You Are My LIFE - Felicitas Brandt - E-Book

You Are My LIFE E-Book

Felicitas Brandt

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Beschreibung

Aylins Leben war nicht einfach. Früher hatte sie große Träume, doch eine ungeplante Schwangerschaft und der Unfall ihres Bruders veränderten alles. Heute kämpft sie als alleinerziehende Mutter für ein bisschen Halt in einer Welt, in der sie sich oft fehl am Platz fühlt. In der Stille des Waldes, mit Pinsel und Leinwand, findet sie einen Moment für sich selbst – verborgen vor allen. Ian sieht die Frau hinter den Mauern und Masken, doch um ihr zu beweisen, dass er es ernst meint, braucht es Zeit. Und auch er hat ihr noch lange nicht alles von sich erzählt. Können Ian und Aylin mit Gottes Hilfe die unausgesprochenen Wahrheiten in ihrem Leben überwinden und sich gegenseitig ihr Herz öffnen? Das emotionale Finale der Way.Truth.Life-Serie zeigt eine wunderbare Friends-to-Lovers-Liebesgeschichte aus dem Bibertal-Universum. Nach Emma & Finn sowie Lexie & Gideon bekommen nun Aylin & Ian ihre eigene Geschichte. Ein Roman über zweite Chancen, Glauben, Vertrauen und die leisen Gesten, die das Leben verändern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 584

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Felicitas Brandt

You are my Life

Felicitas Brandt, 1990 in Schwerte geboren, begann schon während des Abiturs mit dem Schreiben und veröffentlichte kurz danach ihre erste Trilogie.

Wenn sie nicht gerade mit Protagonisten über den Fortlauf ihrer Geschichte diskutiert, verbringt sie am liebsten Zeit mit ihren Freunden oder taucht an ihrem Lieblingsplatz in Geschichten ein. Mit ihren Romanen möchte sie Menschen berühren, zum Nachdenken bringen und kleine Pausen vom Alltag schaffen. Die „Way.Truth.Life-Trilogie“ ist ihre zweite Serie im Brunnen Verlag.

Die Bibelstellen sind der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Elberfelder Bibel, 1905. Gemeinfrei.

© 2025 Brunnen Verlag GmbH

Gottlieb-Daimler-Straße 22, 35398 Gießen

www.brunnen-verlag.de

[email protected]

Die Nutzung von Bild-, Sprach- und Textdaten für sog. KI-Trainings und ähnliche Zwecke ist nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung erlaubt.

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Brunnen Verlag GmbH, Gießen

ISBN Buch 978-3-7655-2156-0

ISBN E-Book 978-3-7655-7769-7

Für meine Mami, weil sie durch und durch großartig ist. ♥

Inhalt

Personenregister

Was bisher geschah

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Danksagung

Personenregister

Emma ist im Frühjahr nach Bibertal gezogen und arbeitet dort als Buchhändlerin. Sie ist mit Finn liiert und lebt in einem Bungalow zwischen den Grundstücken von Lexie und Finn. Lexie und sie kennen sich seit dem Kindergarten, haben sich aber aus den Augen verloren.

Gideon, Emmas Zwillingsbruder und Feuerwehrmann, ist im Sommer ebenfalls nach Bibertal gezogen und ist seit Kurzem mit Lexie liiert. Er wohnt im Haus der Iversen, sieht sich aber nach etwas Eigenem um.

Finn ist ein ehemaliger Reitsportprofi und lebt zusammen mit seiner Schwester und Nichte auf einem Hof außerhalb von Bibertal. Seine Vergangenheit ist düster, doch durch die Hilfe seiner Freunde und schließlich auch Emma hat er zurück ins Leben gefunden.

Aylin, Finns ältere Schwester, ist Krankenschwester und Mutter. Sie ist eine leidenschaftliche Reiterin und Künstlerin, leidet aber unter dem Druck ihres Jobs und der Angst, ihrer Tochter Auri nicht gerecht zu werden.

Auri, Aylins neunjährige Tochter, liebt ihr Pony Archibald, ihre Hunde Nemo & Marlin, Mutter-Kind-Tage mit ihrer Mama, Kinoabende mit ihrem Onkel sowie seine stetig wachsende Freundesgruppe – und saure Drachenzungen!

Lexie ist Finns Nachbarin und kam vor einigen Jahren nach Bibertal, um für die Tierschutz-Organisation Second Chance den Aufbau eines Bärengeheges zu übernehmen sowie die Ansiedlung und Überwachung der Tiere zu verwalten. Ihre Adoptivmutter ist die bekannte Fotografin Yara Flemming.

Ian kam kurz nach Lexie nach Bibertal. Über seine Herkunft ist nicht viel bekannt, umso wilder sind die Gerüchte, die man sich in Bibertal erzählt. Er arbeitet im Dankbar, dem besten Restaurant von Bibertal, und lebt gemeinsam mit seinem Hund Jamie in einem kleinen Häuschen im Wald.

Noah ist der örtliche Tierarzt und ein fester Bestandteil der Freunde-Truppe. Durch seine Arbeit ist er in Bibertal gut vernetzt. Lexie und er unterstützen sich beruflich, wo sie nur können.

Amal ist Finns bester Freund und Polizist. Er ist mit seiner Jugendliebe Nanni verheiratet und sehr aktiv in ihrer kleinen Kirchengemeinde. Außerdem liebt er komplizierte Brettspiele.

Nanni ist Amals Ehefrau und hat gerade ihr erstes Baby zur Welt gebracht. Außerdem ist sie die Nichte von Emmas Chefin im Buchladen und hat Emma zu ihrem Job verholfen. Sie ist Lexies Anker, doch mehrere Fehlgeburten überschatten ihr sonniges Wesen.

Sabine ist Emmas & Gideons Mutter, hat jedoch kein gutes Verhältnis zu ihren Kindern. Sie ist eine erfolgreiche Reporterin und für eine gute Story würde sie so ziemlich alles tun.

Nora ist Gideons ehemalige Arbeitskollegin und wurde vor Kurzem als gefährliche Brandstifterin enttarnt. Sie ist für Gideons Unfall verantwortlich und wurde noch nicht gefasst.

Jeremiah ist der Besitzer des Dankbar und Ians Vermieter. Ein gemütlicher Weltenbummler im Ruhestand.

Was bisher geschah

Bibertal ist das Zuhause einer bunten Gruppe von Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten. Im Frühjahr kam Emma Keller hierher, nahm einen Job im Buchladen an und verliebte sich in den einheimischen Eigenbrötler Finnegan Iversen. Und sie traf auf ihre alte Kindheitsfreundin, Lexie.

Im Sommer kam dann Emmas Bruder, Gideon, nach einem Arbeitsunfall ebenfalls nach Bibertal und begegnete hier Lexie wieder, seiner ersten Liebe aus Teenagerjahren. Lexie ist seit Jahren fester Bestandteil der Bibertaler Gemeinschaft und arbeitet für die Tierschutzorganisation Second Chance im Wildreservat. Hier gab es vor wenigen Wochen einen schrecklichen Vorfall, in den die Gruppe verwickelt war.

Prolog

Ian starrte auf das getrocknete Blut an seinen Fingerspitzen und fragte sich, wann genau eigentlich alles angefangen hatte, so unheimlich schiefzugehen. Als er nach Bibertal gekommen war, angelockt von der Landschaft und der Ruhe, die der kleine Ort versprach, hatte er nichts anderes gewollt als eine Auszeit, einen Moment des Innehaltens. Und noch etwas: Er hatte die Frau wiedersehen wollen, die ihm seit jenem Abend damals nicht aus dem Kopf gegangen war.

Ian rieb das Blut an seiner Jeans ab und schauderte. Die Morgen in Bibertal waren kalt geworden. Als hätte der Sommer angesichts der Dinge, die sich hier in den letzten Tagen ereignet hatten, beschlossen, den Rückzug anzutreten und seinem Bruder, dem Herbst, den Einzug zu überlassen. Bald würden sich die Blätter verfärben und die Luft über dem See nicht mehr vor Hitze flirren, sondern frühmorgens von Nebelschwaden überzogen sein. Seine liebste Jahreszeit. Doch all die Farben wären grau ohne Jamie.

Jamie.

Ians Blick wanderte in den Wald. Alles in ihm drängte danach, loszulaufen und ihn zu suchen, jeden Stein umzudrehen und nach ihm zu rufen, bis der ganze Wald Bescheid wusste. Aber sein Kopf machte nicht mit, die Wunde pochte allein schon bei dem Gedanken und die Fäden drückten unangenehm, lockten seine Finger, sie herauszuziehen. Keine gute Idee.

Er stellte sich Aylins entsetzten Blick vor, wenn er erneut mit offener Kopfwunde im Krankenhaus auftauchen würde. Sie würde ihn vermutlich umbringen und erst dann die Naht erneuern, nur um ihn dann ein weiteres Mal umzubringen für seine Unbedachtheit.

Seine Lippen zuckten, das Lachen stockte in seiner Brust. Aylin. Sie war im Krankenhaus gewesen, als der Krankenwagen ihn dort ablud. War ihm nicht von der Seite gewichen, grimmige Entschlossenheit im Gesicht wie eine Kriegsbemalung, die jeden Widerspruch im Keim erstickte.

Irgendwann war er aufgewacht, orientierungslos und mit Schmerzen. Sie hatte in dem Sessel neben seinem Bett gesessen, Arme und Kopf auf die Matratze gebettet und tief und fest schlafend.

Die Ungewissheit um Jamie, um Lexie und die anderen hatte ihn beinahe zerfetzt, doch trotzdem hatte er es nicht über sich gebracht, sie zu wecken. Im Schlaf war ihr Gesicht so weich gewesen, bis auf die kleine Falte auf ihrer Nase, die selbst jetzt nicht weichen wollte. Er hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, bemerkt, wie schmutzig seine Finger von Erde und Blut waren, und hatte nicht gewagt, sie zu berühren.

Im Haus klingelte das Festnetztelefon. Vermutlich Jeremiah, der ihm befehlen wollte, sich ja nicht auf der Arbeit blicken zu lassen. Vielleicht auch Finn. Vielleicht das Krankenhaus. Oder seine Schwester. Sie hatte ihn schon vor ein paar Tagen angerufen, und wenn er nicht reagierte, würde sie bald die Familie aufscheuchen. Das galt es in jedem Fall zu vermeiden!

Wenn Konstantin seine Verletzung sah, würde sich all sein Großer-Bruder-Beschützerinstinkt über ihm ausgießen und vermutlich würde er Ian direkt nach Hause schleifen, damit seine Schwägerin sich um ihn kümmern und seine Nichten ihn mit Liebe überschütten konnten.

Das Telefon schellte erneut.

Vielleicht war es Aylin.

Aylin Iversen.

Krankenschwester, Mutter – und die Frau, in die er seit fast zwei Jahren verliebt war.

Und die nichts davon wusste.

Ziemlich erbärmlich.

Ian ging einen weiteren Schritt in den Wald hinein. Um ihn herum wisperten die Bäume. Sie wussten vermutlich, wo Jamie steckte, aber sie verrieten es ihm nicht.

Gestern hatten sie ihn endlich aus dem Krankenhaus entlassen. Gideon hatte ihn nach Hause gefahren und ihn mit strenger Miene ins Bett geschickt. Ian hatte gewartet, bis der Feuerwehrmann loszog, um Vorräte zu besorgen, und war aufgebrochen, um nach Jamie zu suchen. Erfolglos.

Gideon hatte ihn etwa eine Stunde später aus dem Wald geholt und kopfschüttelnd rüber zu den Iversens gebracht. Alle waren sie dort versammelt gewesen, alte wie neue Freunde. Lexie, voller blauer Flecken, die ihm um den Hals fiel und weinte. Emma, die Finns Hand umklammert hielt und im Laufe des Abends versuchte, es allen leichter zu machen, indem sie Unmengen von Essen auf den Tisch stellte. Auri, die nicht verstand, was los war, aber nicht von seiner Seite wich. Und Aylin, die –

Etwas raschelte.

Ians Kopf ruckte so schnell nach oben, dass ihm für einen Moment schwindelig wurde. „Jamie?“, rief er und pfiff. „Zeit, nach Hause zu kommen, mein Junge.“

Einen Augenblick geschah nichts, nur die Bäume nickten wissend mit dem Kopf und der Wind flüsterte etwas. Dann trat Jamie aus dem Unterholz und der feste, kantige Klumpen, in den sich Ians Herz verwandelt hatte, zerbarst. Seine Beine gaben nach, hart trafen seine Knie auf die moosige Erde, doch den Schmerz spürte er nur entfernt.

Jamie humpelte ein wenig, die Zunge hing ihm weit aus dem Maul, doch eine Verletzung konnte Ian auf die Entfernung nicht erkennen. Er streckte die Arme aus und Jamie kuschelte sich hinein, als wäre er noch ein Welpe. Ian kämpfte um sein Gleichgewicht, lachte und tastete über den großen Körper, um eine Verletzung zu finden, während Jamie versuchte, ihm übers Gesicht zu lecken. „Willkommen zu Hause, Kumpel“, raunte Ian und umarmte seinen Freund.

Und dann weinte er wie ein Kind, während Jamie den Kopf auf seine Schulter legte.

Sie waren in Sicherheit.

Zu Hause.

Endlich.

Vor etwa zehn Jahren

„Endlich Schluss für heute!“ Dilay wirft ihre Tasche über die Schulter und fährt sich durch die Haare. „Mein Kopf platzt. Gehen wir noch was trinken, Aylin?“

„Warum nicht.“ Ich schiebe meine Sachen zusammen und rolle die Schultern. Der Tag ist voller Vorlesungen gewesen und mein Körper fühlt sich steif an. „Aber erst brauche ich was zu essen.“

„Schon wieder? Ich wünschte, ich hätte deine Gene.“ Sie kneift mir in die Seite und ich winde mich, als sie meinen Muskelkater voll erwischt. Der Ausritt vor zwei Tagen war der erste seit Langem und mein Körper lässt mich das deutlich spüren – und zwar nicht nur mit einem Bärenhunger.

„Du kannst meine Gene haben, wenn ich welche von dir bekomme.“

„Deal.“ Dilay grinst breit. „Fragen wir noch die Jungs? Hey, Markus, warte mal!“

Bis wir die Treppe hinunter sind und die Eingangshalle erreicht haben, hat sich uns nicht nur Markus angeschlossen, sondern noch einige andere Kommilitonen. Und das, obwohl noch nicht einmal Freitag ist. Meine Mitstudenten sind sehr viel größere Partymäuse, als mich Grey’s Anatomy je hat vermuten lassen.

Einer der Männer macht Anstalten, einen Arm um mich zu legen, doch ich trete unauffällig einen Schritt zurück und hake mich erneut bei Dilay ein. Axel ist süß, doch inzwischen etwas zu aufdringlich. Vermutlich wäre es klug, diese Runde auszulassen, einfach heimzugehen, Schlaf nachzuholen, ebenso wie Stoff. Die Klausur, die wir heute zurückbekommen haben, war ein ziemliches Desaster. Aber zu Hause erwartet mich nichts als eine leere Wohnung. Finn ist immer noch unterwegs, und die Aussicht auf einen weiteren Abend auf der Couch, allein mit meinen Gedanken – nein danke.

„Was ist denn da los?“ Dilay weist zur Straße. Ein schicker Sportwagen steht mitten im Halteverbot vor unserem Unigebäude. Eine kleine Menschentraube hat sich darum versammelt, im Mittelpunkt ein junger Mann mit unordentlichem braunem Haar und breitem Grinsen.

„Das darf nicht wahr sein“, ächze ich und gerate aus dem Takt. Dilays Arm rutscht von meinem, verwundert dreht sie sich zu mir um, gerade als irgendjemand nach Luft schnappt. „Wow, Leute, das ist Finn Iversen!“

Axel schiebt sich an mir vorbei. „Mann, dieser Wagen ist echt krass.“ Schon ist er weg, eilt gemeinsam mit den anderen zum Ort des Geschehens.

Ich folge ein bisschen langsamer, Aufregung pulsiert in meinem Bauch und macht meine Knie wackelig. Umzudrehen und davonzulaufen würde Fragen aufwerfen. Weiterzugehen würde jedoch bedeuten, dass mein kleines Geheimnis gelüftet wird. Ich habe es nicht mit Absicht geheim gehalten. Okay, vielleicht ein wenig. Bloß einmal wollte ich einfach eine Zeit lang nur Aylin sein und nicht die Schwester von jemandem.

Finn stößt sich von seinem Wagen ab, als er mich entdeckt, und breitet die Arme aus. Seine Umarmung ist fest, sein Pulli riecht nach neuem Auto und Seife und sein Atem kitzelt an meinem Ohr, als er raunt: „Alle starren uns an.“

„Und an wem liegt das wohl?“, schnaube ich und erwidere die Umarmung fest. „Was tust du hier?“

„Ich hole dich ab. Wir haben heute was vor.“

„Ach, wirklich?“

„Ja, wirklich.“

„Und dein Fanklub, kommt der mit?“

Er zwinkert mir zu und lässt mich los. „Okay, Leute, die Show ist vorbei.“

Die Gruppe löst sich nur zögerlich auf, Dilay fängt meinen Blick auf, als Finn mir die Tür öffnet, und formt ein Was zum …! mit den Lippen. In der nächsten Vorlesung werde ich wohl einige Fragen beantworten müssen, die nichts mit dem Stoff zu tun haben.

Ich steige in den Wagen und finde eine Tüte im Fußraum, aus der es verheißungsvoll duftet. Finns Tür schlägt zu und der Motor erwacht mit einem Schnurren. „Bereit?“

„Kommt darauf an, wofür. Und wessen Auto ist das eigentlich?“

„War ein Geschenk. Ziemlich fancy, was?“

„Ist nicht ganz dein Stil, Amal wird dich auslachen.“

„Nicht, wenn ich ihn fahren lasse.“ Finn lässt den Motor aufheulen und von draußen folgt begeistertes Johlen. „Wir haben Snacks und deinen Lieblingseistee. Mach’s dir gemütlich, wir sind eine Weile unterwegs.“

Etwas mehr als zwei Stunden später stehe ich in einem schicken Hotelzimmer und starre mein Spiegelbild an. Mein Spiegelbild in einem absolut wunderschönen schwarzen Jumpsuit, den ich niemals wieder ausziehen werde.

„Finn, wenn du mir nicht endlich sagst, was hier los ist, schreie ich“, rufe ich zur Badezimmertür hinüber, hinter der mein Bruder verschwunden ist.

Sein Lachen klingt gedämpft. „Wow, vielleicht solltest du lieber Jura studieren statt Medizin. Mit dieser Strategie kommst du sicher weit.“

„Meine Strategie tritt dir gleich in den Hintern, und zwar heftig. Ich werde …“ Der Rest des Satzes geht spontan verloren, als mein Bruder aus dem Bad kommt. In einem Anzug. „Wow!“

„Selbst wow. Du siehst toll aus. Ich habe wirklich einen guten Geschmack.“

„Du hast den Jumpsuit ausgesucht?“

„Ist ein Teil meines Geburtstagsgeschenkes.“

„Mein Geburtstag war vor drei Wochen.“

„Ja, und ich war nicht da. Heute mache ich das wieder gut.“ Er steckt sein Handy ein und nickt zur Tür. „Bereit?“

„Bereit wofür?“

„Für den zweiten Teil deines Geburtstagsgeschenks.“

„Finn …“

„Komm schon, Schwesterchen. Du hast es fast geschafft.“ Er streckt mir die Hand entgegen. „Vertrau mir.“

„Ich will aber nicht.“

„Doch, willst du, ich verspreche es. Hier, ich hab dir Schuhe eingepackt.“

„Du hast meine Sachen gepackt.“

„Jap, habe ich. Und ich war dabei sehr respektvoll. Das Tagebuch, was ich gefunden habe, habe ich gekonnt ignoriert.“

„Du bist ein Trottel.“

„Das wirst du gleich nicht mehr sagen.“ Finn zieht mich aus dem Raum und zum Treppenhaus. Meine Absätze klackern laut auf dem perfekt gebohnerten Boden. Ein Paar in Abendkleidung begegnet uns in der Lobby. Draußen hängt bereits die Dämmerung über den Straßen und die Wolken schaben über große Häuser. Ich versuche, die Stadt zu identifizieren, doch es will mir nicht gelingen. Finn zieht mich über eine Straße und auf ein großes Gebäude zu, Glas an Glas mit Säulen und … Ich stolpere fast über den Bordstein. „Warte, das … Finn, das ist nicht möglich.“

„Ach, nein?“

„Die Ausstellung ist vorbei. Ich wollte herkommen, aber ich habe keine Karte mehr bekommen und … sie ist vorbei.“

„Ja, das ist sie.“ Finn tätschelt meine Hand. „Aber nicht für dich.“

Ein Mann in Uniform öffnet die schwere Tür und nickt Finn kameradschaftlich zu. Ich bemühe mich, nicht zu hyperventilieren. Ich kenne diese Galerie, habe jeden virtuellen Rundgang gemacht, den sie anbieten. Schon tausend Mal habe ich mir vorgestellt, diesen Ort zu betreten, in einem wunderschönen bodenlangen Kleid inmitten der Reichen und Schönen. Ich wäre durch die Gänge geschlendert und hätte die Ausstellung bewundert. Ganz langsam, mit einem guten Glas Wein in der Hand. Die Künstlerin, die diesen Monat hier ausstellt, ist eine meiner liebsten. Ich folge ihr in den sozialen Medien und habe jeden Artikel über sie gelesen, den ich finden konnte. Ich wäre bereit gewesen, meinen letzten Cent zusammenzukratzen, ich hätte sogar Finn um Geld gebeten, alles um hierherkommen zu können. Doch die Karten waren innerhalb von Sekunden weg gewesen.

Und jetzt … jetzt bin ich hier. Inmitten des riesigen Eingangsbereiches, in dem die Skulptur eines geflügelten Löwen steht, der aus weisen Augen auf uns herunterblickt.

„Das ist nicht möglich“, wispert jemand. Ich. „Das ist einfach nicht möglich.“

„Soll ich dich kneifen?“ Finn legt einen Arm um meine Schultern und hätte er keine Ohren, würde er wohl im Kreis grinsen. „Du bist definitiv wach, das kann ich versichern.“

„Will ich wissen, wie du das angestellt hast?“

„Oh, ich gehe einfach nur mit offenen Augen durch die Welt. Und zufällig ist der Besitzer der Galerie ein Fan.“

„Was du nicht sagst.“ Die Faszinationen für Pferdesport und Kunst will in meinem Kopf einfach kein stimmiges Bild ergeben. „Und er –“

Ehe ich den Satz beenden kann, öffnet sich eine Tür, die ich bis dahin nicht bemerkt habe, und ein Mann eilt auf uns zu. Er ist klein, mit dicht zusammenstehenden Augen und einem beeindruckend gezwirbelten Schnauzer. Ein weißer Schal flattert dramatisch hinter ihm her. „Finn, wie schön, dass Sie es geschafft haben, ich bin entzückt. Und das ist wohl Ihre Schwester, nehme ich an? Sehr erfreut.“ Er schüttelt mir die Hand. „Maximilian Berghoff, nennen Sie mich Max.“

„Aylin Iversen. Es ist mir eine Ehre, hier sein zu dürfen. Ich liebe Ihre Galerie. Besonders den Ostflügel mit den Dachfenstern.“

Die professionelle Höflichkeit auf dem Gesicht meines Gegenübers verwandelt sich in echtes Interesse. „Na, hör sich das einer an. Ich dachte, Ihr Bruder hätte gesagt, dass Sie noch nie hier gewesen sind?“

„Das stimmt. Aber ich habe jede Pressemitteilung gelesen und jeden virtuellen Rundgang angeschaut, den ich finden konnte, und mir gewünscht, ich könnte vor Ort sein.“

„Wie gesagt, Max: Sie ist ein Fan.“ Finn zwinkert Max stolz zu. „Und nicht nur das, sie ist ebenfalls Künstlerin. Drücken Sie ihr einen Pinsel in die Hand und –“ Er bricht mit einem Keuchen ab, als ich ihm hart auf den Fuß trete.

Max strahlt. „Soso – die Iversens, Talent über Talent. Gibt es womöglich noch einen Geschwisterteil? Vielleicht in der Musikbranche?“

„Nur uns zwei.“ Finn lächelt mich an und klatscht in die Hände. „Nun, also, wollen Sie meiner Schwester Ihre wertvollen Schätze zeigen? Ich fürchte, an mir sind Sie verschwendet, aber ich bin sehr geduldig.“

Ich unterdrücke ein Auflachen. Finn ist so ziemlich das Gegenteil von Geduld. Außer, es geht um Pferde, dann ist das etwas anderes.

Max scheint meine Miene gelesen zu haben, er schmunzelt. „Die Bilder sollten bereits heute Morgen eingepackt und nach Hamburg gebracht werden. Ich habe das verschoben und uns bleiben noch ziemlich genau vier Stunden.“ Der Galeriebesitzer reicht mir seinen Arm. „Wollen wir?“

Ich sehe den Gang entlang, am Ende lässt sich eine Treppe erahnen, die in den oberen Bereich führt. Dort oben wartet ein Traum.

Zum Greifen nah.

Einen Augenblick lang gebe ich mich der Wunschvorstellung in meinem Inneren hin, stelle mir vor, es wären meine Bilder, die dort an den Wänden hingen, mein Name auf den Eintrittskarten der Ausstellung. Nur ein kleiner Moment. Doch er reicht, um jeden Winkel in mir mit Hoffnung zu füllen. Hoffnung, die nicht das Geringste mit diesem fürchterlichen Studium zu tun hatte.

Oh ja, und wie ich will!

Kapitel1

Erikson Familien-Chat

Elodie:

Hey, ihr Looser. Ma hat bald Geburtstag.

Leo:

Oh, Glückwunsch, Schwesterchen. Du kannst einen Kalender lesen.

Elodie:

Ja, das liegt daran, dass mir nicht ständig ein Surfboard auf den Schädel kracht.

Julian:

Großer Bruder in 3, 2, 1 …

Konstantin:

Leo, lass deine Schwester in Ruhe!

Julian:

Und da ist er schon.

Eine Woche, seitdem ich einen Pinsel gehalten habe

Als Kind habe ich bei Sätzen wie „Sie spürte ihre Blicke im Nacken“ stets die Augen verdreht. Wie genau sollte sich ein Blick bitte anfühlen? Doch jetzt gerade spürte ich ziemlich genau, wie Constanze von Buhn mich quer durchs Dankbar anstarrte. Ich fixierte konzentriert das Glas vor mir und wünschte, Salome hätte für heute Abend einen anderen Treffpunkt vorgeschlagen.

Ich liebte das Dankbar, dieser Ort hatte Auri und mich schon manches Mal vor dem Hungertod bewahrt, doch jeden ersten Dienstag im Monat hielten die Mimosa-Mamis von Bibertal hier ihren Stammtisch ab. Etwas, das ich Salome leider versäumt hatte mitzuteilen. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich so auf heute Abend gefreut, dass ich es selbst vergessen hatte.

Mein Magen meldete sich mit einem Knurren und ich schaute erneut auf die Uhr. Salome kam zu spät. Mein Tag im Krankenhaus war absolut stressig gewesen und ich hatte keine Zeit zum Essen gefunden. Hoffentlich tauchte sie auf, ehe ich begann, an der Speisekarte zu nagen. Obwohl … dann hätten die Damen vom Nachbartisch endlich wirklich einen Grund zu gucken. Ich unterdrückte ein hungriges Kichern.

„Ist hier noch frei?“

Ich hob den Kopf, aber mein hoffnungsvolles Lächeln erlosch, als ich vor mir nicht meine Verabredung, sondern einen Fremden entdeckte. Der Mann lächelte freundlich, doch sein Blick tastete unangenehm über meinen Oberkörper. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid, ich warte auf jemanden.“

„Oh, wirklich?“ Sein Lächeln wurde breiter. „Nun, das hätte ich wohl ahnen sollen bei einer schönen Frau wie Ihnen.“

Ach, komm schon, nicht heute Abend. Ich wählte ein kühles, höfliches Lächeln, setzte es mir ins Gesicht und schwieg.

Leider erzielte es nicht die erhoffte Wirkung, denn er redete weiter und kam noch ein Stückchen näher, sodass ich den Kopf zurücklehnen musste, um zu ihm aufzuschauen. „Tja, es ist nur, ich hatte einen wirklich langen Tag und heute Abend ist es sehr voll hier. Ich brauche einfach nur eine Pause, verstehen Sie?“

Sehr gut, denn mir geht es nicht anders. Mein schlechtes Gewissen regte sich, doch gleichzeitig fühlte ich mich unwohl unter seinem Blick, der ebenso aufdringlich war wie sein Parfüm. Ich trug einen meiner Lieblingspullover, doch bei der Art, wie er mich ansah, wünschte ich, ich hätte zu einem von Finns unförmigen Rollkragenungetümen gegriffen. „Tut mir leid, aber ich bin sicher, meine Verabredung wird jeden Moment hier sein. Dort drüben am Fenster ist noch etwas frei, sehen Sie?“

„Wie wäre es, wenn ich bleibe, bis deine Verabredung auftaucht, dann haben wir beide was davon.“

„Söhnchen, die Dame war doch deutlich.“ Trude Neumann stieß ihren Gehstock in Richtung des Fremden und erschreckte mich wahrscheinlich mehr als ihn. Ich hatte die alte Dame nicht kommen sehen. „Na los, seien Sie so gut und gehen Sie einer alten Frau aus dem Weg.“

Der Mann wich notgedrungen zurück. Röte loderte am Kragen seines Hemdes und kroch seinen Nacken hinauf. „Wenn du nicht angesprochen werden willst, solltest du dich nicht so anziehen“, zischte er in meine Richtung, ehe er sich abrupt umdrehte und davonging.

Es fühlte sich an wie ein Hieb in den Magen. Eigentlich wäre der mir sogar lieber gewesen. Zu viele Blicke lagen auf uns, zu leise war es geworden, zu viel Mittelpunkt. Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach. Hätte ich Salome doch lieber zu uns nach Hause eingeladen!

„Alles in Ordnung, Liebes?“ Frau Neumann musterte mich aus kleinen, scharfen Augen. Sie war meine Grundschullehrerin gewesen und hatte noch nie viel von mir gehalten. Aber jetzt schwang beinahe so etwas wie Mitleid in ihrem Blick mit. Ich schauderte. Es gab kaum eine Gefühlsregung, die ich mehr verabscheute.

„Alles wunderbar.“ Ich lächelte eisern und reckte den Kopf. Sollten sie tuscheln, sollten sie schauen. Ich hatte Schlimmeres überstanden. Bedank dich einfach bei ihr, es sind nur fünf einfache Buchstaben! Na los!

Ihr Blick sprach Bände, doch sie nickte nur. Wie du meinst, Mädchen. Dann humpelte sie weiter in Richtung Ausgang, wo ich Jeremiahs hünenhafte Gestalt entdeckte. Er half ihr in ihre Jacke und hielt ihr die Tür auf, ganz der Gentleman.

Meine Fingerspitzen strichen über den Rand des Glases und ich spürte, dass meine Hand zitterte. Die Blicke hielten an. Sie krochen mir über die Haut wie Insektenbeine.

Ich wünschte, ich wäre wie Emma und hätte ein Buch dabei, das ich mir jetzt demonstrativ vor die Nase halten könnte. Leider befand sich in meiner Handtasche nur eine Ausgabe von einer Pferdezeitschrift, die Auri gerne las und die ich ihr heute am Krankenhauskiosk besorgt hatte. Die würde vermutlich nicht ganz die gewünschte Wirkung haben.

Komm schon, ich brauche eine Ablenkung. Irgendwas! Warum kann nicht mal jemand einen Teller fallen lassen, wenn man es braucht?

Da veränderte sich die Geräuschkulisse, als hätte jemand meine stumme Bitte gehört. Ein kleines Raunen mischte sich unter die Gespräche. Da ich wusste, dass Finn gerade mit Emma auf meine Tochter aufpasste und Gideon sich mit Lexie auf einem Kinodate befand, war es nicht schwer zu erraten, wer den Raum betreten hatte und diese Reaktion auslöste. Ich linste über mein Glas hinweg und fand ihn innerhalb von Sekunden hinter der Bar. Ian sah aus wie … wie Ian eben. Langärmeliges Shirt, das seine Tattoos verbarg, einfache Jeans, freundliches Lächeln. Hellblonde, kurz geschnittene Haare, mit denen man morgens bestimmt beneidenswert schnell im Bad fertig war. Ein kurzer, etwas dunklerer Bart bedeckte die scharfen Kieferkonturen.

Kein Blut.

Mein Magen rumpelte erneut, dieses Mal jedoch, weil eine Erinnerung darin brodelte. Eine Erinnerung an eine wirklich schlimme Nacht. Ich grub die Fingernägel in meinen Oberschenkel und bemühte mich, tief Luft zu holen. Die Musik wechselte und ein aktueller Radio-Ohrwurm drang aus den Boxen: Sister of Five, von einer Sängerin, die unter ebendiesem Künstlernamen gerade bekannt wurde. Auri liebte sie und bestand darauf, dass wir sofort lauter machten, wenn das Lied irgendwo lief. Den guten Musikgeschmack hatte sie definitiv von mir geerbt.

Für einen Moment schien das Lächeln auf Ians Gesicht breiter zu werden, während er geschickt eine Flasche herumwirbelte. Das Raunen wurde lauter, die Blicke ließen von mir ab. Gleichzeit löste sich das beklommene Gefühl in meinem Magen auf wie Schnee in der Sonne. Erleichtert nippte ich an meinem Eistee und griff nach meinem Handy, auf dem gerade eine Nachricht von Salome eingegangen war:

Salome:

Sorry, Luna fühlt sich nicht gut. Ich muss für heute Abend absagen. Tut mir echt leid! Bitte hass mich nicht!

Ich barg den Kopf in den Händen und stöhnte.

„Harte Schicht gehabt?“

Seine Stimme strich mir über den Nacken und jagte einen Schauer meine gesamte Wirbelsäule hinunter. Ruckartig richtete ich mich auf. Wie ist er so schnell hier rübergekommen?

Ian stand vor mir und lächelte. „Hi.“

„Hi.“ Ich blinzelte zu ihm hoch, bemühte mich um eine gelassene Miene und drehte das Handy-Display so, dass er die Nachricht lesen konnte. „Salome kommt nicht. Ich mache den Tisch frei. Tut mir leid.“

„Aber du hast gar nichts gegessen.“ Falten zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Unwillkürlich huschte mein Blick weiter, hinauf zum Haaransatz. Letzte Woche waren die Fäden gezogen worden. Die Wunde schien gut zu heilen. „Hattest du im Krankenhaus was Vernünftiges?“

„Woher weißt du, dass ich vom Krankenhaus komme?“

„Ich bin der Blutsbruder von Sherlock Holmes.“

Ich lachte lauter als angemessen gewesen wäre und die Intensität seines Lächelns stieg ebenfalls an. Er stützte die Hände auf die Lehne des Stuhls, der mir gegenüberstand.

Schon wieder ruhten Blicke schwer auf meinen Schultern und piekten mir in den Rücken. Doch gerade war es mir egal. Ian war mein Schild. „Also schön, Sherlock, du hast recht. Ich komme vom Krankenhaus. Und alles, was ich heute gegessen habe, sind trockene Cornflakes und ein Apfel.“ Als er das Gesicht verzog, zuckte ich mit den Schultern. „Ich hatte schon schlimmere Tage, es waren Schokocornflakes.“

„Bitte lass mich dir etwas zu essen machen. Wartet Auri auf dich?“

„Nein, sie zieht mit ihrem Onkel und ihrer neuen Tante um die Häuser und genießt ihre Freiheiten.“

„Aahh.“ Er schmunzelt. „Du hast frei.“

„Ein bisschen.“

„Tut mir leid, dass Salome es nicht schafft. Ich kann dir Gesellschaft leisten.“

Irgendwo holt jemand laut Luft. Vielleicht war auch ich es. „Ts ts und das während der Arbeitszeit? Lass das nicht deinen Chef hören.“

Ian warf einen Blick über die Schulter. Jeremiah stand noch immer an der Tür. „Ich glaube, er würde mir verzeihen.“ Er rieb sich die Hände. „Also, worauf hast du Lust?“

Ich zögerte. „Das ist wirklich nicht nötig.“

„Das sagst du. Aber entweder hast du einen Tiger in deiner Handtasche oder dieses Knurren kommt von deinem Magen.“

Schlagartig fühlte sich mein Gesicht warm an. Ich konnte förmlich hören, was Constanze ihren Freundinnen zuraunte. Die Eiskönigin kann ja rot werden!

„Bitte.“ Ian lenkte meine Gedanken zurück zu sich. „Komm schon. Was hältst du von Burger?“

Ich verzog das Gesicht. „Allein und in der Öffentlichkeit?“

„Gut, etwas Handelbares. Pommes?“

„Nicht ohne Auri.“

„Stimmt, entschuldige.“

„Und nichts Gesundes. Dieser Tag … heute ist einfach kein Gedünsteter-Brokkoli-Tag.“

Er lachte in sich hinein. „Vertraust du mir?“

Ich versuchte das Ziehen irgendwo in meiner Herzgegend zu ignorieren. Es gestaltete sich ziemlich schwierig. „Generell oder was Essen angeht?“

„Erst mal nur das Essen.“

„Nun, dann unbedingt.“

„Gut.“ Triumph blitzte in seinen Augen auf. „Rühr dich nicht von der Stelle.“

„Überback einfach irgendwas mit Käse und dann geht’s mir gut.“

Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, hielt nun jedoch inne. „Aylin, schreibe ich dir vor, wie du eine Verletzung zu versorgen hast?“

Ich blinzelte und richtete hastig den Blick weg von der verheilenden Wunde, zurück zu seinen Augen. „Äh, was? Nein?“

„Dann sag du mir nicht, wie ich zu kochen habe.“ Schwungvoll wandte er sich um. „Bin gleich zurück.“

„Ich –“ Jegliche Widerrede versiegte. Es war niemand mehr da, der sie hören könnte. Die Blicke wurden eindringlicher. Das Flüstern wieder lauter. Automatisch griff ich nach meinen Haaren, um nervös damit herumzuspielen – bis mir einfiel, dass ich die heute Morgen sorgfältig auf meinem Kopf festgeknotet hatte, weil ich keine Zeit gefunden hatte, sie zu waschen – und langsam war selbst Trockenshampoo keine Rettung mehr.

Trotz meines Hungers und der Großartigkeit, die Ian vermutlich bald aus der Küche tragen würde, wünschte ich mich weit, weit weg. Ich war niemand, die allein in ein Restaurant ging. Ich ging auch nicht allein ins Kino. Himmel, jahrelang hatte ich nicht einmal ins Bad gehen können, ohne dass mir eine pausbäckige Mini-Version meiner selbst gefolgt war. Ich war gut darin, allein zu sein. Aber etwas zu unternehmen … Puh. Nein, absolut nicht. Ich war nicht wie Emma, die sich stundenlang in ein Flugzeug setzte und dann mutterseelenallein an einen fremden Ort zog. Oder Lexie, die generell wenig auf das gab, was sie zu tun oder zu lassen hatte.

Ehe die Gedanken zu trübe werden konnten, tauchte eine kleine Schale mit Knabberzeug in meinem Blickfeld auf, zusammen mit Jeremiah, dem bärtigen Besitzer des Dankbars. „Wie schön, dich zu sehen, meine Lieblings-Iversen“, grüßte er mich in seinem tiefen Bariton und ich sprang hastig auf, um ihn zu umarmen.

„Lass das lieber nicht Auri hören“, sagte ich an seine Schulter. „Du brichst ihr das Herz.“

„Würde ich niemals wagen.“ Er drückte mich so fest, dass meine Knochen knackten. „Sorgt der Junge schon für dich?“

„Du solltest wirklich aufhören, ihn so zu nennen.“ Ich wies auf mein Glas. „Bin versorgt – und dank dir überstehe ich es jetzt auch bis zum Essen.“

„Immer eine Freude.“ Sein Blick tastete über mein Gesicht. „Du siehst müde aus.“

„Es waren ein paar aufregende Wochen.“ Ich zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Das wird schon.“

„Gibt es etwas Neues von dieser Frau?“

In mir gefror etwas zu Eis. Diese Frau. Die Brandstifterin, die Gideon fast umgebracht und seinen Ruf ruiniert hatte. Diese Frau, die in meinem Haus gewesen war. In einem Raum mit meiner Tochter.

Kalte Finger tasteten über meinen Nacken. Ich schüttelte ruckartig den Kopf. „Nein.“ Mehr Worte passten nicht durch meine zusammengebissenen Zähne hindurch.

„Sie schnappen sie schon. Ganz Bibertal hält die Augen nach ihr offen.“ Eine kleine Schar Gäste trat durch die Eingangstür und Jeremiah drückte schnell, aber liebevoll meine Schulter. „Lass mich wissen, wenn du etwas brauchst.“

Eine Dusche. Einen doppelten Whiskey. Etwas Baldrian. Ungefähr zwei Wochen Schlaf. Ein Rat, was ich tun soll im Hinblick auf –

Schon war er fort. Zielstrebig wanderten meine Finger zu der kleinen Schale. Nach dem dritten Mal zitterten sie kaum noch. Ich war süchtig nach dieser Knabbermischung, irgendwas mit Mais und kräftigen Gewürzen, wohl aus Dänemark. Hatte zumindest Emma behauptet.

Meine Füße wippten unruhig unter dem Tisch und ich beschloss, mit der einfachsten Methode der Welt Zeit zu gewinnen: Ich versteckte mich auf der Toilette.

Eine Gruppe Teenager posierte vor dem Spiegel für ein Bild und flüchtete kichernd, als ich eintrat. Ich wusch mir die Hände, bedauerte einmal mehr, dass ich auf der Arbeit keinen Nagellack tragen durfte, und starrte in den Spiegel. Mein Spiegelbild starrte zurück.

Dunkelblaue Augen unter langen Wimpern.

Die Schatten darunter hatte ich unter Concealer versteckt.

Den Lippenstift hatte ich schon seit Jahren und ich war immer noch vernarrt in diese Farbe.

Ein braungrauer Pullover, dessen U-Boot-Ausschnitt hübsch unter den Schlüsselbeinen entlangstrich.

Ich lächelte probeweise, aber es sah falsch aus. Seufzend schnitt ich mir selbst eine Grimasse und ging zurück, überlegte, Noah zu schreiben, ob er Hunger hatte und mir Gesellschaft leisten wollte. Mein Freundeskreis war nicht besonders groß.

Unterwegs zu meinem Tisch machte ich den Fehler, den Blick vom Boden zu heben. Ich kreuzte den von Constanze und im nächsten Moment winkte die Anführerin der Mimosa-Mamis mich huldvoll zu sich herüber. Keine Chance, so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen, und leider auch kein Ian mit meinem Essen in Sicht. Es blieb nur die Flucht nach vorn.

„Meine Damen.“ Ich nickte in die Runde und erntete Lächeln und Winken.

„Aylin, wie schön.“ Constanze machte keine Anstalten aufzustehen. „Genehmigen Sie sich eine Auszeit vom Mutter-Dasein?“

„Auri hat heute andere Pläne und ich war hier verabredet, aber leider schafft meine Freundin es doch nicht.“

„Oh, wie bedauerlich. Ich finde allein essen schrecklich. Da verzichte ich lieber und spare die Kalorien.“ Constanze lachte und der Rest des Tisches fiel brav mit ein. „Aber darüber müssen Sie sich ja keine Gedanken machen.“

„Ach, ich bitte dich, Constanze, du siehst wundervoll aus“, sprang eine Frau mit hübschen roten Locken von der anderen Tischseite ein. „Du musst mir noch mal sagen, zu welchem Yoga-Kurs du gehst.“

„Aber sicher.“ Lag es an mir, oder war ihr Ton eine Spur herablassend? „Aylin, wir haben uns letzte Woche getroffen, um über die Halloween-Party zu sprechen, die in der Schule geplant ist. Wäre es nicht süß, wenn wir ein Thema vorgeben und die Kinder verkleiden sich entsprechend? Außerdem wäre es gut, sich wegen Auris Essgewohnheiten auszutauschen …“

„Sie brauchen sich keine Gedanken machen, Constanze, Auri wird an dieser Feier nicht teilnehmen. Ich habe sie für den Tag in der Schule freistellen lassen, so wie letztes Jahr.“ Ein Teil von mir genoss das stumme Entsetzen, das auf einigen Gesichtern aufblühte. „Ich persönlich halte nichts von Halloween und ich möchte nicht, dass Auri so früh und in dieser Form damit in Berührung kommt. Außerdem hat sie keine Essgewohnheiten, sondern eine Lebensmittelallergie.“

„Aber wird sie sich nicht schrecklich ausgegrenzt fühlen?“, rief die Rothaarige aus. Bianca? War das ihr Name? Oder der ihrer Tochter, ich war mir nicht sicher. „Wenn alle Kinder von ihren Kostümen reden und der Party? Das arme Ding. Warum darf sie das denn nicht?“

„Meinem Eindruck nach geht es an Halloween hauptsächlich um Dunkelheit und Gruseliges. Das ist nichts, was ich mir für Auri wünsche.“

„Ach, aber es sind doch bloß Kinder“, schnaubte eine andere und ich sah ihr direkt ins Gesicht, als ich antwortete. „Es war dein Sohn, der letztes Jahr mit einer blutigen Maske und einem Plastikmesser hinter ihr hergerannt ist und sie furchtbar erschrocken hat, Petra. Sie konnte tagelang nicht schlafen.“ Kopfschüttelnd sah ich in die Runde. „Anfang des Jahres haben wir eine ganze Stunde auf dem Elternabend darüber diskutiert, ob wir im Schulmusical wirklich Aschenputtel aufführen wollen, wegen des Mobbings unter den Schwestern und der grausamen Stiefmutter. Aber Halloween ist okay? Das ergibt doch keinen Sinn! Auri betritt im Oktober nur noch hinter mir den Supermarkt, weil vor drei Jahren zu Halloween dieser schreckliche Sensenmann über der Obsttheke hing.“ Möglicherweise wurde meine Stimme zu laut, ich redete mich in Rage. Aber dieses Thema machte mich einfach unglaublich wütend!

Ich hasste Halloween aus tiefstem Herzen, ich hasste es, mich zu gruseln, und noch viel mehr hasste ich es, wenn meine Tochter sich fürchtete. In zwei Gesichtern glaubte ich Verständnis aufblitzen zu sehen, eine weitere Frau nickte sogar zustimmend, doch der Rest trug versteinerte Mienen zur Schau und beobachtete die Reaktion ihrer Anführerin.

„Nun, das ist natürlich Ihre Entscheidung“, sagte Constanze schließlich. „Aber angesichts von Auris … Eskapaden in letzter Zeit wäre es vielleicht gut, sie besser in die Klasse zu integrieren, ehe sie … – nun ja, darüber wollen wir lieber nicht sprechen.“ Sie legte grazil die Hände zusammen und schwieg bedeutungsvoll.

Mein Herz wurde schwer. Ich wusste genau, worauf sie anspielte. Meine Tochter hatte ein anderes Kind tätlich angegriffen. So jedenfalls stand es jetzt in ihrer Schulakte. Dass dieses Kind zuvor Auris beste Freundin schlimm gemobbt hatte, darüber war dort kein Wort zu finden. Es rechtfertigte Auris Tat nicht. Aber es außer Acht zu lassen …

Ich merkte auf, als Constanze weitersprach: „Ich weiß, es ist nicht leicht, Aylin. Immerhin liegt ja auch die ganze Verantwortung allein auf Ihren Schultern – und mit Ihren Arbeitszeiten … na ja, es ist sicher nicht einfach.“

Was sollte das denn jetzt bedeuten? Dass ich meiner Tochter nicht gerecht werden konnte, weil ich Geld verdienen musste? Am liebsten hätte ich sie genau das gefragt, doch in diesem Moment fiel mein Blick auf einen Tisch weiter hinten. Der Mann von eben saß dort und starrte mich durch den Raum hinweg an. Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch.

„Oh, ist Ihnen kalt? Na ja, kein Wunder, mit diesem Pullover … Soll ich Ihnen mein Tuch borgen?“ Constanze lächelte mich freundlich an, doch in ihren Augen …

Ich musste hier weg, ehe ich noch etwas Dummes sagte. Oder tat!

„Ich überlasse Sie mal Ihrem Essen“, sagte ich knapp und versuchte, die Wut hinunterzuschlucken, die in meiner Brust loderte. „Einen schönen Abend noch.“

„Überlegen Sie es sich doch noch bezüglich der Halloween-Party“, rief Constanze. „Das Thema soll Disney-Schreck lauten. Ich schicke Ihnen gerne Kostümvorschläge.“

„Nein, danke“, sagte ich und setzte ein ebenso falsches Lächeln auf, das dem Ton glich, den sie in ihre Worte legte. „Ich lade Sie alle stattdessen zu uns nach Hause ein. Wir werden Kuchen essen, die buntesten Klamotten tragen, die wir finden können, und in einem Meer aus Lichterketten Auris Lieblingsfilme schauen. Und vorher werde ich ihr von dem Licht der Welt erzählen, von Jesus, der auf die Welt gekommen ist, damit jeder, der an ihn glaubt, für immer aus Dunkelheit und Tod gerettet wird. Gutes Brainstorming noch.“

Damit wirbelte ich auf dem Absatz herum und eilte zu meinem Tisch zurück, wobei ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Meine Wangen brannten vor Hitze, mein Herz klopfte wie verrückt und das Tuscheln folgte mir unbarmherzig. Ich nahm meine Jacke von meinem Stuhl und hob meinen Rucksack vom Boden auf.

Eisern hielt ich die Miene der Eiskönigin aufrecht – gerader Rücken, hocherhobener Kopf.

Bis die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

Kapitel2

Erikson Familien-Chat

Leo:

Hey, Bruderherz, hast du eigentlich vor, zu Mums Geburtstag aus deinem Exil aufzutauchen?

Julian:

Da wir ihr eine Reise schenken, wird er das nicht müssen. Cleverer Schachzug, Ian, das muss ich dir lassen.

Elodie:

Ihr seid blöd, alle beide.

Der Wind umarmte mich, gab mir einen kalten Kuss auf die heißen Wangen und streichelte meine Stirn, hinter der die Gedanken tobten wie ein schlimmer Orkan. Alles riss er mit sich, wirbelte die schlimmsten Worte durch mein Bewusstsein. Scharf und spitz fetzten sie sich durch Schutzmauern, durch alles, was durch Zeit und Liebe geheilt worden war.

Warum hatte ich nicht ruhig argumentieren können?

Würde Auri darunter leiden müssen?

Was, wenn sie nun weiter ausgeschlossen wurde?

Was, wenn ich als Mutter eine totale Versagerin war?

„Jesus!“ Ich richtete den Blick nach oben zum Himmel. Die Sonne war verschwunden, die letzten Farben der Dämmerung verblassten langsam am Himmel. „Hilfe. Warum musste ich schon wieder mit ihnen aneinandergeraten? Immer wieder das Gleiche, wie auf diesem blöden Elternabend, ich kann nicht mehr!“ Ich spuckte die Worte förmlich auf den Asphalt. Doch der Himmel blieb stumm und wunderschön über mir. Allgegenwärtig.

Ich rieb mir über das Gesicht und atmete tief durch. „’tschuldigung“, murmelte ich. „Aber der Abend hätte echt einfach schön und entspannt laufen können, oder nicht? Es war nicht gut, wie ich gegangen bin, mein Ton auch nicht, gerade, als es um dich ging. Es tut mir leid.“

Ich fing an loszulaufen und nach wenigen Schritten darüber nachzudenken, was eine Taxifahrt nach Hause wohl kosten würde. Aber Thea, die Chefin und Fahrerin des kleinen Bibertaler Taxi-Unternehmens, war nicht mein größter Fan, seit ich ihr vor einigen Jahren nach zu viel Tequila und Tanzen mal in den Fußraum gekotzt hatte.

Also ging ich weiter.

Die ersten Blätter lagen auf dem Weg. Der Herbst kam. Endlich. Jedes Jahr wartete ich nahezu kribbelig auf den September wie andere auf Weihnachten oder den Frühlingsbeginn. Ich war ein Herbstkind, es gab für mich nichts Schöneres, als wenn sich die Blätter rund um Bibertal leuchtend rot und gelb verfärbten und ich all meine Cardigans aus dem Schrank holen konnte. Herbst bedeutete auch, mich mit Auri in dicke Decken zu kuscheln und heißen Kakao auf der Terrasse zu genießen. Und das Zucken in meinen Fingern zu spüren, die das Farbspektakel auf einer Leinwand festhalten wollten.

Ich schob den Gedanken weg, bevor er in mein Herz wandern konnte, und konzentrierte mich darauf, die Straße zu überqueren. Meine Füße schimpften mit mir über diese Idee, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Mein Kopf dagegen genoss die frische Luft. Und mein Hirn flehte mich an, sofort eine Zeitmaschine aufzutreiben und diesen Abend ganz anders anzugehen.

Gerade als ich den Weg erreicht hatte, der um den See herumführte, hörte ich ein Hecheln hinter mir. Ich hatte kaum Zeit, mich zu erschrecken, schon schoss ein wolfsähnlicher Umriss an mir vorbei, kehrte um und lief schwanzwedelnd auf mich zu. „Hi, Jamie“, grüßte ich Ians Mitbewohner und besten Freund ein bisschen zu atemlos und streichelte ihn zwischen den Ohren. „Schön, dass du wieder da bist. Dein Herrchen war ohne dich nicht derselbe.“

Jamie grummelte etwas, das beinahe nach einer Antwort klang. Ich beruhigte mein klopfendes Herz und strich fest über seinen Rücken. Es ist nur Jamie. Nur Jamie. Keine Gefahr.

Die Art, wie er den Kopf wandte, verriet mir, dass wir nicht länger allein waren. Ian hatte eine Hand in die Hosentasche geschoben, die Riemen eines Rucksacks schlangen sich um seine Schultern, und mit der anderen hielt er irgendetwas vor sich. Er joggte die letzten Schritte auf uns zu und lächelte mich an. „Hi.“

Misstrauisch betrachtete ich ihn. „Was genau wird das?“

„Wir haben den gleichen Heimweg. Ich schließe zu dir auf, damit du dich nicht verfolgt fühlst.“

„Deine Schicht hat eben erst begonnen.“

„Jeremiah braucht mich heute nicht mehr.“

„Das Dankbar war rappelvoll, Ian.“

Er sah mich unschuldig an. „So?“

Schnaubend ging ich weiter. „Ich brauche keinen Babysitter.“ Die Worte kamen viel zu scharf heraus, doch Ian blieb gelassen.

„Ich bin nicht hier, um dich zu babysitten. Das ist mein Heimweg. Und Jamie wollte dir Guten Tag sagen. Außerdem habe ich etwas für dich dabei.“

Der Hund bellte bestätigend und stieß mir mit der Schnauze gegen die Knie. Ich strich ihm über den Rücken, Haare verfingen sich zwischen meinen Fingern. „Tut mir leid“, kam es von Ian. „Er haart momentan ziemlich.“

Ich warf ihm einen Blick zu und klopfte meine Hände an der Jeans ab. „Du hast die zwei Fellbündel doch gesehen, mit denen ich zusammenlebe, oder?“

Er schmunzelte und streckte mir den Gegenstand in seiner Hand entgegen. „Hier.“

Verdutzt starrte ich auf die Dose. „Was ist das?“

„Abendessen. Dein Abendessen, um genau zu sein. Es ist noch warm.“ Irgendwoher zauberte er eine Gabel und hielt sie mir entgegen. „Es ist ziemlich improvisiert, das gebe ich zu und eigentlich gehört es hübsch angerichtet auf einen Teller, aber na ja.“

Mein Magen zog sich hungrig zusammen und knurrte laut. „Ich … du …“ Irgendwie schaffte ich es trotz Verwirrung, ihm die Dose abzunehmen. Sofort traf mich ein würziger Duft, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ian sah mich erwartungsvoll an, also pikte ich mit der Gabel behutsam einen der orangefarbenen Würfel auf und schob ihn mir in den Mund. Ich schmeckte Kräuter, Knoblauch und Süße, beinahe wie … „Kürbis?“

Ian nickte. „Ist es gut?“

Statt einer Antwort schlang ich einen weiteren großen Bissen hinunter. Und noch einen.

Ian wirkte zufrieden. „Willst du dich setzen?“

„Geht schon.“

Langsam gingen wir weiter, Ian passte sich meinen Schritten an. Jamie wuselte mal vor, mal zurück und behielt uns genau im Blick. Ich konnte mich noch gut an Ians Nachricht im Gruppenchat erinnern: Er ist zurück, es geht ihm gut!

Ich wartete darauf, dass Ian fragte, fürchtete mich davor. Hatte Jeremiah ihn geschickt? Was hatte er mitbekommen? Hatte er gesehen, wie ich die Beherrschung verloren hatte? Was dachte er jetzt von mir?

„Geht ihr immer zu Fuß?“, hörte ich jemanden fragen. Mich. Wie seltsam.

„Jamie läuft gerne. Manchmal nehmen wir auch das Kanu. Aber momentan zimmert Gideon wieder an dem Steg herum und wir können nicht anlegen.“

„Ihr könnt doch unseren benutzen. Hast du doch schon öfter gemacht.“

„Wäre das in Ordnung für dich?“

„Sicher, warum denn nicht?“ Verwunderung überschwappte meine Ängste. „Du kannst dort jederzeit anlegen oder ankern oder was auch immer. Nimm einfach nur alles, was du aus diesem See fischst, mit nach Hause, okay?“

Ian lachte und der Knoten in meinem Bauch schmolz ein bisschen. „Das ist sehr freundlich. Danke.“

„Kein Problem.“ Ich spießte die letzte Gabel voll mit Köstlichkeit auf und kaute andächtig. Ian nahm mir die leere Dose ab und meine Hände blieben schrecklich unbeschäftigt zurück. Verlegen schob ich sie in meine Taschen und unterdrückte ein Kopfschütteln.

Ich war nie verlegen. Mein Panzer war perfekt – nur bei Ian gerieten die Dinge ins Wackeln. Schon immer.

Wie lange war es jetzt her, dass er nach Bibertal gekommen war? Es war nach Lexies Ankunft gewesen, die nächste Gerüchtewelle nach der über die aufgedrehte Tierschützerin. Neue Gesichter blieben hier nicht unbemerkt, schon gar nicht, wenn sie sich hinter dem Tresen des beliebtesten Lokals der Gegend herumtrieben.

Von Anfang an war Ian der Traum einer jeden Schwiegermutter gewesen. Freundlich, zuvorkommend, gut aussehend … und absolut geheimnisvoll. Keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, aber inzwischen rankten sich so viele Gerüchte um ihn, dass es schon fast ein Sport geworden war, Thesen über Ians Vergangenheit und Werdegang aufzustellen. Das Letzte, was ich gehört hatte, war, dass er ein erfolgreicher Musiker mit Burn-out sein sollte, der in Bibertal Inspiration für ein neues Album suchte. Allerdings hatte ich Ian noch nie mit einem Instrument gesehen, von daher …

Eine Hand legte sich behutsam um meinen oberen Arm und lenkte mich ein Stück zur Seite, um eine Matschpfütze herum. „Woran denkst du?“, fragte Ian und ließ mich los, als er sicher war, dass ich wieder im Jetzt angekommen war.

„Ach, dies und das“, wehrte ich ab und spürte, wie meine Wangen rot wurden. Mit Sicherheit würde ich ihm nicht von dem Getratsche erzählen. Keine Ahnung, was ihm davon schon zu Ohren gekommen war, aber ich vermutete, dass die Besitzerin des Futterladens wahrscheinlich nicht direkt zu ihm gekommen war, um ihn zu fragen, ob er wirklich der verschollene Halbbruder von Travis Fimmel und eine heimliche Reinkarnation von Ragnar Lothbrok war. Wobei sie felsenfest an dieser Geschichte festhielt. So sehr, dass sogar ich nach dieser Serie gegoogelt hatte. Und ja, auch ich sah die Ähnlichkeit.

„Also, Kürbis“, flüchtete ich mich in das erstbeste Thema. „Dann ist die Saison eröffnet?“

„Bald. Der hier war aus Lexies Garten. Ihre Ernte ist etwas zu groß für den Eigenbedarf, aber für das Dankbar reicht es wiederum nicht aus. Ihr Garten bietet so viele Möglichkeiten, die Erde ist unglaublich fruchtbar und der Anteil von Sonne und Schatten genau richtig. Bei mir ist es unter den Tannen zu dunkel und der Boden ist zu hart, es wächst kaum etwas.“

„Du willst selbst anbauen?“

Er warf mir einen belustigten Seitenblick zu. „Überrascht dich das?“

Ich hob die Schultern. „Ich hätte dich irgendwie nicht für einen Gärtner gehalten. So oft, wie du von Dachzelten und Hängematten sprichst.“

Mit Ian verband ich nicht nur das Dankbar und Jamie, sondern auch sein Kanu, seine Gelassenheit und die Erzählungen, wenn er mit Jamie zum Wandern aufbrach und tagelang im Wald verschwand. Er war ein Naturtyp durch und durch und derjenige, der ohne Streichhölzer das Lagerfeuer anzündete, wenn wir an der Hütte waren. Sollte es irgendwann dazu kommen, dass wir uns in die Wälder flüchten müssen, würde ich definitiv in Ians Nähe bleiben. Aus mehreren Gründen.

„Finde ich gut – bei der drohenden Apokalypse würde ich auch in deiner Nähe bleiben.“ Offenbar hatte mein Mund es für eine gute Idee gehalten, meine Gedanken laut kundzutun, und mein Begleiter war sichtlich amüsiert.

Seine Worte sorgten für ein sachtes Flattern in meiner Herzgegend. „Ach ja?“

„Immerhin bist du Krankenschwester.“

Das Flattern erstarb ernüchtert. Stimmt. Da war ja was.

„Wenn du etwas anbauen möchtest“, kehrte ich – ein bisschen zu hastig – zum ursprünglichen Thema zurück, bevor mein Blick zu der roten Linie auf seiner Stirn wandern konnte, „wie wäre es dann mit einem Teil des Grundstückes zwischen dem Bungalow und dem Haus? Da ist Platz und auch viel Sonne. Ursprünglich sind da auch mal Beete angelegt worden, wir sind nur … mit der Pflege nicht ganz hinterhergekommen.“

Trotz des schwindenden Lichts konnte ich sehen, wie Ians Blick intensiv wurde. Beinahe wie eine Berührung wanderte er über mein Gesicht.

Ich schluckte und bemühte mich um ein gelassenes Gesicht. Es ist nur ein Stück Garten. Du machst ihm ja keinen Antrag.

„Wow, dieser Kürbis hat dir wirklich gut geschmeckt, was?“

Mein Stoß gegen seine Schulter ließ ihn beinahe in den schmalen Graben zwischen Straße und Gehweg taumeln. Ian lachte so laut, dass Jamie umkehrte und herangerannt kam, um zu sehen, was los war.

„Idiot“, brummte ich. „Spotte nur.“

Ian kehrte mit kapitulierend erhobenen Händen an meine Seite zurück und stieß mich sacht an. „Tut mir leid.“

„Tut es nicht.“

„Schon ein wenig. Dein Angebot ist sehr großzügig.“

Ich zuckte mit den Schultern. Aus meiner Perspektive war es das nicht. „Wir nutzen den Bereich nicht. Nur Auri, die tobt einfach überall herum, aber ich denke, sie hat dennoch genug Platz. Und selbst angebauter Salat ist köstlich. Und nachhaltig. Und preisgünstig. Und gesund.“

„Wäre das für Finn in Ordnung?“

„Der beschwert sich ohnehin ständig, dass dort alles so wuchert. Aber er hat auch keinen Nerv, sich darum zu kümmern, und wir …“ Ich stockte, ehe mir die Worte „können uns einen Gärtner gerade nicht leisten“ über die Lippen fließen konnten. Dabei war es kein Geheimnis.

Dass Finn pleite war, war erst vor wenigen Monaten durch die Medien gegangen. Die Blicke im Krankenhaus und auf der Straße hatten mich fast zur Weißglut getrieben. Eine Kassiererin im Supermarkt hatte mich so schräg angesehen, als ich ihr meine Sparkassenkarte reichte, dass ich sie gefragt hatte, ob sie ein Problem habe. Und zwar nicht gerade höflich. Allerdings war es noch netter gewesen als all die Worte, die sich bereits in meinem Kopf aufgestaut hatten.

„Okay“, sagte Ian in die Erinnerung hinein. „Dann … danke. Ich schaue die Tage vorbei und … dann sehen wir einfach weiter?“

„Klingt gut.“ Dankbar, weil meine Füße wirklich langsam wehtaten, bemerkte ich, dass es nicht mehr weit war. Rechts erhob sich das Haus meines Bruders vor dem friedlich daliegenden See und links führte ein Weg in den Wald hinein. Zu Ian.

Mein Blick verharrte auf den Bäumen, die diesen still erwiderten. Ich hatte diesen Wald immer geliebt und tat es noch. Aber etwas hatte sich verändert. Als irgendwo ein Käuzchen schrie, zuckte ich unwillkürlich zusammen.

Ian berührte sacht meinen Arm. „Alles in Ordnung?“

„Denkst du, er ist noch da draußen?“

„Akela? Ja, irgendwo schon.“

„Findet es außer mir eigentlich niemand schräg, dass Lexie und Noah ihn so genannt haben?“

„Hey, ich musste es googeln, um zu verstehen, woher der Name kommt.“ Ian erwiderte mein Grinsen und einen Moment teilten wir diese Zweisamkeit, ehe ich zögernd weiterfragte:

„Macht es dir Angst? Der Gedanke, dass du irgendwann aus dem Fenster siehst, und er steht vor deinem Wohnzimmer?“

Ian nahm sich Zeit für die Antwort. Irgendwie war ich ihm dafür dankbar. „Nein, nicht wirklich. Wölfe greifen Menschen in der Regel nicht an, sie sind recht scheu. Aber Jamie … ich weiß nicht. Ich hoffe, Akela sieht keine Bedrohung in seinem Sohn. Ich habe ihn immer viel frei herumlaufen lassen. Momentan … bringe ich das nicht so übers Herz.“ Gedankenverloren rieb er sich über die verblasste Wunde an seiner Stirn. „Was ist mit dir?“

„Auri weiß, dass sie nicht allein in den Wald darf. Sie stromert am See herum, auf dem Grundstück und rüber zu Lexie. Das soll sie auch, die Hunde sind ohnehin die meiste Zeit bei ihr. Ich habe sie gebeten, dass sie darauf achtet.“ Ich hielt den Blick auf die Bäume gerichtet, während meine Stimme immer leiser wurde. „Ich will nicht, dass mein Kind dieses Gefühl hat. Das Gefühl, im eigenen Zuhause nicht mehr sicher zu sein.“

Die Worte erstarben mit einem Hauch auf meinen Lippen. Die Bäume neigten still ihre Köpfe, nach links und nach rechts, doch sie schwiegen weiterhin, während über ihnen die ersten Sterne erschienen. Ich zuckte ein weiteres Mal zusammen, als Jamie seine kalte Nase unvermittelt in meine Hand drückte. Aus wissenden Augen sah er zu mir hinauf.

Ian wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor. „Ich hätte ihn gern gesehen. Akela.“ Das hatte ich noch niemandem anvertraut. Aber an diesem Abend lief ja ohnehin nichts normal.

Mein Begleiter brauchte einen Moment für den Themenwechsel, spielte dann aber mit. „Er ist wunderschön. Beängstigend. Ich war zwar von dem Kerl, der Lexie und Jamie gekidnappt hatte, ziemlich abgelenkt, aber was ich vom ihm gesehen habe, war trotz allem wunderschön.“

„Sieht Jamie ihm ähnlich?“

„Vielleicht ein bisschen.“

„Kannst du … macht es dich … hast du –“

„Angst, dass wieder jemand in meinem Wohnzimmer lauert, um mir eins überzuziehen? Die ersten Tage hatte ich ein wirklich mieses Gefühl. Ich war heilfroh, als Gideon darauf bestand, auf meiner Couch zu nächtigen, während Lexie bei Emma geschlafen hat. Aber inzwischen fühle ich mich wieder zu Hause. Und Jamie weicht mir nicht von der Seite. Ich glaube, er spürt den Angsthasen in mir.“

„Du bist so einiges, Ian …“, ich zögerte, als mir auffiel, dass ich seinen Nachnamen gar nicht kannte, und brachte den Satz etwas ungelenk zu Ende: „… aber ganz sicher kein Angsthase. Und warum weiß ich eigentlich deinen Nachnamen nicht?“

„Schätze, du hast nie gefragt.“

„Schön, und wie lautet er?“

Einen Moment lang wirkte es, als würde er nicht antworten wollen. Doch dann: „Erikson. Mein Nachname ist Erikson.“

„Also doch ein Wikinger.“

Ian schmunzelte und betrachtete seinen tierischen Freund, der langsam ungeduldig wurde, weil wir hier so tatenlos herumstanden. „Ich sollte langsam los.“

„Ich auch. Danke für die Begleitung. Und … das andere.“

„Jederzeit wieder.“ Sein Blick hielt mich fest. Einen Moment lang schwebten unsere Hände ungelenk zwischen uns. Unsicher, welche Gesten folgen sollten. Doch dann wandte Ian sich mit einem leichten Lächeln ab, ohne mich ein weiteres Mal zu berühren, und verschwand mit sicheren Schritten im Wald.

Ich zwang mich, den Blick abzuwenden und ebenfalls das letzte Stück des Heimwegs einzuschlagen. Nemo begrüßte mich schwanzwedelnd hinter dem Tor, auch der Kies knirschte einen Willkommensgruß unter meinen nun doch sehr müden Füßen. Es war ungewohnt, die Haustür zu benutzen, doch seit den Ereignissen der letzten Wochen hatten Finn und ich beschlossen, die sonst immer offen stehende Küchentür nachts abzuschließen. Ich hasste all jene dafür, die uns das Gefühl gaben, dies tun zu müssen!

Der Schlüssel ratschte im Schloss, drinnen erwarteten mich Stille und der Geruch nach Popcorn.

Keine Ahnung, was es war. Vielleicht der Moment, als ich aus meinem Mantel schlüpfte und mich selbst im Spiegel sah: Mein Pullover war über die Schulter gerutscht, weiße Haut darunter sichtbar und die Umrisse meines Schlüsselbeins, der Ansatz des weißen Spitzen-BHs. Mit einem Mal wurde meine Kehle eng, meine Finger krampften sich um den Stoff, wollten ihn zurechtzerren. Hoch genug, sicher genug, als Schutz vor den Blicken, die immer noch an mir klebten, mir gefolgt waren, bis hierher in mein Zuhause. Oh, wie sehr ich sie hasste, diese Blicke!

Ein Schluchzen. Dann riss ich mir den Stoff über den Kopf und schleuderte ihn von mir, das Geräusch, als er an die Wand prallte, war schrecklich unbefriedigend.

Ich starrte in den Spiegel. Der flache Bauch zu flach. „Ach Kind, iss doch was, du siehst ja ganz verhungert aus. Männer mögen keine Klappergestelle.“

Die vollen Brüste. „Willst du wirklich dieses enge Shirt anziehen? Das verlockt. Aylin, nicht dieser Ausschnitt.“

Die Lippen. „Nicht diesen roten Lippenstift, das gehört sich nicht. Weißt du, wer solche Farben früher getragen hat?“

Die helle Haut. „Wow, für diese Haut würde ich alles geben. Sag schon, was ist dein Geheimnis?“

Die Spuren des Kaiserschnitts. „Tja, das war’s dann mit der Bikinifigur. Hey, jetzt musst du auch mal mit einem Makel klarkommen wie der Rest von uns. Ich hab eine Creme, mit der sieht es bald nicht mehr so schlimm aus.“

Heiße Tränen brannten auf meinen Wangen, als ich eine Sweatjacke meines Bruders von der Garderobe riss und hineinschlüpfte, den Reißverschluss so weit hochzog, bis er in die feine Haut unter meinem Kinn biss. Der Spiegel lachte und spottete.

Ich hatte schon mal einen Spiegel zerschlagen. Die Narbe an meinem Handgelenk erinnerte mich daran.

Ich stieß die angehaltene Luft aus, wandte mich zur Seite – und begegnete dem Blick meines Bruders. Still stand er im Türrahmen, die ordentlich gekämmten Locken nur leicht zerzaust und in einem dunklen Pullover, der seinen Augen schmeichelte. Ich hatte ihm das Kleidungsstück zu Weihnachten geschenkt. Vor zwei Jahren.

„Was ist passiert?“

„Nichts.“

„Blödsinn.“ Die Wut machte seine Züge hart. Mein kleiner Bruder. Er war so oft wütend. Meistens auf sich selbst. Manchmal auf das Leben. „Rede mit mir.“ Sein Gesicht war vielleicht hart, aber seine Stimme wurde weich, als er die Hand nach mir ausstreckte und behutsam mein Gesicht berührte. Er wischte die Tränen fort, und als ich nicht zurückwich, zog er mich in eine Umarmung.

Der süße Popcorngeruch hing überall an ihm, als hätte Auri ihn mit der klebrigen Süßigkeit überschüttet. „Du bist zu Hause“, sagte er mir ins Ohr. „Hier bist du sicher. Das hier ist deins und du bist du und das ist in Ordnung. Niemand sonst hat eine Stimme hier. Nur du.“

Ich lehnte den Kopf an seine Schulter. „Menschen sind ätzend.“

„Gib mir ihre Namen und ich versenke sie im Fundament für die neue Scheune. Niemand wird sie finden.“

Ich lachte ein kleines bisschen. „Die Scheune, für die uns das Geld fehlt?“

„Genau die.“ Er tätschelte meine Schulter. „Soll ich dir was zu essen machen?“

„Ich hab schon gegessen. Was machst du?“

„Emma ist im Wohnzimmer.“ Er suchte meinen Blick. „Soll ich sie bitten zu gehen?“

„Nein. Schon gut. Ich bin müde und werde ins Bett gehen. War Auri lieb?“

„Natürlich.“ Finn hielt mich fest, als ich Anstalten machte, mich in Bewegung zu setzen. „Ganz sicher?“