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In diesem Buch wird gelebt. Intensiv. Kompromisslos. "Man" identifiziert sich mit allen möglichen Existenzen im Sinne von: Nun bin ich der/die/das … Es sind Geschichten voller Einsamkeit, Zweifel, Hass, Suche, Ignoranz, Liebe, Leid und Glück. Alles dabei. Lebensphasen zwischen Poesiealbum und Hospiz. Irdisches und un- bzw. überirdisches Begegnen durchdringen und ergänzen einander. Die Kenntnis, also das Verstehen der Vergangenheit, bewirkt Erkenntnis in der Gegenwart, und gemeinsam bewirken sie eine gute Prognose für die Zukunft. Yippie! mit 14 Aufnahmen von Objekten
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Seitenzahl: 105
Veröffentlichungsjahr: 2017
Bernhardin Mercy
LIEBE
Liebes- und andere Geschichten
vom Poesiealbum bis zum Hospiz –
von der Wiege bis zur Bahre …
und darüber hinaus
© 2017 Bernhardin Mercy
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7439-2408-6
Hardcover:
978-3-7439-2409-3
e-Book:
978-3-7439-2410-9
Alle Namen in „Yippie – es lebe die LIEBE“ sind frei erfunden.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Vorwort
und
Nachwort
… und lebte ich ein andres Leben,
ich glaub, so anders wär es nicht;
auch darin würd ich mich erheben
und suchen nach dem Licht.
2017
Zwischen Menschen Straßen bauen –
dem anderen in die Augen schauen –
in dessen Augen sich selber sehen
und nicht an sich vorübergehen.
2017
Zwischen Menschen Mauern bauen –
dem anderen nicht in die Augen schauen –
in dessen Augen nicht sich selber sehen –
wie auch?
und (demzufolge) an sich vorübergehen.
2017
Zwischen Menschen Straßen bauen –
dem anderen in die Augen schauen –
in dessen Augen sich selber sehen
und nicht an sich vorübergehen.
2017
Wer in dieses Album schreibt,
den bitte ich um Sauberkeit.
(und reißt mir bitte keine Seiten raus)
Dieses Album ist von Bettina.
Mach es wie die Sonnenuhr,
zähl die heit’ren Stunden nur.
Dieses schrieb Dir Deine Freundin Maria ein.
22.04.1989
Sei fleißig wie ein Bienchen,
sei brav wie ein Kaninchen,
sei sauber wie ein Kätzchen,
dann kriegst Du bald ein Schätzchen.
zum Andenken an Deine Freundin Rebecca
Willst du glücklich sein im Leben,
trage bei zu andrer Glück,
denn die Freude die wir geben,
kehrt ins eigne Herz zurück.
Dies schrieb dir deine Klassenkameradin Nadine ein.
Vaterliebe baut das Haus,
Mutterliebe schmückt es aus,
Kinderliebe allezeit
leuchtet hell in Ewigkeit.
Dies schrieb die Julia ein.
Wirst Du einst mich mal vergessen,
wird dich gleich der Wauwau fressen,
dich packen,
bis du wieder denkst an mich.
Achtung fertig los …
von Antrea am 23.5.89
Blaue Augen, roter Mund,
bleib gesund.
Dieses schrieb dir deine Silke ein.
Die größte Kraft des Lebens ist der Dank.
Dieses schrieb dir deine Mama ein.
Irrtümer haben ihren Wert, jedoch nur hier und da.
Nicht jeder, der nach Indien fährt,
entdeckt Amerika.
von Deiner Schwester Corinna
Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
geschrieben von Verena
Vergesse nie die Heimat, wo deine Wiege stand,
du findest in der Ferne kein zweites Heimatland.
geschrieben von Ursula
Drei Engel sollen dich begleiten auf deiner Lebenszeit,
die Engel, die ich meine,
sind Liebe, Glück, Zufriedenheit.
Katja
Wenn die Flüsse aufwärts fließen
und die Hasen Jäger schießen,
wenn die Mäuse Katzen fressen,
dann erst werd ich dich vergessen.
von deiner Jugendfreundin Sabrina
Liebe Freundin, bitte, sei schlau,
werde keine Ehefrau.
Vor der Ehe kriegst du Rosen
in der Ehe flickst Du Hosen.
für immer deine Freundin Marita
Will dich einst ein Bub mal küssen,
stell dich nicht so schüchtern an.
Mutter braucht’s ja nicht zu wissen,
hat es früher selbst getan.
Dieses Sprüchlein lieb und fein
schrieb dir deine Sonja ein.
Sage nie
ich hab keine Lust.
Denn das Leben sagt Dir:
Du musst.
Vergissmeinnicht – Deine Tanja
Mir wird etwas schwindelig, wenn ich mir bewusst werde, dass ich alles
und alle bin.
Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie.
Der … die … das Sichtbare und das Unsichtbare.
Plötzlich bin ich auch die 99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont.
Der Weg zum Horizont bin ich und auch der Horizont selber.
Und alles, was sich dahinter befindet, kosmisch.
Wenn die 99 platzen, was dann?
In dem Fall bin ich die 99 Geplatzten.
Auch gut.
(Jetzt kennen Sie das von mir, dass man selber alles und alle ist … und wundern sich über nix mehr.)
Wolfgang Amadeus ist ein Gedanke im blauen Kosmos.
In einem Samentropfen sinkt dieser große Gedanke des Wolfgang Amadeus in den Körper seiner Frau Mutter ein.
Dort macht er, neun Monate lang, Musik und Noten, bis er, ein Genie schon, ganz klein, ganz groß, das Licht der Welt erblickt.
Dann macht er, 32 Jahre lang, Musik und Noten, bis er, ganz groß, ganz klein, im blauen Kosmos versinkt.
Mein Bauch gehört mir –
und das Kind in meinem Bauche gehört sich selbst.
Ich male
einen Bogen der Busen,
einen Bogen der Bauch,
einen Bogen das Baby.
Da kommt die Katze angelaufen,
tapst durch die Farbe
und malt noch eine Katzenpfote dazu.
Lieber Matthias,
in der sechzehnten Schwangerschaftswoche schien dir das in Aussicht gestellte zukünftige Leben unerträglich, sodass du dich entschließen mochtest, dir die restliche Lebenszeit zu ersparen und zurückzukehren von woher du kamst.
Dass es dabei bluten und weinen würde, war klar. Das entspricht unserer momentanen Natur, das ist Gesetz unseres derzeitigen irdischen Lebens. Die Schwester sagte, der Arzt schläft gerade, ich darf ihn nicht wecken. Das Blut muss erst richtig laufen. Ach so, das wusste ich nicht, damit hatte ich nicht gerechnet. Der Arzt, sicher ist er müde, zu müde, um noch Leid abkürzen zu können, oder zu wollen.
Dann fühlte ich dich, einen sechzehn Wochen alten Matthias, mit einem Riss aus der Scheide rutschen. Ich schlug die Bettdecke zurück und sah dich, mein Kind, die kleine gekrümmte Wirbelsäule, das blutige Etwas, und konnte nicht einmal weinen, nur noch bluten.
Wieder kam die Schwester herein, riss ohne ein Wort zu sagen dich zwischen meinen Beinen fort; eingewickelt in das blutige Tuch trug sie dich hinaus. Nicht einmal konnte ich zum Abschied dir etwas hinterherrufen. Danach lebte ich zwei Jahre lang ohne dich, ohne mich und ohne Tränen, bis deine jüngere Schwester sich anmeldete in mir.
Erst viele Jahre später gab ich dir den Namen: Matthias.
Mein kleiner großer Junge. Nun bist du fast 50 und ich über 70.
Es tut mir leid, dass es damals (noch) keine Bestattungen für Kinder wie dich gab. Das tut mir leid. Jedoch, die Wunden sind geheilt, die Tränen getrocknet.
Danke, dass du da warst.
Danke, dass du da bist.
Ich liebe dich.
Deine kleine Mama
Ich bin eine andere Frau, bekomme ein Kind, ein richtiges lebendiges kleines Kind. Es wird ein Kaiserschnittkind, anders geht es nicht. Ich freue mich und bin sehr gefasst und konzentriert. Ich zähle bis dreizehn, dann habe ich keine Zahlen und keine Sprache mehr.
Nun spüre ich, wie ein Schnitt, der Schnitt längs über meinen Bauch geht. Ich schreie auf und höre den Arzt rufen:
„Mehr geben, mehr geben!“
Dann bin ich weg.
Ich sehe die Szene von oben. Der Arzt ist aufgebracht. Er reißt den Schwestern das Operationsbesteck aus den Händen. Nachdem er es benutzt hat, wirft er es auf den Metalltisch. Die Schwestern sind still und verbittert. So haben sie sich das Helfen nicht vorgestellt.
Nur die Hebamme ist ruhig und freundlich.
Ich sehe meinen geöffneten Bauch wie einen Krater. Ich weiß, mein Kind ist nicht mehr in mir, nicht mehr bei mir. Dann bewegt sich ein Oval aus Licht in mich hinein, in den Krater hinein. Nun weiß ich, mein Kind ist zurückgekehrt.
Ich bin das Kind. Ich will meine Mutter nicht allein zurücklassen ohne mich. Aus Liebe kehre ich zurück. Obwohl ich weiß, dass es nicht einfach und nicht wirklich schön sein wird, was mich auf der Erde erwartet.
Ich hatte schon alles „hinter mir“. Doch, ich kehre zurück in dieses Leben. In meine Mutter.
Ich bin die Mutter. Entspanne mich. Sehe, wie der Arzt mein Kind mit beiden Händen aus dem Krater ausgräbt. Höre es schreien. Gott sei Dank. Wir sind gerettet.
Da sagt der junge Papa:
Früher habe ich oft nachgedacht über den Sinn des Lebens. Meines Lebens. Heute brüllt mir der Sinn meines Lebens aus dem Kinderbett entgegen. Damit ist die Frage beantwortet.
Vielen Dank, mein Söhnchen!
Bin junge Mutter.
Habe gerade ein Kind geboren.
Vor einer Stunde.
Mein erstes Kind.
Es hat keine Arme.
Es hat nur einen Kopf und einen Rumpf und Beine.
Ich sage zu ihm:
Verzeih mir,
heute kann ich dich noch nicht lieben.
Aber bald werde ich es können.
Vielleicht schon heute Abend.
Ich bin auf dem Wege zu dir, möchte dich gerne besuchen. Mal vorbeikommen nennt man das heute. Ich weiß, du ziehst Bilanz, Bilanz über deine Kindheit und Jugend und über meine Erziehung. Bald kommt die Endabrechnung, ich bin im Soll. Bitte, liebe Sternentochter, vergiss auch das Haben nicht!
Nun bin ich da. Sehe Licht hinter der Jalousie, klingeln, Spionklappe beiseite geschoben, Türe geöffnet, nicht weit.
„Hallo!“
„Hallo, wollte nur etwas vorbeibringen.“
„Ja?“
Türe weiter geöffnet, Mutterpanoramaröntgenblick in Wohnraum und Küche. Hat sie den Kühlschrank gefüllt, den Spül rumstehen, das Bett gemacht, den bunten Pulli an (und nicht den schwarzen)? Dann ist es gut. Plastiktüte mit Kakaodrink, Waffelröllchen, Butter und Käse, Mandarinen, Bananen so nebenbei im Flur abstellen, unauffällig ein Kuvert mit 50 dazu und ein Kerzchen, dann verabschieden: „Tschüss, ruf doch mal an!“ „Tschüss, danke!“ – „Tschüss!“
Als ich Kind war, hat man mir gesagt: Du hast nichts zu wollen. Das stimmt nicht. Ich habe was zu wollen. Eine ganze Menge sogar. Jede(r) hat was zu wollen. Eine ganze Menge sogar.
Nun bin ich ein Junge von vierzehn Jahren. Oma kommt zu Besuch, weil Mama am nächsten Tag dreiundvierzig Jahre alt wird. Rosa kommt hereingelaufen und ruft: „Oma kommt!“
Zuerst renne ich zur Tür, dann Rosa, dann die Katzen, dann Mama. Am Nachmittag hole ich die neue Frauenzeitung für Mama. Sie liest abends im Bett. „Liebesnächte in der Taiga“, bis ihr das Blatt aus der Hand fällt. Mama hat heute Geburtstag. Rosa und ich pflücken Blumen auf der Wiese. Mama freut sich.
Abends hat sie Gallenkolik. Sie stöhnt vor Schmerzen. Rosa ruft den Doktor. Mama muss sofort operiert werden. Operation geglückt. Mama auf dem Wege der Besserung. Sie freut sich, dass ich sie besuche. Sie sagt: „Sei mal schön brav!“
Dann fahre ich mit Papa zur Kirmes. Er hat kein Kleingeld für das Karussell … In der Gastwirtschaft will er Geld wechseln, aber er besäuft sich. Er schmeißt einige Gläser kaputt. Dann wirft der Wirt ihn raus. Draußen kotzt Papa. Dann fahren wir nach Hause.
Oma ist am Weinen und hält sich an der Wand fest. Sie sagt: „Mama ist tot.“
Papa setzt sich auf Mamas Bett und heult laut. Ich hole mein Fahrrad und sause zum Krankenhaus. Unterwegs fahre ich in einen Bach und krieche nass wieder heraus und fahre weiter. Im Krankenhaus sagt die Schwester zu mir:
„Tut mir leid, deine Mutter ist noch nicht eingesargt. Du musst morgen wiederkommen.“
Als Kind musste ich (gezwungenermaßen) immer danke und bitte sagen. Auch dann, wenn ich das gar nicht meinte. Inzwischen sage ich statt bitte … wäre nett, wenn Sie … statt danke … war nett, dass Sie … oder so was in der Art. Und das nur, um bitte und danke zu umgehen. So stark kann Erziehung nachwirken, manchmal bis ins hohe Alter.
Nun bin ich der „Fürsorgezögling“.
Als ich merke, dass die Türen keine Klinken haben, wird mir mulmig. Ich muss mich ausziehen und bekomme Klamotten vom Heim. Einige sagen, es wäre kein Heim, es wäre eine Anstalt. Dann werde ich in den Aufenthaltsraum gebracht. Und setze mich auf einen Stuhl.
Nun bin ich der andere Fürsorgezögling. Ich mag den Neuen nicht, gehe auf ihn zu und frage ihn: „Willst du eins in die Fresse haben?“ Aber der Neue antwortet nicht.
Nun bin ich ein anderer Jugendlicher. Ich mag den Neuen nicht und schleiche mich von hinten an ihn ran. Ich kippe seinen Stuhl um, das geht ganz einfach.
Nun bin ich wieder der Erste. Als der Neue am Boden liegt, werfe ich mich auf ihn und versuche, ihn zu küssen. Nun bin ich wieder der Neue. Ich trete dem, der auf mir liegt, in den Magen. Am nächsten Tag werde ich den ganzen Tag untersucht: Blutabnahme, Gleichgewichtstest, Reflexe, Gehirnströme, Röntgenaufnahmen.
Ab nun verläuft mein Tag so: halb sieben aufstehen, Marmeladebrote zum Frühstück, dann nähe ich freiwillig zwanzig Knöpfe an Schlafanzüge. Mittagessen. Fernsehen von vier bis sechs Uhr, Abendessen – ins Bett. Ich zeige einem Jungen ein Foto von meiner Schwester. Er sagt: „Die ist aber geil“ und gibt mir das Bild nicht mehr zurück. Er nimmt es mit ins Bett.