Zeitalter der Weltfremdheit? Drei Essays - Odo Marquard - E-Book

Zeitalter der Weltfremdheit? Drei Essays E-Book

Odo Marquard

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Beschreibung

Odo Marquards (1928–2015) Essays sind verblüffend zeitlos: Sie schließen nahtlos an gegenwärtige Debatten an und schaffen zugleich mit wohltuender Distanz Klarheit. In »Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit« widmet er sich dem Problem, dass es so vielen an der Fähigkeit mangelt, mit Einsamkeit adäquat umzugehen. In »Diätetik der Sinnerwartung« zeigt er, dass vor allem ein übermäßiger Sinnanspruch für die  allgegenwärtige Sinnverlustklage verantwortlich ist.  Der titelgebende Essay schließlich nimmt eine Analyse von gegenwärtigen Verschwörungsideologien vorweg. Ein Nachwort des Marquard-Schülers Franz Josef Wetz ordnet die Texte ein. 

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Seitenzahl: 105

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Odo Marquard

Zeitalter der Weltfremdheit?

Drei Essays

Mit einem Nachwort von Franz Josef Wetz

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962105-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014277-6

www.reclam.de

Inhalt

Zeitalter der Weltfremdheit?

Zur Diätetik der Sinnerwartung

Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit

Zu dieser Ausgabe

Maßhalten. Überraschend aktuell

Zeitalter der Weltfremdheit?

Beitrag zur Analyse der Gegenwart

Unsere Zeit hat viele Namen. Sie gilt als »Industriezeitalter« oder »Spätkapitalismus« oder »Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation« oder »Atomzeitalter«; sie gilt als Zeitalter der »Arbeitsgesellschaft« oder »Freizeitgesellschaft« oder »Informationsgesellschaft«; sie gilt als Zeitalter der »funktionalen Differenzierung« oder »Epoche der Epochisierungen« oder »postkonventionelles Zeitalter« oder bereits als »nacheuropäisches Zeitalter« oder einfach als »Moderne« oder auch schon als »Postmoderne« und so fort. Diese Vielnamigkeit ist indirekte Anonymität: unsere Zeit und Welt befindet sich – scheint es – auch deswegen in einer Orientierungskrise, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muss. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, diese Orientierungskrise zu beheben; ich werde sie eher – heilsam: und erst zum Schluss werde ich sagen, warum das heilsam ist –, ich werde sie eher steigern, indem ich hier jetzt eine weitere Kennzeichnung ins Spiel bringe, nämlich diese: unsere Zeit ist – vielleicht auch – das Zeitalter der Weltfremdheit. Ich möchte diesen Kennzeichnungsvorschlag in den folgenden gut 50 Minuten ein wenig erläutern und konturieren, und ich tue das in folgenden fünf Abschnitten: 1. Utopien und Apokalypsen; 2. Man wird nicht mehr erwachsen; 3. Tachogene Weltfremdheit; 4. Erhaltung des Negativitätsbedarfs; 5. Plädoyer für den Kontinuitätensinn. Damit – wenn es denn eine ist – zur Sache und also zum Abschnitt:

1. Utopien und Apokalypsen

Was immer unsere Zeit sein mag: sie ist jedenfalls auch das Zeitalter der Wechselwirtschaft zwischen Utopien und Apokalypsen, zwischen Diesseitserlösungs-Enthusiasmus und Katastrophengewissheit, zwischen den Naherwartungen einerseits des Himmels auf Erden, andererseits der Hölle auf Erden, und jedenfalls zwischen – überemphatischen – Fortschrittsphilosophien und Verfallsphilosophien. Warum gehören zu unserer Welt beide?

Da sind einerseits die Fortschrittsphilosophien und Utopien. Zu unserer, der modernen Welt, die schließlich zur Industrie- und Arbeitsgesellschaft geworden ist, gehört zentral der Fortschrittsgedanke, der Gedanke der Selbststeigerung oder gar Selbstvollendung der Menschheit: alles wird immer schneller immer besser und womöglich gar alsbald am Ende wirklich gut. Dieser Gedanke setzt sich im 18. Jahrhundert durch. Zuerst wird er – sattelzeitbrav1 ab 1750 – durch die moderne Geschichtsphilosophie formuliert, für die die Namen Turgot, Voltaire, Condorcet, Kant, Fichte, Hegel und Marx stehen mögen und die als Säkularisierung (Löwith) oder Umbesetzung (Blumenberg) des Heilschemas der christlichen Geschichtstheologie verstanden werden kann: durch die Geschichte betreibt die Menschheit ihre Erlösung, die Herbeiführung ihres guten Lebens. Dann – nach der Enttäuschung der emanzipatorischen Naherwartung zuerst durch die Französische Revolution – kommt der Fortschrittsgedanke in die Obhut positivistischer Stadienlehren und biologischer, psychoanalytischer und soziologischer Evolutionstheorien, für die die Namen Schelling, Comte, Darwin, Spencer, Freud, Gehlen, Habermas und Luhmann stehen mögen: der schnelle Marsch ins Heil wird ersetzt durch den langen Marsch durch die Arten und Institutionen; durch die Geschichte betreibt die Menschheit die Perfektion der Technik, der Sicherung ihres Überlebens. Das Grundschema bleibt das gleiche: das Frühere wird überboten durch das Spätere, das Primitive durch das Entwickelte, und also in concreto: das Rohe durch das Gekochte, die Natur durch die Kultur, das Wilde durch das Gezähmte, das Lustprinzip durch das Realitätsprinzip, die Gewalt durch das Recht, der Stamm durch den Staat, der Mythos durch den Logos, der Zufall durch die Wissenschaft, das Schicksal durch die Technik, die Not durch den Überfluss, die Phantasie durch die Beobachtung, die Fiktion durch die Realität, die Illusion durch die Kritik, die Ungleichheit durch die Gleichheit, die Repression durch die Freiheit, der Urmensch durch die Spätkultur, kurzum: das Frühere, das das Unmündige und Unreife ist, wird überboten durch das Spätere, das das Mündigere und Reifere, und durch das Späteste, das das Mündigste und Reifste ist. Das – meine ich: und man kann es durch die Lebensaltermetaphorik aller Fortschrittstheorien belegen – schließt ein: die Menschheit ist emsig dabei, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, und ist also strebsam bemüht, dauernd immer erwachsener zu werden. Die spätesten Menschen sind die reifsten – die erwachsensten Menschen der Weltgeschichte; unsere Zeit – als Produkt der Abstreifung ihrer früheren Unmündigkeiten und Weltfremdheiten – ist das Zeitalter der vollendeten Erwachsenheit: die Weltgeschichte ist – im Blick auf das Diesseitsheil – die Fortschrittsgeschichte des Gewinns der Erwachsenheit.

Da sind andererseits die Verfallsphilosophien und Apokalypsen. Zu unserer, der modernen Welt, die schließlich zur Arbeits- und Industriegesellschaft geworden ist, gehört ebenso zentral der Verfallsgedanke, der Gedanke der Selbstzerstörung oder gar Selbstvernichtung der Menschheit: alles wird immer schneller immer schlimmer und womöglich gar alsbald am Ende wirklich tödlich. Durch diesen Gedanken wird das skizzierte Reifungsschema nicht angefochten, es bleibt vielmehr aufrechterhalten, gerade auch dort, wo die Fortschrittsgeschichte der Menschheit nicht als Gewinngeschichte, sondern als Verlustgeschichte erfahren wird: als Geschichte des Verfalls durch Fortschritt. Das geschieht bemerkenswert gleichzeitig mit der geschichts- und evolutionsphilosophischen Positivkarriere des Fortschrittsgedankens und der Utopie. Denn die These, dass das Wachstum an Technik und Zivilisation Verlust und Verfall sei, kommt ebenfalls – sattelzeitbrav – Mitte des 18. Jahrhunderts ins Spiel: seit 1750 Rousseau in seinem Discours des sciences et des arts die Frage, ob der Wissenschafts- und Technikfortschritt gut für den Menschen sei, frühgrün mit »nein« beantwortete und im Namen der Natur gegen die Fortschrittsgeschichte plädierte. Seither wird dieses Nein ständig wiederholt: romantisch – etwa bei Novalis – zu Anfang und lebensphilosophisch – etwa bei Nietzsche – zu Ende des 19. Jahrhunderts; und – nach Spengler und Klages und Heidegger – im Augenblick ist die grüne Welle die aktuelle Reprise der Interpretation des Fortschritts als Verfall und des vermeintlichen Wegs zum Heil als Weg in die Katastrophe: nichts Neues unter der Sonne, die freilich zuweilen durch Smog verdunkelt wird. Wie gesagt: das Grundschema – das Reifungsschema – bleibt dabei das gleiche; nur wird jetzt umgewertet, und wo sonst gejauchzt wird, wird jetzt gezittert und geklagt; und wo das Prinzip Hoffnung regierte, regiert nun das Prinzip Angst. Denn: jawohl, die Menschheit ist emsig dabei, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, und ist also strebsam bemüht, dauernd immer erwachsener zu werden: das – fürwahr! – ist so. Nur: es ist schlimm. Unsere Zeit – die einer fortgeschrittenen Verfallsgeschichte – ist die Schreckensära der Hypertrophie des Erwachsenseins: sie ist die Unheilszeit eines großen Verlustes, nämlich des Verlustes der Kindlichkeit der Menschen. Denn auch hier gilt: die spätesten Menschen sind die reifsten – die erwachsensten – Menschen der Weltgeschichte; unsere Zeit – als Produkt der Abstreifung ihrer früheren Unmittelbarkeiten und kreativen Phantasien – ist das Zeitalter der vollendeten oder fast vollendeten Erwachsenheit: die Weltgeschichte ist – im Blick auf die Katastrophe – die Verfallsgeschichte des Verlustes der Kindlichkeit.

Befreiungserwartung und Katastrophenangst, utopische Fortschrittsphilosophie und apokalyptische Verfallsphilosophie: beide gehören zu unserer – der modernen – Welt. Warum beide? Ich sprach von ihrer Wechselwirtschaft: sie sind »feindliche Brüder«. Nicht eine von beiden, sondern im Pendelverfahren grundsätzlich gleichzeitig – beide gehören zur modernen Welt. Warum beide?

2. Man wird nicht mehr erwachsen

Auf diese Frage versuche ich zu antworten, indem ich zunächst auf folgenden Tatbestand hinweise: Etwa gleichzeitig mit dem gleichzeitigen Triumph von Fortschrittsphilosophien und Verfallsphilosophien kommt es – wiederum sattelzeitbrav seit dem 18. Jahrhundert – zu dem, was man die »Entdeckung des Kindes« genannt hat.2 Ein Kind ist kein kleiner Erwachsener, sondern etwas anderes als ein Erwachsener, nämlich ein Kind: das ist – Philippe Ariès hat es gezeigt – eine moderne Entdeckung, etwa 300 Jahre alt. Vor kaum 200 Jahren hat die Romantik – beeindruckt durch Rousseaus Lehre vom guten Wilden – diese Entdeckung des Kindes zugespitzt zur Überzeugung: das Kind ist der eigentliche Mensch, und Erwachsenwerden – als Verlust der Kindlichkeit – ist Abfall vom Menschsein, nämlich einzellebensgeschichtlich das, was menschheitsgeschichtlich die moderne Fortschrittskultur selber ist: die Zerstörungsgeschichte des eigentlichen, »authentischen«, natürlichen Menschen, jenes guten Wilden, der in unserer entfremdeten Welt allein noch das Kind ist. Seither gelten die Kinder, die Jugendlichen als die maßgeblichen Menschen: diese Meinung hat so sehr Schule gemacht, dass selbst die Schule ihre Lehrer zuweilen anhielt, nur noch Lehrlinge ihrer Schüler zu sein. Erwachsenwerden ist Sündenfall. Ihm entgehen – scheint es – nur die, die das Erwachsenwerden verweigern. Das sind – meinen einige – die Künstler; es sind – meinen andere – die Randgruppen und Aussteiger (von der Boheme bis zur alternativen Selbsterfahrungsgruppe); es sind – so wollen es die modernen Jugendbewegungen – vor allem die Kinder, die Jugendlichen selbst. Nicht zufällig tragen sie heute Savage-Look, die Uniform des guten Wilden; was da bärtig und zottig einhertrottet, sind keine ungepflegten Menschen, sondern gepflegte Zitate: Rousseau-Zitate. Dazu gehört allenthalben der Bedeutungsaufschwung der Frage »wie bleibe ich jung?« und die Flut der Versuche, sie befriedigend zu beantworten: vom Sport über die Kosmetik bis zur Entwicklung von Möglichkeiten, lebenslang die Schulbank zu drücken. Weil man dennoch – schon aus biologischen Gründen – weiterhin älter wird, entsteht das Gefühl, dass die moderne Erwachsenenwelt – als Welt der erwachsensten Erwachsenen der bisherigen Menschheitsgeschichte – die Kinder- und Jugendwelt einschränkt und erdrückt. Dagegen rennt die heutige Jugend an, zuweilen wild: denn beim guten Wilden beweist ja Wildheit Güte. Aus der modernen Überaufwertung des Kindseins und Jungseins – ermuntert durch die Deutung des Fortschritts als Verfall – folgt schließlich, dass – unter Beifall der Erwachsenen – die Jugend den Aufstand probt: als Widerstandsbewegung gegen das Erwachsenwerden. All das kennzeichnet heute weithin unsere Lage.

Das – diese Lage der scheinbar expandierenden Erwachsenheit und ihrer Negativbewertung durchs Lob des Kindes und durch Jugendprotest – muss man (meine ich) neu durchdenken. Dabei sollte man – abweichend von bisherigen Analysen – folgende Möglichkeit in Betracht ziehen: Vielleicht stimmt es gar nicht, dass die modernen Erwachsenen zu viel erwachsen und zu wenig Kind sind, vielleicht stimmt eher das Gegenteil, dass sie zu wenig erwachsen und zu viel Kind sind und – im Sinne eines Ressentiments – durch das Lob des Kindes nur die eigene Schwäche loben: die Neigung der modernen Erwachsenen zu Infantilismen, zu Verkindlichungen und Kindlichkeiten, ihre Unfähigkeit zum Erwachsensein, ihren Hang zur Weltfremdheit. Das ist denn auch hier im Folgenden meine These: Uns fehlt nicht die Kindlichkeit, wir haben sie eher zu viel; für die Menschen der modernen Welt nämlich gilt: man wird nicht mehr erwachsen, denn wir leben im Zeitalter der Weltfremdheit. Man wird nicht mehr erwachsen: damit meine ich hier nicht das, was wohl immer zutraf und was uns die Psychoanalyse nur noch einmal eindrucksvoll in Erinnerung rief: wie sehr wir bei allem, was wir tun und denken, jenes Kind zitieren und bleiben, das wir einmal waren: sein Verhältnis zu den Eltern, den Geschwistern, und zwar auch und gerade in jenen häufigen und häufig harmlosen Fällen, wo es nicht zur Neurose führt. »Und dann, die Quintessenz von allem ist, dass es keinen Menschen gibt, der erwachsen wäre«: so ein französischer Résistance-Priester über seine Beichterfahrung, zitiert zu Anfang der Anti-Memoiren von Malraux.3 Das, denke ich, hätte ein Beichtiger auch 1000 Jahre früher sagen können: es ist also etwas Altes und somit nichts Neues. Neu – spezifisch modern – ist vielmehr etwas anderes. Darüber im Abschnitt:

3. Tachogene Weltfremdheit

Neu ist nämlich eine zeitalterspezifisch moderne Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Ich nenne sie tachogene Weltfremdheit; denn sie resultiert aus der beschleunigten Schnelligkeit (auf Griechisch: to táchos) des modernen Wirklichkeitswandels. Erlauben Sie mir zu ihrer Charakteristik – die hier keineswegs vollständig sein kann – fünf Hinweise (a–e). Da ist als erstes Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit:

a) die beschleunigte Erfahrungsveraltung4. Wir leben seit knapp einem Vierteljahrtausend in einer – der modernen – Welt, in der sich immer schneller immer mehr ändert. Zu ihren besonderen Kennzeichen – darauf haben im Anschluss an Jacob Burckhardts Interpretation der geschichtlichen Krisen als »beschleunigte Prozesse« vor allem Reinhart Koselleck und Hermann Lübbe hingewiesen5 – gehört die Veränderungsbeschleunigung. Wo beispielsweise vor 2000 Jahren ein Wald war und vor 1000 Jahren ein Feld und vor 500 Jahren ein Haus, stand vor 150 Jahren eine Weberei, vor 75 Jahren ein Bahnhof, vor 25 Jahren ein Flugplatz und steht heute ein Weltraumsatellitenterminal, und was dort in 10