezogen. Viel Wasser hatte es unterwegs nicht gegeben und noch weniger zu essen. Einige waren umgekommen, außerstande, die körperlichen Belastungen des langen Marsches zu ertragen. Durotan fragte sich, ob der Lohn die Strapazen am Ende tatsächlich wert sein würde? Er betete zu den Geistern – die ihn kaum noch hören konnten, so schwach waren sie bereits geworden –, dass dem so war.

Auf dem Marsch trug Durotan die beiden Waffen, die ihm nach dem Tod seines Vaters zugefallen waren. Eine war Donnerschlag, ein teils lederumwickelter Speer mit eingravierten Runen. Für jedes Leben, das der Speer genommen hatte, war eine Kerbe in den hölzernen Schaft geritzt. Ein Längsschnitt stand für ein getötetes Tier; ein Schnitt quer zum Schaft für einen Orc. Die meisten Kerben auf dem Schaft verliefen in Längsrichtung, aber es gab auch mehrere Querstriche.

Die andere Waffe, die einst sein Vater geführt hatte und davor Durkosh, dessen Vater, war die Axt Spalter. Durotan achtete stets darauf, dass die Schneide so scharf blieb wie an dem Tag, als sie geschmiedet worden war. Bislang war Spalter seinem Namen mehr als gerecht geworden.

Durotan ging zu Fuß und überließ es denjenen, die schwächer oder krank waren, auf den mächtigen weißen Frostwölfen zu reiten, die dem Clan nicht nur dazu, sondern auch als lebenslange Gefährten dienten. Neben ihm marschierte sein Stellvertreter, Orgrim Schicksalshammer; die gewaltige Waffe, der seine Blutlinie ihren Namen verdankte, hatte er sich auf den breiten braunen Rücken gebunden. Orgrim gehörte zu den wenigen, die Durotan fast besser kannten als er sich selbst; zu den wenigen, denen er nicht bloß sein eigenes Leben anvertraute, sondern gleichermaßen das seiner Gefährtin und seines noch ungeborenen Kindes.

Draka – Kriegerin, Gefährtin und werdende Mutter – ritt auf Eis, ihrem Wolf, neben Durotan her. Wie es sich geziemte, war sie den Großteil der Reise über neben ihm hermarschiert, bis Durotan sie schließlich darum gebeten hatte aufzusitzen. „Wenn schon nicht um deiner selbst willen oder zum Wohle des Kindes, dann für mich“, hatte er erklärt. „Es ist ziemlich ermüdend, sich ständig zu fragen, wie lange es wohl noch dauert, bis du in den Staub kippst.“

Sie hatte ihn angegrinst, wobei sich ihre Lippen über ihre kleinen Hauer wölbten und in ihren dunklen Augen jene Fröhlichkeit funkelte, die er so an ihr liebte. „Hm“, hatte sie entgegnet, „dann reite ich eben, und wenn auch bloß, weil ich Angst habe, dass dir der Blitz in den Rücken schießt, wenn du versuchst, mir aufzuhelfen.“

Anfangs war die Stimmung gut gewesen. Der Clan hatte sich einem schrecklichen Feind – dem Rotläuferclan – gestellt und ihn bezwungen, doch außerdem hatten sie erfahren, dass sie von den geschwächten Geistern keine Hilfe mehr erwarten konnten.

Durotan hatte seinem Clan versichert, dass sie für alle Zeiten Frostwölfe bleiben würden, selbst wenn sie sich mit anderen Orcs der Horde zusammenschlossen. Der Gedanke an Fleisch, Obst, Wasser und frische Luft – allesamt Dinge, die der Clan dringend brauchte – war ermutigend. Das Problem, wurde Durotan irgendwann klar, bestand darin, dass der Clan – und auch er selbst, wenn er ehrlich sein wollte – in der Überzeugung aufgebrochen war, dass ihre Schwierigkeiten bald der Vergangenheit angehören würden. Gleichwohl, die Fährnisse ihrer Reise hatten sie schon bald eines Besseren belehrt.

Ohne innezuhalten, wandte er sich so weit um, dass er den Blick über seinen Clan schweifen lassen konnte. Seine Frostwölfe marschierten nicht mit großen Schritten, sie schlurften ihres Weges; außerdem lastete eine solche Aura der Erschöpfung auf ihnen, dass ihm das Herz schwer wurde.

Als seine Gefährtin ihn flüchtig an der Schulter berührte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu. Er schenkte ihr ein gezwungenes, müdes Lächeln.

„Du siehst aus, als solltest eigentlich du reiten, nicht ich“, sagte sie sanft.

„Wir werden alle reiten können“, sagte er, „sobald wir so viel Fleisch haben, dass unsere Wölfe sich mit vollen Bäuchen neben uns ausstrecken.“

Ihr Blick glitt von ihrem eigenen Bauch zu seinem, und sie kniff neckisch die Augen zusammen. Er lachte, überrascht von ihrer Heiterkeit, beinahe überzeugt davon, dass er selbst längst vergessen hatte, wie sich das überhaupt anfühlte: Heiterkeit. Fröhlichkeit. Unbeschwertheit. Draka wusste stets, was sie tun musste, um ihn zu besänftigen, sei es durch ihr Lachen, durch ihre Liebe oder gelegentlich auch durch einen Knuff in die Seite, um ihm dabei zu helfen, seinen Kopf wieder klarzubekommen. Und ihr Kind …

Es war der wahre Grund dafür, dass sie den Frostfeuergrat verlassen hatten. Draka war die einzige schwangere Frostwölfin. Und letzten Endes hatte er einfach keine Rechtfertigung dafür gefunden, zuzulassen, dass sein Kind – überhaupt irgendein Orc-Kind – in eine Welt hineingeboren wurde, die es nicht ernähren konnte.

Durotan streckte die Hand aus, um den Bauch zu berühren, dessentwegen er sie eben noch geneckt hatte; er legte seine riesige braune Hand darauf und auf das winzige Leben, das darin wuchs. Ihm gingen die Worte durch den Sinn, die er am Vorabend ihres Aufbruchs an seinen Clan gerichtet hatte: Was auch immer die Legenden uns über die Vergangenheit berichten, was auch immer die Rituale uns vorschreiben, welche Regeln oder Gesetze oder Traditionen wir auch haben mögen – letztlich gibt es nur ein Gesetz, nur eine Tradition, gegen die niemals verstoßen werden darf. Und dieses Gesetz besagt, dass ein Häuptling alles tun muss, was für seinen Clan das Beste ist.

Er spürte einen kräftigen, raschen Druck gegen seine Handfläche und grinste erfreut, als sein Kind ihm beizupflichten schien, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Wenn unser Kind könnte, würde es bereits neben dir hermarschieren“, sagte Draka.

Bevor Durotan darauf etwas erwidern konnte, rief jemand nach ihm. „Häuptling! Da sind sie!“

Nach einer letzten Liebkosung wandte Durotan seine Aufmerksamkeit Kurvorsh zu, einem der Späher, die er vorausgeschickt hatte. Die meisten Frostwölfe hatten ihr Haar behalten, was im frostigen Norden nur vernünftig gewesen war. Kurvorsh hingegen hatte sich wie viele andere dazu entschlossen, seinen Schädel kahl zu rasieren, sobald sie nach Süden reisten, um bloß eine einzelne lange Strähne übrig zu lassen, die er zu einem Zopf geflochten hatte. Sein Wolf blieb vor Durotan stehen; die Zunge hing dem in der Hitze hechelnden Tier aus dem Maul.

Durotan warf Kurvorsh einen Wasserschlauch zu. „Trink erst etwas, und dann berichte.“ Kurvorsh nahm durstig einige große Schlucke, eher er seinem Häuptling den Schlauch zurückgab.

„Am Horizont habe ich eine Reihe von Behausungen entdeckt“, erklärte er, während er allmählich wieder zu Atem kam. „Zelte, genau wie unsere. Und so viele! Ich sah den Rauch von Dutzenden … nein, von Hunderten Herdfeuern, und sie haben Wachtürme aufgestellt, um uns kommen zu sehen.“ Er schüttelte verwundert den Kopf. „Gul’dan sprach die Wahrheit, als er sagte, dass er sämtliche Orcs von Draenor versammeln würde.“

Eine Last wich von Durotans Schultern, von der er niemals auch nur zugegeben hätte, dass er darunter litt. Nicht einmal sich selbst gegenüber hatte er die Möglichkeit eingestanden, dass sie zu spät kommen könnten, oder gar, dass diese ganze Sache mit der Zusammenkunft eine einzige riesige Übertreibung gewesen war. Dementsprechend waren Kurvorshs Worte für den erschöpften Häuptling ein größerer Trost, als der Späher ahnen konnte.

„Wie weit entfernt?“, fragte er.

„Ungefähr einen halben Sonnenlauf. Wir sollten rechtzeitig genug dort sein, um unser Nachtlager aufschlagen zu können.“

„Vielleicht haben sie etwas zu essen“, sagte Orgrim. „Irgendwas frisch Erlegtes, das auf einem Spieß brät. Grollhufe kommen nicht so weit nach Süden, oder? Wovon ernähren sich diese Südländer eigentlich?“

„Was auch immer das sein mag, ich bin sicher, dass du es verschlingen wirst, solange es frisch erlegt ist und auf einem Spieß brät, Orgrim“, sagte Durotan. „Und auch sonst“, fügte er hinzu, „würde wohl keiner von uns ein solches Mahl ausschlagen. Doch wir sollten so etwas lieber nicht von vornherein erwarten. Wir sollten überhaupt nichts erwarten.“

„Man hat uns darum gebeten, uns der Horde anzuschließen, und das haben wir getan.“ Das war Drakas Stimme, doch sie erklang neben statt über ihm. Sie war abgestiegen. „Wir tragen unsere Waffen bei uns, von Speeren über Pfeil und Bogen bis zu unseren Kriegshämmern, und wir bringen unser Jagd- und Überlebensgeschick mit. Wir kommen, um der Horde zu dienen, um allen dabei zu helfen, stark zu werden und zu essen. Wir sind Frostwölfe. Sie werden froh sein, dass wir hier sind.“

Ihre Augen blitzten, und sie hob leicht ihr Kinn. Einst, als sie noch jung und zart war, war Draka eine Verbannte gewesen. Sie war als eine der wildesten Kriegerinnen zurückgekehrt, die Durotan je kennengelernt hatte, und hatte den Frostwölfen zudem Wissen über andere Kulturen gebracht, über andere Arten, zu leben, die sich jetzt zweifellos als wertvoll erweisen würden.

„Meine Gefährtin hat recht“, sagte Durotan. Er schickte sich an, sie wieder auf den Rücken von Eis zu heben, doch sie streckte ihm die Hand entgegen: Nein.

„Sie hat recht“, stimmte Draka mit einem kleinen Lächeln zu. „Und sie wird Seite an Seite mit ihrem Häuptling und Gefährten bei dieser Zusammenkunft der Horde erscheinen.“

Durotans Blick schweifte gen Süden. So lange Zeit war der Himmel gnadenlos klar gewesen, ohne die geringste Chance auf Regen. Jetzt jedoch sah er den dunklen Schemen einer grauen Wolke. Während er die Wolke noch betrachtete, wurde die aufquellende Masse unvermittelt von innen heraus von einem Blitz erhellt, der in einem unheilvollen Grünton glomm.

Kurvorsh hatte ihre Marschgeschwindigkeit gut eingeschätzt. Als sie das Lager erreichten, stand die Sonne bereits tief am Horizont, doch auch so blieb dem Clan noch jede Menge Tageslicht, um seine Zelte zu errichten und das Abendessen vorzubereiten.

Der Klang so vieler durcheinanderredender Stimmen war Durotan fremd, und seinen Augen boten sich so viele ungewohnte Anblicke dar, dass es ihn beinah erschöpfte. Sein Blick schweifte über die großen, kreisrunden Zelte, ähnlich dem, das er sich mit Draka teilte, und verharrte dann auf einer Wiese, die abgeteilt worden war, damit dort Kinder aus verschiedenen Clans miteinander spielen konnten. Er nahm all die Gerüche und Geräusche in sich auf – Unterhaltungen, Gelächter, die raue Melodie eines Lok’vadnod, das von vielen Kehlen gemeinsam gesungen wurde, das Dröhnen der Trommeln, so vieler, dass Durotan die Erde unter seinen Füßen beben spürte. Da waren die Düfte von Lagerfeuern und Getreidekuchen, die gerade gebacken wurden, von über offenem Feuer gebratenem Fleisch und von blubbernden Eintöpfen, allesamt untermalt vom strengen, jedoch nicht unangenehmen Moschusgeruch von Wolfsfell und Orc, der ihm in der Nase kitzelte.

Kurvorsh hatte nicht übertrieben; wenn überhaupt, hatte er das Ausmaß dieses scheinbar endlosen Lagers mit seinen Unterkünften aus Fell und Holz zu bescheiden dargestellt. Durotan wusste, dass die Frostwölfe einer der kleinsten Clans waren. Für einen Moment war er von dem Anblick jedoch dermaßen überwältigt, dass er nicht zu sprechen vermochte. Es dauerte eine Weile, bis er schließlich die richtigen Worte fand.

„So viele Clans an einem Ort versammelt, Orgrim. Die Lachenden Schädel, die Schwarzfels-Orcs, der Kriegshymnenclan … Alle wurden hergerufen.“

„Das wird ein mächtiger Kriegstrupp“, sagte sein zweiter Mann. „Ich frage mich bloß, wer dann noch übrig bleibt, gegen den man kämpfen kann?“

„Frostwölfe.“

Die Stimme klang gleichgültig, fast gelangweilt, und als Durotan und Orgrim sich umdrehten, sahen sie zwei große, kräftige Orcs auf sich zumarschieren. Angesichts des Umstands, dass das Land starb und viele Orcs zu wenig zu essen hatten, waren sie ungewöhnlich groß und muskelbepackt. Im Gegensatz zu den Frostwölfen, die bloß wenige Stücke Ketten- oder Plattenpanzer trugen, sondern sich größtenteils auf den Schutz von stachelbewährtem Leder verließen, trugen diese Orcs an den Schultern und sogar auf der Brust makellose, unverbeulte, schimmernde Plattenpanzer. Sie waren mit Speeren bewaffnet und bewegten sich mit gleicher Zielstrebigkeit.

Allerdings waren es nicht ihre gesunden, muskelbepackten Körper oder ihre neuen, strahlenden Rüstungen, die Durotans Blick auf sich zogen.

Sondern vielmehr der Umstand, dass diese Orcs grün waren.

Die Grünschattierung war vergleichsweise subtil und wesentlich weniger offensichtlich als der fast laubgrüne Ton von Gul’dan, dem Anführer der Horde, der mit seiner gleichermaßen grünhäutigen Sklavin Garona nach Norden gekommen war. Diese Nuance indes war dunkler, mehr wie das typische Braun von Orc-Haut, doch der Grünstich – dieser sonderbare, unnatürliche Grünstich – war trotzdem da.

„Wer von euch ist der Häuptling?“, verlangte einer der Grünen zu wissen.

„Ich habe die Ehre, die Frostwölfe anzuführen“, grollte Durotan und trat vor. Die Orcs musterten ihn von Kopf bis Fuß, ehe ihr abschätziger Blick auf Orgrim fiel. „Ihr beide. Folgt mir. Schwarzfaust wünscht euch zu sehen.“

„Wer ist Schwarzfaust?“, wollte Durotan wissen.

Einer der grünen Orcs blieb abrupt stehen und wandte sich um. Er grinste – kein sonderlich hübscher Anblick.

„Nun, Frostwolf-Welpe“, sagte er. „Schwarzfaust ist der Anführer der Horde.“

„Du lügst!“, schnappte Durotan. „Gul’dan ist das Oberhaupt der Horde!“

„Gul’dan ist derjenige, der uns alle hergeholt hat“, sagte der zweite Orc. „Er ist derjenige, der uns den Weg in ein neues Land weisen kann. Doch er hat Schwarzfaust ausgewählt, um die Horde in die Schlacht zu führen, auf dass wir über unsere Feinde triumphieren mögen.“

Durotan und Orgrim tauschten einen Blick miteinander. Als Gul’dan mit seinem Vater Garad oder mit Durotan selbst gesprochen hatte, war von einer Schlacht um das „neue Land“ keine Rede gewesen. Er war ein Orc, ja, noch mehr als ein Orc: Er war ein Frostwolf-Häuptling. Er würde gegen jeden kämpfen, gegen den er kämpfen musste, um die Zukunft seines Volkes zu sichern. Die Zukunft seines ungeborenen Kindes. Doch dass Gul’dan es nicht für nötig gehalten hatte, diesen Umstand zu erwähnen, erfüllte ihn mit Sorge.

Er und Orgrim waren Freunde seit Kindertagen und wussten stets, was gerade im Kopf des anderen vorging. Und so hielten sie jetzt beide ihre Zunge im Zaum.

„Schwarzfaust hat Anweisungen für eure Ankunft gegeben“, erklärte der erste Orc, um mit einem spöttischen Grinsen hinzuzufügen: „Für den Fall, dass ihr tatsächlich den Mut aufbringen würdet, dem Frostfeuergrat den Rücken zu kehren.“

„Unser Zuhause ist nicht mehr“, entgegnete Durotan rundheraus. „Genauso, wie eures nicht mehr ist, welchem Clan ihr auch angehört.“

„Wir sind Schwarzfelsen“, sagte der zweite Orc mit stolzgeschwellter Brust. „Schon, bevor Gul’dan ihm den Ruhm zuteilwerden ließ, die Horde anzuführen, war Schwarzfaust unser Häuptling. Komm mit uns, Frostwolf. Lass deine Gefährtin hier. Dort, wo wir hingehen, sind bloß Krieger willkommen.“

Durotan zog die Augenbrauen zusammen, und ihm lag bereits eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, als sich Drakas trügerisch sanfte Stimme vernehmen ließ: „Geh mit Orgrim und triff dich mit Schwarzfaust, mein Liebster“, sagte sie. „Der Clan wird auf eure Rückkehr warten.“ Und sie lächelte.

Sie wusste, wann es zu kämpfen galt und wann Diplomatie gefragt war. Sie war mit jeder Faser ebenso eine Kriegerin wie er, doch ihr war klar, dass jene, die mehr nach Konfrontation strebten denn nach Nahrung für ihr Volk, sie in ihrem gegenwärtigen „Zustand“ nicht für voll nehmen würden.

„Dann such uns einen Platz zum Lagern“, trug er ihr auf. „Unterdessen spreche ich mit diesem Schwarzfaust vom Schwarzfelsclan.“

Die Wachen führten ihn und Orgrim durch das Lager. Familien mit Kindern, umringt von Kochgerät und Schlaffellen, mischten sich unter Orcs mit Narben und harten Augen, die Waffen und Rüstungen reinigten, ausbesserten und schmiedeten. Aus dem Zelt eines Schmieds drang das Klirren eines Hammers auf Metall. Andere Orcs meißelten aus Steinen Räder. Wieder andere befiederten Pfeile und schärften Messer. Alle warfen den beiden Frostwölfen flüchtige, abschätzende Blicke zu, die Durotan so deutlich spürte wie eine körperliche Berührung.

Das Geräusch von Stahl auf Stahl und der Ausruf „Lok’tar ogar!“ drang an Durotans Ohren. Sieg oder Tod. Was ging hier vor? Ohne auf seine Eskorte zu warten, näherte er sich der Quelle des Tumults und bahnte sich seinen Weg durch die versammelte Menge, bis er eine gewaltige, kreisrunde Arena erreichte, in der Orcs gegeneinander kämpften.

Gerade hechtete eine geschmeidige Orcin, die bloß mit zwei merkwürdig aussehenden Dolchen bewaffnet war, unter dem Arm eines Orcs hindurch, der einen Morgenstern schwang, und zog ihm mit ihren Klingen zwei rötlich schwarze Linien über die Rippen. Sie hatte die Chance, ihren Gegner sauber zu erledigen, doch das tat sie nicht. Durotans Blick schweifte zu einer anderen Gruppe von Orcs, diesmal vier gegen einen, und dann weiter zu einem Kampf Mann gegen Mann.

„Übungskämpfe“, sagte er zu Orgrim, und sein Körper entspannte sich ein wenig. Er runzelte die Stirn. Die braune Haut von gut einem Drittel der Orcs, die hier trainierten, hatte denselben dunklen Grünstich wie die ihrer Begleiter.

„Frostwölfe, hm?“, ertönte hinter ihnen eine dröhnende, tiefe Stimme. „Nicht unbedingt die Monster, die ich erwartet hatte.“

Die beiden drehten sich um und sahen sich einem der größten Orcs gegenüber, die Durotan je zu Gesicht bekommen hatte. Weder er noch Orgrim waren sonderlich klein – tatsächlich war Orgrim in ihrem Clan der kräftigste Orc seit mehreren Generationen –, doch zu diesem Orc hier musste sogar Durotan aufschauen. Seine Haut – von dunklem, echtem Braun ohne eine Spur von Grün – glänzte, entweder vor Schweiß oder vor Öl, und war mit Tätowierungen übersät. Seine gewaltigen Hände waren komplett schwarz vor Tinte, und in seinen Augen glomm Belustigung, als er sie musterte.

„Du wirst feststellen, dass wir unserem Ruf mehr als gerecht werden“, sagte Durotan gelassen. „Du wirst in deiner neuen Horde keine besseren Jäger finden als uns, Schwarzfaust vom Schwarzfelsclan.“

Schwarzfaust warf den Kopf zurück und lachte. „Wir brauchen keine Jäger“, sagte er. „Wir brauchen Krieger. Bist du denen ebenbürtig, die vor dir kamen, Durotan, Sohn von Garad?“

Durotan blickte zu dem blutenden Orc hinüber, der von seiner Angreiferin kalt erwischt worden war. „Besser“, sagte er, und das war die Wahrheit. „Als Gul’dan zu uns kam, um die Frostwölfe zu bitten, sich der Horde anzuschließen … zweimal … erwähnte er nichts davon, dass wir für dieses gelobte Land kämpfen müssen.“

„Ah“, sagte Schwarzfaust. „Aber wo bliebe da der Spaß, wenn uns alles so einfach in den Schoß fiele? Immerhin sind wir Orcs. Und jetzt sind wir sogar eine ganze Horde von Orcs! Und wir werden diese neue Welt erobern. Jedenfalls“, fügte er hinzu, „jene von uns, die tapfer genug sind, dafür in die Schlacht zu ziehen. Du hast doch keine Angst, oder?“

Durotan gestattete sich ein winziges Lächeln; seine Lippen um seine unteren Stoßzähne kräuselten sich. „Das Einzige, was ich fürchte, sind leere Versprechungen.“

„Kühn“, sagte Schwarzfaust beipflichtend. „Und unverblümt. Das ist gut. In meiner Armee ist kein Platz für Stiefellecker. Ihr seid gerade noch zur rechten Zeit gekommen, Frostwolf. Noch eine Sonne, und ihr wäret zu spät gewesen. Dann hätten wir euch mit den Alten und Gebrechlichen zurückgelassen.“

Durotan legte die Stirn in Falten. „Du würdest jemanden zurücklassen?“

„Anfangs ja – so hat Gul’dan es befohlen“, sagte Schwarzfaust.

Durotan dachte an seine Mutter, die Wissenshüterin Geyag, an Drek’Thar, den betagten Schamanen ihres Clans, an die Kinder … und an sein Weib, die sein Fleisch und Blut unter dem Herzen trug. „Dergleichen habe ich nie zugestimmt!“

„Falls du damit nicht einverstanden bist, wäre es mir ein großes Vergnügen, die Angelegenheit bei einem Mak’gora auszukämpfen.“

Das Mak’gora war eine uralte Tradition, die alle Orcs kannten und praktizierten. Es war ein Ehrenkampf, ein Kampf Mann gegen Mann, eine Herausforderung, die man annehmen musste. Und man focht bis zum Tod. Vor einigen Monaten hatte sich Durotan angesichts der schwindenden Zahl seines Clans geweigert, einen anderen Frostwolf zu erschlagen, den er beim Mak’gora bezwungen hatte. Schwarzfaust schienen solche Bedenken fremd zu sein.

„Gul’dan wird uns morgen bei Sonnenaufgang in unser neues Heimatland führen“, sagte Schwarzfaust. „Diese erste Welle, die ausschließlich aus Kriegern besteht, wird über unsere Feinde hereinbrechen und sie hinwegspülen. Die Besten, die die Horde aufzubieten hat. Du solltest jene aus deinem Clan mitbringen, die jung, gesund, flink und wild sind – eure besten Kämpfer.“

Durotan und Orgrim wechselten einen Seitenblick. Falls in diesem Land tatsächlich Gefahren auf die unter ihnen lauerten, die am verletzlichsten waren, war das zweifellos eine vernünftige Strategie. Das war das, was die Starken tun sollten.

„Deine Worte machen Sinn, Schwarzfaust“, erklärte er widerstrebend. „Die Frostwölfe werden sich fügen.“

„Gut“, sagte Schwarzfaust. „Ihr Frostwölfe seht vielleicht nicht aus wie Monster, doch ich würde es hassen, euch töten zu müssen, ohne zuvor zumindest die Möglichkeit gehabt zu haben, euch alle kämpfen zu sehen. Komm, ich zeige dir die ungezügelte Kampfkraft, die wir entfesseln werden, wenn wir über diese nichtsahnenden Lande herfallen.“

2

Als Orgrim und Durotan schließlich zurückkehrten, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen. Unter Drakas Aufsicht hatte der Clan inzwischen die provisorischen Reisezelte aufgeschlagen. Vor jedem davon hing ein Frostwolf-Banner mit dem Symbol des Clans – einem weißen Wolf auf blauem Grund – schlaff in der stillen, trockenen Luft. Durotan ließ seinen Blick über das beträchtliche Meer von Biwaks schweifen; nicht bloß über die der Frostwölfe, sondern ebenso über die der anderen Clans. Sie waren ebenfalls mit Fahnen geschmückt, die genauso verschlissen aussahen, wie Durotan sich fühlte.

Mit einem Mal regten sich die Banner, und eine sanfte Brise brachte den willkommenen Duft von gebratenem Fleisch mit sich. Durotan schlug seinem Begleiter auf den Rücken. „Was immer uns morgen auch erwarten mag, zumindest haben wir heute Nacht zu essen!“

„Mein Magen wird dankbar dafür sein“, entgegnete Orgrim. „Wann haben wir das letzte Mal etwas verspeist, das größer war als ein Hase?“

„Ich kann mich nicht erinnern“, sagte Durotan, und schlagartig kam die Ernüchterung. Wild war auf der Reise hierher fast noch rarer gewesen als im eisigen Norden. Sie hatten unterwegs hauptsächlich kleine Nagetiere erbeutet. Er dachte an die Talbuks, wilde, hirschähnliche und ausgesprochen wohlschmeckende Kreaturen, und an die riesigen Grollhufe – sie zu erlegen war zwar eine echte Herausforderung, doch dafür hatten sie den Clan einst anständig ernährt. Er fragte sich, was für Tiere Gul’dan wohl hier in der Wüste gefunden hatte, gelangte dann aber zu dem Schluss, dass er das eigentlich gar nicht wissen wollte.

Als sie sich dem Frostwolf-Lager näherten, schlug ihnen Gelächter entgegen. Durotan strebte mit großen Schritten voran und fand Draka, Geyah und Drek’Thar um eines der Feuer sitzend. Zusammen mit Orgrim Schicksalshammer waren diese drei so etwas wie Durotans Kreis von Ratgebern. Sie standen ihm stets mit vernünftigen Vorschlägen zur Seite, und als Durotan sich jetzt an Schwarzfausts Befehle erinnerte, regte sich Unmut in ihm. Wenn es nach dem tätowierten Orc-Hauptmann ging, würden außer Orgrim alle von ihnen zurückbleiben müssen. Andere Familien drängten sich um ähnlich kleine Feuer. Dichtbei dösten erschöpfte Kinder. Allerdings sah Durotan, dass ihre Bäuche zum ersten Mal seit Monaten rund von Essen waren, und das erfüllte ihn mit Freude.

In der Mitte des Feuers staken mehrere Spieße mit kleineren Tieren. Er warf Orgrim einen betrübten Blick zu. Wie es schien, mussten sie sich noch immer von Getier ernähren, das kaum größer war als ihre Fäuste. Doch zumindest war es Fleisch, und noch dazu frisches, sodass Durotan keinen Grund sah, sich zu beschweren.

Draka reichte ihm einen Spieß aus dem Feuer, und Durotan biss hinein. Das Fleisch war noch heiß, und er verbrannte sich den Mund, doch das scherte ihn nicht. Ihm war überhaupt nicht klar gewesen, wie lange es schon her war, seit er zuletzt frisches Fleisch gegessen hatte. Als sein gröbster Hunger schließlich gestillt war, berichtete Durotan den anderen, was Orgrim und er gesehen hatten und wie Schwarzfausts Plan aussah. Daraufhin herrschte einen Moment lang Schweigen.

„Wen wirst du mitnehmen?“, fragte Drek’Thar dann leise. Bei dieser Frage wandte Orgrim den Blick ab, doch seine Miene verriet Durotan, dass sein Freund erleichtert darüber war, dass er nicht der Häuptling und damit gezwungen war, die schlechten Neuigkeiten zu überbringen.

Durotan sagte ihnen die Namen, für die er sich auf dem Rückweg von Schwarzfaust im Stillen entschieden hatte. Draka, Geyah und Drek’Thar waren alles andere als begeistert. Durotans Ausführungen folgte von Neuem ein langes Schweigen, ehe Geyah das Wort ergriff.

„Ich werde deine Entscheidung nicht in Zweifel ziehen, mein Häuptling“, sagte sie. „Was mich betrifft, so stehe ich hinter dir. Als Drek’Thar und ich vom Geist des Lebens besucht wurden, sagte er mir, dass ich beim Clan bleiben müsse. Jetzt verstehe ich, was das bedeuten soll. Ich bin eine Schamanin, und ich kämpfe gut, aber es gibt andere, die jünger, stärker und schneller sind als ich. Ich bin die Wissenshüterin. Die Geister wachen über dich, doch sollte diese Vorhut fallen, bliebe so zumindest die Geschichte unseres Volkes lebendig.“

Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Sie klang niedergeschlagen, doch er wusste, wie sehr es sie verlangte, an der Seite ihres Sohnes zu kämpfen. „Ich danke dir. Ihr wisst, dass ich kommen werde, um euch alle zu holen, sobald es dazu sicher genug ist.“

„Auch ich habe Verständnis für diese besondere Lage“, sagte Drek’Thar mit sorgengefärbter Stimme. Er deutete auf die Stoffbinde, die er stets um den Kopf trug, um seine toten Augen zu verbergen. „Ich bin blind und alt. Ich wäre nur eine Belastung.“

„Nein“, sagte Draka mit harter Stimmer. „Mein Liebster, denk noch einmal darüber nach, Drek’Thar mitzunehmen. Er ist Schamane, und die Geister haben uns gesagt, dass sie dort sein werden, in dieser Welt, die auf uns wartet. Solange es Erde, Luft, Feuer, Wasser und Leben gibt, wirst du einen Schamanen brauchen. Und Drek’Thar ist der Beste, den wir haben. Außerdem ist er Heiler, und“, fügte sie hinzu, „seine Visionen könnten wichtig für dich sein.“

Ein Schauder lief über Durotans Haut und sorgte dafür, dass sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten. Mehr als einmal hatten Drek’Thars Visionen Leben gerettet. Einst hatte eine Warnung vom Geist des Feuers gar den ganzen Clan vor der Vernichtung bewahrt. Wie konnte er Drek’Thar da nicht mitnehmen? „Aber du wirst nicht mit uns kämpfen“, sagte er. „Bloß heilen und uns mit deinem Rat zur Seite stehen. Habe ich dein Wort darauf?“

„Wie immer, mein Häuptling. Es wird mir Ehre genug sein, dich zu begleiten.“

Durotan sah Draka an. „Ich weiß, meine Liebste, dass du kämpfen kannst, aber …“ Er brach ab und erhob sich; eine Hand glitt zum Schaft von Spalter, seiner Axt.

Der Besucher war fast so gewaltig wie Schwarzfaust. Der Feuerschein warf Schatten auf eine Gestalt, die aussah, als wäre sie aus Stein gemeißelt. Schwarzfaust hatte ihn beeindruckt, doch dieser Orc war – wenn auch vielleicht nicht ganz so groß – dafür umso muskulöser und kräftiger. Genau wie Schwarzfaust war auch er von Tätowierungen gezeichnet, aber im Gegensatz zum Hauptmann, dessen Hände tiefschwarz gefärbt waren, war es bei diesem Orc der Kiefer, der so finster war wie die Mitternacht. Sein langes schwarzes Haar war zu einem Dutt zurückgebunden, und seine Augen funkelten im Glanz des Feuers.

„Ich bin Grom Höllschrei, Häuptling des Kriegshymnenclans“, verkündete der Orc, während sein Blick über die Neuankömmlinge glitt. „Schwarzfaust sagte mir, dass die Frostwölfe zu guter Letzt doch noch eingetroffen sind.“ Er grunzte amüsiert und ließ einen Sack vor Durotans Füße fallen. „Essen“, sagte er.