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Andreas Förster

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Beschreibung

Im DDR-Ministerium für Staatssicherheit befasste sich seit 1975 eine Abteilung ausschließlich mit dem Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Mehr als 70 Informanten konnten als Zuträger und Einflussagenten gewonnen werden. Schlüsselfiguren der rechtsextremen Bewegung, die teilweise mit internationalem Haftbefehl gesucht wurden, fanden in der DDR Unterschlupf. Einige Neonazis aus dem Westen prägten nach der deutschen Vereinigung die rechte Szene in Ostdeutschland. Warum beschäftigte sich die Stasi so intensiv mit diesem Milieu, wie ging sie dabei vor und zu welchen Erkenntnissen gelangte sie?
Anhand von Fallbeispielen gibt Andreas Förster erstmals einen umfangreichen Einblick in dieses Kapitel der deutschdeutschen Geheimdienstgeschichte. Er hat die überlieferten MfS-Akten intensiv ausgewertet und ist dabei auf bisher unbekannte Materialien gestoßen. Sie gewähren auch Einblicke in das Wirken des Verfassungsschutzes und anderer westlicher Geheimdienste in der rechten Szene.

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Seitenzahl: 358

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Andreas Förster

ZIELOBJEKTRECHTS

Wie die Stasi die westdeutsche Neonaziszene unterwanderte

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Dezember 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom Dezember 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Covergestaltung: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,

unter Verwendung eines Fotos der Rechtsextremisten Tibor Schwartz (l.),

Christian Worch (r.) und Michael Kühnen (M.) mit abgewandeltem

Hitler-Gruß am 1. Januar 1978 (Ullstein-Bild Hirschbiegel, 00055344)

eISBN 978-3-86284-439-5

Inhalt

Prolog

1. Die »Zweite Revolution« – Eine kurze Geschichte des westdeutschen Rechtsextremismus

2. Blickrichtung rechts – Die Stasi-Abteilungen XXII/1 und XXII/4

3. Angst vor der Strahlkraft – Die Feindobjektakte »Republikaner«

4. Kleiner Mann mit Schlapphut – Heinrich Lummer, Lieblingsfeind der Stasi

5. Reichsbahner und Reichsbürger – Der »Unruhestifter« Wolfgang Ebel

6. Ballons und Bomben – Mit IMB »Piero« gegen die Grauen Wölfe

7. Fluch und Segen – Die Selbstanbieter aus dem Westen

8. »Gute operative Perspektive« – Die Stasi-Treffen mit dem Antizionisten Josef Ginsburg

9. 007 für Ost und West – Der Nachrichtenhändler Herbert Frauenhuber

10. Bankräuber, Terrorist, PLO-Kämpfer, BND- und Stasi-Agent – Das wilde Leben des Neonazis Udo Albrecht

11. Taxi vom Verfassungsschutz – Wie das MfS darauf kam, dass Michael Kühnen ein V-Mann sein könnte

12. Auf drei Schultern – Der leidenschaftliche Spion Peter Weinmann

13. OV »Reise« – Wie Stasi und BKA den Bonn-Besuch von Erich Honecker gemeinsam absicherten

14. Bombenhirne, Überläufer und Psychopathen – Die Angst der Stasi vor dem Rechtsterrorismus

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Dank

Register

Der Autor

Für Gigi, ein letztes Mal

Prolog

Am 13. Oktober 1989 rumort es bereits in der DDR, immer mehr Menschen gehen in den Städten auf die Straße und protestieren gegen die SED-Führung. Hinter den Mauern der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße aber geht das Leben vorerst weiter seinen geordneten Gang. Oberstleutnant Eberhard Böttcher, Leiter der für die Aufklärung neonazistischer Gruppen in der Bundesrepublik zuständigen Abteilung XXII/1 des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS/Stasi), stellt die jährliche »Einschätzung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der HA XXII/1« fertig. Ihm zufolge befinden sich neofaschistische Parteien und Gruppen in der Bundesrepublik nach Mitgliederzahlen und Aktivitäten im Aufschwung. Mitte des Jahres 1989 habe sogar das Bundesinnenministerium eine »bedenkliche Zunahme des Rechtsextremismus« konstatieren müssen. Sei man 1988 noch von 28 300 Rechtsextremisten in der BRD ausgegangen, so habe sich deren Zahl 1989 auf 30 000 erhöht. Darin enthalten sind noch nicht einmal Mitglieder der Republikaner (REP), merkt Böttcher an, weil diese Partei von den westdeutschen Behörden nicht als rechtsextrem eingestuft werde.

Es sind aber insbesondere die Erfolge der Republikaner bei den Wahlen zum Europaparlament und zum West-Berliner Abgeordnetenhaus 1989, die Stasi und SED Sorgen machen. Von dieser Partei »ergeben sich wachsende Gefahren für die innere Sicherheit der DDR«, mahnt Böttcher. Die bei seiner Diensteinheit eingehenden Informationen »belegen nachdrücklich, dass Kontakte und Verbindungen von Mitgliedern und Sympathisanten der Republikaner in die DDR bestehen und es DDR-Bürger, darunter auch Jugendliche, gibt, die ihre Sympathien für die neonazistische Partei offen zum Ausdruck bringen«.

Darüber hinaus muss das MfS laut Böttcher auch Kontakte von Mitgliedern und Sympathisanten anderer westdeutscher Neonazi-Organisationen in die DDR registrieren, so etwa von der Nationalistischen Front, der Deutschen Volksunion (DVU), dem Bund Heimattreuer Jugend (BHJ) und der Wiking-Jugend (WJ). Die Kontakte bleiben aus Sicht der Stasi nicht ohne Wirkung: »1989 wurden insgesamt 84 Hinweise auf Aktivitäten mit neonazistischem Charakter in der DDR bekannt. Darunter waren 30 mündliche Äußerungen, 24 Schmierereien, sieben tätliche Angriffe von Neonazis auf Personen sowie 13 Zusammenrottungen von Neonazis, davon 9 zum 100. Geburtstag von Adolf Hitler.« Von »besonderer operativer Relevanz« seien acht Hinweise auf Versuche der Bildung neonazistischer Gruppierungen, die durch das MfS hätten aufgeklärt und zerschlagen werden können. Böttchers Fazit: »Es ist ersichtlich, dass in der Tendenz sowohl Kontakte zu BRD-Nazigruppen als auch Naziaktivitäten in der DDR zunehmen.«1

Der Bericht des letzten Leiters der Stasi-Abteilung XXII/1 mag in seinen Fakten – wie noch zu beschreiben sein wird – geschönt sein; gleichwohl umreißt er eindrücklich das Interesse des MfS an der rechten Szene in der Bundesrepublik. Die Stasi sammelte Informationen über rechtsextreme und neofaschistische Parteien, Gruppen und Einzelpersonen, versuchte – teils mit Erfolg – Quellen in der Szene zu rekrutieren und diese in Einzelfällen auch noch als Einflussagenten zu nutzen, um auf geplante Aktionen steuernd einzuwirken. Doch mit welcher Absicht geschah dies?

Eine journalistisch gründliche oder gar wissenschaftlich fundierte Analyse zu diesem Thema gibt es bislang nicht. Was vor allem deshalb verwundert, da die Quellenlage im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde außergewöhnlich gut ist. Von der MfS-Abteilung XXII, die sich faktisch bis Jahresende 1989 mit der Aufklärung rechtsextremistischer und -terroristischer Gruppen und Einzelpersonen vorrangig in der Bundesrepublik und West-Berlin befasste, sind umfangreiche Aktenbestände erhalten. Im Mittelpunkt der ohnehin meist journalistischen Veröffentlichungen zum Thema Stasi und westdeutscher Rechtsextremismus stehen bislang aber nahezu ausschließlich Aktenvorgänge im Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat von 1980, dem Agieren der Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann und ihrer Protagonisten sowie einzelne herausragende Fälle, wie etwa der des Rechtsterroristen und Stasi-IM Odfried Hepp. Dabei erlaubt erst eine Gesamtschau der überlieferten Aktenbestände aus der Abteilung XXII eine differenzierte Beurteilung der tatsächlichen Interessen und inhaltlichen Zielstellung des MfS bei der operativen Bearbeitung der westdeutschen Neonazis.

Ein solch breiterer Ansatz widerlegt dann auch die beiden bisher vorherrschenden Thesen über die Interessenlage des DDR-Geheimdienstes bei seinem Vorgehen gegen die rechte Szene im Operationsgebiet. Die eine These, wie sie etwa von dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn in seinem Aufsatz »Die Stasi und der westdeutsche Rechtsterrorismus« von 2016 vertreten wird, geht davon aus, dass das MfS seine Erkenntnisse vorrangig für antiwestliche Propaganda nutzte. So schreibt Salzborn: »Ein Hauptmotiv war der Versuch, durch die Informationsbeschaffung die Bundesrepublik aufgrund eines angenommenen oder tatsächlich mangelhaften Vorgehens gegen die extreme Rechte als antidemokratisch und damit quasi-faschistisch diskreditieren zu können.« Auch meint er eine »politische Sympathie« der Stasi für die antiisraelische und propalästinensische sowie antiamerikanische Ausrichtung von Teilen des bundesdeutschen Rechtsterrorismus zu erkennen. Als ein eher untergeordnetes Motiv bewertet Salzborn hingegen die Angst Ost-Berlins vor Anschlägen rechter Extremisten auf die innerdeutschen Grenzanlagen oder DDR-Einrichtungen.2

Einen anderen, deutlich reißerischen Ansatz vertritt die Journalistin Regine Igel in ihrem 2012 erschienenen Buch »Die Terrorismus-Lüge. Wie die Stasi im Untergrund agierte«. Demnach habe es durch das MfS »eine massive und dauerhafte Unterstützung und Steuerung des deutschen und internationalen Terrorismus« gegeben mit dem Ziel, das politische System der Bundesrepublik zu destabilisieren. Linke wie rechte Terroristen seien gezielt in eine »operative Destabilisierungsfront« einbezogen worden, mit dem der Osten »aus dem Bedürfnis nach Macht und Stärke die Schwächung des Gegners […] im Visier behielt«.3

Beide Thesen werden durch die überlieferte Aktenlage nicht gestützt. Weder hat die Stasi Rechtsterroristen in deren bewaffnetem Kampf gegen den Staat unterstützt oder gar angeleitet; noch wurden die bekannt gewordenen Vorgänge dazu benutzt, Propagandaoffensiven gegen den westdeutschen Staat – wie es bis zur Mitte der 1970er Jahre durchaus noch üblich war – zu starten. Auch finden sich beispielsweise keinerlei Hinweise darauf, dass das MfS im Themenbereich Rechtsextremismus seine ansonsten durchaus gängige Praxis gepflegt hätte, inoffiziell gewonnene (oder auch manipulierte) Informationen an die Westmedien durchzustechen, um westdeutsche Parteien gegeneinander auszuspielen oder gesellschaftliche Diskussionen über politische Vorgänge anzufeuern. Eine Ausnahme bildet der Fall des »Bild«-Journalisten Andreas Jost, der in diesem Buch beschrieben ist.

Vielmehr lassen die Unterlagen der Abteilung XXII den Schluss zu, dass das vorrangige Motiv der Stasi bei der Aufklärung des westdeutschen Rechtsextremismus die Informationsgewinnung war, um geplante Anschläge und sogenannte Demonstrationstaten gegen die DDR, die innerdeutsche Grenze und DDR-Politiker zu verhindern. Des Weiteren ging es darum, mögliche Sympathisanten und Anhänger der westdeutschen Rechten in der DDR zu erfassen und der Bildung militanter neonazistischer Gruppierungen vorzubeugen. Eher von untergeordnetem Stellenwert war es, die gewonnenen Informationen in der medialen Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik propagandistisch auszuschlachten.

Auch in der DDR gab es längst ein Problem mit rechten und rechtsextremen Jugendlichen und Erwachsenen. Ab Mitte der 1970er Jahre – etwas später als in der Bundesrepublik – hatte sich eine rechtsextreme Szene herausgebildet. Grund für das Abgleiten der überwiegend jungen Leute in eine von Rassismus, Nationalismus, Antikommunismus und Antisemitismus geprägten Subkultur war wie in der Bundesrepublik die Ablehnung der offiziellen Staatspolitik. Im Westen hing diese Ablehnung mit den sozialen Folgen des wirtschaftlichen Abschwungs zusammen und speiste sich aus der Wut und Enttäuschung über die Entspannungspolitik der »linken« sozialliberalen Koalition, die als Verrat an Deutschland empfunden wurde; in der DDR reagierte die junge Generation auf Stagnation und Verfall des politischen und wirtschaftlichen Systems mit einer Abwendung vom SED-Staat und der – vermeintlichen – sozialen Homogenität der Gesellschaft. Neben systemkritischen Gruppen, die eine Bürgerrechtsagenda verfolgten, und unabhängigen Künstlerkollektiven, die sich dem sozialistischen Kulturbetrieb verweigerten, entstand dabei ein – quantitativ gesehen noch vergleichsweise geringes – rechtsextremes Potential.

Anders als im Westen definierte sich die aufkeimende rechte Bewegung in der DDR anfangs noch weniger politisch. Den Sicherheitsbehörden gelang es recht gut, Straftaten und Propagandadelikte zu bekämpfen. Gelegentliche Versuche in der Szene zur Gründung von Gruppen oder gar bezirksübergreifenden4 Organisationen wurden immer wieder von den Behörden verhindert. Erst Anfang der 1980er Jahre formierte sich in Ost-Berlin die erste ernstzunehmende rechtsextreme Gruppe Ostdeutschlands – die gewaltorientierte Nazi-Rocker-Clique Vandalen, die bis heute existiert und längst dem rechtsterroristischen Milieu zuzurechnen ist.

In einer undatierten Analyse, die offenbar Anfang Januar 1990 im kurzzeitig noch zum Verfassungsschutz umbenannten Stasi-Nachfolger Amt für Nationale Sicherheit verfasst worden war, ist die Rede von 1148 Personen in der DDR, die seit 1988 der Kriminalpolizei bekannt geworden seien und neofaschistischen Gruppierungen angehörten. Bis Oktober 1989 hätten diese Personen unter anderem linke Punks, als Vertragsarbeiter in der DDR lebende vietnamesische und afrikanische Staatsbürger sowie Homosexuelle angegriffen. Die »neofaschistischen Gruppierungen« seien in der DDR verstärkt ab 1987 in Erscheinung getreten, heißt es in der Analyse weiter. Anzahl und Anhang hätten sich »synchron zur sozialen sowie wirtschaftlichen Stagnation und zum moralischen Verfall in der DDR vergrößert«. Es sei »ein Netz von Kontakten zwischen den Gruppierungen und in das Ausland« entstanden, wobei ehemalige DDR-Bürger eine »Vermittlerfunktion« ausgeübt hätten. Die »Organisationsqualität und Konspiration« der Szene sei gewachsen, zudem besäßen eine größere Zahl der Kripo-bekannten Neonazis »eine gute schulische und berufliche Ausbildung und verfügen überwiegend über eine hohe Intelligenz. Sie betrachten sich als Elite in der Gesellschaft und erheben in Gruppen Führungsansprüche bei der ›Neugestaltung Deutschlands‹. Seit 1988 sind innerhalb bekannter Gruppierungen parallel zur Ideologieentwicklung Tendenzen erkennbar, die eine allmähliche Bewegung aus einer Außenseiterrolle heraus vom Rand der Gesellschaft zu deren Mitte sichtbar werden lässt.«5

»Mit dem Ende der Honecker/Krenz-DDR hatte sich das strukturelle und personelle Gerüst des ostdeutschen Rechtsextremismus, ein netzwerkartiges Konglomerat aus Nationalsozialismus und Rassismus, herausgebildet und war mit dem westdeutschen Rechtsextremismus […] in verstärkte Beziehung getreten«, schreibt der aus der DDR stammende Diplom-Kriminalist und Rechtsextremismusforscher Bernd Wagner.6 Und er bestätigt die Zahlen aus der zitierten Stasi/Nasi-Analyse vom Januar 1990: Demnach hatte die Hauptabteilung Kriminalpolizei des DDR-Innenministeriums 1989 in einer Datenbank etwa 1000 Personen als »rechtsextrem, intensiv gewalttätig« registriert. »Insgesamt rechnete die damalige DDR-Kripo mit einem ›Verfügungspotential‹ von ca. 15 000 Personen, meist Jugendliche und Jungerwachsene bis 21 Jahre, davon 1/5 Mädchen«, schreibt Wagner.7

Im MfS reagierte man in den späten 1980er Jahren zunehmend hilflos auf das Anwachsen dieses – wie es die Stasi bezeichnete – »intensiv gewalttätigen Verfügungspotentials«. Zu spät hatte die Stasi zudem Anstrengungen unternommen, die Kontakte zwischen Neonazis beider deutscher Staaten zu unterbinden. So konnte der Geheimdienst es kaum mehr verhindern, dass sich die einheimischen Rechten weiter radikalisierten sowie finanzielle und logistische Unterstützung – etwa in Form von Waffen und Propagandamaterial – von ihren Gesinnungsgenossen im Westen erhielten.

Das vorliegende Buch analysiert anhand von ausgewählten Einzelfällen die Aufklärungsbemühungen der Stasi-Abteilung XXII/1 in der rechtsextremen und rechtsterroristischen Szene der Bundesrepublik. Mit welchen Mitteln und Methoden ist das MfS in die rechte Szene der Bundesrepublik eingedrungen, welche Personen und Gruppen interessierten es besonders und wie setzte es westdeutsche Neonazis und ostdeutsche Informanten für seine Informationsgewinnung ein? Auch das von der Stasi beobachtete Wirken des Verfassungsschutzes und anderer westlicher Geheimdienste wird Thema sein.

Angesichts der Fülle noch existierender Akten kann das Buch allerdings nur einen Ausriss des tatsächlichen Umfangs der Stasi-Aufklärung in der westdeutschen rechtsextremen Szene untersuchen. Es wäre an der Zeit, dass Historiker dieses Kapitel der deutschen Zeitgeschichte grundlegend aufarbeiten. Und dass westliche Nachrichtendienste wie der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst ihre Archive öffnen, damit sich ihre Bemühungen zur Aufklärung und möglicherweise auch Steuerung rechter Gruppen bewerten lassen.

— 1 —

Die »Zweite Revolution« – Eine kurze Geschichte des westdeutschen Rechtsextremismus

In dem von Werner Graf 1984 herausgegebenen Buch »Wenn ich die Regierung wäre … Die rechtsradikale Bedrohung« beschreibt der damals unumstrittene Anführer der neonationalsozialistischen Bewegung, Michael Kühnen, seine politische Vision: »Wir haben die Revolution gehabt 1933, wir haben die Macht wieder verloren. Wir stehen jetzt praktisch wieder am Anfang, wir stehen wieder in einer Kampfzeit drin, wir stehen wieder vor der Aufgabe, den Nationalsozialismus noch einmal in Deutschland zur gestaltenden politischen Kraft zu machen. Das wäre dann die zweite Revolution.«1

Vor der von Kühnen ausgerufenen »Kampfzeit«, die in den 1970er Jahren begann und ihre erste Hochphase im darauffolgenden Jahrzehnt erlebte, hatten große Teile der extremen Rechten in der Bundesrepublik noch auf einen parlamentarischen Weg gesetzt, um Macht und Einfluss zu gewinnen. In den 1960er Jahren entstand eine Art Sammlungsbewegung, die die 1964 gegründete NPD bei ihren Bemühungen unterstützte, in die Landesparlamente und schließlich in den Bundestag zu gelangen. In der Führungsetage der Partei hatten einstige NSDAP-Mitglieder und Funktionäre aus dem NS-Macht- und Terrorapparat das Sagen. Dennoch gelang es ihr, auch in der jüngeren Generation Mitglieder und Sympathisanten zu rekrutieren. Und der Popularitätszuwachs zeitigte Erfolge: Zwischen 1966 und 1969 zog die NPD mit insgesamt 61 Abgeordneten in sieben Landtage ein; darüber hinaus war sie in vielen Kommunalparlamenten vertreten. Die Partei schien auf dem Weg, ein relevanter Faktor im politischen Kräftefeld zu werden.

Doch der einsetzende Höhenflug endete rasch. Nachdem die NPD bei den Bundestagswahlen 1969 denkbar knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, flog die Partei bei den nächsten Landes- und Kommunalwahlen wieder aus den Parlamenten heraus. Die Oppositionspartei CDU/CSU hatte nun selbst die Rechtsaußen-Themen der NPD – konsequente Ablehnung der Entspannungspolitik mit dem Sowjetblock, der Anerkennung der Ostgrenzen und einer Annäherung an die DDR – besetzt und damit die Nationaldemokraten zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängen können.

Die junge Generation der Rechten wandte sich enttäuscht von der NPD ab. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik auf legalem parlamentarischem Weg zu verändern, erschien ihr nicht mehr erfolgversprechend. Auch waren ihr Ideologie und Aktionen der NPD viel zu lasch. In der Szene bildeten sich jetzt in größerer Zahl Wehrsportgruppen und »NS-Kampfgruppen«.

Neben diesen kleineren, eher lokal agierenden Gruppen fassten auch einige größere Organisationen Fuß, die eine bundesweite Vernetzung von Neofaschisten anstrebten und dabei Legalismus mit radikalem Aktionismus – bis hin zum Terrorismus – verbinden wollten. Hier sei an erster Stelle die 1977 gegründete Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS) des ehemaligen Bundeswehrleutnants Michael Kühnen genannt. Sie ging aus dem von Kühnen in Hamburg geführten Freizeitverein Hansa hervor. Neben dem 1991 verstorbenen Kühnen gehörten – die auch heute noch in der Neonaziszene aktiven – Christian Worch und Thomas Wulff zur Führungsspitze der Organisation. Im Januar 1983 vereinigte sich die ANS mit der von dem 2010 verstorbenen Thomas Brehl gegründeten Gruppe Nationale Aktivisten (NA) zur ANS/NA. Brehl übernahm darin den Posten eines »Bereichsleiters Süd«. Die ANS/NA bestand aus rund 30 übers Bundesgebiet verteilten Neonazi-Kameradschaften und einem extra eingerichteten Mädelbund.2

Die ANS/NA beziehungsweise ihre Nachfolgeorganisation Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) galt als eine der größten neofaschistischen Organisationen in der Bundesrepublik der 1980er Jahre. Kühnen hatte als Ziel seiner Organisation unter anderem den Aufbau einer neuen SA vorgegeben, weshalb innerhalb der ANS/NA ein besonderer Schwerpunkt auf die militärische Ausbildung ihrer Mitglieder gelegt wurde. Darüber hinaus fiel die Organisation vor allem durch provokante und medienwirksame Aktionen auf. So marschierten im Mai 1978 mehrere ANS-Mitglieder, angeführt von Kühnen und Worch, mit Eselsköpfen durch die Hamburger Innenstadt. Auf Schildern, die sie um den Hals trugen, stand: »Ich Esel glaube, dass in deutschen KZs Juden vergast wurden.« Erklärtes Hauptziel der Organisation war die Wiederzulassung der NSDAP. Aus diesem Grund wurde sie von der 1972 in Lincoln (Nebraska) vom US-amerikanischen Neonazi und Holocaustleugner Gary Rex Lauck gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Auslands- und Aufbauorganisation (NSDAP/AO) als legaler Zweig in der Bundesrepublik anerkannt.

In Deutschland war die NSDAP/AO verboten und arbeitete daher in der Illegalität. Sie machte keinen Hehl daraus, nach ihrer Wiederzulassung als Partei eine nationalsozialistische Diktatur errichten zu wollen. »Die NSDAP/AO bekennt sich eindeutig zum Nationalsozialismus, zu dem Führer Adolf Hitler und zu dem NS-Freiheitskampf um Deutschland«, heißt es in dem von Lauck herausgegebenen »NS-Kampfruf«.3

Die NSDAP/AO war in unabhängigen Zellen auf der ganzen Welt organisiert. Der 1953 in Wisconsin als Sohn deutschstämmiger Eltern geborene Lauck versorgte sie von seinem Parteibüro in Lincoln aus mit Propagandaschriften, eigenen Periodika, NS-Propagandafilmen wie »Der ewige Jude« und NS-Devotionalien, darunter Hakenkreuzfahnen, Reichskriegsflaggen und Nazi-Armbinden. Trotz Einreiseverbots gelang es ihm immer wieder, in die von ihm als »Reichsgebiet« bezeichnete Bundesrepublik einzureisen, um dort unter anderem Kühnen und Worch zu treffen.4 Ab Ende der 1970er Jahre entstanden überall im Bundesgebiet NSDAP/AO-Gruppen. Die wichtigste und schlagkräftigste war die West-Berliner Sektion unter Führung von Arnulf Priem, der aus der DDR stammte und 1968 als politischer Häftling von der Bundesrepublik freigekauft worden war. 1984 wurde Priem festgenommen, nachdem er eine Hakenkreuzfahne auf der Berliner Siegessäule gehisst hatte.

Im Dezember 1983 wurde auch die ANS/NA vom Bundesinnenministerium verboten. Ihre Strukturen aber existierten weiter und gingen in der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front auf. Anführer Kühnen übersiedelte zeitweise nach Frankreich, wo er eine ANS-Ausland gründete, die eine Zeitschrift für seine in Deutschland lebenden Gefolgsleute publizierte.

1984 ordnete Kühnen den massenhaften Eintritt von GdNF-Aktivisten in die bereits 1979 gegründete Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) an. Sie übernahmen dort die Führungspositionen, wodurch die bis dahin unbedeutende Partei erheblich an Einfluss in der rechten Szene gewann. Die FAP baute bundesweit Strukturen auf, die meisten Mitglieder hatte sie danach im Ruhrgebiet, in Niedersachsen und West-Berlin. 1986 kam es jedoch zur Spaltung der Anhängerschaft, nachdem sich Kühnen zu seiner Homosexualität bekannt hatte und daraufhin ein schwulenfeindliches Anti-Kühnen-Manifest in der Szene kursierte. Kühnens Gegner übernahmen schließlich die FAP und wählten Friedhelm Busse 1988 zum neuen Parteichef. Der Kühnen-Flügel verblieb in der GdNF und gründete in der Folgezeit weitere Vorfeldorganisationen und regionale Wahlparteien. Zu diesen Vorfeldorganisationen gehörten unter anderem die 1989 verbotene Nationale Sammlung sowie die im gleichen Jahr in Bremen gegründete Deutsche Alternative (DA), die nach der Wiedervereinigung zeitweise die stärkste rechtsextreme Organisation in Ostdeutschland war.

Zu den Führungskräften der GdNF gehörten neben Kühnen, Worch und Priem auch ein V-Mann des bayerischen Verfassungsschutzes, Kai Dalek, sowie der österreichische Neonazi Gottfried Küssel. Ideologisch berief sie sich auf das 25-Punkte-Programm der NSDAP, auf Hitlers Schrift »Mein Kampf« und Kühnens bereits 1979 verfasstes Grundsatzpapier »Die Zweite Revolution – Glaube und Kampf«. Darin heißt es: »Unser Ziel ist die nationalsozialistische Revolution, aus der das Vierte Reich und eine art- und naturgemäße Neue Ordnung für die weiße Rasse hervorgehen wird. […] Um das zu erreichen, sind in der jetzigen Kampfzeit verschiedene Zwischenziele anzustreben und zu verwirklichen: Überwindung des NS-Verbotes, Neugründung der NSDAP, Staatsreform, Vereinigung aller geschlossen siedelnden Deutschen in einem einheitlichen, souveränen und sozialistischen Großdeutschland.«5

Weitere wichtige rechtsextreme Organisationen in der Bundesrepublik waren die Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit (VSBD/PdA) und die Nationalistische Front (NF). Die VSBD/PdA war 1975 aus der vier Jahre zuvor entstandenen Partei der Arbeit hervorgegangen. Gegründet und angeführt wurde sie von Friedhelm Busse, einem Altnazi mit Kampferfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg. Als 15-Jähriger hatte er sich 1944 freiwillig zum Volkssturm gemeldet. Später war er Funktionär in der 1950 gegründeten rechtsextremen Deutschen Reichspartei, die 1965 in der NPD aufging. Wegen seiner Radikalität schloss ihn die NPD 1971 aus. Busse hat als Führungsperson im militanten Lager die rechtsextreme Szene in der Bundesrepublik entscheidend beeinflusst. »Besonders die Entwicklungen und Umstrukturierungen in den siebziger und achtziger Jahren, wie den Ablösungsprozess der militanten Neofaschisten von der NPD und den Ausbau ihrer Strukturen, hat er mitgestaltet«, heißt es im Handbuch des Rechtsextremismus.6

In der VSBD/PdA, die Landesgruppen in fünf Bundesländern unterhielt, versammelte Busse hauptsächlich unzufriedene oder von der Partei ausgeschlossene NPD-Mitglieder. Dort wollte er »Einzelkämpfern« den Schutz einer Partei bieten, wie er selbst sagte. Dabei war die VSBD/PdA keine Partei im Sinne des Parteiengesetzes, sondern eine rechtsextreme Organisation. Sie geriet zu einem Sammelbecken führerloser neofaschistischer Gruppen und bot auch terroristischen Zellen Zuflucht. Offen unterstützt wurde die Busse-Organisation von der NSDAP/AO, die sie als die einzige ernstzunehmende legale Alternative zu den Systemparteien propagierte.7

Nachdem Busses engster Vertrauter in der VSBD/PdA, Frank Schubert, im Dezember 1980 bei einem missglückten Waffenschmuggel an der Schweizer Grenze erwischt worden war, zwei Grenzbeamte und dann sich selbst erschossen hatte, und ein knappes Jahr später zwei VSBD-Mitglieder bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet wurden, geriet Busses Organisation immer stärker ins Visier der Sicherheitsbehörden. Im Januar 1982 wurde die VSBD/PdA schließlich verboten, was mit der »Signal- und Sogwirkung« der Partei im rechten Lager begründet wurde.

Mehrere VSBD/PdA-Mitglieder schlossen sich danach der 1985 von Meinolf Schönborn gegründeten Nationalistischen Front (NF) an. Schönborn, Jahrgang 1955, war Landesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation JN in Nordrhein-Westfalen gewesen, bis ihn die Partei wegen seiner radikalen Positionen 1984 ausschloss. Die NF vertrat einen völkischen Befreiungsnationalismus, den sie mit antikapitalistischen Positionen paarte. Gleichzeitig führte sie einmal im Jahr als Zeltlager getarnte Wehrsportlager durch. Schönborn selbst propagierte die Bildung von Nationalen Einsatzkommandos (NEK), die einen paramilitärischen Flügel seiner Partei bilden sollten.8

Politik und Sicherheitsbehörden ignorierten in dieser Zeit konsequent deutliche Anzeichen dafür, dass es längst eine rechtsextremistische Bewegung gab, die auf ideologischen und organisatorischen Schulterschluss zustrebte und in Teilen zunehmend militant wurde. Oder man verlegte sich – wie es die konservative Presse und viele Unionspolitiker taten, allen voran Franz Josef Strauß – auf die Theorie, wonach die neonazistischen Aktivitäten in der Bundesrepublik vom Osten gefördert, wenn nicht gar gesteuert wurden. Schließlich seien doch Rechtsterroristen wie Frank Schubert, Arnulf Priem, Peter Naumann oder die führenden Kräfte in der Wehrsportgruppe Hoffmann durchweg ehemalige DDR-Bürger, die entweder aus dem Osten geflohen oder als politische Häftlinge freigekauft worden waren. Und wer weiß, so die These, ob da die Stasi nicht das eine oder andere »trojanische Pferd« rübergeschoben habe.

Tatsächlich war auch die Stasi-Abteilung XXII/1 in einer im Juli 1985 erarbeiteten Analyse zu »Rolle und Stellung ehemaliger DDR-Bürger in gewaltorientierten Gruppen/Organisationen sowie in rechtsextremistischen Feindorganisationen« zu dem Ergebnis gekommen, dass 100 Ostdeutsche, die einst illegal das Land verlassen hatten oder vom Westen freigekauft worden waren, als aktive Rechtsextremisten in der Bundesrepublik »operativ angefallen« seien.9 Allerdings gibt es bis heute keinen Beleg dafür, dass das MfS Einflussagenten in die rechte Szene geschmuggelt hätte und diese dort einen steuernden Einfluss gewannen.

Am rechten politischen Rand entstand in den frühen 1980er Jahren in der Bundesrepublik eine neue Partei: Die Republikaner (REP), 1983 als Abspaltung unzufriedener CSU-Mitglieder gegründet. Nach einem kontinuierlichen Popularitätsgewinn schafften die REP um ihren Vorsitzenden und ehemaligen Waffen-SS-Mann Franz Schönhuber 1989 den Durchbruch: Bei den West-Berliner Abgeordnetenhauswahlen konnte sie 7,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und avancierten damit eindeutig zur führenden Kraft der extremen Rechten. Bei den Wahlen zum EU-Parlament erreichte die Partei im gleichen Jahr 7,1 Prozent – das waren bundesweit mehr als zwei Millionen Stimmen.

Die Geschichte des deutschen Rechtsextremismus der 1970er und 1980er Jahre ist aber nicht nur durch die Tätigkeit legaler und halblegaler Parteien und Organisationen geprägt. Mit dem Niedergang der NPD ab 1969 bildeten sich zunehmend auch – teils durch legale rechte Organisationen unterstützte – terroristische Untergrundstrukturen heraus, die mit Mordanschlägen und Sprengstoffattentaten gegen das demokratische System vorgehen wollten. Ihre Ziele waren politische Gegner, in der Bundesrepublik lebende Ausländer, Besatzungssoldaten insbesondere der US-Armee sowie die Anlagen der innerdeutschen Grenze, die symbolhaft für die kommunistische Führung der DDR angegriffen wurden.

Der rechte Terrorismus orientierte sich dabei an verschiedenen Konzepten des bewaffneten Kampfes. Da war zunächst die »Werwolf«-Strategie des Partisanenkriegs, die in einer in den letzten Kriegsmonaten 1945 erschienenen Broschüre beschrieben worden war. Verfasser war Arthur Ehrhardt, damals Hauptsturmführer der Waffen-SS. 1970 druckte er die 80 Seiten umfassende Schrift in seiner Monatszeitschrift »Nation Europa« nach, in der vielfach Artikel mit rechtsextremer und antisemitischer Ausrichtung erschienen. In den späten 1980er Jahren wurde die Broschüre noch einmal vom Barrett-Verlag des ehemaligen NPD-Landtagsabgeordneten Karl-Heinz Dissberger aufgelegt.10

Daneben kursierten in der rechten Szene Anleitungen von US-Spezialeinheiten zur subversiven Kampfführung sowie die Terrorfibel »Der totale Widerstand« des Schweizer Armeemajors Hans von Dach. Seine laut Untertitel »Kleinkriegsanleitung für jedermann« sollte den Eidgenossen als Leitfaden für den Partisanenkampf dienen, falls die Warschauer-Pakt-Staaten in einem finalen »Weltanschauungskrieg« gegen den Westen die kleine Alpenrepublik überrollen und besetzen würden. Das 1957 erstmals erschienene Buch verkaufte sich vor allem in Deutschland und Österreich zehntausendfach und durfte in keinem Buchregal linker wie rechter Möchtegern-Umstürzler fehlen. Auch die Terroristen vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), das fanden die Ermittler heraus, hatten das Buch gelesen.

Geht es in diesen Schriften vor allem um praktische Tipps zum Guerilla-Krieg, lieferte der 1978 erstmals in den USA erschienene Roman »The Turner Diaries« das ideologische Rüstzeug und die Motivation für den bewaffneten Kampf. Der in Deutschland unter dem Titel »Die Turner-Tagebücher« vertriebene und seit 2006 indizierte Kultroman der rechten Szene erzählt in Form eines historischen Rückblicks aus dem Jahr 2099 die Geschichte eines Rassenkrieges, in dem eine »weiße Weltregierung« die Macht erobert hat. Das Buch mit seinen rassistischen und antisemitischen Ideen gilt als Standardwerk der amerikanischen White-Supremacy-Bewegung, mit der sich auch deutsche Neonazis identifizieren, weil sie eine Überlegenheit der weißen Rasse propagiert.

Die rechten Terrorgruppen im Westdeutschland der 1970er Jahre verstanden sich zunächst als Kampfgruppen gegen den Kommunismus, was Anschläge gegen staatliche Einrichtungen der in dieser Zeit von der SPD regierten Bundesrepublik sowie gegen Repräsentanten linker Parteien einschloss.11 Am 20. Mai 1970 etwa nahmen Polizeibeamte 14 Mitglieder der Europäischen Befreiungsfront (EBF) fest, weil sie am nächsten Tag anlässlich des Treffens von Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrats, Willi Stoph, in Kassel Anschläge auf die Stromversorgung hatten verüben wollen. Die etwa 35 Mitglieder starke EBF – darunter zahlreiche Mitglieder des NPD-Ordnungsdienstes – plante Anschläge und Überfälle bis hin zum Mord. Sie stellte »schwarze Listen« auf, um Attentate an »kommunistischen« Politikern zu verüben und »zersetzende Journalisten in Funk und Fernsehen auszuschalten«.

Als Geburtsstunde des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik gilt der 7. November 1970. Damals schoss der EBF-Aktivist Ekkehard Weil vor dem Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten den Wachsoldaten Iwan Schtscherbak nieder und verletzte ihn schwer. Im selben Jahr gründete der Autoverkäufer Roland Tabbert aus dem hessischen Hanau die Nationale Deutsche Befreiungsbewegung (NDBB), die Anschläge auf Einrichtungen der DDR und der Sowjetunion plante. Bei der auch in Berlin tätigen Gruppierung beschlagnahmten Ermittler 1971 umfangreiche Waffen- und Munitionsbestände. Im selben Jahr flog auch die von dem ehemaligen NPD-Funktionär Bernd Hengst gegründete rechtsterroristische Gruppe Hengst auf. Ihre 18 Mitglieder wollten im Rhein-Sieg-Kreis bewaffnete Aktionen gegen »politisch missliebige Personen«, darunter den SPD-Vorstand, sowie gegen Banken, die Bundesbahn und Munitionsdepots durchführen.

Am 2. Januar 1971 verübte eine Odalgruppe einen Sprengstoffanschlag auf ein Redaktionsbüro der DKP-Zeitung »Unsere Zeit« in Hamburg. Der Name der Gruppe leitete sich von der Odalrune ab, dem gemeinsamen Symbol der rechtsextremen Organisationen Wiking-Jugend und Bund Heimattreuer Jugend. Im April 1972 entstand die Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland (NSKG) um den Waldarbeiter Manfred Knauber. Die bis zu 100 Mann starke Gruppierung mit Schwerpunkten in Bayern und Nordrhein-Westfalen verfügte über umfangreiche Mengen an Sprengstoff und Waffen. Noch bevor sie damit Anschläge durchführen konnte, wurden viele ihrer Aktivisten im Oktober 1972 von der Polizei verhaftet.

Am 2. September 1977 zündete die Braunschweiger Gruppe der NSDAP/AO eine Bombe vor der Staatsanwaltschaft in Flensburg; ein zweiter Sprengsatz ging am Hannoverschen Amtsgericht hoch. Nachdem die Gruppe aufgeflogen war, kam heraus, dass sie auch Anschläge auf das Jüdische Gemeindezentrum in Hannover und auf DDR-Grenzanlagen sowie Attentate auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und politisch motivierte Banküberfälle zur Geldbeschaffung geplant hatte. Ein Mitglied der Terrorzelle, das als Sprengstoffbeschaffer galt, war seit 1976 V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes.

Hauptsächlich in Italien, aber auch in Deutschland verübte die Gruppe Ludwig seit 1977 Morde und Brandschläge. Angeblich bestand sie allein aus dem promovierten Mathematiker Wolfgang Abel und dem Chemie-Doktoranden Marco Furlan. 15 Menschen sollen sie bis 1984 getötet haben, vor allem Prostituierte und Homosexuelle, außerdem Priester, die im Verdacht des Kindesmissbrauchs standen. Dahinter steckte eine Mischung von Rechtsextremismus, Homophobie und fundamentalistischem Katholizismus. Die Schreiben der Gruppe Ludwig zierte als Logo ein Adler mit einem Hakenkreuz in den Klauen.

1979 wurden drei Mitglieder der Aktionsfront Nationaler Sozialisten festgenommen. Sie hatten einen Anschlag auf ein Büro des Kommunistischen Bunds Westdeutschland (KBW) sowie einen Überfall auf eine Kassiererin des Kieler Stadttheaters geplant. Mit dem erbeuteten Geld sollten Maschinenpistolen gekauft werden. Einer der drei hatte bereits 1977 eine größere Menge Natriumcyanid gestohlen, um die Wachmannschaft des alliierten Militärgefängnisses in Berlin-Spandau zu vergiften und den ehemaligen Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß zu befreien. Unter höchsten Sicherheitsmaßnahmen wurde den Festgenommenen in der JVA Bückeburg der Prozess gemacht. Mit ihnen angeklagt waren drei weitere Rechtsextremisten, darunter ANS-Anführer Michael Kühnen und Manfred Börm, ehemaliger Gauführer der völkisch-militanten Wiking-Jugend aus Niedersachsen und bis vor wenigen Jahren Mitglied im NPD-Bundesvorstand.

Vor Gericht wurden weitere Delikte der Angeklagten verhandelt. Am Morgen des 22. November 1977 waren zwei von ihnen in die Bismarck-Kaserne in Wentorf bei Hamburg eingedrungen und hatten einen wachhabenden Unteroffizier überwältigt. Sie erbeuteten dabei ein G3-Schnellfeuergewehr. Um zusätzliche Waffen und Geld zu beschaffen, überfielen sie im Dezember einen Kölner Bauunternehmer. Den ersten Bankraub einer rechtsterroristischen Vereinigung begingen einige Angeklagte am 19. Dezember 1977, als sie eine Zweigstelle der Hamburger Sparkasse überfielen. Im Februar 1978 stürmten sie schließlich mit Maschinenpistolen bewaffnet die Wache einer Kompanie niederländischer Soldaten auf einem Truppenübungsplatz und erbeuteten vier Maschinenpistolen vom Typ UZI und sechs Magazine. Anschließend plante die Gruppe einen Anschlag auf die Gedenkstätte des Konzentrationslagers in Bergen-Belsen, die Befreiung von Rudolf Heß und die Ermordung der »Nazi-Jäger« Beate und Serge Klarsfeld.

Die Bundesanwaltschaft warf den Angeklagten vor, den Boden »für einen als letzte Stufe des Untergrundkampfes geplanten Putsch rechtsradikaler Kräfte« vorzubereiten. Am 13. September 1979 sprach die 3. Strafkammer des Oberlandesgerichtes Celle die Urteile: Zum ersten Mal wurden in der Bundesrepublik Angeklagte der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung für schuldig befunden.

1980 ist als Jahr des rechten Terrors in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen: Nach offiziellen Angaben starben durch Anschläge 18 Menschen. Erstmals waren auch ausländische und jüdische Mitbürger das Ziel. In der Nacht zum 22. August 1980 etwa warfen Dr. Heinz Colditz, Raymond Hörnle und Sibylle Vorderbrügge drei mit Benzin gefüllte Einliterflaschen durch zwei Fenster eines von Flüchtlingen bewohnten Gebäudes in der Hamburger Halskestraße am östlichen Hafenrand. Schon drei Wochen zuvor hatte das Trio, das sich den Deutschen Aktionsgruppen des Naziführers Manfred Roeder angeschlossen hatte, einen Brandanschlag auf ein von äthiopischen Flüchtlingen bewohntes Hotel in Leinfelden-Echterdingen verübt. Anders als dort gab es in Hamburg jedoch Tote: Zwei Vietnamesen, 22 und 18 Jahre alt, kamen ums Leben. Nach dem Anschlag entdeckten die Bewohner einen Schriftzug mit roter Farbe am Haus: »Ausländer raus!« Insgesamt hatten die Deutschen Aktionsgruppen seit Februar 1980 fünf Sprengstoff- und zwei Brandattentate verübt. Zusammen mit dem Tätertrio von Hamburg wurde auch DA-Anführer Roeder verhaftet. Am 28. Juni 1982 verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart Roeder als Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung zu 13 Jahren Haft. Die Attentäter erhielten eine lebenslange Haftstrafe.

Am 26. September 1980 um 22.19 Uhr explodierte in einem Papierkorb am Haupteingang des Oktoberfests in München eine Rohrbombe. In kurzer Zeit starben 13 Menschen, 211 wurden verletzt, 68 davon schwer. Der Anschlag ist bis heute der größte Terrorangriff in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Offiziell gilt Gundolf Köhler, ein Geologiestudent aus Donaueschingen, als Einzeltäter.

Bereits drei Monate nach dem Attentat in München erschoss der Vizechef der Anfang 1980 verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann, Uwe Behrendt, den Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde Shlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrem Haus in Erlangen. Der Täter setzte sich ins Ausland ab und meldete dem Gründer der Wehrsportgruppe, Karl-Heinz Hoffmann: »Chef, ich habe den Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde in Erlangen erschossen. Ich hab’s auch für Sie getan.« Behrendt stammte aus dem thüringischen Pößneck und war nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus der DDR freigekauft worden. Für die Morde konnte er nicht belangt werden, er starb wenige Monate später unter ungeklärten Umständen im Libanon. Dort hatte er in den Monaten zuvor in einer bewaffneten Gruppe trainiert, die von Hoffmann unter dem Namen Wehrsportgruppe Ausland ins Leben gerufen worden war.

Im Frühjahr 1981 gründeten die VSBD-Aktivisten Kurt Wolfgram und Ludwig Uhl in Frankreich das Kommando Omega. Die Gruppe plante, Verräter aus den eigenen Reihen zu liquidieren, Staatsanwälte und Richter durch Anschläge zu ermorden und Gedenktage an die Verbrechen der NS-Zeit lautstark zu stören. Am 1. Oktober 1981, dem Jahrestag der Urteilsverkündung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von 1945/46, versuchte Wolfgram vergeblich, mit einer Luftmine eine Autobahnbrücke hochzujagen. Am Abend des 20. Oktobers 1981 geriet ein Auto mit fünf Omega-Mitgliedern in München in eine Polizeikontrolle. Als aus dem Wagen eine Handgranate auf den Boden fiel und detonierte, eröffneten die Beamten das Feuer; Wolfgram und Uhl wurden getötet. Im Auto, in dem auch ein ehemaliges Mitglied der Wehrsportgruppe Ausland saß, stellte die Polizei drei Maschinenpistolen, acht Handgranaten, eine Pistole, eine Luftmine und jede Menge Munition sicher.

Am 26. Oktober 1981 gruben Sicherheitskräfte 33 Erddepots im Süsinger Forst bei Uelzen in Niedersachsen aus. Es handelte sich um das größte Waffenlager, das nach 1945 ausgehoben wurde. In den Verstecken lagen 88 Kisten mit 50 Panzerfäusten, 14 Schusswaffen, 258 Handgranaten, drei Zentner Sprengstoff, 13 500 Schuss Munition, Giftstoffe und Bundeswehrvorschriften zu Themen wie Schießen und Sprengen. Die Depots angelegt hatte Heinz Lembke, Forstmeister in der Lüneburger Heide sowie NPD-Anhänger und Vertrauter des Rechtsterroristen Manfred Roeder. Wenige Tage nach seiner Festnahme wurde Lembke erhängt in seiner Zelle in der Lüneburger Untersuchungshaftanstalt aufgefunden. Auf dem Tisch seiner Zelle lag ein Abschiedsbrief, der mit den Worten endete: »Genossen! Ihr wisst, weshalb ich nicht mehr leben darf. Wolfszeit! Heil Euch Heinz Hermann Ernst Lembke«.12

Bereits 1978 hatte Lembke mit dem NPD-Funktionär Peter Naumann einen Sprengstoffanschlag auf die Denkmalanlagen für die zivilen Erschießungsopfer eines SS-Massakers in der Fosse Ardeatine in der Nähe von Rom verübt. Naumann hatte außerdem 1979 zwei Sprengsätze an Sendemasten und DDR-Grenzanlangen gezündet. Mit den Anschlägen auf die Sendemasten wollte er unter anderem die Ausstrahlung der Fernsehserie »Holocaust« ab dem 18. Januar 1979 verhindern.

Am 24. Juni 1982 erschoss der Rechtsextremist Helmut Oxner in der Nürnberger Disko »Twenty Five« die farbigen US-Amerikaner William Schenck und Rufus Surles sowie den Ägypter Mohamed Ehab. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Danach rannte Oxner in die Fußgängerzone und rief: »Es lebe der Nationalsozialismus!« Während des anschließenden Schusswechsels mit der Polizei tötete er sich selbst.

Aus dem Umfeld des Wehrsportgruppenchefs Hoffmann hervorgegangen war die rechte Terrorzelle Hepp-Kexel-Gruppe. Der eine Namensgeber, Odfried Hepp, hatte sich von Hoffmann im Libanon zunächst drillen lassen, sich aber anschließend mit ihm überworfen; der andere, Walther Kexel, stammte aus der VDSB/ PdA von Friedhelm Busse. Von Oktober bis Dezember 1982 verübte die Gruppe im Rhein-Main-Gebiet mit Autobomben Anschläge auf amerikanische Soldaten und Einrichtungen und beging mehrere Banküberfälle. 1983 konnte die Polizei sie stoppen. Zwei Jahre später erhielten ihre Mitglieder Haftstrafen von fünf bis 14 Jahren. Nur Hepp konnte durch eine Flucht in die DDR, wo er bereits 1981 Kontakt zur Stasi aufgenommen hatte, der Festnahme entgehen.

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Blickrichtung rechts – Die Stasi-Abteilungen XXII/1 und XXII/4

Der Überfall der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München hatte die MfS-Führung nervös gemacht. Im Sommer 1973 standen in Berlin die Weltjugendfestspiele an, zu denen Gäste aus aller Welt anreisen würden. Die Veranstaltung hatte bis dahin erst ein Mal in Ost-Berlin stattgefunden, nun sollte sie die neue Weltoffenheit und den Entspannungswillen des SED-Regimes nach der Machtübernahme durch Erich Honecker demonstrieren. Zwar drohte von den befreundeten Palästinensern keine Gefahr, dafür aber gab es genug extremistische Organisationen in der Bundesrepublik, die zu gewaltsamen Aktionen gegen die DDR bereit waren. Ebenso wusste die Stasi von gewaltbereiten Regimegegnern im Inland, die sich von dem scheinbaren Tauwetter unter Honecker nicht blenden ließen und die geplante Show der SED-Führung gern für spektakuläre Aktionen nutzen würden.

Bruno Beater, Stellvertreter von Stasi-Chef Erich Mielke und dessen Mann fürs Grobe, wurde mit dem Aufbau und der Führung einer Zentralen Einsatzgruppe (ZEG) betraut, die bei einem terroristischen Angriff auf das Weltjugendfest oder vergleichbaren kriminellen Handlungen den Einsatz von Sicherheitskräften koordinieren sollte. Gleichzeitig richtete der Generalleutnant eine ständige Arbeitsgruppe »Terrorabwehr« ein, die zur Keimzelle der 1975 gegründeten Abteilung XXII des Ministeriums wurde. Sowohl in Beaters Arbeitsgruppe als auch in der ZEG arbeitete von Beginn an Major Harry Dahl mit, dem ab 1975 die Leitung der neuen Abteilung übertragen wurde. Er behielt sie bis Ende 1984, zuletzt im Dienstrang eines Obersts. Beater hingegen schied 1980 nach einem Zerwürfnis mit Mielke aus dem MfS aus. Fortan gehörte die Abteilung XXII zum Anleitungsbereich seines Nachfolgers Generalleutnant Gerhard Neiber.

Die XXII wuchs schnell, von anfangs 40 Mitarbeitern auf bereits 140 im Jahr 1980. 1988 waren 248 hauptamtliche Stasi-Offiziere in der XXII tätig. Die MfS-Führung gab 1975 als Ziel aus, die neugegründete Diensteinheit »kurzfristig zu einem zentral geführten, mit spezifischen Kampfmitteln ausgerüsteten, jederzeit einsatzbereiten schlagkräftigen Instrument der vorbeugenden und akuten Terrorbekämpfung zu machen«.1

Wie der Politikwissenschaftler Tobias Wunschik, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU), in einer Arbeit über die XXII schreibt, konzentrierte sich die Abteilung anfangs darauf, die nötigen Fähigkeiten zur unmittelbaren Abwehr befürchteter terroristischer Anschläge und zur Schadensbegrenzung zu erwerben. Zwar erwies sich die Sorge des MfS, dass sich in der DDR eine Terrorgruppe bilden oder das Land zum Anschlagsziel ausländischer Gruppierungen werden könnte, im Nachhinein betrachtet als unbegründet, was nicht zuletzt an dem repressiven politischen System lag. Gleichwohl kam es über die Jahre hinweg auch innerhalb der DDR bisweilen zu »politisch motivierter Gewalt«. So versuchten einzelne DDR-Bürger, durch die Geiselnahme von untergeordneten Parteifunktionären ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen; ebenfalls durch Fluchtabsichten motiviert waren vierzehn Flugzeugentführungen zwischen 1962 und 1973. Die Grenzanlagen der DDR waren von westlicher Seite aus zwischen 1975 und 1987 fünfmal Ziel von Sprengstoffanschlägen.2

Erst nach der Aufbauphase der Abteilung, also ab Ende der 1970er Jahre, bekam die aktive geheimdienstliche Aufklärung der terroristischen Szene im Ausland ihre überragende Bedeutung für die XXII. Laut Wunschik wurde ihr 1981 ausdrücklich die Federführung in der Terrorabwehr und damit endgültig die schwerpunktmäßige Durchführung der operativen Arbeit auf diesem Gebiet übertragen.3 Waren bis dahin auch andere Hauptabteilungen des MfS mit diesem Thema befasst gewesen, wie die für Auslandsspionage zuständige Hauptverwaltung A (HVA), die Untersuchungsabteilung IX, die zur Bekämpfung des politischen Untergrundes zuständige Hauptabteilung XX – sie war unter anderem für militante antikommunistische Gruppen im Operationsgebiet zuständig – und die Abwehreinheit II, so hatte jetzt Dahls Truppe den Hut auf. Das heißt, an der XXII vorbei durfte nun – zumindest auf dem Papier – kein Terrorvorgang mehr bearbeitet werden.

Fortan gab es einen regelmäßigen Informationsaustausch zwischen den betroffenen Diensteinheiten. Die stasiinterne Regelung sah vor, dass dann eine eindeutige Zuständigkeit der Abteilung XXII gegeben war, wenn bei der ins Visier geratenen Gruppe oder Einzelperson eine Bereitschaft zur Ausübung von Gewalt erkennbar war. »Entscheidendes Kriterium dafür, dass sich die Abteilung XXII der Aufklärung, operativen Kontrolle und Bearbeitung von Stellen und Kräften des Operationsgebietes zuwendet, ist ein Terror- bzw. anderer operativ bedeutsamer Gewaltbezug«, heißt es in einem 1987 verfassten Thesenpapier des MfS.4 Aus diesem Grund bean-spruchte die Abteilung XXII für den Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik per se die alleinige Zuständigkeit. Dagegen konnten die operative Bearbeitung von weniger militant eingeschätzten »Feindorganisationen« auch andere Diensteinheiten wie etwa die HVA oder die Hauptabteilungen II und XX übernehmen.

Nach einigen Umstrukturierungen stellte sich der Aufbau der Abteilung XXII in den späten 1980er Jahren so dar: Der Leiter Oberst Horst Franz – er hatte am 1. Januar 1985 die Nachfolge Harry Dahls angetreten – war für die Auswertungsgruppe sowie für Ausbildung und Einsatz von »spezifisch-operativen Kräften«, also speziellen Kampfeinheiten, verantwortlich. Daneben waren ihm zwei Stellvertreter-Bereiche zugeordnet, in denen die operativen Unterabteilungen geführt wurden. Der eine Stellvertreter, Oberst Günter Jäckel, war für die mit linksextremen Organisationen und internationalem Terrorismus – von der RAF über die PLO bis hin zu »Carlos« – befasste Abteilung 8 zuständig, die von Helmut Voigt geleitet wurde. Der andere Stellvertreter, Oberst Horst Salewsky – er hatte auf diesem Posten 1986 seinen Vorgänger Horst Franz abgelöst –, steuerte die für rechtsextreme und konservative Gruppen zuständigen Unterabteilungen 1, 2 und 4.

Dieses Buch wird sich vor allem auf die Arbeit der Unterabteilungen 1 und 4 konzentrieren. Die von Oberstleutnant Eberhard Böttcher geführte Abteilung XXII/1 bearbeitete neonazistische Organisationen in der Bundesrepublik. Schwerpunkte waren hierbei die an die DDR angrenzenden Bundesländer Niedersachsen, Hessen und Bayern sowie West-Berlin und darüber hinaus – vermutlich wegen der dort besonders aktiven rechten Szene – Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.5 Aufgabenbereich der XXII/4 unter Leitung von Oberstleutnant Günter Zorn waren dagegen sogenannte DDR-Feindorganisationen und Gruppen von DDR- und Ostblockemigranten, die vom MfS – nicht immer, aber häufig zutreffend – wegen ihrer Verbindungen zu neonazistischen Kreisen als rechtsextrem und militant-antikommunistisch eingestuft wurden.6

Bei der Aufklärung extremistischer Gruppierungen im Operationsgebiet stand stets die Frage im Mittelpunkt, welche Gefahr von ihnen für die staatliche Sicherheit und Ordnung in der DDR ausging. Dazu wurden die Mitglieder dieser Organisationen identifiziert, ihre politischen und strategischen Absichten erkundet sowie ihre sogenannten »Rückverbindungen« zu verwandten und befreundeten DDR-Bürgern aufgeklärt. Geprüft wurde auch, ob diese Gruppierungen von westlichen Geheimdiensten unterwandert waren oder gar gesteuert wurden. Die Entscheidung darüber, wie und ob das MfS – etwa mithilfe von Inoffiziellen Mitarbeitern – gegen eine einzelne Gruppe vorgehen sollte, hing letztlich davon ab, ob sie gegen die DDR gerichtete Gewalttaten plante und ob sie ostdeutsches Gebiet für ihre Aktivitäten – etwa als Rückzugsraum – nutzen wollte.7

In einer im Oktober 1988 von der XXII/1 verfassten »Analyse des neonazistischen Potentials des Operationsgebietes« heißt es, »dass unter bestimmten Bedingungen (Politik der Regierung der BRD, extremer Antikommunismus, Steuerung durch imperialistische Geheimdienste) jederzeit ein Umschwenken der neonazistischen Aktivitäten gegen die DDR und andere sozialistische Staaten erfolgen kann«. Eine latente Gefahr erwachse dabei aus der gemeinsamen politischen Basis aller neonazistischen Gruppen und Einzelkräfte, die in Antikommunismus und Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiamerikanismus sowie dem Streben nach einem einheitlichen Deutschland in den Grenzen von 1937 bestehe.8

Die als »Feindorganisationen« eingestuften Gruppierungen und Einzelpersonen, von denen aus Sicht des MfS eine direkte Gefahr für die DDR ausging, wurden von der XXII in Operativen Vorgängen (OV) bearbeitet. Für einzelne Vertreter der rechtsextremen Szene, die – vorerst – keine Aktionen gegen den SED-Staat vorbereiteten, leitete die Abteilung sogenannte Operative Personenkontrollen (OPK) ein. Eine OPK diente bei der Stasi unter anderem zum »Erkennen von Personen mit […] operativ bedeutsamen Verbindungen und Kontakten, von denen […] feindlich-negative Handlungen zu erwarten sind«.9 Des Weiteren führte sie zu bestimmten Gruppen sogenannte Feindobjektakten (FOA), die in ihrer Wertigkeit allerdings unter der Bedeutung von Operativvorgängen lagen. Einer Statistik zufolge wurden in den hier interessierenden Unterabteilungen 1 und 4 im Jahre 1987 insgesamt 19 OV gegen Gruppen, 57 OPK gegen Einzelpersonen und 17 FOA gegen Organisationen geführt.

Zu den in den FOA erfassten Beobachtungszielen in der rechtsextremen Szene der Bundesrepublik gehörten die Wiking-Jugend, die Nachfolgegruppen der 1983 verbotenen militanten Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten um den Neonaziführer Michael Kühnen, der Bund Heimattreuer Jugend (BHJ), die von Manfred Roeder angeführte Terrororganisation Deutsche Aktionsgruppen, die NSDAP/Auslands- und Aufbauorganisation einschließlich der NSDAP-Ortsgruppe Berlin, zwei rechte Buchverlage, die Volkssozialistische Bewegung Deutschlands, die türkische faschistische Organisation Graue Wölfe, die Partei Die Republikaner, die Konservative Aktion sowie die im Bundesgebiet aktiven rechten Wehrsportgruppen (WSG). Auch über die WSG Hoffmann