Wut und Böse - Ciani-Sophia Hoeder - E-Book

Wut und Böse E-Book

Ciani-Sophia Hoeder

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Beschreibung

Wann waren Sie das letzte Mal richtig wütend?

Frauen, die ihrer Wut freien Lauf lassen, haben schnell einen schlechten Ruf. Doch diese Wut kann eine mächtige Waffe gegen persönliche und politische Unterdrückung sein.
Ciani-Sophia Hoeder fragt nach: Wie haben wütende Frauen Geschichte und Popkultur geprägt? Welchen Einfluss haben die Erziehung von Mädchen und der abfällige Umgang mit Sorgearbeit auf die seelische Gesundheit von Frauen? Und wie wird aus Wut Mut zur Veränderung?

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Über das Buch

Zicken, Diven, Hysterikerinnen, Schreckschrauben: Frauen, die ihrer Wut freien Lauf lassen, haben schnell ihren Ruf weg. Mädchen werden zu stiller Eleganz erzogen, nicht zu Durchsetzungsfähigkeit. Doch weibliche Wut ist ein Geschenk, und wir müssen lernen, sie als solches wahrzunehmen. Das Frauenwahlrecht, #Aufschrei und der Women’s March: Richtig eingesetzt, kann Wut zu einer mächtigen Waffe gegen persönliche und politische Unterdrückung werden und uns helfen, die Welt zu verändern. Die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder zeigt, wie aus Wut Mut zur Veränderung wird.

Ciani-Sophia Hoeder

Wut und Böse

hanserblau

Inhalt

Vorwort

Was ist eine »Frau«?

Was ist Wut?

Wut und Aggression

Schöne neue Wut-Ära

Wütende Frauen

Ein wutloses Lexikon

Frauen und Wut

Spurensuche weiblicher Wut

Eine lächelnde Frau kann sich nicht gegen sexuelle Belästigung wehren

Destination Namaste

Süße Rache und internalisierte Wut

Wut und Diskriminierung

Wer hat Angst vor dem System des weißen Mannes?

Scham und soziale Zwänge

Wut als Katalysator für Veränderung

Wo sind all die wütenden Frauen in unserer Geschichte?

Ein Generationengespräch über Wut

Die vielen Formen der Wut

Was nach der Wut kommt

Wutmüdigkeit

Nachwort

Glossar

Quellenverzeichnis

Dank

Für Mama.

Vorwort

Anleitung zum Wütendsein

Sie war wütend. Ihre Wangen leuchteten in einem sanften Karminrot, ihre Stimme wurde energischer, drängender, erbarmungsloser. Meine Mutter stand mit meiner kleinen Schwester und mir in einem Supermarkt. Als alleinerziehende Mutter war das Geld immer zu knapp, daher überprüfte sie alle Rechnungen und versuchte, hier und da etwas zu sparen. An dem Tag entdeckte meine Mutter einen Fehler auf der Quittung. Ihr wurde zu viel Geld berechnet. Mit dem Einkauf, meiner Schwester und mir im Schlepptau fragte sie nach. Die Kassiererin sagte ihr, sie solle warten. Wir warteten. Wir warteten zwanzig Minuten. Von Minute zu Minute baute sich die Wutwolke in meiner Mutter auf. Als wieder ein neuer Kunde seine Lebensmittel auf das summende Band legte, stellte meine Mutter sich vor ihn und sagte zu der Kassiererin: »Ich möchte mit Ihrem Chef sprechen!« Sie stieß diese Worte förmlich hinaus. Die Kassiererin rief an, und nach einiger Zeit war er auch da. Es war zu viel. Das Warten. Die Kinder. Die Wut meiner Mutter bahnte sich ihren Weg durch den gesamten Laden, und das Gesicht ihres Gegenübers wurde hart, kalt und distanziert. Niemand hörte ihr mehr zu. Sie schrie. Die Menschen um uns herum taten sie als irrational, anstrengend und kompliziert ab. Sie verfielen in eine Abwehrhaltung. Zwar hatte meine Mutter recht, sich zu ärgern, doch sie war eine laute, hysterische Frau.

Das war nur einer von vielen Momenten, in denen ich lernte: Frauen dürfen nicht wütend sein. Wut ist eine cis-männliche Emotion. Unsere kulturellen Erwartungen an Geschlechterrollen halten Mädchen und Frauen weltweit davon ab, ihre Wut auszuleben. Dabei ist Wut eine Kraft, die sozialen Wandel hervorrufen kann. Eine aus biologischer, psychologischer und philosophischer Perspektive essenzielle Emotion, die, wenn sie nicht ausgedrückt wird, zu ernsthaften psychischen und physischen Problemen führt.

Wut ist unangenehm. Mir war sie peinlich. Sobald sie wellenartig in mir aufstieg, drückte ich sie jahrelang mit aller Kraft herunter. Das machte mich so müde, dass ich die Probleme, die der Grund meiner Wut waren, nicht sah. Ich war so sehr damit beschäftigt, meine heile Welt zu erhalten, auf meiner kleinen Insel der Happiness-Isolation zu versanden, statt gemeinsam mit anderen Menschen gegen Ungerechtigkeit vorzugehen. Denn unterdrückte Wut isoliert. Sie sorgt dafür, dass ich bei meinen Problemchen bleibe, obwohl diese nicht immer individuell, sondern kollektiv sein können.

Ich unterdrückte meine Wut, weil ich nicht als zickig, schwierig, laut, emotional oder unprofessionell wahrgenommen werden wollte. Dabei gibt es verdammt viele Gründe, so richtig wütend zu sein.

Frauen berichten häufiger von Erschöpfung als Männer. Sie erleben weniger Orgasmen, zumindest wenn sie Sex mit Männern haben. Sie verdienen weniger Geld als ihre männlichen Kollegen. Häufig ist das strukturbedingt. Drei Viertel des Verdienstunterschieds zwischen Männern und Frauen liegen daran, dass Frauen häufiger in Branchen und Berufen arbeiten, in denen schlechter bezahlt wird, und sie seltener Führungspositionen erreichen. Patientinnen werden seltener wegen Schmerzen behandelt als Patienten, die mit den gleichen Symptomen auftreten. Frauen sterben noch immer häufiger als Männer an einem Herzinfarkt. Die Sterblichkeit hängt noch dazu davon ab, wer sie behandelt. Werden Frauen von einer Ärztin behandelt, überleben sie deutlich häufiger.

Jede dritte Frau in Deutschland, die Männer datet, ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner. Betroffen sind Frauen aller sozialen Schichten. Mit dieser gigantischen Palette von Gründen stellt sich nicht nur die Frage, warum wir nicht außer uns sind, sondern auch, warum es ein strukturelles Verlangen gibt, Frauen ihre Wut abzusprechen.

Wie ist die Lage unserer Gesellschaft, wenn es keinen Raum für die Wut von Frauen gibt? Gibt es eine tiefe kulturelle Angst davor?

Eine Frau, die keine Wut empfindet, wird auch nicht zur Gefahr. Sie kann nichts an der eigenen, ungerechten Realität ändern. Dabei fühlen Frauen Wut genauso häufig wie Männer. Sie schlucken sie nur hinunter, weil unsere Gesellschaft eine lächelnde und sanfte Frau belohnt.

Wut ist ein cis-männliches, überwiegend heterosexuelles Privileg. Sie wird nicht nur je nach Geschlecht oder der Sexualität unterschiedlich wahrgenommen, sondern auch je nach Phänotyp einer Person, ihrer äußeren Merkmale, wie Körpergröße, Proportionen und Hautfarbe — all das determiniert die Wut-Dimension. Die Portion, die einem gewährt wird.

Wer privilegiert aussieht, dem wird Wut eher zugetraut. Als Schwarze Frau wird meine Wut ganz anders bewertet als die einer weißen Frau.

Wut ist nicht sexy. Sie passt nicht in den sorgfältig gemanagten Instagram-Feed hinein. Sie wird mit Yoga, Meditation und einem fast schon neurotischen Self-Care-Hype wegmeditiert. Dabei sind die Folgen von internalisierter Wut desaströs. Essstörungen, Selbstverletzungen, Kopfschmerzen, ein mangelndes Selbstwertgefühl, erhöhte Angstzustände, Burn-out, Depressionen — ihre Unterdrückung hat ernst zu nehmende Krankheiten zur Folge. Die Wut ist da. Und wie sie da ist. Wir leben sie nur nicht aus. Das ist gefährlich. Nicht nur für das eigene Wohlbefinden, sondern auch für unsere Gesamtgesellschaft. Die bittere Wahrheit ist: All die oben aufgeführten Probleme verschwinden nicht durch ein freundliches und ausgeglichenes Lächeln. Wer nie wütend ist, akzeptiert die Welt, wie sie ist.

Die Folge von unterdrückter Wut ist Stillstand.

Dann könnte die Lösung doch nun lauten, einfach wütend zu sein. Alles rauszulassen. Auf die Straße zu rennen und mal so richtig zu brüllen. Aber so leicht ist das nicht. Die Erkenntnis reicht leider nicht aus, und wer öffentlich ausrastet, gilt oft als charakterschwach. Wütende Frauen werden nicht ernst genommen. Es geht somit nicht nur darum, überhaupt zu begreifen, dass es eine systematische Trennung zwischen Wut und Weiblichkeit gibt. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Wandel. Schon von Kindesbeinen an sollten Mädchen den Raum erhalten, ihre Wut auszuleben, sie zu verstehen, statt dass sie belohnt werden, sobald sie diese herunterschlucken. Gleichzeitig müssen wir lernen, die Wut von Mädchen anzuerkennen. Wir alle empfinden Wut, nur lernen wir im Laufe unserer Sozialisierung, unterschiedlich mit ihr umzugehen.

Als meine Mutter an einer Supermarktkasse explodierte, hatte sie es nicht leicht. Sie hatte ziemlich viele Gründe, so richtig wütend zu sein. Sie war eine vollzeitbeschäftigte alleinerziehende Mutter, die nicht nur in diesem Geschäft für sich selbst und uns einstehen musste. Sie tat es täglich, dauernd. Mir war das damals unangenehm. Dabei brachte mir meine Mutter etwas Essenzielles bei: Steh für dein Recht ein. Auch, wenn es ungemütlich wird. Denn so ist sie, die Wut. Unbequem. Aber sobald man sie begreift und lernt, mit ihr umzugehen, fühlt man sich befreit.

Dieses Buch soll den Zorn, den Frauen zu Recht empfinden, legitimieren. Ihn in allen Nuancen beleuchten. Ich spreche über kanalisierte Wut, über die Differenzierungen bei gegenderter Wut und über intersektionalen Feminismus. Ich beleuchte Studien, Statistiken, Lebensläufe, Anekdoten, Erfahrungen und spreche mit unterschiedlichen Expert:innen. Eine kleine Anleitung zum Wütendsein also. Wut ist nicht unweiblich, unattraktiv oder gar egoistisch. Sie hat uns dazu verholfen, dass wir heute wählen können oder ein eigenes Bankkonto besitzen. Sie warnt uns, schützt vor Ungerechtigkeit, treibt an. Sie kann ein Katalysator sein, ein Motor. Warum also nutzen wir diese Kraft nicht?

Was ist eine »Frau«?

Dieses Buch analysiert die Wut von Frauen aus einer gesellschaftskritischen sowie feministischen Perspektive.

Dabei ist Wut nicht binär weiblich oder männlich. Sie wird aufgrund des engen Korsetts des Patriarchats aber in eine rigide Binarität gepresst. In Mann und Frau. In Stark und Schwach. In gute Wut und in böse Wut. Das wirkt sich auf die Daten aus, die in diesem Buch herangezogen wurden. Sie sind größtenteils binär ausgewertet, es gibt also einen »männlichen« und einen »weiblichen« Wert, die sich gegenüberstehen. Dabei ist es nicht meine Intention, diese Geschlechterbinarität zu reproduzieren, sondern ganz im Gegenteil, will ich darauf aufmerksam machen, dass Identität ein Spektrum ist.

Dieses Buch betrachtet die soziologische Dimension von Wut. Und die sollte eigentlich geschlechtsneutral sein, doch wie unsere Gesellschaft ist auch unser Verständnis von Wut durch das Patriarchat geformt.

»Frau« ist in diesem Buch kein biologischer, sondern ein soziologischer Begriff, der das ganze Spektrum von Weiblichkeiten aus einer intersektionalen Perspektive einschließt.

Wenn in diesem Buch von »Männlichkeit« gesprochen wird, bezieht es sich in den meisten Fällen nicht auf individuelle Männer, sondern auf die soziale Konstruktion von Männlichkeit durch das Patriarchat und die daraus resultierende soziale Ordnung und ihre Folgen.

Frausein zu greifen ist kompliziert. Die Ordnung der Welt, die aus dem europäischen Kolonialismus hervorging, beruht auf der Vorstellung, wie ein Mensch behandelt werden soll und muss. Ein berühmter Satz von der Schwarzen Freiheitskämpferin Sojourner Truth aus dem 19. Jahrhundert lautet: »Bin ich nicht eine Frau?« Dieser Satz forderte ihre weißen Schwestern im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei heraus, anzuerkennen, dass ihr Bild einer Frau von dem Konstrukt der Race abhing. Zur Lebenszeit von Sojourner Truth waren beispielsweise öffentliche Toiletten mit »Männer«, »Frauen« und »Colored« gekennzeichnet. Schwarze Frauen waren somit keine Frauen. Sie waren Schwarz.

Erst ab den 1950ern führten Wissenschaftler:innen aus dem angloamerikanischen Raum den Begriff Gender ein, um die sozialen Dimensionen des Geschlechts zu beschreiben. Frausein ist nicht an dem Satz »Es ist ein Mädchen!« ausgemacht, der erklingt, sobald ein Säugling auf die Welt kommt und untersucht wird, es ist abhängig von unseren gesellschaftlichen Konventionen. Die französische Philosophin Simone de Beauvoir schrieb vor knapp fünfzig Jahren in Das andere Geschlecht, dass Frauen nicht geboren, sondern gemacht werden. Gender ist nicht gleich Geschlecht, und Geschlecht nicht gleich Gender.

Es ist idealistisch zu denken, dass wir Geschlecht ohne Gender betrachten könnten oder andersherum. Wir können nicht feststellen, wie viel von unserer Existenz durch Biologie, Sozialisation und freien Willen determiniert ist. Diese Aspekte können nicht wie eine Gummibärchenpackung auf einem Tisch ausgekippt werden, um dann die roten und die gelben Bärchen auseinanderzuklamüsern. Alle Elemente interagieren miteinander, bedienen und verändern sich.

Philosoph:in und Gendertheoretiker:in Judith Butler beschreibt in dem Werk Gender Trouble, dass das Konzept Gender weniger die Unterschiede zwischen »Mann« und »Frau« beschreibt, sondern eine gesellschaftliche Machtverteilung. Butler stellt den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbestimmung aller Geschlechter in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Jeder Mensch könne das kulturelle Geschlecht ständig neu aufführen und unter Beweis stellen. Frausein sei eine Performance. Diese Theorie wurde von radikalen Feministinnen als amerikanisches Hirngespinst deklariert. Doch die deutsche Kulturtheoretikerin Dr. Ines Kappert argumentiert:

»Warum sonst tragen Richter:innen Roben, Ärzt:innen Kittel und Banker:innen Anzüge? Sie gliedern sich damit in eine Tradition ihres Berufsstands ein, wiederholen Rituale und verschaffen sich so Ansehen in einem professionellen Umfeld, noch ganz unabhängig von ihrem jeweiligen individuellen Handeln.«

Diese Kleiderordnung zeigt, wie die Performance von Identitäten den Alltag jedes Menschen bestimmt.

Judith Butlers spätere Arbeit kritisierte die Trennung zwischen Geschlecht und Gender. Butler macht darauf aufmerksam, dass sogar biologische Zuschreibungen und Kategorisierungen sozialen Prozessen unterliegen. Zusätzlich weisen die Neurowissenschaften schon länger auf die Wechselwirkung von Biologie und Psychologie hin. Beispielsweise ist unsere Gehirnstruktur maßgeblich von unserem Verhalten beeinflusst. Umgekehrt können sich zum Beispiel hormonelle Veränderungen auf unsere Empfindungen auswirken. Die Welt ist halt nicht weiß oder schwarz. Frausein sowieso nicht, genauso wenig wie eine Gummibärchenpackung.

Nur weil ein Mensch menstruiert, macht ihn das nicht automatisch zu einer Frau. Auch die Fähigkeit des Schwangerwerdens klassifiziert keine Frau. Die rein biologische Definition von Weiblichkeit schließt unter anderem trans Frauen aus. Eine rein soziale Definition von Weiblichkeit löscht die Erfahrungen von cis Frauen.

Nichtsdestotrotz sind Cis-Privilegien real. Systematisch erhobene Daten zur Benachteiligung von transidenten Menschen — zu denen auch nonbinäre, genderfluide und einige intergeschlechtliche Menschen gehören — gibt es in Deutschland nicht. »Transsexualität« wird in der Bundesrepublik weiterhin als psychische Krankheit geführt und als »Geschlechtsidentitätsstörung« klassifiziert. Eine Änderung des eigenen Namens, Personenstands oder des Geschlechts setzt nach den bestehenden rechtlichen Regelungen des »Transsexuellengesetzes« eine Begutachtung durch Sachverständige voraus — ein sehr langwieriges und strenges Diagnoseverfahren.

In einem Bericht für die Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission wird aufgezeigt, dass transidente Menschen in Europa massiver Diskriminierung in Form von Drohungen, Ausgrenzungen, sozialem Ausschluss, Spott, Beleidigungen sowie physischer und sonstiger Gewalt ausgesetzt sind. Dies betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens, den Zugang zu Bildung und anderen Gütern sowie Dienstleistungen und das Arbeitsleben. Darüber hinaus dokumentieren internationale Studien massive Gewaltverbrechen gegen transidente Menschen.

Auch geschlechtsspezifische Räume wie Umkleideräume oder Toiletten führen zu Diskriminierung. Dies ist einer der liebsten Punkte der sogenannten TERFs. Ein Akronym für »Trans-Exclusionary Radical Feminist« — ein Radikalfeminismus, der transidente Menschen ausschließt. Feministinnen, die diese Meinungen vertreten, sprechen sich aktiv gegen Transfeminitäten aus und wollen diese nicht in Frauenräumen und der feministischen Bewegung vertreten sehen.

TERFs gehen davon aus, dass das Geschlecht biologisch festgelegt und somit unveränderbar sei, weil uns bestimmte männliche und weibliche Körperteile für immer und ewig zu Männern oder Frauen machen. Aus dieser Perspektive heraus werden transidente Menschen wahlweise als Opfer oder als Täter:in gesehen, so Felicia Ewert in ihrem Buch TRANS. FRAU. SEIN. Je nachdem, wie es passt.

Der Mainstream-Feminismus sowie die radikalen TERFs verstehen unter einer »Frau« eine meist weiße, nicht offensichtlich behinderte cis Frau, die entweder hetero, maximal lesbisch ist. So werden Marginalisierungen und Ausschlüsse eins zu eins aus patriarchalen Strukturen übernommen und unhinterfragt weitergetragen. Statt Geschlecht als Spektrum und Geschlechteridentität als fließend anzuerkennen, wird hier etwas festgenagelt, das komplex ist und sich im stetigen Wandel befindet.

Dieses Buch wird immer wieder dafür plädieren, dass wir nicht von denjenigen in unserer Gesellschaft ausgehen, die die meisten Privilegien haben, sondern von denjenigen, die weniger Sichtbarkeit erhalten.

Frausein ist eine vielfältige Identität, die Erfahrungen, Erwartungen, institutionelle Steuerung, soziale Präsentation und innere Realität verbindet. Diese Faktoren werden nie isoliert erlebt, sondern bilden eine Bedeutungsmatrix, die Kontexte und Individuen miteinander verschmilzt und verschiedene Ideen und Verkörperungen von Weiblichkeit hervorbringt.

Die Definition von »Frau« in diesem Buch ist also weder rein biologisch noch rein sozial oder kulturell. Vielmehr ist Frausein eine komplexe Verhandlung eines vielschichtigen Systems. »Frau« bleibt ein nützliches Kürzel für die Verschränkung von Weiblichkeit und sozialem Status, unabhängig von der Biologie — nicht als Identität, sondern als Name für eine imaginierte Gemeinschaft, die sich gegenseitig empowert, zusammenhält und die kollektiv die Grenzen einer sexistischen Gesellschaft erlebt und diese überschreitet.

Was ist Wut?

Wut und Aggression

eine Begriffsgeschichte

Wut ist nicht gleich Wut. Es gibt unterschiedliche Definitionen von Wut, je nachdem, aus welcher Perspektive sie betrachtet wird.

Aus biologischer Sicht reagiert das Gehirn auf einen negativen Reiz. Das limbische System entscheidet über den sogenannten Fight or Flight-Modus. Man stelle sich vor, man macht sich auf den Weg, um ein paar Beeren für ein Fest zu sammeln. Im Hintergrund lauert ein gefährliches Tier, es kommt näher und stellt sich vor einen hin, reißt sein riesiges Maul auf — dann reagiert der Körper ganz automatisch und entscheidet sich zwischen Flucht, Kampf oder Erstarrung. Die Wut kommt dann ins Spiel, wenn man sich für den Kampf entscheidet. Dann startet die biologische Cocktailparty. Hormone und Botenstoffe — darunter Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin und Katecholamine — stellen den Körper auf Alarmbereitschaft ein. Die Pupillen werden größer, Haare stellen sich auf, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, und schon geht’s los mit der Wut.

Wie es einem Körper in Dauerwut ergehen könnte, ist ein Gedankenspiel, das dem britischen Horrorfilm 28 Days Later von 2002 zugrunde liegt. Darin verbreitet sich ein hochinfektiöses Wutvirus aus einem Forschungslabor in Cambridge über die gesamte britische Insel. In Sekundenschnelle werden aus Menschen reißende Bestien. Sie sind ihrer Wut komplett ausgeliefert, und das geht gar nicht gut aus. Die Botschaft lautet: Wenn die Bevölkerung 24/7 wütend herumliefe, dann wäre die Menschheit futsch. Das lateinische Wort für Wut, furore, bedeutet Raserei, Wahnsinn und Leidenschaft. Also eine eindimensionale und zerstörerische Emotion. Dieser Darstellung begegnen wir in Filmen, Büchern, im Fernsehen und der Musikindustrie — nicht zuletzt in der Figur, die vermutlich der Inbegriff von Wut ist: Hulk.

Nach einem Unfall mit radioaktiver Gammastrahlung mutiert der Physiker Bruce Banner bei jedem Hauch von Zorn zu einem unkontrollierbaren grünen Monster, das alles kurz und klein schlägt, was ihm in den Weg kommt. Dies signalisiert: Wut ist zerstörerisch. Psychologisch gesehen ist Wut nicht nur ein chemischer Prozess unseres Körpers oder eine grüne Raserei. Psycholog:innen fokussieren sich eher auf den Ursprung von Wut. Dabei unterliegt sie Lernvorgängen und kognitiven Prozessen, die von Person zu Person unterschiedlich ausfallen. Die Wissenschaft ist sich vor allem eines: uneinig.

Es gibt drei vorherrschende Entstehungstheorien für unsere Wut. Die Triebtheorie nach Sigmund Freud geht davon aus, dass Menschen mit einem angeborenen Aggressionstrieb zur Welt kommen. Nur unsere gesellschaftlichen Normen sorgen dafür, dass wir nicht wie Mini-Hulks durch die Gegend stampfen. Gleichzeitig kann es zu einer seelischen Störung führen, wenn wir unser kleines grünes Monster nicht das ein oder andere Mal die Kontrolle übernehmen lassen. Die Wut muss auch mal raus. So viel zu Freud.

Die Frustrations-Aggressions-Theorie besagt, wie der Name schon andeutet, dass Wut, hier »Aggression« genannt, eine sekundäre Emotion ist. Sie entsteht als Reaktion auf ein Gefühl, das die jeweilige Person nicht ausleben kann, wie Frust beispielsweise. Etwas, das wir bei Babys sehr gut beobachten können, wenn sie nicht das kriegen, was sie wollen. Wut ist demnach eine Abreaktion. Aber hier müssen wir aufpassen: Aggression und Wut werden in diesem Zusammenhang als Synonym verwendet. Warum das unscharf ist und zu Missverständnissen führen kann, dazu später mehr.

Der Lerntheorie von Albert Bandura nach spielt, sobald wir einem negativen Reiz ausgesetzt sind und sich unser limbisches System zwischen Flucht, Kampf oder Erstarrung entscheiden muss, vor allem die eigene Erfahrung eine signifikante Rolle. Das bedeutet, um wieder zum Beerensammeln zurückzukommen: Wenn man beim Beerensammeln bereits häufiger einem gefährlichen Tier ausgesetzt war und gelernt hat, dass man im Kampf erfolgreich ist, speichert das limbische Gehirn diese Erfahrung ab. Je häufiger man diesen Prozess erlebt, wenn man beispielsweise brüllend mit einem Stock auf das Tier zurast und dieses dann verschwindet, also negativer Reiz — Wut — Problem gelöst, desto häufiger wird man Wut als Lösung nutzen. Albert Bandura beschreibt Wut als erlerntes Verhalten. Sie sei ein Verhaltensmuster, das durch bestimmte Erfahrungen und das Lernen von Vorbilder:innen antrainiert wird.

Dann gibt es noch die Idee von Rainer Schandry, der eine Mischung aus den vorherigen Theorien proklamiert. Wut und Aggressionen seien Grundelemente, die auf genetische Fundierungen zurückgehen, zusammengehalten durch soziale Normen und die Orientierungen am Umfeld.

Dieser kleine wissenschaftliche Exkurs zeigt, wie komplex Wut ist. Sie gilt in den meisten Kulturen als verwerflich und ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Sie entspricht nicht dem erwarteten Sozialverhalten — zumindest im Globalen Norden. Dabei ist einer der hartnäckigsten Mythen, dass Wut schlecht für die Gesundheit sei.

Eine Studie aus dem Jahre 2014, die im European Heart Journal veröffentlicht wurde, untermauert diese Vermutung. Sie bewies, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen intensiven negativen Emotionen und dem Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall gibt. Doch damit beginnen schon die Probleme. Wut wird in den Sammeltopf der »negativen Emotionen« geworfen. Die Behauptung, dass Wut etwas Schlechtes sei, zieht sich wie ein roter Faden bis in die Wissenschaft. Dabei beweist die Arbeit von Shinobu Kitayama, Jiyoung Park und Jennifer Morozink Boylan, dass unsere Kultur unser Verständnis von positiven und negativen Emotionen beeinflusst. In einer Studie aus dem Jahr 2015 mit Teilnehmer:innen aus den USA und Japan stellten die Forscher:innen fest, dass Wut in bestimmten Kulturen tatsächlich mit einer besseren statt einer schlechteren Gesundheit verbunden sein kann.

»Viele von uns — in den westlichen Gesellschaften — glauben naiverweise, dass Wut schlecht für die Gesundheit ist, und Überzeugungen wie diese scheinen durch die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse untermauert zu werden«, sagt der Psychologe Shinobu Kitayama von der Universität Michigan. »Aber unsere Studie legt nahe, dass die Binsenweisheit, die Wut mit schlechter Gesundheit verbindet, nur innerhalb der kulturellen Grenze des ›Westens‹ gültig sein könnte, wo Wut als Index für Frustration, Armut, niedrigen Status und alles andere, was die Gesundheit potenziell gefährdet, fungiert.«

Diese Ergebnisse zeigen, dass Wut nicht das Problem ist, sondern unsere Konventionen. Sie beeinflussen, wie wir unsere Gefühle zeigen, was wiederum durch unsere Gesellschaft beurteilt wird, und das verändert unsere Selbstwahrnehmung. In früheren Arbeiten stellten Kitayama und seine Kolleg:innen fest, dass Wut in Japan ein Signal für einen hohen gesellschaftlichen Status ist. Kultureller Kontext spielt also eine große Rolle bei der Erforschung und Einordnung von Wut.

Noch einmal zur Psychologie. Die Definition davon, was Wut ist oder wie sie sich im Verhalten manifestiert, orientiert sich laut Brigitte Bauer, die diese Frage in Sanftmütige Männer — dominante Frauen: Wut und Aggression unter der Geschlechterperspektive analysierte, an dem Prototyp Mensch. Der ist allerdings gar nicht so neutral oder prototypisch wie von der Wissenschaft proklamiert, sondern ziemlich spezifisch: ein weißer, heterosexueller cis Mann. Bei der Suche nach dem Ursprung und der Überlegung, was Wut ist, sollten die Fragen aber doch eigentlich lauten: Wie ist Wut, und für wen ist sie?

Bei Zuschreibungen wie offen, laut, stampfend, brüllend — also all dem, was uns die Popkultur in Bild, Text, Ton und Video liefert —, handelt es sich aber auch gleichzeitig um Beschreibungen, die zu Aggression passen. Dabei liegt schon ein großer Fehler darin, Wut und Aggression miteinander zu vermischen. Denn Wut ist die Ursache und Aggression die Wirkung. Aggression ist eine Verhaltensweise, die durch eine Emotion, also auch durch Wut, ausgelöst wird. Wut und Aggression sollten deshalb nicht synonym verwendet werden. Doch genau Letzteres steht in theoretischen Modellen stets im Mittelpunkt. Und wenn sich Wissenschaft, Psychologie im Speziellen, und Popkultur bei der Definition von Wut ausschließlich an diesem engen Modell orientieren, wie steht es denn dann um den Rest von uns?

Es ist ähnlich wie bei einem Herzinfarkt. Die Symptome sind bekannt: Der linke Arm schmerzt, die Person schwitzt, fasst sich an die Brust und kippt um. Doch dies beschreibt keinen typischen Herzinfarkt. Dies beschreibt einen Herzinfarkt bei Männern. Bei Frauen verläuft er ganz anders. Sie erleben Kurzatmigkeit, Schweißausbrüche, Rückenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Oberbauch. Nicht gewusst? Ging mir ähnlich. Männer erleiden zwar häufiger einen Herzinfarkt als Frauen, aber sie sterben seltener daran. Mit ein Grund dafür ist, dass die Symptome des »männlichen« Herzinfarkts besser bekannt sind. Zusätzlich fokussieren sich Daten über Herzinfarkte auf cis Frauen und Männer.

Zurück zur Wut. Was ist, wenn wir Wut gar nicht verstehen, weil wir nie gelernt haben, wie sie sich anfühlt?

»Ich bin nicht wütend. Ich bin eher traurig«, erklärte meine beste Freundin am Telefon, als ich sie fragte: Wann warst du das letzte Mal wütend? Neun von zehn Frauen antworten: Ich bin nicht wütend. Nie und nimmer? Doch schon. Aber halt nicht so richtig wütend.

Wir haben verinnerlicht, Wut nicht empfinden oder verbalisieren zu dürfen. Das hat eine lange Historie. Wut wurde für Frauen ziemlich lange kriminalisiert. Die Journalistin Anne Dittmann schreibt, dass im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts Ehemänner nörgelnden Ehefrauen zu Hause eine Schandmaske um den Kopf legen durften. Die Vorrichtung aus Stahl besaß einen Mundknebel mit einer dornenbestückten Metallplatte, die die Zunge der Frau im Zaum halten sollte. Heute beißen sich viele Frauen selbst auf die Zunge.

Wenn wir Wut erforschen, erforschen wir etwas, das wir nicht präzise erklären können, aus einer sehr schmalen cis-männlichen Perspektive. Wir verwenden Wut als Synonym für Aggression und verstehen sie gar nicht so recht. Trotzdem herrscht Konsens darüber, dass Wut schlecht und zerstörerisch sei. Sogar Gerichte erkennen an, dass Menschen in Wut »wie von Sinnen« agieren. Die Affekthandlung bezeichnet in der Kriminologie eine reaktive Handlung, deren Ablauf vom Ausführenden (sic!) nicht beherrscht wird und die durch intensiv empfundene und meist kurz andauernde Gemütserregungen (Affekte) motiviert ist. Dies können Regungen des Zornes, der Wut, der Angst und des Ärgers sein. Wenn eine Person einen Mord im Affekt begeht, wird die Strafe vermindert, was nicht geschieht, wenn der Mord kalkuliert und geplant ist. Wir verbinden Wut damit, dass wir die Beherrschung verlieren, dass wir außer Kontrolle geraten und unsere Wut an anderen Menschen auslassen. Wir gehen davon aus, dass Wut dasselbe ist wie ein unkontrollierbarer Anfall von Gewalt und Zerstörung.

Wut kann selbstverständlich schlecht sein. Wut kann Existenzen zerstören. Doch sie kategorisch zu verdammen, ist unlogisch und schädlich für uns. Evolutionsbiologisch ist Wut die stärkste natürliche Waffe der Menschen — genau deshalb hat sie sich im Laufe der Evolution zu einem festen Bestandteil unserer Gefühlswelt entwickelt. Wut ist ein intensiver Affekt und gehört zur Ausstattung unseres Organismus. Wir brauchen die Wut, die mit Erregungssteigerung verbunden ist, zum Überleben. Ohne heiße Wutreaktionen keine Lebendigkeit. Und auch keine Möglichkeit, sich als ein Selbst zu erleben, das bestimmt, was es möchte und was nicht. Denn das Momentum, das durch Wut durch den Körper schnellt, kann produktiv sein, verändern und Neues schaffen.

Schöne neue Wut-Ära

Mit dem medial polarisierenden Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 ab 2010 sowie kontroversen Büchern begann in Deutschland eine neue politische Mobilisierung, und die hatte eine Agenda: Veränderung durch Wut. Der Journalist Dirk Kurbjuweit gab dem Phänomen in einem SPIEGEL