Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard - E-Book

Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays E-Book

Odo Marquard

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Beschreibung

Odo Marquard (1928–2015) gilt zu Recht als einer der scharfsinnigsten Essayisten unter den Philosophen. Sein ebenso pointierter wie polemischer und humoristischer Stil prägt sein Werk, das er selbst mit einem Augenzwinkern als "Transzendentalbelletristik" bezeichnet. Die Möglichkeiten der Philosophie sah er kritisch, sprach von Kompetenzverlust und schuf das Wortungetüm "Inkompetenzkompensationskompetenz" für die Bemühungen des Faches. Ironisch führte er aus, "Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt". Unverrückbar verteidigte er die Geisteswissenschaften. Den Menschen versteht er als Mangelwesen, als homo compensator. Marquard erhielt wichtige Preise, etwa den hochangesehenen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa sowie den Cicero-Rednerpreis. Dieser Band versammelt 17 zentrale und bleibende Texte aus seinem Werk. Das Nachwort von Franz Josef Wetz würdigt die philosophische Lebensleistung Marquards.

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Seitenzahl: 451

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Odo Marquard

Zukunft braucht Herkunft

Philosophische Essays

Mit einem Nachwort von Franz Josef Wetz

Reclam

2003, 2015, 2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961714-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020617-1

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort zur ersten Auflage 2003

Vorwort zur zweiten Auflage 2015

Abschied vom Prinzipiellen

Inkompetenzkompensationskompetenz?

Lob des Polytheismus

Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist

Universalgeschichte und Multiversalgeschichte

Entlastungen

Apologie des Zufälligen

Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften

Loriot lauréat

Moratorium des Alltags

Einheit und Vielheit

Zeit und Endlichkeit

Zukunft braucht Herkunft

Apologie der Bürgerlichkeit

Philosophie des Stattdessen

Skepsis als Philosophie der Endlichkeit

Fundamentalkantate

Nachwort

Textnachweise

Biographische Notiz

Veröffentlichungen

Vorwort zur ersten Auflage 2003

Dieses Buch enthält sechzehn Essays von mir: fünfzehn, die ausgewählt sind aus meinen vier zwischen 1981 und 2000 erschienenen Bänden von Reclams Universal-Bibliothek, und einen weiteren, den letzten, der voraussichtlich in einem fünften Band dieser Universal-Bibliothek von mir erscheinen wird.

Ich danke dem Reclam Verlag – der in diesem Jahr sein 175- jähriges Bestehen feiert – dafür, dass er es für richtig gehalten hat, dieses Buch in der »Reihe Reclam« herauszubringen. Dr. Dietrich Klose – der schuld ist daran, dass ich bei Reclam publiziere, und dem ich dankbar bin für eine nun schon länger als zwanzig Jahre währende freundschaftliche Zusammenarbeit – hat den Anstoß auch zu diesem Buch gegeben. Ich selber hätte dazu nicht den Mut gehabt; und ich hätte auch nicht die Distanz gehabt, die initialen Vorschläge für eine Auswahl zu machen.

Aber dieser Band bietet zweifellos eine repräsentative Auswahl meiner Essays. Dass es sich dabei außerdem noch um ein Buch handelt, das zu meinem 75. Geburtstag erscheint, trägt allerdings zu meiner Entlastung bei: ich gehöre zu den feierschwachen Menschen und habe auch nichts übrig für Festschriften, die Mitmenschen von mir – als Angriff auf ihre ohnehin knappen Lebenszeitbudgets – mit zusätzlicher Arbeit belasten und belästigen. So bemühe ich hier nicht andere, sondern mich selbst durch diese Beiträge, die ich dann auch – was sich ja vielleicht sowieso gehört – auf meine eigene Kappe zu nehmen habe.

Es handelt sich um philosophische Essays. Ihr Verfasser ist ein endlichkeitsphilosophischer Skeptiker. Er ist – als Modernitätstraditionalist – der liberalen bürgerlichen Welt verbunden, zu der es keine historisch erreichbare Alternative gibt, die für uns wünschenswert wäre. Sie ist mehr Nichtkrise als Krise: ihre Abstraktheiten – gewaltenteilig und dadurch individualitätsfreundlich – sind halbwegs vertretbar kompensierte Abstraktheiten. Dabei tendiere ich – das ist zwischen 1981 und 2002 wohl mein Weg gewesen –, wie es sich für einen Skeptiker gehört, auf liberale Weise zum Konservativen.

Der Titel des vorliegenden Buches lautet »Zukunft braucht Herkunft«; das verlangt eigentlich formulierungsmäßig das Gegenstück: Herkunft braucht Zukunft. Dass die Herkunft Zukunft benötigt: das ist zwar tatsächlich so. Aber unser Leben ist endlich, also kurz: unsere unvermeidlichste Zukunft ist unser Tod. Diese sterblichkeitsbedingte Kürze unserer Zukunft bindet uns – denn wir können nicht dauernd neu anfangen – an das, was wir schon waren; darum bleiben wir überwiegend unsere Herkunft, und wer sie ändern will, trägt die Beweislast: die Last der Begründung dafür, dass Ändern hier – im konkreten Fall – gut ist. Skeptiker bestehen bei Zukunftsbegeisterungen darauf, dass die Zukunftsbegeisterung die Beweislast trägt, die zwar manchmal, aber insgesamt doch nicht gerade häufig zu tragen ist. Darum gehen Geschichtsphilosophien, die die große Zukunft planen, üblicherweise schief. Man kann zwar meinen: Veränderung ist immer Verbesserung; aber das stimmt ja nicht. Darum brauchen wir mehr als unsere Zukunft unsere Herkunft. Nicht wer sie aufrechterhält, sondern wer sie verwirft, hat die Beweislast, und schon im Zweifelsfall – und Skeptiker sind ja brauchbare Zweifler – muss man sie bewahren.

Im Zweifel für die Herkunft: Das ist – meine ich – ein skeptischer und ein konservativer Satz. »Konservativ« ist dabei ein ganz und gar unemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern lässt, wenn diese überlegen, ob der Zahn, die Niere oder der Darm herausmüsse oder ob »konservativ« behandelt werden könne. Lege artis schneidet man nur, wenn man muss (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles. Es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung, denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden; und wer es trotzdem versucht, wird töten. Darum gilt: die Beweislast hat der, der von der konservativen Behandlung abweicht, also der Veränderer. Und darum gilt als – sterblichkeitsbedingte – Regel des konservativen Skeptikers: mehr als die Herkunft Zukunft benötigt, braucht die Zukunft Herkunft. Das führte zum Titel dieses Buches.

Vorwort zur zweiten Auflage 2015

Der vorliegende Band ist eine um das Kapitel »Fundamentalkantate« und ein Nachwort erweiterte Ausgabe des im Jahr 2003 unter demselben Titel in der Reihe Reclam erschienenen Bandes. Die Sammlung gibt einen Ein- und Überblick über die am meisten diskutierten Beiträge von Marquard, durch die er einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde.

Die neu aufgenommene »Fundamentalkantate«, ein ebenso launiges wie ernstes Stück über Philosophie, verfasste der junge Marquard 1957 in Münster, wo er anschließend selbst dessen Aufführung organisierte.

Im Nachwort wird eine merkwürdige Eigenart dieses bürgerlichen Querdenkers der Nachkriegszeit näher beleuchtet, die seine Popularität mitbegründet. Marquard gibt sich in seinen Essays als konservativer Geist mit geradezu freidenkerischem Witz und Esprit zu erkennen – gewissermaßen als philosophischen Bourgeois und Bohemien in einer Person. Das Nachwort zeigt, wie diese scheinbar widersprüchlichen Tendenzen zusammenpassen und welcher gemeinsamen Quelle sie entspringen.

Franz Josef Wetz

Abschied vom Prinzipiellen

Auch eine autobiographische Einleitung

Die Philosophie – schreibt Aristoteles – ist die »theoretische Wissenschaft von den ersten Gründen und Ursachen«1: sie fragt nach den Prinzipien und – bei gesteigerter Prinzipialität – nach dem prinzipiellsten Prinzip.

Abschied vom Prinzipiellen: bedeutet das also Abschied von der Philosophie? Diese Frage ist hier identisch mit der Frage, ob die Skeptiker wirklich zu den Philosophen gehören oder nicht; denn die Titelformulierung dieses Bändchens und seiner Einleitung avisiert nicht den Kritischen Rationalismus – an dem mich der Dogmatismus seines Antidogmatismus stört –, sondern sie bekräftigt die Wende zur Skepsis. Diese Wende zur Skepsis ist in der Philosophie bisher mein Weg und meine Arbeit gewesen: darüber – mit gebremstem Erzählgestus: seminarrativ – zu berichten scheint ein sinnvolles Pensum für die Einleitung zu einem Buche zu sein, das einige jüngere Dokumente dieses Weges zusammenstellt. Dieser Bericht gliedert sich in drei Abschnitte: 1. Skeptische Generation; 2. Nachträglicher Ungehorsam; 3. Skepsis und Endlichkeit.

 

1. Skeptische Generation. Die Skepsis ist eine alte Sache, und natürlich gehört sie in die Geschichte der Philosophie: als pyrrhonische und akademische Skepsis der hellenistischen Zeit; als moralistische Skepsis von Montaigne und Charron; als aufklärerische Skepsis von Bayle und Hume; als anthropologische Skepsis von Schulze-Aenesidem und Plessner; als historistische Skepsis von Burckhardt und als antihistoristische Skepsis von Löwith. Das ist also eine wohlidentifizierbare Tradition der Philosophie, eine alte: Wie kommt – und dies zunächst, ohne von diesem Traditionszusammenhang zu wissen – gerade ein Mensch meiner Generation in diese Tradition hinein?

Helmut Schelsky hat in seinem zuerst 1957 erschienenen Buch Die skeptische Generation2 darauf eine Antwort versucht: Die Wende zur Skepsis war – für jene Generation, zu der ich, 1928 geboren, gehöre: als einer, der mindestens im Anfangsteil der Zeit zwischen 1945 und 1955 (vgl. S. 5) nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen war (vgl. S. 16–18) – in der Bundesrepublik gerade nicht das Außergewöhnliche, sondern das Normale. Schelsky unterscheidet als »zeitgeschichtliche Phasen« und »Generationsgestalten des Jugendverhaltens« seit der Jahrhundertwende: »1. die Generation der Jugendbewegung; 2. die Generation der politischen Jugend und 3. die deutsche Jugend im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkriege, für die wir vorläufig die Bezeichnung ›die skeptische Generation‹ gewählt haben« (S. 57). Da war also zunächst die frühgrüne Generation der Meißner-Formel, des Wanderns, der Klampfe und Blockflöte; dann kam – zwischen den Weltkriegen – die Generation des radikalen politisch-ideologischen Weltverbesserungsengagements; schließlich formierte sich – nach dem Zweiten Weltkrieg – die skeptische Generation: Ihre Skepsis war – auch und gerade nach Schelskys Deutung – die Antwort auf die »Generation der politischen Jugend« und jene Zusammenbrüche, in die sie verwickelt wurde und die sie nach sich zog, die Antwort auf ihre Selbstkompromittierung; in der Erfahrung der Älteren (umstritten, umstreitbar): dass die Linke versagte3; und in der Erfahrung auch der Jüngeren (mit grauenhafter Evidenz, unbestreitbar): dass die Rechte die Katastrophe herbeiführte. Es kam zum Enttäuschungsschock; die Folge waren »Prozesse der Entpolitisierung und Entideologisierung des jugendlichen Bewusstseins« (S. 84): darum wurde »diese Generation […] in ihrem sozialen Bewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher« (S. 488). »Diese geistige Ernüchterung macht frei zu einer für die Jugend ungewöhnlichen Lebenstüchtigkeit. Die Generation ist im privaten und sozialen Verhalten angepasster, wirklichkeitsnäher, zugriffsbereiter und erfolgssicherer als je eine Jugend vorher« (ebd.). Mit ihrem »geschärften Wirklichkeitssinn« für »das Praktische, Handfeste« (S. 88), ihrem »Konkretismus« (S. 89, 307 f.), ihrer »Pseudo-Erwachsenheit« (S. 93) war sie »die deutsche Ausgabe der Generation, die überall die industrielle Gesellschaft konsolidiert« (S. 493). Soweit diese Generation wirklich skeptisch war, habe ich an ihrem Schicksal teilgenommen: durch Wende zur Skepsis.

Denn – ich wiederhole es – die Wende zur Skepsis war – für jene Generation, zu der ich gehöre – nicht das Außergewöhnliche, sondern das Normale; außergewöhnlich war nur, dass ich mit dieser Wende zur Skepsis unter die Philosophen geriet und dann auch noch bei ihnen blieb. Denn Philosophie als Studium: das bedeutet – damals wie heute – in aller Regel nicht den Beginn einer erfolgreichen Karriere, sondern den Beginn einer persönlichen Tragödie, jedenfalls keinen »Konkretismus«; ich befand mich also – als Philosophiestudent, der außerdem Germanistik und daneben zunächst Kunstgeschichte, dann Geschichte, schließlich evangelische Systematische Theologie und ein wenig katholische Fundamentaltheologie studierte – gewisslich nicht auf dem Weg der »vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer« (S. 488) mit »geschärftem Wirklichkeitssinn« für »das Praktische, Handfeste« (S. 88): das – beim Zeus! – nun gerade mit Sicherheit nicht. Mitgrund für diese Blockade des »Konkretismus« bei mir mag gewesen sein: 1940–1945 – bis unmittelbar nach meinem 17. Geburtstag – war ich auf einer politischen Internatsschule4, einer späten und extremen Sozialisationsagentur der »Generation der politischen Jugend«: Ich kam – solide ausgebildet einzig in Weltfremdheit – (nach Kriegsende und kurzer Kriegsgefangenschaft) retardiert in die geschichtliche Wirklichkeit der skeptischen Generation hinein und schaffte – zusätzlich gebremst durch die akademische Entlastung von den Lebensfristungsnotwendigkeiten des Tages – zunächst nur die eine Hälfte ihres Generationspensums: also nicht den realitätstüchtigen »Konkretismus«, sondern nur die Skepsis. Just das freilich brachte mich zur Philosophie, und zwar auf dem Weg über die Ersatzbegeisterung an der Kunst – dem Versuch, durch Töne, Bilder, Worte die Wirklichkeit aussehender zu machen als Verlockung zum Lebenbleiben – und ihrer Verführung, sich gerade nicht zu verwirklichen, sondern zu vermöglichen: also über das Ästhetische.

Darum war es – nach dem temperierten Zufall, dass ich in der damaligen Numerus-clausus-Zeit 1947 nicht in Marburg und nicht in Kiel, sondern in Münster zum Studium zugelassen wurde – kaum ein Zufall, dass ich dort alsbald an jenen Philosophen geriet, der mein Lehrer wurde: Joachim Ritter; denn er begann damals seine Philosophische Ästhetik zu lesen, die – als Kompensationstheorie des Ästhetischen5 – die »Position der Möglichkeit« beschrieb und kritisierte und mich dadurch unmittelbar ansprach. Es war übrigens diese Vorlesung, durch die – noch vor seinen späteren Vorlesungen zur Praktischen Philosophie, in denen er seinen Ansatz positiv formulierte – Ritter die Älteren jener bunten und standpunktkontroversen Gruppe als Schüler gewann, die in der späteren Institutionengeschichte der bundesrepublikanischen Philosophie als derjenige Flügel des hermeneutischen Denkens wirksam geworden ist, der die Praktische Philosophie rehabilitierte: eben als Ritter-Schule, deren Lebendigkeit auch aus der »heterogenen Zusammensetzung des ›Collegium Philosophicum‹ Ritters« resultierte, »das Thomisten, evangelische Theologen, Positivisten, Logiker, Marxisten und Skeptiker vereint«6. Denn Ritter verpflichtete seine Schüler nicht auf seine eigenen Thesen7. Diesseits seiner Thesen habe ich von ihm gelernt: dass Merken wichtiger ist als Ableiten; dass niemand von vorn anfangen kann, dass jeder anknüpfen muss: also den Sinn fürs Geschichtliche; dass Widersprüche notfalls ausgehalten werden müssen gegen den Schein ihrer Auflösung; dass solche Widersprüche eindrucksvoller präsent sind durch Personen als durch Lektüren und dass dies verlangt: mit fremden Einstellungen leben und von ihnen lernen können; dass also die buntere Philosophenkonstellation die bessere ist; im Übrigen den Sinn fürs Institutionelle und seine Pflichten; und schließlich: dass Erfahrung – Lebenserfahrung – unersetzlich ist für die Philosophie. Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer: man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist. Erfahrung aber braucht Zeit. Darum konvergierten die Ritter-Schüler in ihren inhaltlichen Thesen nicht im Studium und in den Lehrjahren, sondern erst Jahrzehnte später: als sie ihrerseits über Erfahrungen verfügten, die ihnen nunmehr Ritters eigene philosophische Antworten plausibel machten; es existiert – das bemerke ich heute – in der Ritter-Schule eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung. Damals jedoch, in der Studienzeit, gab es – begrenzt einzig durch institutionelle Pflichten und die Spürbarkeit jener Sorge, die sich Ritter um jeden von uns machte – beim Denken alle Freiheit: auch die, ein Skeptiker zu sein.

Den »interimistischen Skeptizismus« als »Position im nautischen Sinn« habe ich 1958 in meinem Buch Skeptische Methode im Blick auf Kant zu formulieren versucht: es war die (fast gänzlich umgeschriebene) Druckfassung jener Dissertation, mit der ich – Ritter war für drei Jahre nach Istanbul gegangen – 1954 in Freiburg promovierte, generös gefördert durch meinen Doktorvater Max Müller8. Das Buch galt als stilistisch eigenwillig: Form – Zeitdruckersatz unter Mußebedingungen – gehört als Mittel der Beliebigkeitsersparung zu den Produktionsschrittmachern beim Schreiben für den, dem Schreiben nicht leicht fällt. In einen ›Lebenslauf‹ geht normalerweise Wichtiges nicht ein: das Intime, das Schwere (es gibt das Grundrecht auf Ineffabilität); ich meine – und begann damals zu meinen –, dass man in der Philosophie dauerhafteren Umgang nur mit solchen Gedanken suchen sollte, die man auch in schweren Lebenslagen noch bemerkt und mit denen man es notfalls ein Leben lang aushalten kann. Das schließt – wie ich vor allem bei Kierkegaard und Heine lernte – die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht aus, sondern gerade ein; das ästhetische Kompositions- und Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, dass er es für notwendig hält, ihn aushaltbarer zu machen. Dadurch fand ich zu meinem Genre: zur Transzendentalbelletristik.

 

2. Nachträglicher Ungehorsam. Das intellektuelle Klima der Bundesrepublik änderte sich: der »skeptischen Generation« folgte eine neue »Generation der politischen Jugend«. In der Philosophie ging ihr voraus der Erfolg der »Frankfurter Schule« nicht zuletzt bei den nunmehr Älteren. Auch auf mich hat die »Kritische Theorie« Horkheimers und Adornos wesentlichen Eindruck gemacht; Herbert Marcuses Eros and Civilization9 habe ich 1956 im Lesekreis des »Collegium Philosophicum« zustimmend und werbend referiert: Ich arbeitete damals schon an meiner Habilitationsschrift über Schelling und Freud10 mit der These: die Psychoanalyse ist – philosophisch gesehen – die Fortsetzung des deutschen Idealismus unter Verwendung entzauberter Mittel.

Freud benutzte – insbesondere in Totem und Tabu11 auch für die Theorie des Gewissens – den Begriff des »nachträglichen Gehorsams« (S. 173–175): die Söhne in der »Urhorde«, die den Vater ermordet hatten, »widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten« (S. 173); die »Totemreligion« war – wie dann auch das Gewissen – »aus dem Schuldbewusstsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen« (S. 175). Der erfolgreiche Aufstand gegen den Vater wurde nachträglich ersetzt durch den Respekt vor dem, was an des Vaters Stelle trat. In der Bundesrepublik – meine ich – vollzog sich seit Ende der 50er-Jahre – und als spektakuläre Reprise dann in der sogenannten »Studentenbewegung« Ende der 60er-Jahre – just das Gegenteil: die in der Nationalsozialistenzeit zwischen 1933 und 1945 weitgehend ausgebliebene Revolte gegen den Diktator (den Vater der »vaterlosen Gesellschaft«12) wurde stellvertretend nachgeholt durch den Aufstand gegen das, was nach 1945 an die Stelle der Diktatur getreten war: darum wurden nun die »Totems« gerade geschlachtet und aufgegessen und die »Tabus« gerade gebrochen: nach der materiellen Fresswelle kam so die ideologische. Es entstand ein frei flottierender quasimoralischer Revoltierbedarf auf der Suche nach Gelegenheiten, sich zu entladen; er richtete sich – zufolge der Logik der Nachträglichkeit – okkasionell und unwählerisch gegen das, was jetzt da war: gegen Verhältnisse der Bundesrepublik, also demokratische, liberale, bewahrenswerte Verhältnisse. Es ist – ich formuliere scharf (»gegen nichts ist man unnachsichtiger als gegen gerade abgelegte Irrtümer«: Goethe) – als Reflexion zelebrierte Dummheit, diese Verhältnisse zugunsten eines revolutionären Prinzips aufs Spiel zu setzen; denn es gibt keine Nichtverschlechterungsgarantie, auch und gerade nicht durch jene revolutionäre Geschichtsphilosophie, die sie durch den Fortschrittsgedanken zu geben verspricht:13 wir haben – und zwar in unserer Zeit und Gegend alle – sehr viel mehr zu verlieren als allein unsere Ketten.14 Das alles ignoriert der nachträgliche Protest; dadurch wird eine Demokratie zum nachträglichen Empörungsziel eines gegen die totalitäre Diktatur versäumten Aufstands: diese Absurdität steckt in der merkwürdigen Nachträglichkeit dieses Protestverhaltens. Es liegt nahe, zu seiner Beschreibung einen Gegenbegriff zu Freuds Begriff des »nachträglichen Gehorsams« zu bilden: darum nenne ich das, was hier – zwischen den späten 50er- und den frühen 70er-Jahren – vorging, den nachträglichen Ungehorsam.

Es war die Zeit des umgekehrten Totemismus. Zu ihm gehören eigentümliche Mechanismen und Reaktionen. Etwa: der Totemismus führt zu demonstrativer Askese; der umgekehrte Totemismus führt zu demonstrativer Libertinage, die sich als emanzipatorische und antiautoritäre Bewegung verstand. Im Totemismus zwingt – nach Freuds Interpretation – der Aufstand gegen einen Menschen (den Vater) zur nachträglichen Verehrung von Tieren (des Totem); im umgekehrten Totemismus zwingt der unterlassene Aufstand gegen das Staatstier ›Leviathan‹ zum nachträglichen Aufstand gegen wirkliche Väter und wirkliche Menschen. Dabei mag – individuell oder gruppenmäßig abgestuft – die Stärke einstmaliger Konformität mit der Stärke jetziger Distanzierung zuweilen signifikant korrelieren. Auch zwingt, dass eine Tat unterlassen wurde, nun dazu, dass nachträglich jedes Denken gleich zur Tat schreiten soll: ohne Rücksicht auf Spinozas Einsicht, dass man nur dann alles denken darf, wenn man nicht alles tun darf.15 Vor allem aber entstand der Zwang zur sekundären Verähnlichung von Heute und Damals: weil das, gegen das die Revolte unterblieb, Faschismus war, soll nun das, gegen das sie nachgeholt wurde, auch Faschismus sein und wird (durch ein entsprechendes Sortiment an Theorien) dazu stilisiert; denn sonst würde der Absurditätsgehalt des nur nachträglichen Ungehorsams allzu flagrant, und es würde allzu deutlich, dass er gegenwärtig in der Regel ein komfortabler Ungehorsam ist, der den Ungehorsamen wenig kostet. Darum wird die angleichende Negativierung des Vorhandenen – die Technik, in jeder Suppe ein Haar, in jeder Wirklichkeit Entfremdung, in jeder Institution Repression, in jedem Verhältnis Gewalt und Faschismus zu entdecken – zu hoher Kunst entwickelt: notfalls durch »Verbösung des Guten«16 und »geborgtes Elend«17 wird es sekundär negativiert. Partout nicht wegzuinterpretierende Differenzen zum Damals gelten als Zusatzschurkereien des Heute, als besonders infame Tarnung: so werden gerade Unterschiede zum Ähnlichkeitsbeweis. Niemand scheint dabei zu sehen, dass diese zwanghafte sekundäre Verähnlichung von Heute und Damals als nachträgliche Verharmlosung des Faschismus zu wirken geradezu prädestiniert wäre, wenn – womit offenbar niemand ernstlich rechnet – irgendjemand ihr wirklich glauben würde.

Der nachträgliche Ungehorsam kam nicht unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern später, und zwar nicht zufällig. »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« (Brecht): erst als durch den Wiederaufbau materiell erträgliche Zustände und dann Überflussverhältnisse entstanden waren, schlug das Entsetzen über das gewesene Schreckliche voll durch aufs Gewissen und wurde erst nun – mit Zeitverzug – moralisch wirklich unerträglich: erst jetzt fand man Zeit für Schuldgefühle, für das Unbehagen an der eigenen geschichtlichen Vergangenheit. Darum wurde gerade erst jetzt – und keineswegs früher – auch jenes Entlastungsangebot weithin unwiderstehlich und erfolgreich, das die entfremdungsentlarvende Kritik darstellte, die schnell monopolisiert wurde durch jene revolutionäre Geschichtsphilosophie, zu der die »Kritische Theorie« – alsbald gegen den Widerstand ihrer Erfinder und Protagonisten – weiterentwickelt worden war: dass man – wo Schuldvorwürfe es überlasten – das Gewissen nicht mehr zu haben braucht, wenn man das Gewissen wird. Aus dem nachträglichen Gehorsam entsteht das Gewissen, das man ›hat‹; aus dem nachträglichen Ungehorsam entsteht das Gewissen, das man ›ist‹: das Tribunal, dem man entkommt, indem man es wird. Es war das Erfolgsrezept der revolutionär geschichtsphilosophischen Kritik, diese Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein zum Prinzip der Avantgarde zu machen und darauf ihren Anspruch zu gründen, dass nur noch die anderen die Vergangenheit sind und man selber nur noch die Zukunft, und zwar eben durch dieses nachträgliche Neinsagen. Eine der Geschichten vom Herrn Keuner von Brecht ist überschrieben »Maßnahmen gegen die Gewalt«18: Sie berichtet von einem Herrn Iggen (einem temperierten Akkomodateur zur Zeit der Gewalt), der erst dort, wo die Zeit der Gewalt vorbei ist, »nein« sagt. Diese Geschichte – das sei mein später Nachtrag zum sechsten Kolloquium (1972) der Gruppe »Poetik und Hermeneutik«19, zu der ich seit 1966 gehöre (ihr Motor war und ist Hans Robert Jauß) – scheint einschlägig interpretierbar: sie ist die nicht zu Ende geschriebene Parabel vom nachträglichen Ungehorsam.

Dies alles gehört in eine autobiographische Einleitung, weil es sich auch auf Introspektion stützt: auf eine Analyse des eigenen Mitmachverhaltens in den 60er-Jahren und seiner Umkehr in die Absage, in die Weigerungsverweigerung. Dazu gehört dann auch die Vermutung, dass diese Absage bei mir – einsetzend 1967: ich merke spät und habe lange Bremswege – erleichtert war durch die – gegenüber der frühen ›bloßen‹ Skepsis – nunmehr nachgeholte Konkretisierung. Denn inzwischen war bei mir der Schritt von der »Präexistenz« in die »Existenz«20 getan, der Schritt: zu heiraten (1960) und Vater zu werden, statt entlarvungsartistisch in Dauerreflexion zu verharren; die institutionelle Notwendigkeit der Habilitation endlich zu erfüllen (1963) und die Berufspflichten des akademischen Lehrers auf mich zu nehmen: als Privatdozent in Münster und ab 1965 in Gießen als Seminardirektor und als ordentlicher Professor und später – nach der Hochschulreform – als nicht mehr ganz so ordentlicher; schließlich als Dekan und seither unvermeidlich auch in mancherlei Funktionen der Wissenschaftsverwaltung, der Schul- und Hochschulpolitik, vor denen ich mich nicht gedrückt habe. Im Übrigen galt dann, was in Gides Falschmünzern Armand über seine Familie sagte: »Wir leben von Papas Glauben«, in abgewandelter Form auch von der meinen: Sie lebte von Papas Zweifeln und Verzweiflungen und seinem Talent, dieses Betriebskapital maßvoll mit Gelehrsamkeit vollzusaugen und in didaktische und transzendentalbelletristische Formulierungen umzusetzen, und sie lebte davon auf die Dauer – nach dem zweiten Ruf – nicht einmal schlecht. Sie hätte noch weit besser leben können, wenn ich dieses Betriebskapital nun auch noch durch ein Sortiment von revolutionären Gesinnungen und entsprechenden Theorien dauerhaft aufgestockt und arrondiert hätte; indes: dann hätte auch bei mir jene Diastase ein bestimmtes Spannungsquantum überschritten, die für diese ganze Phase bestimmend war: dass nämlich Reflexionswelt und Lebenswelt, Erwartungswelt und Erfahrungswelt, Gesinnungswelt und Verantwortungswelt, Reformwelt und Arbeitswelt, Resolutionswelt und Handlungswelt, Empörungswelt und glaubwürdige Welt auseinander traten und beziehungslos wurden zueinander.

 

3. Skepsis und Endlichkeit. Die Undurchhaltbarkeit dieser Diskrepanz – meine ich – führte zu dem, was man »Tendenzwende« genannt hat: sie war die fällige Verehrlichung der Verhältnisse. Denn es gibt das Recht der nächsten Dinge gegenüber den letzten.

Zu dieser neuen Ernüchterung gehörte der Katzenjammer in Bezug auf den Illusionsgehalt des nachträglichen Ungehorsams: mich jedenfalls wurmte es, dass mich gerade die Skepsis zu einer neuen Vertrauensseligkeit geführt hatte. Es scheint – unbehaglicherweise – so etwas zu geben wie ein Gesetz der Erhaltung der Naivität: Die menschliche Misstrauenskapazität ist begrenzt, und je mehr man sie an einer der Denkfronten konzentriert, desto leichter kommt die Naivität zum Sieg an den anderen. Die Gegenwartsszene ist bewegt von Gegenbesetzungen gegen diese unbehagliche Erfahrung; darüber – zum Beispiel – wurden unsere Dichter zu kochenden Seelen: sie kochen fast alle, entweder vor Wut oder am Herd (oder beides), und allemal gibt das Bücher. Ich selbst kann nicht kochen, es sei denn auch nur mit Wasser; aber sogar das – tristesse oblige! – gab ein Buch: die Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973), die hier eine Zwischenbilanz versuchten. Die Philosophie – das gilt für die des nachträglichen Ungehorsams wie für die Zweifelsorgien der bloßen Skepsis – ist kein Amulett, das gegen Irrwege schützt; das nahm ich ihr übel, und aus dieser Enttäuschung heraus entstand der hier secundo loco abgedruckte – 1973 zum 60. Geburtstag von Hermann Krings geschriebene – Aufsatz »Inkompetenzkompensationskompetenz?«, der natürlich die Skepsis gegenüber der Philosophie übertrieb: aber gerade das ließ ihn mitrepräsentativ sein für jene spezifisch deutsche »Selbstunsicherheit der Philosophie«21 und Verzweiflung an ihr, die – historisch bedingt – eine umgekippte Überhoffnung ist. Denn die »verspätete Nation« – das hat Plessner dargelegt – kompensiert ihr verspätungsbedingtes Defizit an politischen Liberalwirklichkeiten zunächst durch Übererwartung an die Geisteskultur, speziell an die Philosophie. Doch diese Übererwartung kann die Philosophie (wie ihr Weg durchs 19. Jahrhundert zeigt, auf dem gerade darum die Kunst der Enttäuschung entstand: die Ideologiekritik) nur enttäuschen: Das erzwang – anders als etwa in den angelsächsischen Demokratien, deren Ansprüche an die Philosophie von vornherein bescheidener sein konnten – gerade in Deutschland die Neigung, die absolute Hoffnung auf die Philosophie schließlich durch die absolute Verzweiflung an der Philosophie zu ersetzen. Das tat auch mein Aufsatz über die »Inkompetenzkompensationskompetenz« der Philosophie. Im Grunde aber wollte er für die Philosophie nur das Ende der Unbescheidenheit22: in diesem Sinne wiederholte und bekräftigte er die Wende zur Skepsis.

Gerade diese Wende zur Skepsis jedoch – wiederholt und bekräftigt – musste skeptischer werden in Bezug auf sich selber: insbesondere angesichts des unbehaglichen Verdachts, sie wirke als indirekte Ermächtigung von Weltverbesserungsillusionen. Darum wurde es fällig, ihr Illusionspotential zu reduzieren: das Quantum quasigöttlicher Souveränität, das der Dauerzweifel zu enthalten scheint, an die Kette der Menschlichkeit zu legen und die Skepsis (meinethalben durch »existenzialistische« Akzentuierung) umzudefinieren zu einer Philosophie der Endlichkeit.

Darum wurden jetzt gleichwichtig mit dem Zweifel jene Züge, die die Skepsis – historisch belegbar – stets auch gehabt hat: die Ernstnahme des »Einzelnen« und die Bereitschaft, gemäß den »Sitten der Väter« zu leben, d. h. – wo es keine zwingenden Gründe fürs Abweichen gibt – nach Üblichkeiten zu handeln. Das ist für Menschen unausweichlich, weil sie Einzelne sind. Die Skepsis wünscht sich zwar den vermeidlichen Einzelnen: die gebildete Individualität. Aber sie rechnet mit dem unvermeidlichen Einzelnen: das ist jeder Mensch, weil er »unvertretbar« sterben muss und »zum Tode« ist.23 Dadurch ist das Leben des Menschen stets zu kurz, um sich von dem, was er schon ist, in beliebigem Umfang durch Ändern zu lösen: er hat schlichtweg keine Zeit dazu. Darum muss er stets überwiegend das bleiben, was er geschichtlich schon war: er muss »anknüpfen«. Zukunft braucht Herkunft: »die Wahl, die ich bin«24, wird »getragen« durch die Nichtwahl, die ich bin; und diese ist für uns stets so sehr das meiste, dass es – wegen unserer Lebenskürze – auch unsere Begründungskapazität übersteigt: Darum muss man, wenn man – unter den Zeitnotbedingungen unserer vita brevis – überhaupt begründen will, nicht die Nichtwahl begründen, sondern die Wahl (die Veränderung): die Beweislast hat der Veränderer. Indem sie diese Regel25 übernimmt, die aus der menschlichen Sterblichkeit folgt, tendiert die Skepsis zum Konservativen. »Konservativ« ist dabei ein ganz und gar unemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern lässt, wenn diese überlegen, ob »konservativ« behandelt werden könne, oder ob die Niere, der Zahn, der Arm oder Darm herausmüsse: lege artis schneidet man nur, wenn man muss (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles; es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung: denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden. Das – unabsichtlich oder nicht – übersehen die, die den Begriff des Konservativen perhorreszieren. Analog lässt sich nicht alles ändern und darum nicht jegliches Nichtändern unter Anklage stellen: Deswegen bewirken die, die das – von den Geschichtsphilosophen bis zu den Diskursphilosophen – im Sinne einer »Übertribunalisierung der Wirklichkeit« tun, etwas anderes, als sie wollen. Das habe ich (mit Blick auf die Anfangskonstellation dieses Zusammenhangs) in dem 1978 geschriebenen Aufsatz »Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts« darlegen wollen, der hier tertio loco abgedruckt ist: Die Übertribunalisierer etablieren nicht die absolute Rationalität, sondern den »Ausbruch in die Unbelangbarkeit«, der für Freiheiten eintritt, die wir – vor aller prinzipiellen Erlaubnis – schon sind; dazu gehören Üblichkeiten. Weil wir zu schnell sterben für totale Änderungen und totale Begründungen, brauchen wir Üblichkeiten: auch jene Üblichkeit, die die Philosophie ist. Die Skeptiker rechnen also mit der sterblichkeitsbedingten Unvermeidlichkeit von Traditionen; und was dort – üblicherweise und mit dem Status von Üblichkeiten26 – gewusst wird, wissen auch sie. Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen.

Demgegenüber will die prinzipielle Philosophie gerade prinzipiell und Prinzipielles wissen: darum fragt sie nach den Prinzipien und nach dem prinzipiellsten Prinzip. Dieses absolute Prinzip aber – das (wie immer es gedacht wird) stets sozusagen das Gewissen ist, das die Wirklichkeit haben soll – verwandelt die faktische Wirklichkeit insgesamt in das Unselbstverständliche, Kontingente, Ungerechtfertigte, das aus diesem unprinzipiellen oder gar konterprinzipiellen Status allererst durch prinzipielle Rechtfertigung (durch prinzipielle Begründung oder durch prinzipielle Veränderung) erlöst werden muss. Als derartige ›Verwandlung‹ der Wirklichkeit ins Rechtfertigungsbedürftige – als tendenzielle Tribunalisierung der Wirklichkeit – ist die prinzipielle Philosophie der fundamentale Spezialfall einer Veränderung. Wenn aber – sterblichkeitsbedingt – gilt: die Beweislast hat der Veränderer, dann (wenn also das Faktische das Apriori des Prinzipiellen ist, und zwar gerade durch seine Vergänglichkeit) muss die prinzipielle Philosophie zuerst nicht das Faktische, sondern zuerst sich selber rechtfertigen.27 Doch beide Rechtfertigungen der prinzipiellen Philosophie – die Rechtfertigung des Prinzipiellen vorm Faktischen und die Rechtfertigung des Faktischen vorm Prinzipiellen – kommen entweder zu leer oder zu spät: nämlich, als unendliche Antwort an ein endliches Wesen, stets erst nach dessen Tod. Falls der transzendentale Hase als Überbringer der prinzipiellen Botschaft – unwahrscheinlicherweise – wirklich einmal gerannt käme (und dabei nicht von nichts, sondern wirklich von etwas wüsste), läge der endliche Swinegel immer schon da: tot. Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz; wir können mit dem Leben nicht warten auf die prinzipielle Erlaubnis, es nunmehr anfangen und leben zu dürfen; denn unser Tod ist schneller als das Prinzipielle: das eben erzwingt den Abschied vom Prinzipiellen. Darum muss der endliche Mensch – einstweilen, in provisorischer Moral: aber jedenfalls bis zu seinem Tod – ohne prinzipielle Rechtfertigung leben (so dass das Gewissen jeweils mehr Einsamkeit ist als Universalität; Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit): er muss kontingent und aus Kontingenzen heraus existieren, die aber für ihn – den Anknüpfenmüsser, der nicht vor ihnen steht wie Buridans Esel vor den Heuhaufen, sondern der in ihnen steckt und stets nur wenig herauskann – keine beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeiten sind, sondern (als die Nichtwahl, die er ist) unverfügbare und kaum-entrinnbare Schicksale. Deswegen – das macht der 1976 geschriebene und hier quarto loco abgedruckte Aufsatz »Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren« geltend – wurde zwar das Schicksal theologisch-metaphysisch durch das absolute Prinzip des einen Gottes verdrängt; aber das verdrängte Schicksal kehrte – spätestens nach dem »Ende Gottes«, durch das die Neuzeit entstand – unverzüglich wieder: als die »Unverfügbarkeit der Vorgaben« und die »Unverfügbarkeit der Folgen«. Aus Kontingenzen zu leben, d. h., ein Schicksal zu haben ist – wegen ihrer Sterblichkeit – für die Menschen unvermeidlich.

All diese Überlegungen verabschieden die prinzipielle Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie verabschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche Freiheit, die im Plural: die Freiheiten. Zu ihnen kommt es durch die Buntheit des Vorgegebenen: dadurch, dass die Vielfalt – die Rivalität, der gleichgewichtige Widerstreit, die Balance – seiner Mächte deren Zugriff auf den Einzelnen neutralisiert oder limitiert. Freiheiten entstehen durch Gewaltenteilung. Der Sinn für diese Freiheiten ist nicht die prinzipielle Philosophie, sondern die Skepsis. Das bestimmt zugleich die Rolle ihres Zweifels: als Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind, ist der skeptische Zweifel der Sinn für Gewaltenteilung. Er ist nicht die absolute Ratlosigkeit, sondern der Vielfaltsinn für die »isosthenes diaphonia«28 – die Balance – nicht nur widerstreitender Dogmen, sondern auch widerstreitender Wirklichkeiten, die eben dadurch – divide et liberaliter vive! – dem Einzelnen Freiheiten lässt und jene Entlastung vom Absoluten gewährt, die vor allem auch – wie Hans Blumenberg gezeigt hat29 – als »mythische Gewaltenteilung« wirkt. In meinem Anfang 1978 geschriebenen und hier quinto loco abgedruckten Aufsatz »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie« habe ich das (durchaus in Spuren Blumenbergs gehend30) geltend gemacht: Freiheit ist, nicht »monomythisch« nur eine einzige Geschichte haben dürfen, sondern »polymythisch« deren viele durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind. Dabei muss man – was diese Buntheit und Vielfalt betrifft – notfalls nachhelfen: und das – zumindest auch das – heißt dann Hermeneutik. In dem 1979 geschriebenen und hier sexto et ultimo loco abgedruckten Beitrag »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist« wollte ich – als späte, längst überfällige Bekräftigung meiner Zugehörigkeit zum hermeneutischen Lager – justament das unterstreichen: Hermeneutik ist die für Menschen lebensnotwendige Kunst, sich verstehend in Kontingenzen zurechtzufinden, die man festhalten und distanzieren muss, weil Wesen mit befristeter Lebenszeit sie nur begrenzt loswerden können; und der modernste Teil dieser Lebenskunst besteht – »lesen und lesen lassen!« – darin, den »absoluten Text«, der in den hermeneutischen Bürgerkriegen (den Konfessionskriegen) tödlicher Streitfall wurde, zum »relativen Text« – zum neutralen, literarischen, ästhetischen – unter anderen relativen Texten zu zähmen durch Pluralisierung auch noch der Lesarten, der Rezeptionsversionen: als Teilung auch noch jener Gewalten, die die Texte und Auslegungen sind, so dass »der Kern der Hermeneutik die Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis die Hermeneutik« ist. Wir müssen unsere Kontingenz ertragen: Gerade die Skepsis – und auch das in dieser Einleitung Ausgeführte – ist keine absolute Mitteilung, weil jede Philosophie in ein Leben verwickelt bleibt, das stets zu schwierig und zu kurz ist, um absolute Klarheit über sich selber zu erreichen. »Das Leben« – sagt ein Sprichwort – »ist schwer, aber es übt«: vor allem trainiert es – more sceptico – Zufriedenheiten damit, dass es endlich ist.

Endnoten

1

Aristoteles, Metaphysik A 2982 b 7–9.

2

H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957; hier zit. nach 41960.

3

Vgl. M. Sperber, Die vergebliche Warnung, Wien 1973, S. 165–167.

4

Vgl. H. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaats, Göttingen 1973, bes. S. 162–164 (Vorgeschichte und Entwicklung der Adolf-Hitler-Schulen 1936–41), S. 254–256, 374–376.

5

Vgl. O. Marquard, »Kunst als Kompensation ihres Endes«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung, Paderborn 1981 (Kolloquium: Kunst und Philosophie, Bd. 1), S. 159–168.

6

R. Spaemann, »Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte«, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie1 (1959) S. 313; vgl. H. Lübbe [u. a.] (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965.

7

Zusammengefasst in: J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969; J. R., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974.

8

Vgl. M. Müller, Symbolos, München 1967, S. 49.

9

H. Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry Into Freud, Boston 1955; dt.: Eros und Kultur, Frankfurt a. M. 1957; Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965.

10

O. Marquard, Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus in der Philosophie, Habil.-Schr., Münster 1963.

11

S. Freud, Totem und Tabu (1912); hier zit. nach: S. F., Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. von A. Freud [u. a.], Bd. 9, Frankfurt a. M. 41968.

12

Vgl. A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1968.

13

Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959.

14

Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik (1955), Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 245–247.

15

Vgl. Spinoza, Tractatus theologico-politicus (1670); dt.: Theologisch-politischer Traktat, hrsg. von G. Gawlick, Hamburg 1976, S. 301–303; vgl. R. Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, S. 87.

16

Vgl. O. Marquard, Artikel »Malum I«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 652–656; O. M., »Vernunft als Grenzreaktion. Zur Verwandlung der Vernunft durch die Theodizee«, in: H. Poser (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg/München 1981.

17

H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975, S. 84.

18

B. Brecht, Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit E. Hauptmann, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1968, S. 375–377.

19

Vgl. H. Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität, München 1975 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 6), S. 557–559.

20

Vgl. H. v. Hofmannsthal, »Ad me ipsum«, in: Aufzeichnungen (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), hrsg. von H. Steiner, Frankfurt a. M. 1959, S. 211–213. Es ist der Schritt aus der »ästhetischen« Existenzsphäre, wo jeder der »einzige« Mensch ist, in das »ethische« Sein für Andere: »mein Leben kann ich aufs Spiel setzen, mein Leben kann ich allen Ernstes zum Scherze machen – das eines andern nicht«: S. Kierkegaard, Philosophische Brocken (1844), in: S. K., Gesammelte Werke, hrsg. von E. Hirsch und H. Gerdes, Abt. 10, Düsseldorf 1967, S. 6.

21

H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/59), Frankfurt a. M. 1974, S. 163; vgl. O. Marquard, »Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie«, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlin / New York 1978, bes. S. 70–74.

22

Vgl. H. Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 1904, S. 502: »Die Bescheidenheit ist daher die Tugend der Skepsis.«

23

Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle a. d. S. 1927, S. 235–237.

24

J.-P. Sartre, L’être et le néant, Paris 1943, S. 638: »le choix que je suis«.

25

Im Anschluss zunächst an M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967; N. Luhmann, »Status quo als Argument«, in: H. Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der Hochschule, Bielefeld 1968 (S. 78: »unfreiwilliger Konservativismus aus Komplexität«); H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 329–331.

26

D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Sect. V: »custom or habit«.

27

Vgl. O. Marquard, »Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd. 3), S. 332–342.

28

Vgl. M. Hossenfelder, Einleitung zu: Sextus Empiricus. Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 42–44.

29

H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979; vgl. O. Marquard, »Laudatio auf Hans Blumenberg«, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung1980/11, Heidelberg 1981, S. 53–56.

30

Vgl. O. Marquard, »Einleitung zur Diskussion von H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4), S. 527–530.

Inkompetenzkompensationskompetenz?

Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie

Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal.

Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber.

Es mag unangebracht erscheinen, einen festlichen Anlass – und nun gar einen zu Ehren von Herrn Krings – mit der Assoziation eines Henkerwettstreits zu belasten. Indes: hier sind schließlich Philosophen versammelt, und die, im Zweifelsfall, wissen, wovon ich rede. Zwar ist es – denn das ist immerhin das Handwerkszeug von Philosophen – unbestreitbar, dass sie Köpfe haben und, wenn ich mich selber einmal ausnehme, unbestreitbar, dass sie Köpfe sind. Aber wie fest sitzen diese Köpfe? –: Das ist – real oder wenigstens, und vielleicht dringlicher noch, metaphorisch – die Frage dort, wo über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie auf Geheiß der Ausrichter gesprochen werden soll und wo dabei – und dies dann ganz zwangsläufig – von dem Schicksal der Decapitatio der Philosophie durch radikale Reduktionen ihrer Kompetenz die Rede sein muss in Verbindung mit der Tatsache, dass die Philosophie ihren Kopf offenbar immer noch oben trägt. Ich möchte meine einschlägigen Erwägungen in zwei Abschnitten vorbringen: der erste Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Kompetenzreduktion; der zweite Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Reduktionskompensation.

 

1. Zunächst also – in einigen pauschalen Andeutungen – über die Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Was bedeutet dabei Kompetenz? Ich verhalte mich – ohne philologischen Kontakt zum Thesaurus, der das Wort im Wortfeld der Rivalität ansiedeln mag, ohne juristischen Kontakt zu terminologiegeschichtlich arbeitenden Rechtsgelehrten, ohne biologischen Kontakt zu Blastemforschern, ohne linguistischen Kontakt zu Chomsky, ohne kommunikativen Kontakt zu Habermas – zum Begriff der Kompetenz vorerst möglichst vage: Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, dass Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden, womit gerade bei der Philosophie von Anfang an nicht unbedingt gerechnet werden kann; denn schon immer hat es Philosophien gegeben, die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit waren: Ob dieser Befund für die Philosophie total und schlechthin zutreffend sei: vor zweitausend Jahren wäre das keine diskutable Frage gewesen; heute ist es eine; und so kommt in diese Überlegung gleich zu Anfang die Geschichte hinein in Bezug auf die Philosophie und ihre Kompetenz. Was ihre Kompetenz sei, sagt ihr nur ihre Geschichte; die aber sagt der Philosophie, dass es einen Fortschritt gegeben habe in der Abnahme ihrer Kompetenz: die Philosophiegeschichte ist die Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie.

Und hier ist sie, diese Reduktionsgeschichte, und zwar eiligkeitshalber formuliert als spekulative Kurzgeschichte: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und das lief so: Die Philosophie wurde im Laufe ihres beschwerlichen Lebens mindestens dreimal aufs äußerste herausgefordert, dabei überfordert und so schließlich erschöpft, ausgezehrt und – von Kompetenten, also Mitbewerbern: und zwar hier in Dingen Kompetenz – aus dem Rennen geworfen. Da war – früh: nämlich von der Bibel her – die soteriologische Herausforderung, und da waren – spät: nämlich bürgerlich und pseudonachbürgerlich – die technologische und die politische Herausforderung. Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das – und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen, und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. Die technologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum Nutzenwissen der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die exakten Wissenschaften die Philosophie überboten – konnte sie nicht: so war es um ihre technologische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla scientiae, als Wissenschaftstheorie. Die politische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum gerechten Glück der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die politische Praxis die Philosophie, sei es durch Aktivität, sei es durch Sinn fürs Tunliche, Mögliche und Institutionelle überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre politische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla emancipationis, als Magd (oder sagen wir wegen der Gleichberechtigung: als Knecht) der Emanzipation, als Geschichtsphilosophie. Im Zuge der Geschichte dieser Überforderungen und Verluste ist es auch zweifelhaft geworden, ob es sinnvoll ist, das, was an Zuträglichkeiten für Heil und Technologie und Politik in der Philosophie immerhin anzutreffen war und vielleicht ist, zum Separatum zu stilisieren: ich bezweifle, dass es mehr ist als ein frommer Wunsch der Philosophenprofis, dass die Philosophie den gesunden Menschenverstand und die nüchterne Vernunft gegen die, die sie aus ihrer tagtäglichen Wirklichkeit eigentlich haben sollten, retten müsste und – falls es wirklich nötig wäre – retten könnte. Es gibt natürlich Leute, die die Philosophie als Amulett betrachten, das gegen Irrwege schützt; jedoch – genau umgekehrt wie bei jenem Hufeisen, das in einer bekannten Anekdote bedeutsam ist, die von Niels Bohr erzählt wird1 – die Philosophie nützt auch und gerade dann nichts, wenn man an sie glaubt. Damit ist jener Sektor berührt, in Bezug auf den die Philosophie das Kompetenzmonopol ohnehin niemals hatte: die Lebensweisheit. Wo es um ihre Äußerung geht, waren schon immer mindestens die Dichter ihre Konkurrenten. So scheint auch eine Spezialität gefährdet, die die Philosophie hat, wo man definieren kann: Philosophie, das ist die Altersweisheit der noch nicht Alten: Simulation von Lebenserfahrung für die und durch die, die noch keine haben. Hier wird der biologische Prozess zum Angriff auf diese Kompetenz: immerhin werden sogar Philosophen älter, wenn man es auch manchmal nicht merkt, und dann können sie – das vermute ich einstweilen nur und auch nur manchmal – Philosophie durch wirkliche Altersweisheit ersetzen und brauchen die Philosophie nicht mehr. Indes: Lebenserfahrung zu sein für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten zu sein: das ist schließlich nicht nur eine mögliche Teildefinition der Philosophie, sondern die wirkliche Teildefinition der Geisteswissenschaften dort, wo diese das Pensum haben, zu erinnern, und gerade darum jetzt – und das ehrt sie – angefochten sind: denn wo riskant reformiert wird, ist man plausiblerweise daran interessiert, sein Risiko bei der Erfolgskontrolle zu mindern durchs Verbot der Erinnerung. Erinnert die Philosophie besser als die Geisteswissenschaften? Doch wohl kaum: und so ist ihr in diesen erinnernden Wissenschaften, auf die die Philosophie wegen ihres sonstigen Kompetenzverlusts seit dem vorigen Jahrhundert setzte, ein Kompetent erwachsen, der ihre vielleicht letzte Kompetenz in Frage stellt: die Erinnerungskompetenz. Offenbar laufen die Kompetenzen der Philosophie aus, so dass sie bei der Inkompetenz endet. Das heißt nicht, dass sie bei all diesen Fragen gar nichts mehr zu sagen hätte; aber sie ist überwiegend zum aussichtslosen Kompetenten geworden, günstigstenfalls zur zweiten Besetzung: und was nützt es, die zweite Besetzung zu sein, wenn die erste wirklich gut und überdies niemals indisponiert ist. Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie. Was tun? – ich zitiere hier nicht Lenin, sondern Schillers »Teilung der Erde« – Was tun, spricht Zeus, die Welt ist weggegeben; – aber der einzige konstruktive Hilfsvorschlag, den Zeus – bei Schiller – dann machte, der war an die Dichter gerichtet und eben nicht an die Philosophen: gerade den Philosophen hilft er nicht. So bleibt es dabei: Der Bericht zur Lage der Kompetenz der Philosophie, das ist eine Orgie der Fehlanzeigen.

Freilich: stimmt das nun wirklich und muss das so sein? Ich gebe gern zu: es mag Residualkompetenzen geben für die Philosophie, vielleicht sogar beträchtliche, womöglich nicht nur residuale, indes: darüber zu sprechen fehlt mir – mir ganz persönlich – die Kompetenz; denn dafür bin ich nicht zuständig, dazu bin ich nicht fähig, dazu bin ich allenfalls bereit, und lassen Sie mich das kurz erläutern. – Ich bin nicht zuständig, und zwar mindestens aus Gründen der Höflichkeit: Es wäre unhöflich, auch nur von ferne den Eindruck zu erwecken, die Münchener brauchten zur Würdigung einer Kompetenz, die sie – und vielleicht als einzige – selber kennen, einen Auswärtigen, gar einen in Hinterpommern geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische Teile der südhessischen Grundlagenfolklore. – Ich bin auch nicht fähig zur Würdigung solcher Kompetenz, und zwar aus Gründen der Unfähigkeit: Meine Arbeitsstätte ist eben kein Institut für Naivität, sondern nur eines zur Suche der verlorenen, ein Zentrum für konzentrierte Ratlosigkeit: und solch ein Philosoph – nennen wir ihn einen sentimentalischen – hat es schwer etwa mit der Theorie, mit der, die aus dem Staunen erwächst, jenem unadressierten Dank fürs Wohlsein der Welt, der zur Schau ihrer schönen, guten und wahren Ordnung ermuntert; er ist nämlich ein schlechter Stauner, denn das Einzige, worüber er wirklich staunt, das ist: davongekommen zu sein, einstweilen und unwahrscheinlicherweise. – Gleichwohl bin ich bereit, über verbleibende Kompetenzen der Philosophie mich zu äußern. Dieser ganze Prozess des Kompetenzverlusts der Philosophie, er lässt sich ja schließlich auch ganz anders lesen: nicht als Weg der Enteignung, sondern als Weg der Erleichterung; denn vielleicht ist dieser Pflichtenverlust der Philosophie für sie in Wirklichkeit ein Gewinn von Freiheiten; ihre Verdrängung kann ihre Entlastung bedeuten: wenn sie jetzt nichts mehr muss, dann könnte das gerade heißen, dass sie jetzt nahezu alles darf. So mag also mancherlei für sie übrig bleiben. Denn da sind schließlich auch noch ihre unbestrittenen Pensen: die Philosophiegeschichte und ebenso auch die Logik, die freilich in Symbiose lebt mit der Mathematik. Überhaupt sind Symbiosen wichtig: vor allem für die Grundlagenphilosophie der Einzelwissenschaften. In diesen ist – nach Heideggers Diktum – so viel Philosophie wie Fähigkeit zur Grundlagenkrise: ihr Grundlagenkrisenmanagement ist also ein bleibendes philosophisches Pensum. Aber wer ist wirklich kompetent dafür? Reine Philosophen? Oder die Wissenschaftler der jeweils betroffenen Wissenschaft selber? Die Zeit der reinen Philosophen ist vorbei: wo sie auf Reinheit bestehen, verlieren sie schließlich die Philosophie. Wie also steht es mit ihrer Grundlagenkompetenz für die Wissenschaften? Hier sind offenbar Zweifel möglich und angebracht; ich äußere sie denn auch freimütig: teils schon deswegen, weil es keinen guten Eindruck machen würde, wenn hier in diesem Kolloquium über die Philosophie nur Zuversichtliches, nur Jubelndes gesagt würde; und teils auch aus kompositorischen, sozusagen aus gliederungsrhythmischen Gründen: was tut man nicht alles – wie jenes berühmte Wiesel – um des Reimes willen; meine Überlegung käme zu keinem Duktus und zu keiner Peripetie, wenn ich nicht zunächst dabeibliebe, nachhaltig die radikale Reduktionsgeschichte der Kompetenz der Philosophie und also nachdrücklich Folgendes zu behaupten, ich wiederhole es: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und wenn das so sich verhält, dann bleibt übrig für die Philosophie: gar nichts, also die reine, pure, nackte Inkompetenz, sowie – um den Sokrates zu zitieren – nur noch eine einzige ganz winzige Kleinigkeit, eine freilich sehr unsokratische Kleinigkeit, eine, die die Philosophie nicht weniger problematisch, sondern die sie vollends problematisch macht, etwas, das ich im Blick auf die radikal inkompetent gewordene Philosophie nennen möchte: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz.

 

2. Über sie – also über diese Inkompetenzkompensationskompetenz – möchte ich jetzt zwei Vorbemerkungen, zwei mittlere Bemerkungen und eine Nachbemerkung machen. Sie werden – vermute ich – erst an dieser Stelle spüren, dass ich mein Thema, ein vorgegebenes wie gesagt, etwas eigenartig aufgefasst habe: nämlich mich interessiert hier nicht die Grenze zwischen dem unendlichgroßen Gebiete der Inkompetenz und dem unendlichkleinen Gebiete der Kompetenz der Philosophie, sondern mich interessiert gerade eine Nichtgrenze: die Legierung von Inkompetenz und Kompetenz, und eine derartige Legierung ist bei der Philosophie das, was ich genannt habe: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz. Darüber also zunächst zwei Vorbemerkungen:

a) Diese Inkompetenzkompensationskompetenz hat bei der Philosophie viel mit ihrer Inkompetenz zu tun: denn kompensieren muss man nur, wo etwas fehlt; und so ist denn ihre Inkompetenzkompensationskompetenz zunächst einmal ein Symptom ihrer Inkompetenz.

b) Es gäbe sie nicht – diese Inkompetenzkompensationskompetenz –, wenn es nur die Inkompetenz der Philosophie gäbe und nicht auch ihre Kompetenznostalgie. Alle reden von Nostalgie: ich auch. Etwas zu sein: danach sehnt sich die Philosophie; und sie war etwas: das kann sie nicht vergessen, auch nicht dadurch, dass sie sich einredet, sie sei noch etwas, wenn sie das Überflüssige ist. Sie ist zwar – als das Inkompetente – tatsächlich das Überflüssige, aber sie ist es eben nicht einfach hin, sondern sie ist kompetenznostalgisch jenes Überflüssige, das in das Nützliche verliebt ist, und zwar unglücklich. Auf die pure Überflüssigkeit sich zurückzuziehen: das hält sie gar nicht aus. Das wird zunächst bestätigt durch ein mehr rührendes Phänomen: durch den Enthusiasmus der Philosophen für unbezahlte Nebentätigkeiten. Der Mensch ist das tätige, der Philosoph ist das nebentätige Lebewesen; es blühen seine extraprofessionellen Selbstbestätigungsaktivitäten: Die Philosophen werden – dabei ist übrigens ihr bekanntes Faible für Talmijurisprudenz nur die geheime Rache der aus der Philosophie vertriebenen Mathematik für ihre Vertreibung: wo sie aus der Philosophie verschwindet, erzeugt sie jenes Vakuum, in welches dann das eindringt, was Philosophen und nur Philosophen für juristische Logik halten – die Philosophen also werden Selbstverwaltungsfetischisten, Fundamentalstatistiker, Gründungs- und Opernbeiräte, Wissenschaftstouristen, Leistungssportler des Interdisziplinären, Planungs-, Satzungs- und Gesetzesverfertiger, graue Eminenzen der Totaltransparenz, d. h. Dunkelmänner der Durchsichtigkeit, ambulante Seelentröster und Kommunalpolitiker, direkte und indirekte, gutachterliche Papierfluterzeuger, sekundäre Salonlöwen, und so fort; und sie schaffen dabei – bei diesem Sein zum Herzinfarkt auf der Suche nach der Kreislaufstörung als Beweis der eigenen Realität – allemal das, was Gehlen die Flucht in die Überarbeitung genannt hat: Ich ächze, also bin ich, und zwar nützlich. Darum – weil die Philosophen gegenwärtig als jene Überflüssigen leben, die kompetenznostalgisch in das Nützliche unglücklich verliebt sind, so dass sie ihren einschlägigen Minnedienst notfalls durch Nebentätigkeit leisten – wirkt die Überflüssigkeit als Rechtfertigungskategorie auch nur dort – wenn auch nicht perfekt – lindernd, wo eine Theorie der Nützlichkeit des Überflüssigen hinzutritt: etwa dadurch, dass man Veblens Kategorie der stellvertretenden Muße, die bei den feinen Leuten einstmals von Frauen und Dienstboten absolviert wurde, auf die Philosophen ausdehnt; denn häufig sind die Philosophen tatsächlich ebendies: stellvertretende Müßiggänger auf der Suche nach feinen Leuten; darum halten sie sich gern bei den Herrschenden auf und noch lieber bei den künftigen Herrschenden, am liebsten bei jenen künftigen Herrschenden, die auch jetzt schon herrschen, wobei der Grenzfall möglich ist, dass sie sich bei sich selber aufhalten. Der – in dieser Rolle freilich längst schon wieder durch andere überbotene – Philosoph wird Parasit als Status-Symbol. Und er symbolisiert – ob in den Herrschaftsterrains der Besitzer oder der Funktionäre: das läuft mindestens in diesem Punkt auf dasselbe hinaus – damit ja wirklich: dass des einen Leben der Tod des anderen ist, dass die Menschen vom Leiden anderer Menschen leben, die Freiheit von der Knechtschaft, die Gleichheit vom Unterschied, das Hinsehn vom Wegsehn, das Glück vom Unglück: das ist ja so und ist ja nicht nicht so. Das Parasitäre versteht sich immer von selbst: Diesen Satz nicht gelten lassen wollen und gleichwohl selbstverständlich das Parasitäre zu sein: das ist die Philosophie; und wo sie Gewissen hat, quält sie das; und wo sie ihre Kompetenzen verloren hat, aber nicht den Eindruck, dass sie hier welche haben sollte, ist sie dieser Qual unmittelbar und daher schutzlos ausgesetzt. Das, was ich Kompetenznostalgie nannte, artikuliert diese Qual und kanalisiert sie in Richtung auf Kompensationen: die Philosophie beschwichtigt sich, indem sie – angesichts dieser Qual – entweder verzweifelt nicht sie selbst oder verzweifelt sie selbst sein will; und das bedeutet: bei der Kompetenznostalgie streicht sie entweder die Kompetenz