World of Warcraft: Sylvanas - Roman zum Game - Christie Golden - E-Book
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World of Warcraft: Sylvanas - Roman zum Game E-Book

Christie Golden

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Beschreibung

Kaum ein Name lässt Allianz und Horde gleichermaßen aufhorchen wie der Name der berühmtberüchtigten Bansheekönigin Sylvanas Windläufer. Bestsellerautorin Christie Golden widmet sich in ihrem neuesten Roman der wohl schillerndsten Figur der jüngeren Geschichte des weltweit populären Onlinerollenspiels World of Warcraft.

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Sylvanas

Von Christie Golden

Ins Deutsche Übertragen von Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: »World of Warcraft: Sylvanas« by Christie Golden published in the US by Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York, March 2022.

Copyright © 2022 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak, Tobias Toneguzzo

Lektorat: Thomas Gießl

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Book design by Anne Metsch

Satz und E-Books: Greiner & Reichel, Köln

YDWCTP021E

ISBN 978-3-7367-9834-2

Gedruckter Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4189-5

1. Auflage, Juni 2022

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

PaniniComicsDE

Dies ist im Kern ein Buch über Familie – sei es die, in die wir hineingeboren werden, oder die, die wir finden.

Darum will ich es meiner eigenen widmen: meinem verstorbenen Vater, James R. Golden, und meiner Mutter, Elizabeth C. Golden, sowie meiner Schwester und meinem Bruder, Lizann und James R. Golden Jr. (»Chip« für uns). Ich liebe euch alle.

PROLOG

Sylvanas Windläufer blieb kurz auf der obersten Stufe stehen. In dem Runenzirkel unter ihr ging der junge König auf und ab; sie war nicht sicher, ob er als ihre Beute enden würde – oder als ihr Verbündeter. Das lag ganz in seiner Hand … und in ihrer.

Ihr werdet nicht gewinnen, hatte der junge Löwe einst trotzig gesagt, während er vor ihr kniete. Was für eine lächerliche Aussage. Man hatte Anduin Wrynn in Ketten aus dunkler Magie geschlagen, hatte ihm die schlimmsten Schmerzen zugefügt, zu denen die Schlundgebundenen nur fähig waren, und doch war er nicht gebrochen. Er hatte es sogar geschafft, an diesem Ort kalter, zerschmetterter Verzweiflung das Licht zu beschwören. Trotz allem, was er durchgemacht hatte, hatte Anduin sich den Wunsch bewahrt, zu helfen und zu heilen – selbst wenn er selbst dafür leiden musste. Dieses Streben hatte das Interesse des Kerkermeisters geweckt. Er, der über dieses Reich der Qualen herrschte. Er, mit dem Sylvanas sich verbündet hatte.

Der Kerkermeister wollte diese glänzende neue Waffe sofort einsetzen. Aber etwas regte sich in der Brust der Bansheekönigin – etwas, das sie nicht recht erklären konnte. War es vielleicht Hochmut, der den Wunsch in ihr weckte, ihren größten Feind auf ihre Seite zu ziehen?

Ihr habt gesehen, was er zu vollbringen vermag, wenn er von etwas überzeugt ist.

Ihre erste Begegnung war nicht gut verlaufen, und sie hoffte, dass sie diesmal mehr Erfolg haben würde. Der Kerkermeister hatte ihr das »bisschen Geduld« zugestanden, um das sie gebeten hatte, aber er würde nicht ewig warten.

Anduin hörte ihre Schritte und blieb stehen. Als er sich zu ihr herumdrehte, musterten seine blauen Augen ihr emotionsloses Gesicht, dann senkte er den Blick zu dem Tablett in ihren Händen.

»Ich frage mich, was das ist und wo Ihr es herhabt.«

»Glaubt Ihr, Ihr seid der einzige Sterbliche in den Schattenlanden?«

Seine Augen weiteten sich unmerklich. »Dann sind meine Freunde also noch hier. Da ist Euch wohl etwas herausgerutscht, Sylvanas.«

Sie stieg weiter die Treppe hinab. »Mitnichten. Ich sagte es doch schon: keine Geheimnisse und Lügen mehr.«

»Ich versuche, das Beste in anderen zu sehen. Aber die Hoffnung für Euch habe ich schon vor dem Krieg aufgegeben.«

Das überraschte sie, aber sie ließ es sich nicht anmerken. »Dies ist kein Ort für Hoffnungen, Kleiner Löwe. Aber es ist ein Ort der Vernunft. Ihr mögt zartbesaitet und vertrauensselig sein, aber für einen Narren halte ich Euch nicht.«

»Ich verstehe. Ihr wollt mich überreden, damit ich dem Kerkermeister helfe, den Kreislauf von Leben und Tod zu zerstören.« Er lachte leise und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin hier ganz sicher nicht der Narr.«

Sylvanas hatte die unsichtbare Abgrenzung von Anduins Gefängnis erreicht. Sie konnte den Bereich nach Belieben betreten oder verlassen, und das Tablett mit Nahrung und Wasser passierte die Barriere problemlos.

Sie wusste, dass er seit Tagen nichts mehr zu trinken gehabt hatte, und Nahrung hatte man ihm sogar noch länger vorenthalten. Doch Anduin blickte das Essen nur kurz an, bevor er seine schmalen Augen wieder ihr zuwandte.

Sylvanas rang ihre Verärgerung nieder und verkniff sich eine schneidende Bemerkung. Dann setzte sie sich – zu Anduins sichtlicher Überraschung – auf den Steinboden und zog eine Augenbraue hoch. »Esst! Ich muss nicht auf Gifte zurückgreifen. Wenn ich Euch Schaden zufügen wollte, könntet Ihr es so oder so nicht verhindern.«

»Nein.«

Na gut, dann sollte es eben so sein. Es machte nichts. Er hatte gar keine andere Wahl, als ihr zuzuhören, und sie war hergekommen, um ihm das klarzumachen.

»Ich sagte es schon einmal: Wir wollen, dass Ihr Euch uns freiwillig anschließt. Ich weiß, Ihr seid barmherzig und mitfühlend. Das ist eine Eurer Schwächen … aber auch eine Stärke. Darum werde ich Euch verraten, wie ich zur Partnerin des Kerkermeisters wurde … und warum Ihr auch einer werden solltet. Ich werde Euch Dinge erzählen, über die ich noch mit niemandem gesprochen habe.« Sie hatte nichts zu verlieren; entweder Anduin würde ihnen dienen, oder sie würden ihn benutzen. Und worauf es auch hinauslief, die Worte, die in diesen dunklen Kammern gesprochen wurden, würden nie einer sterblichen Seele zu Ohren kommen – nicht, wo der Sieg so unmittelbar bevorstand.

Anduin legte den Kopf schräg und blickte forschend zu ihr auf.

Dann setzte er sich auf, klappernd in seiner Rüstung, aber würdevoll. Fast als wollte er sie verspotten. Er griff nach dem Waser, prostete ihr zu und trank.

»Nun gut, Sylvanas Windläufer. Dann erzählt mir diese Wahrheiten, über die Ihr noch nie mit jemandem gesprochen habt. So, wie es aussieht, habe ich gerade nichts Besseres zu tun.«

I. TEIL

Mit Liebe und Mut.

Verath Windläufer

1. KAPITEL

»Ich will es auch sehen, ich will es auch sehen!«, flehte Vereesa. Die Seiten des Balkons, so weiß und gewölbt wie der Hals eines Schwans, waren zu hoch, als dass sie darüber hinwegspähen könnte, und Sylvanas seufzte. Nach einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Menge unter ihnen huschte sie zurück in ihr Zimmer, um einen Hocker zu holen. Sobald Vereesa vergnügt darauf geklettert war, richtete Sylvanas ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Szene vor ihnen.

Ihre Eltern gaben hin und wieder Empfänge – Vater meinte, es »gezieme sich«, so etwas von Zeit zu Zeit zu tun –, aber normalerweise nur im kleinen Kreis. Lord Verath Windläufer war einer der engsten Berater von König Anasterian und seine Frau Lireesa war Waldläufergeneralin von Silbermond, aber andere niedere Adelige, so wie der prahlerische Lord Saltheril, veranstalteten viel größere Feiern. Lireesa hatte einfach nichts übrig für falsche Höflichkeit und Politik, und ihr Vater, der brillant, aber zurückhaltend war, genoss seine Abende lieber bei Kerzenschein mit einem Glas Wein und einem guten Buch.

Doch heute war alles anders. Einige derer, die sich am Fuße des Turms versammelt hatten, gehörten dem Adel an, ebenso wie die Windläufer. Andere mochten zwar einfache Bürger sein, aber ihre körperlichen Fähigkeiten, ihre Wendigkeit und ihre geradezu unheimliche Zielgenauigkeit verliehen ihnen eine Art eigenen Adel. Sylvanas und ihre Schwestern waren jedenfalls dazu erzogen worden, großen Respekt, ja geradezu Ehrfurcht vor den Weltenwanderern zu haben, und bislang hatte Sylvanas nichts gesehen, was sie von der Ansicht abgebracht hätte, dass diese Elfen mehr Respekt verdient hatten als jemand, dem einfach nur ein Titel in die Wiege gelegt worden war.

Viele der Weltenwanderer hatte sie bereits bei dem ein oder anderen Anlass gesehen, aber normalerweise kamen sie nur auf Geheiß der Waldläufergeneralin, und sie hatten kaum Kontakt mit dem Rest der Familie. Lor’themar Theron erkannte Sylvanas am einfachsten. Vielleicht lag es an seinem weißen Haar, aber er war einer der wenigen Elfen, die älter aussahen, als sie tatsächlich waren, und er bewegte sich mit einer stillen, eleganten Würde, die sie auch in ihrem Vater sah. Den relativen Neuling Halduron Wolkenglanz hatte sie auch schon kennengelernt; er hatte ein fröhliches Lächeln und ungezähmtes dunkelblondes Haar, und er grüßte Sylvanas und Vereesa, wann immer sie zugegen waren. Wie Halduron war auch die zierliche Jirri noch nicht lange bei den Weltenwanderern. Ihre Aufregung und ihr Staunen angesichts des Turms deuteten darauf hin, dass sie noch sehr jung war. Waldläufer Vor’athil stach derweil mit seinem blauschwarzen Haar deutlich aus dem Meer von größtenteils goldenen und silbernen Häuptern hervor. Und abseits der Menge unterhielt sich Hauptmann Helios leise mit den Waldläufern Lethvalin und Salissa, während Waldläufer Tomathren ungeduldig darauf wartete, dass Helios sich ihm zuwandte.

Talthressar Rellian, Auric Sonnenjäger, Allerias Freundin Verana … da waren so viele. Sylvanas’ Herz raste. Das, was sich hier zutragen würde, erfüllte sie mit grenzenloser Aufregung – fast als würde sie selbst die Prüfung ablegen und nicht ihre große Schwester Alleria, die gerade schweigend neben ihrer Mutter stand.

Normalerweise war die Ähnlichkeit zwischen Mutter und ältester Tochter unverkennbar. Sie hatten die gleiche sehnige Gestalt, auch wenn Alleria auf ihren langen, schlanken Beinen noch immer ein wenig unbeholfen wirkte, so wie ein junges Fohlen; ihnen beiden fiel das Haar wie geschmolzenes Gold über den Rücken; und ihre Lippen krümmten sich auf dieselbe Weise, wenn sie lächelten. Aber jetzt war Lireesas Bauch voll und rund, und das Kind, das darin heranwuchs, würde innerhalb der nächsten Wochen seine freudige Ankunft in dieser Welt feiern. Keine der beiden Frauen lächelte; dafür war der Anlass viel zu ernst.

Sylvanas beobachtete, wie Lireesa sich zu Alleria herumdrehte und nickte, dann traten die beiden vor, und die Weltenwanderer stellten sich um Mutter und Tochter herum in einem Kreis auf.

Die Stimme der Waldläufergeneralin war kräftig und klar, daran gewöhnt, in der Hitze des Gefechts Befehle zu geben … und auch daran, dass diese Befehle ausgeführt wurden. Sie hallte weithin, als Lireesa anhob, zur Eliteeinheit der besten Waldläufer im gesamten Königreich zu sprechen.

»Als ich eine junge Frau war, bildete meine Mutter Alleria mich, das älteste Kind, aus, auf dass ich einst die Waldläufergeneralin werden möge, so wie ihre Mutter es bei ihr getan hatte. Jetzt möchte meine Tochter – benannt nach ebenjener, die mich in die Welt brachte – ihren Wert beweisen und mit der Ausbildung beginnen. Es soll kein Zweifel daran bestehen, dass Alleria und auch ich die Bedeutung und die Pflicht kennen, die mit der Position der Waldläufergeneralin einhergeht. Darum wird sie sich einer Probe unterziehen.«

Lireesa wandte sich ihrer Tochter zu, aber ihre Miene blieb unverändert hart, während sie fragte:

»Alleria Windläufer, bist du bereit, alles Nötige zu tun, um die Weltenwanderer zu führen, in Zeiten des Friedens ebenso wie in Zeiten des Krieges.«

»Das bin ich.« Allerias Stimme, die für eine so junge Person ungewöhnlich tief war, gab keinerlei Emotion preis.

»Dann stelle dich dieser Prüfung. Hör gut zu. Dein Ziel ist ein Bachtatzenluchs. Sein bekanntes Revier erstreckt sich vom Dorf Goldnebel bis zur Enklave der Weltenwanderer. Du musst ihn finden, ihn mit einem einzigen Pfeil erlegen, ihn häuten und mir seinen Pelz bringen, bevor das letzte Licht des Tages verblasst. Solltest du auch nur eine dieser Vorgaben nicht erfüllen, ist die Prüfung gescheitert.«

Die Waldläufergeneralin hielt Alleria einen Pfeil hin. »Hier. Möge er sein Ziel finden.«

Es war einer von Lireesas eigenen Pfeilen, zu erkennen an seiner einzigartigen Befiederung in den Farben Grün (was die Weltenwanderer repräsentierte), Gold (eine der Farben der Waldläufer) und einer unbemalten gold-braunen Feder, die aus einer von Lireesas legendären Schlachten stammte. Alleria zögerte nur einen Herzschlag, bevor sie den Pfeil entgegennahm.

Den meisten wäre es gar nicht aufgefallen. Aber Sylvanas kannte ihre große Schwester gut und sie runzelte leicht die Stirn. Alleria war eine junge Frau voll stiller Zuversicht; eine erstklassige Schützin und wenn nötig eine unermüdliche Spurensucherin. Einer unerfahrenen Jägerin konnten Bachtatzen gefährlich werden, ja, aber alle Windläufer-Töchter begannen mit ihrer Ausbildung, sobald sie kräftig genug waren, um die Sehne eines Kinderbogens zu spannen.

Warum also war Alleria besorgt? Vielleicht war es einfach nur Nervosität. Dies war keine gewöhnliche Jagd. Wenn sie heute scheiterte, dann nicht nur vor den Augen der Waldläufergeneralin, sondern vor der gesamten Einheit der Weltenwanderer. Das wäre schrecklich beschämend.

Alleria steckte den Pfeil in ihren leeren Köcher. Er sah einsam aus, fand Sylvanas, so ganz ohne Freunde um sich herum.

Nun reichte Lireesa Alleria ein Messer. Es war wunderschön, seine breite, scharfe Klinge so lang wie Allerias Hand, sein Griff aus Leder, umwickelt mit goldenen Fäden.

»Dies ist dein Häutemesser«, erklärte Lireesa. »Benutze es nur zum Häuten. Greife deine Beute nicht damit an. Falls doch, werde ich es sehen, wenn ich den Pelz nach deiner Rückkehr untersuche.«

Alleria nickte, nahm das Messer und steckte es in seine Scheide. Zu guter Letzt legte Lireesa noch einen kleinen Beutel in die Hände ihrer Tochter.

»Wasser, Brot und Dörrfleisch«, sagte sie. »Genug für ein einziges Mahl. Solltest du hungrig werden, steht es dir frei, Nahrung zu sammeln.«

Alleria band den Beutel an ihrem Gürtel fest.

Eine kleine, warme Hand, klebrig von Melonensaft, schob sich unter Sylvanas Finger. Selbst auf dem Hocker stehend war Vereesa nicht ganz auf Augenhöhe mit ihrer Schwester. Ihre Stirn lag in Falten, als sie fragte: »Wird Lady Sonne auch nichts passieren?«

»Natürlich nicht«, antwortete Sylvanas, wobei sie ihre Hand drückte. »Alleria hat nichts zu befürchten. Es ist nur eine Bachtatze. Vermutlich könntest sogar du sie erlegen.«

Ihre Augen leuchteten. »Glaubst du wirklich?«

»Na ja … vielleicht noch nicht jetzt. Aber schon bald.«

Strahlend richtete Vereesa ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Menge unter ihnen. Lireesa hatte ihrer ältesten Tochter die Hände auf die Schultern gelegt, aber die Berührung war fest, nicht liebevoll.

»Wenn du Erfolg hast, werden wir mit deiner Ausbildung beginnen.«

Alleria straffte die Schultern. »Bachtatze, ich benenne dich als meine Beute.« Es war ein förmlicher Ausspruch – das Weltenwanderer-Äquivalent eines Schwurs.

Lireesa trat zurück und hob im Gruß der Weltenwanderer die Faust über ihr Herz. Die anderen taten es ihr sofort gleich, und das mit so perfekter Synchronität, dass Sylvanas nur ein einziges Pochen hörte, als Hand auf Brust schlug. Alleria zog die Kapuze über ihr goldschillerndes Haar, dann wandte sie sich dem Wald zu und ging los. Der Kreis der Jäger öffnete sich, um sie durchzulassen, und es herrschte Stille, bis ihre schlanke Gestalt von den Bäumen verschluckt wurde.

Vereesa sprang von ihrem Hocker zu Sylvanas hinüber, in vollem Vertrauen darauf, dass ihre Schwester sie auffangen würde. Und Sylvanas fing sie auf. Dann, nach einer festen Umarmung, setzte sie das Mädchen ab und fuhr ihr mit der Hand durch ihr seidiges silbriges Haar.

Ein Gedanke kam der älteren Schwester und sie konnte sich ein schelmisches Lächeln nicht verkneifen. »Komm, lass uns mit den Weltenwanderern reden, während wir auf Alleria warten.«

Sie stiegen die Rampe hinab, so schnell Vereesas kurze Beine sie tragen konnten, und Sylvanas hielt weiter ihre Hand. Der Kreis der Weltenwanderer hatte sich in kleinere Gruppen aufgelöst; einige taten sich an den Speisen gütlich, die auf Tischen bereitstanden, andere unterhielten sich. Verath hatte unter dem Balkon gestanden und sich aus Höflichkeit im Hintergrund gehalten, während er die Zeremonie für seine Tochter beobachtete. Jetzt trat er vor, nahm Lireesas Hände in die seinen und drückte sie aufmunternd. Seine Frau erwiderte die Geste, dann zog sie ihre Hände mit einem Seufzen wieder zurück. Sylvanas hatte bereits bemerkt, dass sich die Waldläufergeneralin nur in der Nähe ihres Ehemanns entspannte.

Vereesa trippelte zu ihren Eltern hinüber, und Verath bückte sich, um sie hochzuheben. Sylvanas hingegen war viel mehr an den Weltenwanderern interessiert als an ihrer Familie. Sie hatte ihren Bogen am Fuß der Rampe abgelegt. Jetzt hängte sie ihn mit vorgetäuschter Gelassenheit über ihre Schulter und marschierte direkt auf Halduron, Lor’themar und Jirri zu. Die drei drehten sich herum, als sie näher kam.

»Lady Sylvanas«, sagte Lor’themar, den Kopf geneigt. Seine Augenbrauen wanderten in beeindruckter Überraschung nach oben. »Du hast den Bogen gewechselt, seit ich dich das letzte Mal sah – und du hast eine hervorragende Wahl getroffen.«

Es stimmte. Bei Lor’themars letztem Besuch im Turm hatte Sylvanas noch mit einem Kinderbogen geübt. Diesen hier hatte sie zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt bekommen – wie sie seitdem erfahren hatte, hatte Lireesa ihn bei einem der berühmten Bogner von Quel’Thalas in Auftrag gegeben. Er war aus dunklem Holz geschnitzt, auf Hochglanz poliert und mit goldenen Linien verziert, die sich zu ihrem Namen zusammenfügten.

»Er ist schön, ja«, sagte sie, um einen gleichgültigen Tonfall bemüht. »Aber viel wichtiger: Die Sehne ist geschmeidig wie Seide, und der Griff schont die Hand. Möchtet Ihr mich schießen sehen?«

»Nicht jetzt, nein«, erwiderte Lor’themar. »Ich bin sicher, dass du gut bist. Weißt du, es heißt, auch deine Mutter zeigte schon in frühen Jahren Talent. Viele hier waren bei der Schlacht der Sieben Pfeile dabei und sie sprechen noch immer voller Bewunderung von ihrer Zielgenauigkeit an jenem Tag.« In seinen Augen lag keine Heldenverehrung – dafür war Lor’themar viel zu bodenständig –, aber er blickte doch einen Moment lang mit größtem Respekt zu Lireesa hinüber, bevor er sich wieder Sylvanas zuwandte. »Du hast ihre ruhige Hand geerbt«, sagte er mit einem schmalen Lächeln, »und ich bin sicher, dass du irgendwann eine ebenso gute Schützin abgeben wirst.«

Die Schlacht der Sieben Pfeile – das war eine wundervolle Geschichte, und umso besser, weil sie der Wahrheit entsprach. Aber Sylvanas hatte sie schon so oft gehört, dass sie jegliche Bedeutung für sie verloren hatte.

»Also«, erklärte sie, während sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen, »ich bin sicher, wenn ich den Weltenwanderern beitrete, wird man über mich auch Geschichten erzählen.«

Lor’themar beugte höflich den Kopf, aber Halduron musste ein Lächeln unterdrücken. »Das ist aber noch eine ganze Weile hin.«

»So lang ist das gar nicht«, protestierte Sylvanas. »Ihr seid selbst alles andere als alt.«

Vor’athil versuchte, sein Schmunzeln zu verbergen. »Da hat sie recht«, sagte Lor’themar. »Sylvanas, wir warten alle auf Alleria. Niemand wird gehen, bevor sie zurückkehrt.«

Warum nicht?, wunderte sich Sylvanas. Alleria musste mehrere Aufgaben erfüllen, die zweifelsohne mehrere Stunden in Anspruch nehmen würden – das Tier finden, es mit einem Pfeil erlegen, es häuten und wieder zurückkehren. Aber sie hatte die Diplomatie ihres Vaters oft genug in Aktion erlebt, um zu wissen, dass sie nicht weiter nachhaken sollte. Außerdem hatte Lor’themar recht: Die Weltenwanderer würden so bald nicht aufbrechen – was bedeutete, dass sie mit ihnen allen sprechen konnte.

Sie bildeten den Kern des königlichen Militärs; wenige Bürger genossen mehr Respekt als sie. Sylvanas wünschte, sie könnte ihnen beim Schießen zusehen, aber vermutlich würde sie auch den ein oder anderen nützlichen Tipp aufschnappen, wenn sie mit ihnen redete und ihnen zuhörte.

Die Stunden zogen dahin. Als das Mittagessen serviert wurde, hatte Sylvanas mit jedem einzelnen ihrer Helden gesprochen. Nun war sie hungrig, und die ganze Sache begann, ihr langweilig zu werden. Warum musste Allerias Prüfung so lange dauern?

Lireesa hatte sich hingesetzt und rieb gedankenverloren ihren runden Bauch, während sie in die Richtung blickte, in die Alleria aufgebrochen war. Sylvanas ging zu ihrem Vater hinüber, der im Gras saß und Vereesa auf dem Schoß hatte. Als er einen Finger an die Lippen legte, nickte Sylvanas. Sie wusste, dass Vereesa die ganze Nacht auf gewesen war, weil sie vor Aufregung nicht schlafen wollte. Sylvanas hatte auch nicht geschlafen, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Auch jetzt verbannte sie jegliche Müdigkeit und kaute auf ihrem Stück Brot und Käse herum, während sie sich neben Verath setzte.

»Wie lange wird es noch dauern?«, flüsterte sie.

»Deine Mutter war großzügig mit ihren Anforderungen«, antwortete Verath. »Alleria wird den ganzen Tag brauchen.« Wie seine Frau blickte auch er in die Richtung, in der sie Alleria zuletzt gesehen hatten.

Sylvanas schnitt eine Grimasse. »Und was soll ich die ganze Zeit machen?«

»Warten«, sagte er nur. »Oder mach irgendetwas anderes, Liebes. Du bist keine Weltenwanderin, aber du kannst kommen und gehen, wie es dir beliebt.«

»Vielleicht mache ich das auch«, erwiderte Sylvanas. Ihr Blick folgte dem ihres Vaters. »Du … du glaubst doch, dass Alleria es schaffen wird, oder?«

»Sie hat bislang jede Prüfung mit fliegenden Fahnen bestanden«, erklärte Verath.

»Das ist keine Antwort.«

»Nein, ist es nicht«, sagte er.

»Ich habe meinen Vater gefragt, nicht einen Diplomaten«, brummte Sylvanas. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren, wenn er »seine Beraterroben anlegte«, wie Alleria es ausdrückte.

»Zum Glück für dich bin ich beides«, erwiderte er mit einem Grinsen und einem Zwinkern. Es stimmte – schon viele Male hatte Sylvanas erlebt, wie er sich mühelos in Gespräche zwischen Lireesa und anderen einschaltete, wenn die Gemüter sich zu erhitzen drohten. Sylvanas schnaubte in dem Wissen, dass sie aus ihm nichts weiter herausbekommen würde, dann stand sie auf, aß den Rest ihrer leichten Mahlzeit und griff nach einem schlanken Glas mit Fruchtnektar, um das Essen hinunterzuspülen.

Ihr Weg führte sie in die Waffenkammer ihrer Familie, wo sie nach einem Köcher und einer Handvoll Pfeile griff. Sie spürte den Drang, sich zu bewegen; zwischen den wunderschönen Bäumen mit ihrem goldenen Laub und ihrer weißen Borke von Ast zu Ast springen, ihr eigenes Können auf die Probe stellen. Sie wollte lautlos schleichen und zielsicher schießen, genauso wie ihre Schwester es gerade tat.

Sylvanas achtete darauf, dass niemand sie bemerkte, als sie davonging, und sobald sie außer Sichtweite der Weltenwanderer war, bog sie von ihrem Pfad ab und folgte der Richtung, in die Alleria gegangen war. Irgendetwas geschah dort vorne, und Sylvanas wollte wissen, was. Sie hatte die Anspannung in der Gruppe gespürt, gedämpft, aber unverkennbar. Lor’themars Worte kamen ihr seltsam vor und die ausweichende Art ihres Vaters stimmte sie nur noch misstrauischer. Sogar Lireesa wirkte nervös und das war höchst ungewöhnlich.

Sylvanas wusste ebenso wenig wie ihre Schwester, welchen Bachtatzenluchs man als Allerias Beute auserkoren hatte. Wie würde Alleria ihn finden? Allein diese Aufgabe erschien ihr unmöglich und zum Scheitern verurteilt. Das Vernünftigste wäre es, mit dem Rudel anzufangen, das ganz in der Nähe des Windläuferturms lebte. Ihre Mutter hätte sicher kein Tier gewählt, das beim Sanktum des Westens oder noch weiter entfernt hauste – nicht wenn sie wollte, dass ihre Tochter Erfolg hatte. Und Sylvanas wusste, wie wichtig es der Waldläufergeneralin war, dass Alleria ihr Geburtsrecht einfordern würde. Also – musste es das nächstgelegene Rudel sein.

Der Tag war klar, aber letzte Nacht hatte es geregnet, und der Wald roch nach feuchter, sauberer Erde. Sylvanas wusste genau, wonach sie suchen musste, weswegen sie schon bald auf Allerias Spuren stieß. »Du machst es einem nicht schwer, dir zu folgen, Lady Sonne«, murmelte sie, aber natürlich hatte Alleria gar keinen Grund, ihre Fährte zu verwischen; das würde nur wertvolle Zeit kosten. Sylvanas folgte weiter Allerias Spur, dann erstarrte sie. Die Abstände zwischen den Abdrücken wurden weiter und nur die Stiefelspitzen waren noch zu sehen. Alleria war gerannt – und Sylvanas Herz zog sich zusammen, als sie sah, weswegen. Die größten Bachtatzen-Abdrücke, die sie je gesehen hatte, tauchten neben Allerias Spuren auf. Ihre Schwester war nicht länger die Jägerin, sondern die Beute – und das Biest, das sie jagte, war gewaltig. Sylvanas begann zu rennen.

Die Worte hallten in ihrem Kopf wider: Wir warten alle auf Alleria.

Sie hat bislang jede Prüfung mit fliegenden Fahnen bestanden.

Und ihre Reaktion darauf: Das ist keine Antwort.

Aber es war eine gewesen, nicht wahr? Ihr Vater hatte es gewusst. Alle hatten es gewusst, außer ihr und Vereesa. Wut loderte in Sylvanas auf und beflügelte ihre Schritte.

Ihre Ohren schnappten das Geräusch von niedergewalztem Unterholz auf. Dann mischte sich ein unverkennbares fauchendes Grollen hinzu. Etwas Großes und Wütendes stürmte auf sie zu.

Abstand. Ich muss auf Abstand bleiben.

Sylvanas sprang hoch, griff nach einem herabhängenden Ast und zog sich hoch, anschließend kletterte sie weiter nach oben, sodass die Bachtatze sie nicht nach unten zerren könnte, falls sie danebenschoss. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und ihr Atem kam schnell, während sie einen Pfeil aus dem Köcher zog und ihn an die Sehne legte.

Als das Tier in Sicht kam, keuchte Sylvanas.

Die überdimensionierten Abdrücke hatten bereits auf ein großes Tier hingedeutet, aber das hier musste der Luchs sein, den sie den Reißer nannten. Gerüchten zufolge sollte er Geschmack an Elfenfleisch gefunden haben und Sylvanas konnte es sich gut vorstellen. Einen Augenblick lang drohte sie die Panik zu überwältigen, aber dann senkte sich plötzlich tiefe Ruhe über sie. Präzise. Abgeklärt. Kühl.

Im Zuge eines einzigen Herzschlags nahm sie unglaublich viele Dinge wahr: seine Größe. Seine Geschwindigkeit. Seine gelben Zähne und Klauen, die Furchen in die Erde gruben, während er dahinstürmte.

Den einsamen Pfeil, der in seiner Seite steckte, zu weit vom Herzen entfernt, um tödlich zu sein. Das Blut, das von dort an seiner goldenen Flanke herabtropfte und auch von mehreren Schnitten, die aussahen, als wären sie das Werk eines Jagdmessers.

Und dass die Beute des Luchses nicht über den Boden floh, sondern über die Bäume. Allerias Gesicht war gerötet vor Anstrengung und sie klammerte sich verzweifelt an den Ästen fest.

Voller Grauen erkannte Sylvanas auch, dass ihre Schwester einen schrecklichen Fehler begangen hatte: Alleria war nicht hoch genug geklettert, um dem Reißer zu entgehen, wenn er zu einem Sprung ansetzte – so, wie er es jetzt tat …

Sylvanas’ Pfeil bohrte sich in das rechte Auge des Luchses und trat blutverschmiert an der Unterseite seines Schädels wieder aus. Das Tier kippte um, und seine Pfoten wühlten den Boden auf, während sein Körper zuckte. Dann lag es still.

Nach der Kakofonie der Verfolgung wirkte der Wald nun unnatürlich still. Die Vögel hatten zu viel Angst, um ihren Gesang fortzusetzen, und schwiegen. Nicht einmal der Wind wagte es, in den Blättern zu rascheln.

Sylvanas’ Mund war trocken von ihrem Keuchen; ihr Körper zitterte, als die Spannung von ihr abfiel wie von einer losgelassenen Bogensehne. Sie atmete durch, sammelte sich und sprang von dem Baum herunter.

Alleria kletterte ebenfalls auf den Boden und beide Schwestern starrten wortlos auf die Bestie hinab.

Schließlich sagte Sylvanas: »Wusstest du, dass es der hier war?«

Alleria schüttelte ihren goldenen Kopf. Sie konnte die Augen nicht von dem toten Tier losreißen. In einer Hand hielt sie immer noch ihren Bogen, in der anderen ihr rot verkrustetes Messer. Erst jetzt merkte Sylvanas, dass Allerias Bein blutete.

»Du bist verletzt!«, entfuhr es ihr, und sie versuchte, ihren Ärmel abzureißen, um ihn als Verband zu benutzen, während sie auf ihre Schwester zuging. Der Reißer hatte die Hauptader knapp verfehlt.

Zu ihrer Verwirrung wich Alleria vor ihr zurück und ihre Augen bohrten sich wütend in das Gesicht ihrer Schwester. »Fass mich nicht an!«, blaffte sie.

Sylvanas blinzelte. »Du bist verletzt. Du …«

»Hast du nicht schon genug angerichtet?«

»Ich habe dein Leben gerettet, Alleria!« Verwirrung und Kränkung verwandelten sich in heißen Zorn. »Ein Dankeschön wäre ganz nett.«

»Ich kann mich um mich selbst kümmern.« Alleria nahm ihren Umhang ab, warf ihn auf den Waldboden und fing an, wütend mit ihrem Messer darauf einzustechen.

So, wie sie auch auf den Reißer eingestochen hatte … nachdem ihr Pfeil nichts weiter bewirkt hatte, als die Bestie in Rage zu versetzen.

Sylvanas sog leise den Atem ein, als sie zu begreifen begann. Sie hatte sich eingemischt und jetzt war Allerias Prüfung gescheitert.

Aber die war schon gescheitert, bevor ich überhaupt geschossen habe, dachte Sylvanas. Alleria hatte den Luchs mit ihrem Pfeil nicht getötet.

»Alleria«, begann sie, in ruhigerem Ton diesmal, »ich war noch gar nicht da, als …«

»Sei still!« Alleria schrie jetzt, und sie riss zornig an dem Umhang, bis sie einen Streifen dunkelgrünen Stoffs in der Hand hielt. Sie ließ all ihre Wut und all ihre Scham an dem leblosen Objekt aus, während sie es fest um ihr verwundetes Bein wickelte.

Sylvanas blieb wortlos stehen; weniger weil Alleria ihr den Mund verboten hatte, sondern vielmehr weil sie zu frustriert und zu verletzt war, um zu sprechen.

Alleria verlagerte probeweise ihr Gewicht auf das verletzte Bein und verzog zischend das Gesicht. Erneut machte Sylvanas einen Schritt auf sie zu, um zu helfen, und erneut hielt Alleria sie zurück. Sie nahm ihren Bogen, ihren wunderschönen Bogen, den man ihr erst vor ein paar Stunden überreicht hatte, und benutzte ihn als Krücke, während sie langsam in Richtung ihres Zuhauses losging.

»Was ist passiert?«

Lireesas Gesicht wirkte gefasst. Nur ihre Kinder konnten das Feuer der Wut in ihren Augen sehen.

»Mein Pfeil war nicht tödlich«, erklärte Alleria leise, wobei sie versuchte, ihr Gesicht ebenso ausdruckslos zu halten wie ihre Mutter. Sie scheiterte.

»Offensichtlich. Ansonsten würde ich einen makellosen Pelz vor mir sehen.«

Allerias Gesicht zuckte leicht.

»Ich hoffe doch, der Reißer ist zumindest tot.«

»Ja«, lautete die Antwort.

Sylvanas schwieg. Sollte ihre Mutter ruhig glauben, dass Alleria die Bestie erlegt hatte. Das wäre für sie beide einfacher.

Der Blick des älteren Mädchens huschte einen Moment lang zu Sylvanas hinüber, dann richtete er sich wieder auf Lireesa. »Aber nicht durch meine Hand. Ich war in den Bäumen und Sylvanas tötete ihn.«

Sylvanas’ Augen weiteten sich. Was hatte Alleria gerade getan?

Jetzt richtete sich die schwelende Wut ihrer Mutter auf sie. »Ist das wahr?«

Am liebsten wollte Sylvanas lügen. Alleria hätte nur schweigen müssen, um das Schlimmste abzuwenden, aber sie hatte ungefragt die Wahrheit erzählt und dadurch den Zorn ihrer Mutter über sie beide gebracht. Jetzt zu lügen, würde alles nur noch schlimmer machen.

Die jüngere Windläufer-Tochter straffte die Schultern und begegnete ruhig dem Blick ihrer Mutter. »Ja. Allerias Leben war in Gefahr, also schoss ich, als sich die Gelegenheit ergab.«

»Ich verstehe«, sagte Lireesa. »Dann hast du ihr also sogar das genommen.«

Sylvanas spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Dieses Monster war …«

»Du weißt nicht, was passiert wäre.« Lireesas Aussage schnitt mit brutaler Schärfe durch Sylvanas Widerworte. »Alleria hat versagt, weil sie das Biest nicht mit einem Pfeil erlegte. Aber sie hätte es vielleicht trotzdem noch getötet. Sie hätte zurückkehren und eine weitere Chance verlangen können, um sich gegen eine gefährliche Kreatur zu beweisen. Bei Dingen wie diesen gibt es viele Nuancen, Sylvanas, von denen du keine Ahnung hast. Mag sein, dass du ihr Leben gerettet hast. Wir werden es nie herausfinden. Was alle hier aber wissen, ist, dass du Alleria um ihre Chance gebracht hast, die Situation selbst zu bereinigen. Du hast sie um ihren Erfolg betrogen und sie vor den Leuten beschämt, die sie anführen sollte.«

Sylvanas biss sich auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen. Nicht weil sie gekränkt war – obwohl dem natürlich trotzdem so war –, sondern weil sie so unglaublich wütend war. Wütend, weil ihre Schwester keine Ahnung gehabt hatte, wie schwierig ihre Prüfung war. Wütend, weil niemand hier zu begreifen schien, dass Lireesa jetzt vermutlich die Beerdigung ihrer ältesten Tochter vorbereiten müsste, hätte Sylvanas nicht getan, wofür sie gerade so öffentlich beschämt wurde. Sie öffnete gerade den Mund, um zu brüllen: Das ist ungerecht!, aber da erklang plötzlich eine ruhige Stimme.

»Waldläufergeneralin«, sagte Verath. Er sprach seine Frau mit dem größten Respekt an. »Wie du selbst gesagt hast, es gibt Dinge, die Sylvanas noch nicht versteht, weil sie zu jung ist. Hättest du sie angewiesen hierzubleiben, bin ich sicher, dass sie gehorcht hätte.«

Sylvanas hatte da ihre Zweifel, aber sie war schlau genug, den Mund zu halten.

»Ich werde mit ihr und Vereesa ausreiten, während du die Situation hier mit deinen Weltenwanderern klärst. Und ich werde versuchen, ihr verständlich zu machen, was passiert ist.«

Lireesa beruhigte sich sichtlich, als sie die Worte ihres Mannes hörte. Sie sagte nichts, aber sie nickte, und die Zornesfalten auf ihrer Stirn glätteten sich unmerklich.

Es war nicht das erste Mal, dass ihr Vater so elegant einen Streit zwischen seinen Töchtern und ihrer Mutter schlichtete, und es sollte auch nicht das letzte Mal sein. Lireesa hatte ein feuriges Temperament und eine scharfe Zunge, aber sie konnte auch schnell vergeben und vergessen … normalerweise zumindest. Sylvanas vermutete, dass die Dauer eines kleinen Ausflugs nach Silbermond nicht reichen würde, um die Luft zwischen ihrer Mutter und Alleria zu klären.

Und vermutlich würde es noch viel länger dauern, bis sich die Dinge zwischen der Waldläufergeneralin und ihrer mittleren Tochter normalisierten. Sylvanas konnte sich ein wütendes Funkeln jedenfalls nicht verkneifen, während sie ihren Falkenschreiter fertig machte. Ihr Vater hob die glucksende Vereesa auf seinen Quel’dorei-Hengst, während der Stallmeister Talvas die Zügel hielt und dem kleinsten der Windläufer-Mädchen wohlwollend zulächelte. Das Pferd hatte strahlend weißes Fell, aber seine Mähne und sein Schweif waren nachtschwarz. Es war ein Geschenk von König Anasterian – ein Geschenk, wie es nur jenen zuteilwurde, die einen hohen Rang innehatten oder Außergewöhnliches leisteten. Sylvanas’ Eltern hatten beide ein solches Pferd: Verath den Hengst Parley, Lireesa die Stute Pfeilflug. Parley wusste instinktiv, dass er vorsichtig sein musste, wenn er die Kinder seines Meisters trug. Bis zu Vereesas Geburt war Sylvanas diejenige gewesen, die vor Verath im Sattel gesessen hatte, jetzt gehörte dieser Platz ihrer kleinen Schwester. Sylvanas liebte ihren Falkenschreiter. Sie hatte ihn Knacks getauft, und an dem Tag, an dem sie ihn endlich ganz allein reiten durfte, war sie schier geplatzt vor Stolz. Trotzdem vermisste sie manchmal die tröstliche Wärme ihres Vaters an ihrem Rücken. Heute war so ein Tag.

Knacks’ lange, krallenbewehrte Beine staksten schnell dahin, und Verath bremste Parley zu einem leichten Galopp ab, damit das große Vogelwesen nicht hinter ihm zurückfiel. Sylvanas kochte im Stillen, aber ihr Vater drängte sie nicht. Als sie schließlich ihr Schweigen brach, lagen das Windläuferdorf und das Sanktum des Mondes bereits hinter ihnen, und vor ihnen erstreckte sich Tristessa.

»Was Mutter getan hat, war nicht gerecht.«

»Welcher Teil genau?«, fragte ihr Vater.

»Alles. Alleria glauben zu lassen, dass sie eine ganz normale Bachtatze erlegen sollte. Zu verlangen, dass sie es nur mit einem Pfeil tut, ohne Messerspuren. Niemanden mitzuschicken, der auf sie aufpasst. Und« – den schlimmsten Affront hatte sie sich für den Schluss aufgehoben – »wütend auf mich zu sein, weil ich meiner Schwester das Leben gerettet habe.«

Verath nickte, erwiderte aber zunächst nichts. Irgendwann sagte er: »Deine Mutter muss hart zu Alleria sein. Weißt du, warum?«

Weil es ihr Spaß macht, fuhr es Sylvanas durch den Kopf, aber noch bevor der Gedanke wirklich Form angenommen hatte, wusste sie, dass sie ein zu harsches Urteil über ihre Mutter fällte. »Nein«, antwortete sie ehrlich.

»Die Position des Waldläufergenerals ist für den Schutz unseres Königreichs von größter Bedeutung. Und abgesehen von der Monarchie selbst ist es die einzige Position, die vererbt wird. Jede Waldläufergeneralin gibt den Titel an eines ihrer Kinder weiter. Und während der letzten paar Jahrtausende war der Waldläufergeneral von Silbermond stets das älteste Kind einer Windläufer.«

»Das weiß ich alles«, brummte eine schmollende Sylvanas.

»Ja, aber du nutzt dieses Wissen nicht, um die Situation zu verstehen.«

So sanft die Worte auch klangen, das war der härteste Tadel, den Sylvanas je von ihrem Vater gehört hatte. Ihre Wangen röteten sich.

»Also gut«, sagte sie, beseelt von dem Wunsch, ihn nicht zu enttäuschen. »Wenn Mama wollte, könnte sie Alleria den Titel geben, auch wenn Alleria eine schlechte Jägerin ist.«

»Das könnte sie. Aber was würde dann passieren?«

»Die Weltenwanderer würden böse mit ihr sein und ihr vorwerfen, dass …« Schlagartig wurde ihr alles klar. »Mama muss Alleria so hart rannehmen, damit die Weltenwanderer sehen, dass sie nicht nur in diese Position geboren wurde, sondern sie wirklich verdient hat. Wenn Mama nachsichtig mit ihr ist, würden die Leute glauben, dass sie Alleria bevorzugt behandelt.«

»Genau so ist es«, lobte ihr Vater. »Und das ist eine Bürde, die Alleria erspart bleiben sollte. Die Weltenwanderer anzuführen, wird schon herausfordernd genug sein.

Deine Mutter hat Alleria Jagd auf den Reißer machen lassen, weil sie an ihren Erfolg glaubte«, fuhr Verath fort. »Es ging weniger um ihre Fähigkeiten als darum, zu sehen, wie Alleria sich im Angesicht echter Gefahr verhält. Ob sie die Prüfung bestand oder nicht, war zweitrangig. Lireesa vertraute darauf, dass Alleria überleben würde, und ganz gleich, was auch geschehen würde, Allerias Handeln würde ihre Stärken und ihre Schwächen aufdecken. Dann könnte Lireesa ihr helfen, Erstere auszubauen und Letztere zu überwinden. Man könnte sagen, es ging um eine Einschätzung.«

Sylvanas’ Herz, das bis zu diesem Moment vor Wut und Unverständnis gepocht hatte, fühlte sich mit einem Mal schwer in ihrer Brust an, als ihr die Wahrheit dämmerte.

»Also … bedeutete ihr verfehlter Schuss gar nicht, dass Alleria versagt hat?«

»Nein«, erklärte ihr Vater, seine Stimme sanft und voller Mitgefühl. Sie sah ihn nicht an, aber sie konnte seinen Blick auf sich spüren.

»Aber als ich den Reißer tötete, habe ich die Prüfung ruiniert.«

»Ja.«

Sylvanas grübelte eine Weile über diese Erkenntnis nach und ging im Geiste jeden Moment des Zwischenfalls durch. Die beißenden Worte ihrer Mutter hallten durch ihren Geist: Bei Dingen wie diesen gibt es viele Nuancen, Sylvanas, von denen du keine Ahnung hast. Zu guter Letzt sagte sie: »Mutter hätte es mir erklären sollen.«

»Da stimme ich dir zu.«

Sie blickte zu ihm hinüber, überrascht und glücklich. »Wirklich?«

»Du bist jetzt eine junge Frau, Sylvanas, nicht länger ein Kind. Lireesa hätte dir sagen sollen, wie wichtig diese Prüfung ist. Dann hättest du verstanden, nicht wahr?«

»Ja.« Erneut blickte Sylvanas ihren Vater an. »Aber ich finde trotzdem, dass es Alleria gegenüber gemein war. Und es tut mir nicht leid, dass ich geschossen habe. Du warst nicht dabei, Vater. Bachtatzen können springen, und Alleria war nicht hoch genug, um ihm zu entkommen. Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe.«

Er lachte, seine Augen hell. »Richtig und falsch sind höchst subjektive Begriffe, genauso wie gerecht und ungerecht. Aber letzten Endes zählt nur eine Sache.«

Sie legte den Kopf schräg. »Nämlich?«

»Du hast aus Liebe gehandelt und voller Mut. Jeder beim Turm – einschließlich der Waldläufergeneralin höchstselbst – weiß das.«

»Das bezweifle ich.« Wie sie mich angesehen hat …

»Na ja, vielleicht nicht jetzt gleich. Aber sie wird es bald erkennen. So, wie ich es erkannt habe.«

Der Druck wich von Sylvanas’ Brust und sie lächelte dankbar zu ihrem Vater hinüber. Er verstand sie, selbst wenn sie sich Ärger einhandelte; selbst wenn sie sich widerspenstig gab oder einen Fehler beging. Er kannte sie, kannte ihr Herz und ihre Absichten, und er vergaß es nie; nicht einmal, wenn er selbst derjenige war, der sie tadelte.

Sylvanas neigte ihr Gesicht dem blauen Himmel entgegen und atmete tief den sauberen, heilenden Duft des Waldes ein. »Ich wünschte, du hättest Mutter nicht gesagt, dass wir nach Silbermond reiten.« Sie mochte die Elfenhauptstadt nicht – sie war zu groß, zu hell, mit zu viel ach so erhabenem Rot und Gold. Wo man auch hinsah, standen Statuen, und die Gewänder jedes vorbeistapfenden Adeligen waren so teuer, dass man davon ein kleines Dorf ernähren könnte. »Ich würde viel lieber mit dir auf einen Erkundungsritt gehen.«

»Jetzt ist wohl kaum der richtige Moment, um deiner Mutter noch mehr Sorgen zu machen.«

Sylvanas verzog das Gesicht. Er hatte recht. »Manchmal bist zu wirklich spießig«, murmelte sie, und Verath lachte.

»Wie wäre es damit. Wir reiten nach Silbermond, wie ich es deiner Mutter versprochen habe, aber wir könnten unterwegs irgendwo haltmachen.«

Sylvanas drehte sich auf ihrem Sattel herum und musterte ihn. Ihre Laune wandelte sich schlagartig. »An unserem Lieblingsort?«

»Unserem Lieblingsort.«

»Können wir bleiben, bis die Glühwürmchen rauskommen?«

»Heute nicht, Liebes. Aber wir können ein bisschen bleiben.«

Sie grinsten einander zu, und Sylvanas hatte das Gefühl, als würde sie aus dem Schatten einer vorüberziehenden Wolke endlich ins Sonnenlicht zurückkehren.

Die Stille, die sich nun zwischen ihnen ausbreitete, war entspannt, und Sylvanas schob ihre Kapuze nach hinten, damit der Wind mit ihren blassgelben Locken spielen konnte. Lady Mond, das war der Spitzname, den Alleria ihr gegeben hatte; sie selbst war Lady Sonne, und Vereesa war der Kleine Mond. Sylvanas hatte betont, dass ihr Haar rein technisch noch immer blond war, wenn auch sehr bleich, aber Alleria hatte erwidert: »Es ist mehr weiß als golden, und davon mal abgesehen; wärst du lieber Lady Mond oder die Kleine Sonne?« Natürlich hatte Sylvanas sich für Ersteres entschieden, und somit war Vereesa zum Kleinen Mond geworden.

Schon bald würde ihre Familie einen neuen Windläufer begrüßen. Abwesend fragte Sylvanas sich, welche Farbe das Haar des Kindes wohl haben würde. Weiß wie das ihres Vaters? Wie der Mond? Golden, so wie Lireesas Mähne und die Sonne? Schwarz wie der Nachthimmel? Rot wie ihr Falkenschreiter?

Das war eine amüsante Vorstellung. Sie warf ihrem Vater einen verschlagenen Blick zu, rief: »Wettrennen!«, und trieb Knacks zu einem angezogenen Sprint.

»Wettrennen! Wettrennen!«, rief Vereesa vergnügt, wobei sie die Finger in Parleys Mähne krallte. Wie üblich gab Verath Sylvanas einen kleinen Vorsprung, aber sie war sich sicher, dass er am Ende trotzdem gewinnen würde – wie üblich. Ich werde dich nie absichtlich gewinnen lassen, meine Tochter, hatte er einmal zu ihr gesagt. Das würdest du nicht wollen.

Und er hatte recht. Sie würde das Rennen verlieren, aber darum ging es nicht.

Es ging um den Spaß.

Ihr »Lieblingsort«, der bei der gesamten Windläufer-Familie beliebt war, hatte bei oberflächlicher Betrachtung nichts Besonderes zu bieten. Aber für sie repräsentierte dieser Fleck viele glückliche Erinnerungen. Sie reichten zurück bis zu den Tagen, als eine willensstarke, leidenschaftliche Frau den aufsteigenden Stern am Hofe umworben hatte, einen jungen Mann voller Taktgefühl, der weit über seine Jahre hinaus weise war, aber noch immer das Herz eines Liebenden hatte.

»Ich war immer ein Kind der Stadt«, hatte Verath Sylvanas erzählt, als er und Lireesa ihre drei Kinder das erste Mal zu diesem kleinen, grasbewachsenen Ort am Fluss mitgenommen hatten. Alleria war knietief ins kalte, klare Wasser gewatet, während Sylvanas auf dem Schoß ihres Vaters gesessen und ihre Mutter sich um die neugeborene Vereesa gekümmert hatte. »Ich habe mein Herz gleichzeitig an eure Mutter und an den Wald verloren. Auf gewisse Weise war es, als hätte ich mich in eine einzige, wundervolle, strahlende Sache verliebt.«

Verath hatte zu seiner Frau hinübergesehen, und als sie seinen Blick spürte, hatte sie den Kopf gehoben und sanft gelächelt. Sylvanas hatte zwischen den beiden hin- und hergeblickt; die unausgesprochenen Worte zwischen ihnen waren dem Mädchen vorenthalten geblieben, aber sie hatte gewusst, dass es liebevolle Worte waren – und dass sie hier sicher war.

Heute war es Sylvanas, die ins Wasser watete und angesichts der knochenbeißenden Kälte den Atem einsog. Dann lachte sie, als ein kleiner silbriger Fisch an ihren Zehen knabberte. Verath hatte seine langen Beine im Gras ausgestreckt und beobachtete die weichen weißen Wolken … dann setzte er sich plötzlich mit zusammengezogenen Brauen auf und starrte himmelwärts.

Sylvanas drehte sich herum, reckte den Hals und schirmte die Augen mit der Hand ab, um es ebenfalls zu sehen. Da war ein kleiner Fleck … nein, zwei Flecken, die sich vor der Sonne abhoben und stetig näher kamen, bis schließlich der Schlag ihrer Flügel zu hören war.

»Lord Verath!«

»Halduron!«, rief ihr Vater, als Halduron, Jirri und ihre Drachenfalken herangekommen waren. Sie versuchten sichtlich, ihre Emotionen zu kontrollieren, aber die normalerweise lächelnde Jirri wirkte blass und geradezu … verängstigt?

»Mylord, Ihr müsst sofort zum Turm zurückkehren«, sagte Jirri. »Lady Lireesa liegt in den Wehen.«

Sylvanas hatte ihren Vater noch nie so erschrocken gesehen. »Aber das Kind sollte doch erst in ein paar Wochen kommen …«

»Offenbar hat jemand vergessen, das dem Kind mitzuteilen«, entgegnete Halduron. Sein Versuch, die Stimmung aufzulockern, stieß auf sorgenvolle Stille, als Verath ihm Vereesa in die Arme drückte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Mädchen sicher vor dem Weltenwanderer saß, schwang sich Jirri von ihrem Drachenfalken, und Verath und Sylvanas stiegen auf den Rücken des Tieres.

Abgesehen von ihrer kleinen Schwester interessierte Sylvanas sich nicht für Kinder, und sie hatte auch nie darüber nachgedacht, einmal eigene Kinder zu haben. Alleria war diejenige, die einen zukünftigen Waldläufergeneral gebären musste. Sie saß hinter ihrem Vater, die Arme um seine Hüften geschlungen, und legte ihre Wange gegen seinen Rücken. Veraths Reaktion hatte sie beunruhigt, und sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Ihre Mutter hatte zweifelsohne einige der besten Heiler im gesamten Land zusammengerufen, sobald klar geworden war, dass das neueste Mitglied ihrer Familie verfrüht in ihren Kreis stoßen wollte.

Sylvanas und ihr Vater sprangen von dem Drachenfalken, noch ehe das Tier nahe genug war, um zu landen. Halduron reichte Vereesa an ihren Vater zurück und sie eilten die Treppe hoch. Vereesa war ein feinfühliges Kind; sie hatte die Anspannung gespürt und zu weinen begonnen, kaum dass sie losgeflogen waren – sehr zu Haldurons Verzweiflung –, und jetzt heulte sie laut drauflos. Von oben war kein Geräusch zu hören, nichts deutete darauf hin, dass ein weiteres Kind seinen ersten Atemzug hinausschrie. Sylvanas glaubte, dass sie noch nie in ihrem Leben wirklich vor etwas Angst gehabt hatte, aber jetzt fand sie sich plötzlich im klammen Würgegriff der Furcht wieder. Sie strauchelte, während sie dahinrannte.

Trotz der schluchzenden Last auf seinem Arm erreichte Verath die Tür vor Sylvanas und verschwand in dem Raum, den er mit seiner Frau teilte. Sylvanas stolperte ein paar Sekunden später hinein, auf das Schlimmste gefasst.

Was sie stattdessen sah, war ein Anblick, so schön, dass es ebenso gut ein Gemälde im Sonnenzornturm hätte sein können: Warmes Sonnenlicht schien durch das offene Flügelfenster herein und badete ihre Mutter samt dem Bündel auf ihren Armen in einen weißgoldenen Schein. Das Kämpferfenster darüber bestand aus Buntglas und zeichnete seinen eigenen Regenbogen aus Farbtönen in den Raum. Verath hatte Lireesas gerötetes Gesicht zwischen seine Hände genommen, und gerade als Sylvanas hereinkam, ihre Beine ganz wackelig vor Erleichterung, gaben sich ihre Eltern einen langen, lieblichen Kuss, bevor sie Stirn an Stirn drückten. Tränen glänzten auf Veraths Wangen, dennoch hatte Sylvanas ihn nie zuvor so glücklich lächeln gesehen.

Alleria lächelte ebenfalls, während sie an die Wand gelehnt dastand, und eine weitere Sorge fiel von Sylvanas ab – eine, die ihr gar nicht bewusst gewesen war. Offenbar hatte der Neuankömmling bereits ein kleines Wunder vollbracht, indem er Mutter und Tochter über Allerias Prüfung hinweggetröstet hatte. Lireesa löste sich ein Stück aus der Umarmung ihres Mannes, behielt die Hand aber weiter auf seiner Wange.

»Alles ist in Ordnung«, versicherte sie ihren Kindern. »Dieser kleine Junge konnte nur nicht länger warten, das ist alles.«

Ein Junge. Ein Bruder für die drei Schwestern. Sylvanas war einfach davon ausgegangen, dass das Baby ein Mädchen sein würde, aber jetzt war sie froh, dass dem nicht so war. Vier Mädchen – das wäre langweilig gewesen.

Vereesa hatte aufgehört zu weinen und jetzt quetschte sie sich zwischen ihre Eltern. »Ich will sehen, ich will sehen!« War erst ein halber Tag vergangen, seit sie Sylvanas gesagt hatte, dass sie Alleria sehen wolle? Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

Sylvanas trat leise von der Tür fort und stellte sich ans Fußende des Bettes. Wann, fragte sie sich, würde die ausgelassene Freude, die den Raum erfüllte, endlich auch auf sie überspringen? Lireesa richtete ihre Augen auf Sylvanas, und ihr Lächeln war warm und aufrichtig. »Möchtest du ihn halten, Sylvanas?«

Sie nickte; der Kloß in ihrem Hals machte es unmöglich zu sprechen. Dann streckte sie die Arme aus, während Lireesa sich aufrichtete und ihr das kleine, warme Bündel reichte.

Der Neugeborene zappelte und drehte seinen Kopf, wodurch ein Teil der Decke verrutschte, in die er eingewickelt war. Sylvanas atmete laut ein, als sie endlich sein Gesicht sah, ihre Augen weit und vor Tränen brennend.

Er war perfekt. Löckchen goldenen Haares, so hell wie neu geprägte Münzen, krönten seinen Kopf. Seine Wangen waren so rosa wie Rosen und seine tiefblauen Augen blickten gebannt zu ihr hoch.

Freude und Entschlossenheit durchströmten sie wie eine plötzliche Sturmwoge. Die ganze Welt schrumpfte zusammen, bis es nur noch diesen Moment und dieses kleine Wesen gab. Sylvanas war überzeugt, dass sie nie etwas so sehr lieben könnte wie dieses erstaunliche kleine Bündel. Vorsichtig verlagerte sie den Säugling auf ihren Armen, damit sie sein Gesicht berühren konnte. Seine Haut war so weich, so makellos.

»Wie heißt er?« Die Worte kamen nur als ehrfürchtiges Wispern über ihre Lippen.

»Lirath«, sagte Lireesa.

»Lirath«, wiederholte Sylvanas, um zu testen, wie sich der Name auf ihren Lippen anfühlte. Wie Vereesa war auch Lirath eine Mischung aus den Namen ihrer Eltern. Er rollte angenehm von der Zunge, und obwohl das natürlich unmöglich war, brabbelte das Baby, als würde es auf den Namen reagieren. »Lirath, eines Tages werde ich dir unseren Lieblingsort zeigen. Dann kannst du im Wasser planschen oder mit uns tanzen oder einfach nur dasitzen und die Welt beobachten, so wie Vater. Ich kann es kaum erwarten, dir die Glühwürmchen zu zeigen.«

Sie beugte sich vor und küsste seine glatte Stirn, die noch gänzlich unberührt war von Sonne oder Sorge. Als sie den Kopf wieder hob, winkte das Baby mit einem fleischigen Ärmchen, und seine winzigen Finger spielten mit ein paar Strähnen ihres Haares.

»Er mag dein Haar, Lady Mond«, sagte Alleria. Ihre Stimme war weich und voller Wärme. Aber in diesem Moment war alles weich und warm, wie Sylvanas fand.

»Na ja«, erwiderte sie mit leiser, verzauberter Stimme, während sie beobachtete, wie sehr eine einfache Haarsträhne den Neugeborenen faszinierte, »er hat goldenes Haar, wie du, Lady Sonne. Ich finde, er sollte der Kleine Lord Sonne sein.«

»Zwei Sonnen, zwei Monde!«, lachte Vereesa, und sie hüpfte leicht auf und ab.

»Halte ihn vorsichtig, Sylvanas«, sagte Lireesa. »Du willst ihm doch nicht wehtun.«

Worte, die ihr Vater einst gesprochen hatte, kehrten zu Sylvanas zurück.

Ich werde dir niemals wehtun. Und auch sonst niemand. Mit Liebe und Mut will ich dich beschützen.

2. KAPITEL

Lord Saltheril saß mit weiten Augen da, seine Miene nahezu regungslos, während Lirath spielte. Es war Musik, die zum Tanzen einlud, Musik, die den Geist bewegte, Musik, die das Herz mit Sehnsucht erfüllte. Und Saltheril lauschte ihr mit einer Konzentration, die sogar Sylvanas zähneknirschend bewundern musste.

Die gesamte Windläuferfamilie liebte die Kunst. Ihre Eltern hatten ihnen von klein auf beigebracht, dass eine Welt ohne Schönheit keine Welt war, in der es sich zu leben lohnte. Musik, Bildhauerei, Poesie und der Frieden und die Inspiration, die von ihnen ausgingen – das war es, was Lireesa und die Weltenwanderer beschützten; was ihr Vater bei Hofe verteidigte. Sylvanas wusste, Magie hatte ihren Nutzen, ja, aber der viel simplere Zauber des künstlerischen Schaffens übertraf jedes noch so große Spektakel, das Großmagister Belo’vir heraufbeschwören konnte. Darum tanzten und sangen die Mädchen, so wie andere Kinder auch. Aber Sylvanas’ kleiner Lord Sonne – der inzwischen gar nicht mehr so klein war – war ein wahres Wundertalent, und wenn er spielte, bereicherte er dadurch das Leben eines jeden, der ihm zuhörte.

Die Kunde von Liraths unglaublichem Talent für Musik und Gesang hatte sich weit über die Grenzen des Windläuferdorfes und der Umgebung ausgebreitet. Sogar die Ohren des eleganten, geschniegelten, makellos gekleideten Lord Saltheril hatte sie erreicht. Saltheril war berühmt – oder vielleicht eher berüchtigt – für seine extravaganten Feiern. Er hatte daran gezweifelt, dass der Junge wirklich so gut war, wie die Gerüchte behaupteten, und als er Verath darauf angesprochen hatte, hatte Liraths Vater den Lord eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen. Binnen Sekunden war klar geworden, dass er ebenso fasziniert war wie alle anderen, die Lirath spielen hörten.

Sylvanas war stolz auf den Mann, zu dem ihr Bruder heranwuchs, aber sie war auch ein wenig traurig, zu sehen, wie das Kind dem Erwachsenen wich. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und lächelte melancholisch, während sie ihn beobachtete, so wie sie es schon Tausende Male zuvor getan hatte. Und ebenso wie Tausende Male zuvor erstaunte Lirath sie aufs Neue.

Sylvanas war zuerst aufgefallen, dass Lirath sich selbst in den Schlaf sang, noch bevor er überhaupt sprechen konnte. »Er macht nur Geräusche«, hatte Lireesa erwidert. »Ihr drei habt genau dasselbe getan.«

»Nein, da ist eine Melodie«, hatte Sylvanas beharrt. Und sie hatte recht behalten.

Während Lirath älter wurde, erfüllte sein Gesang immer öfter den Windläuferturm, und als man ihn an die ersten Instrumente heranführte, hatte er mühelos gelernt, darauf zu spielen. Als echter Windläufer war er beseelt von dem Wunsch, der Beste zu sein, also hatte er unermüdlich geübt. Einmal hatte Sylvanas gesehen, dass die Saiten seiner Leier rot waren; Lirath hatte gespielt, bis seine Fingerspitzen bluteten, aber er hatte kein Wort gesagt.

Unter Lord Saltherils gebanntem Blick spielte Lirath auch jetzt die Leier, außerdem die Flöte und die Panflöte, die Mandoline und die Harfe – alles mit dem gleichen Talent und der gleichen Ausdruckskraft, die an der Seele rührte. Schließlich stellte er die Harfe beiseite und stand auf. Nach einem Moment der Stille hob er den Kopf und benutzte Sylvanas’ liebstes Instrument: seine Stimme.

Beim Licht

Beim Licht der Sonne

Kinder des Blutes

Unsre Feinde fallen ein

Kinder des Blutes

Beim Licht

Versagende Kinder des Blutes

Sie fallen ein

Oh, Kinder des Blutes

Beim Licht der Sonne

Versagende Kinder des Blutes

Sie fallen ein

Oh, Kinder des Blutes

Beim Licht der Sonne

Der Sonne

»Das Klagelied der Hochgeborenen« war mehr als zehntausend Jahre alt und nach den Trollkriegen und der Zerschlagung des Amani-Imperiums vor knapp drei Millennien umgeschrieben worden. Die Quel’dorei hatten sich damals mit den Menschen von Arathor zusammengetan und nur dank ihnen den Krieg gewonnen. Jedes Jahr wurde dieses Ereignisses im ganzen Königreich mit Feiern und Zeremonien gedacht. Aber anstatt den Triumph mit einer mitreißenden Melodie zu zelebrieren, drehte sich dieses Lied um die zahllosen Opfer, die nötig gewesen waren, um den Sieg zu erringen.

Sylvanas liebte es, wenn Lirath das Lied allein vortrug, und gleichzeitig hasste sie es. Wann immer die Windläufer-Kinder gemeinsam sangen, konnte sie sich auf die Harmonien konzentrieren; das half, ihre Emotionen in Schach zu halten; aber wenn Lirath das uralte Stück allein zum Besten gab, seine klare Tenorstimme mal laut, mal leise, dann war es, als würde er einen Verlust besingen, der gerade erst erlitten wurde – einen Schmerz, so frisch, dass er noch blutete. Und jedes Mal zerbrach Sylvanas ein wenig daran.

Sie schüttelte innerlich den Kopf und wischte die Tränen aus ihren Augen. Als sie wieder den Kopf hob, sah sie gerade noch, wie der große Lord Saltheril – den nichts beeindrucken konnte und der für alle nur ein abfälliges Schmunzeln übrighatte – sein Taschentuch einsteckte.

Seine attraktiven Züge glätteten sich, als er aufstand und zu applaudieren begann. »Das war gut, mein Kind. Sehr gut sogar.« An Verath gewandt, sagte er: »Ich muss gestehen, ich hatte Zweifel daran, dass der Junge all das Lob verdient, mit dem er überschüttet wird. Normalerweise sind Musiker seines Kalibers viel älter und man findet sie nur in Silbermond. Aber ich muss sagen, Verath, Eure Familie scheint außergewöhnlich viele Talente hervorzubringen. Da wärt natürlich Ihr selbst, dann die Waldläufergeneralin, Alleria und jetzt der junge Lirath.«

Sylvanas und Vereesa wechselten einen verärgerten Blick. Es war, als bestünden sie aus Luft. Andererseits brauchte – und wollte – Sylvanas Saltherils Wohlwollen auch gar nicht.

»Es wäre mir ein Vergnügen, ihn bei einer kleinen Feier in meinem Hafen sein Debüt geben zu lassen«, fuhr der Edelmann fort. »Nur eine Handvoll ausgewählter, distinguierter Gäste. Klein und intim. Und geschmackvoll.« Er machte eine Pause, dann fügte er mit einem Blick auf Vereesa und Sylvanas an: »Eure Familie ist natürlich auch eingeladen.«

Und so fand Sylvanas sich drei Tage später in einem schlichten Kleid wieder, das Saltherils neueste Gespielin, die Erbfolgerin Elisara Sonnensturm, mit den vernichtenden Worten »bäuerlich charmant« beschrieben hatte. Aber viele andere hatten Sylvanas Komplimente gemacht, bevor Elisara sich genötigt gesehen hatte, ungefragt ihre Meinung kundzutun, also lächelte Sylvanas nur über den Neid der anderen Frau. Sie lehnte sich träge gegen einen Baum in Saltherils Hafen, während Lirath für die Handvoll ausgewählter, distinguierter Gäste spielte, von denen der Lord gesprochen hatte. Normalerweise gab Sylvanas sich gerne dem Zauber von Liraths Musik hin, aber heute Abend wollte sie sein Publikum beobachten. Sie fand es amüsant, wie wichtigtuerisch diese Leute waren; jeder hielt sich für absolut einzigartig, dabei waren sie in Wirklichkeit alle gleich: gekleidet in luxuriöse Kleider, mit arroganten Mienen und Kommentaren, die oberflächlich höflich waren, aber doch scharf genug, um zu verletzen. Dennoch bewegte sich Verath – der vernünftige, gütige und, wie Sylvanas zugeben musste, auch leidgeprüfte Verath – sicher und behaglich durch die Menge. Hier hielt er inne, um jemandem zur Geburt eines Kindes zu gratulieren, dort beglückwünschte er den Gewinner einer Auszeichnung, dem Nächsten wünschte er alles Gute für die neue Position, zu der er befördert worden war, und wieder anderen machte er Komplimente für ihre atemberaubenden Gewänder.

Wie macht er das nur?, wunderte sie sich. Kein Magister konnte es mit der Magie aufnehmen, die ihr Vater anwandte. Kein Wunder, dass er endlose Geduld mit seinem lebhaften Nachwuchs hatte.

Nach der Vorführung ging alles ganz schnell und schon bald trat Lirath regelmäßig bei Saltherils Abendgesellschaften auf. Mehr Leute kamen seinetwegen als wegen der eigentlichen Feier. Als er sechs Monate nach seinem Debüt ein weiteres Mal von Saltherils Hafen zurückkehrte, trug er einen verblüfften und aufgeregten Ausdruck auf dem Gesicht.

»Da ist ja meine Lady Mond!«, rief er zu Sylvanas hoch, die von einem der Balkone zu ihm herabwinkte.

»Und da ist mein Kleiner Lord Sonne!«, rief sie zurück.

»Komm runter! Ich muss dir etwas erzählen!«

Sylvanas eilte zu ihm nach unten; seine geröteten Wangen und sein rascher Atem hatten sie ein wenig besorgt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Es ging mir nie besser. Oh, Lady Mond … Saltheril will, dass ich vor Prinz Kael’thas auftrete!«

Jetzt war Sylvanas an der Reihe, verblüfft und aufgeregt dreinzublicken. Kael’thas Sonnenwanderer verbrachte die meiste Zeit in Dalaran, der Stadt der Magier; nach Hause kehrte er nur selten zurück. Sie schlang die Arme um ihren kleinen Bruder, und zum ersten Mal fiel ihr dabei auf, dass er inzwischen genauso groß war wie sie. Sein sehniger Körper fühlte sich unter ihrer Umarmung aber noch immer schlank wie eine Gerte an und sie beide lachten.

»Du bist mit Abstand der Beste von uns allen, weißt du?«, sagte Sylvanas, als sie zurücktrat und ihm das Haar verwuschelte. Das ließ Lirath erneut erröten.

»Ach was. Ich fühle mich geehrt, und ich bin aufgeregt, aber letztlich ist es nur Musik.«

»Ach ja, und es ist auch nur Prinz Kael’thas«, erwiderte sie mit gespielter Langeweile. »Selbst Vater muss einen Termin vereinbaren, wenn er den Prinzen bei einem seiner Besuche in Silbermond sprechen will, und jetzt kommt er her, nur um dich spielen zu hören!«

Das Blut wich schlagartig aus Liraths Gesicht. »Oh«, machte er. »Oh!«

»Was ist? Stimmt etwas nicht?«

»Sylvanas … was, wenn ich nicht gut bin?«

»Keine Sorge. Du wirst ihn verzaubern, genauso wie du alle anderen auch verzauberst.«

»Aber … ich habe noch nie …«

»Mutter und Vater werden da sein, um dir Mut zu machen.«

Er entspannte sich ein wenig, aber er wirkte noch immer nicht ganz überzeugt. »Gut. Trotzdem … wie kann ich sicher sein, dass ich es nicht vermassle?«

»Denk mal nach«, entgegnete Sylvanas. »Saltheril hat Kael’thas – der nur ganz selten hier ist – zu einer Darbietung eingeladen. Hätte er das wohl getan, wenn er glauben würde, dass die Sache für ihn peinlich enden könnte?«

Lirath lachte, als er das hörte, und die Anspannung fiel von ihm ab. »Dagegen lässt sich nichts sagen – also schön, du gewinnst.«

»Natürlich. Ich gewinne immer. Vergiss das nur nicht, Kleiner Lord Sonne.«

»Was soll das heißen, du kommst nicht mit?«

Sylvanas’ Stimme war scharf und wütend. Ihr Klang ließ Lireesa die Brauen zusammenziehen.

»Dein Vater und ich müssen die Pflicht immer über das Vergnügen stellen. Lirath ist jünger als du und sogar er versteht das.«