Zur falschen Zeit - Hans Flesch-Brunningen - E-Book

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Hans Flesch-Brunningen

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Beschreibung

Frühling 1939: Der 18-jährige Anton Herbst lebt seit fünf Jahren mit seinem älteren Bruder Karl in London im Exil. Fernab der in Österreich verbliebenen Familie haben sie sich inmitten einer antifaschistischen Flüchtlingsgemeinschaft ein neues Leben aufgebaut. Wegen des kritischen Gesundheitszustands des Vaters begibt sich der politisch weniger kompromittierte Anton auf den Weg nach Hause. Doch das Zuhause seiner Erinnerung existiert nicht mehr: überall Hakenkreuzfahnen und SA-Männer, dazwischen seine Familie, die sich offenbar bestens mit den neuen Umständen arrangiert hat. Viel mehr als der drohende Zweite Weltkrieg interessiert sich diese für das Erbe, das der Vater nach seinem Tod hinterlassen wird. Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Als die Geschehnisse im Familiensitz am Fuße der Rax auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuern, kann Anton es nicht erwarten, ins Exil zurückzukehren.

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Zur falschen Zeit

Editorische Notiz

Kommentar

Unzeitgemäßer Odysseus. Nachwort

Literatur

Biografien

Königin:

Such’ nicht beständig mit gesenkten Wimpern

Nach deinem edlen Vater in dem Staub:

Du weißt, es ist gemein: was lebt, muß sterben

Und Ew’ges nach der Zeitlichkeit erwerben.

Hamlet:

Ja, gnäd’ge Frau, es ist gemein.

Shakespeare: Hamlet

Für Berthold Viertel

Mit einer Verbeugung

Ohne ihn wäre dieses Buch nie geschrieben worden.

ERSTER TEIL

I. Plötzliche Initiative

Er liebte die Götter und die Bücher. Unter der Kuppel des Lesesaals fürchtete er sich nicht.

Draußen regnete es. Im Lesesaal des British Museum war es trocken und warm. Die kleinen elektrischen Lampen mit ihren grünen Schirmen brannten. Anton war entschlossen, an diesem Morgen ein ordentliches Stück Arbeit zu erledigen. Seine Aktentasche mit dem abgerissenen Griff lag neben ihm. Ungeöffnet. Er hatte jedoch das Gefühl, dass die Wichtigkeit der Aufsätze, die er am Nachmittag abgeben musste, durch die Ledertasche drang. Als hätte er kein Recht, hier zu sitzen und Nellie Reiser an ihrem Tisch heimliche Blicke zuzuwerfen.

Sie stand auf und kam zu ihm herüber. Sie stand dicht bei ihm und sagte mit sanfter Stimme: »Komm jetzt mit.« Er nickte zustimmend. Seine Kehle war trocken. Während er sein Buch abgab, wartete sie im Vestibül auf ihn. Sie trug ihr marineblaues, maßgeschneidertes Kostüm und einen winzigen viereckigen Hut. Als er durch die Drehtür trat, kam sie ihm entgegen.

Sie sagte: »Wir haben mindestens ein paar Stunden Zeit. Er ist bei einem Treffen in Birmingham, und seine Sekretärin kommt nicht vor vier Uhr zurück. Freut dich das nicht?«

Anton sagte: »Doch. Aber ich muss diese Papiere abschicken!«

»Antonio! Wie dumm von dir. Es ist auf unserem Weg. Fürchtest du dich immer noch vor deinem Bruder?«

Er antwortete nicht. Sie gingen im Regen durch die Great Russell Street. Die Mittagsausgaben der Abendzeitungen brachten Spalten mit Kommentaren aus aller Welt zu Hitlers Rede. In der ersten Straße, die rechts abbog, warteten eben erst angekommene Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich vor dem Bloomsbury House. Sie standen ohne Schirme im Regen, redeten unablässig und hatten große Angst.

Es war spät im April, doch Anton trug immer noch seinen blauen Rollkragenpullover. Sein Regenmantel war schmutzig und sein Hosenboden leicht durchgescheuert. Er trug einen Anzug aus dickem, grünlichem Tweed.

Er sah nicht sonderlich unternehmungslustig aus neben ihrer Eleganz, ihrem blonden Haar und dem marineblauen Kostüm, obwohl ihre Schuhe nicht auf Hochglanz poliert waren.

Sie nahmen die U-Bahn zum Lancaster Gate. Der Zug war überfüllt, und sie standen eng aneinandergedrückt in der Mitte des Abteils. Er suchte ihren Blick, dann fanden sich ihre Hände.

Ihre Lippen waren wie Hildes, dachte Anton, ebenso voll, üppig und grausam. Wenn er nur aufhören könnte, an Hilde zu denken! Schließlich war Hilde seine Schwester. Wenn er nur aufhören könnte, an Österreich zu denken. Er lebte nun seit fünf Jahren im Exil. Dennoch erinnerte er sich an Österreich. Und an den Annenhof. Er dachte ständig daran. Obwohl er drei Jahre in einer englischen Schule verbracht hatte.

Sie gingen durch die Straßen von Bayswater, hohe Häuser mit protzigen Säulen. Antons Herz klopfte. »Komisch!«, sagte er und blieb stehen. Er konnte nicht weitergehen. Es hatte wieder leicht zu regnen begonnen, und auf der Straße waren nur wenige Leute. Endlich kamen sie ans Ziel.

Nellie steckte den Schlüssel ins Schloss. Für eine so große Tür war es ein kleiner Schlüssel. »Dein Bruder hat angeblich gewisse Sympathien«, sagte sie. Nun standen sie in dem langen Korridor unter einer großen Glaslaterne.

Nellie nahm den Hut ab und strich ihr Haar aus der Stirn.

»Er ist ein alter Kämpfer der Februarrevolution«, sagte Anton. Eigentlich hätte er sie schrecklich gern auf der Stelle geküsst, sobald sie alleine waren. Doch jetzt konnte er es einfach nicht.

Sie durchquerten die große Wohnung. Sie war fürstlich möbliert, recht geschmackvoll, mit vielen Teppichen, Polstern auf den Sofas, langen Vorhängen und jeder Menge Bilder in dunklen Rahmen. Sie betraten eine Art Büro. Nellies Schlafzimmer lag nebenan. Es war schlichter möbliert als die anderen Zimmer, mit einem großen Bett und einer leichten Steppdecke darauf. Von hier konnte er die Hintergärten von Bayswater überblicken. In einer Ecke standen einige Bücherregale. Ein Schreibtisch stand auf halbem Weg zum Fenster, darauf lagen offene Bücher und Notizbücher neben einer Schreibmaschine ohne Abdeckung.

»Ich werde nicht klug aus dir«, sagte Anton. Er blieb zwischen Schreibtisch und Bett stehen. Dann warf er Hut und Mantel auf einen Sessel. Sein glattes schwarzes Haar fiel ihm über die Stirn. Seine Augen drückten Verwunderung aus, doch sie leuchteten und waren erfüllt von Liebe.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Nellie, zog ihr Jackett aus und hängte es hinter der Tür auf. »Ich wohne zufällig hier, dank Mr. Millers Gastfreundschaft. Du weißt ja, dass er ein einflussreicher Mann ist, und er steht ganz auf unserer Seite. Ich darf auch die Küche nutzen. Warte mal, ich koch gleich Kaffee. Reich mir dieses Päckchen. Setz dich und lies etwas.«

Sie küsste ihn rasch und verschwand. Er setzte sich und schaute hinaus in den Garten. Das Gras war dunkelgrün nach all dem Regen. Die Bäume hatten erst wenige Blätter. Unter einer Schaukel war eine große Lacke. Eines der Seile war gerissen und baumelte lose. Ein Apfelbaum im Nachbargarten trug wenige Blüten, die meisten hatten unter dem Frost gelitten und waren weder weiß noch rosa, sondern braun und gelb. Anton konnte über die Treppe des gegenüberliegenden Hauses sehen und bemerkte, wie dunkel es war. Er beobachtete eine alte Frau, die langsam die Treppe hinaufging.

Nellie kam mit dem Kaffee zurück. Sie trug einen Morgenmantel aus Kaschmir. Anton konnte darunter ihren rosa Slip erkennen. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und sagte: »Na … Ein Muntermacher. Hast du Streichhölzer?« Er gab ihr die Streichhölzer, und sie bückte sich zum Gasbrenner und zündete ihn an. Das Gas machte ein zischendes Geräusch, brannte mit bläulicher Flamme. Er sagte: »Mach dich nicht immer über mich lustig. Auch wenn ich nicht viel rede …«

Sie richtete sich wieder auf und sah ihm in die Augen. »Nun …«, sagte sie. »Was bringt das Reden und Ausfragen? Ich arbeite für Mr. Miller. Er schert mich einen Dreck. Er ist reich, klug und wirklich sehr nett, und eines Tages wird er sich als sehr, sehr nützlich für uns erweisen. Mein Leben ist wie ein offenes Buch. Wenn ich nur halb so viel über dich wüsste wie ich dir in diesen wenigen Tagen über mich erzählt habe. Bitte, Toni, erzähl mir etwas über dich … Bitte!«

Anton spürte sofort, dass er bleich wurde. Nellie trat vor, ließ ihren Morgenmantel von ihrer Schulter fallen. Es war gewiss eine hübsche Schulter, etwas mollig, nicht sonderlich breit, aber sehr einladend.

II. Eine Erinnerung

Draußen regnete es immer stärker, und im Zimmer war es ganz dunkel geworden.

»Geh nicht fort!«, sagte er. Er lag auf dem Rücken und starrte auf den Plafond.

Sie sagte: »Ich habe Hunger.« Sie sprang aus dem Bett, nahm ihren Morgenmantel, ging in die Küche und zurück ins Zimmer, sauste hin und her, von einem Ende zum anderen. Sie kochte noch etwas Kaffee. Anton rauchte seine Zigarette.

Er sagte: »Du solltest meine Mutter kennenlernen …« Er zögerte. »Und meinen Vater. Du kennst nur Karl. In der Familie galt er immer als eine Art schwarzes Schaf. Als ich ein kleiner Bub war, lag meine Mutter immer auf dem Sofa …«

Nellie sagte kein Wort. Er fuhr fort: »Es gibt da ein Foto meiner Eltern auf dem Weg zu ihrer Hochzeit. Sie haben in Reichenau geheiratet, der nächsten Marktgemeinde vom Annenhof; der Annenhof liegt direkt am Waldrand, wo die Felder beginnen, und gleich dahinter ist die Rax mit ihren rund zweitausend Metern. Sie sind in einem Gummiradler zu ihrer Hochzeit gefahren, eine Art Kutsche mit echten Gummireifen, und meine Mutter trug einen sehr langen Brautschleier, sehr, sehr lang.« Sie schwieg immer noch. Sie saß vor ihrem kleinen Spiegel und kämmte ihr Haar. »Wie heißt deine Mutter?«, fragte sie plötzlich und durchquerte das Zimmer. Sie setzte sich auf das Bett. Als er antwortete: »Eigentlich heißt sie Karoline, aber wir nannten sie immer Schnullie«, musste sie lachen.

»Was für eine Familie … Was für eine wundervolle bürgerliche Familie«, sagte sie und begann sich die Nägel zu feilen.

»Ja … natürlich«, sagte Anton wie im Traum. »Ich war in meinem Zimmer und las ein Buch. Es hatte den ganzen Tag geschneit, aber später hörte es auf, und auch der Wind ließ nach. Ich konnte von unten das Radio hören. Dollfuß forderte den Schutzbund auf, aufzugeben. Onkel Fritz war von der Heilanstalt zurückgekehrt, aber ich las lange weiter. Eigentlich wartete ich. An jenem Abend hörte ich Karl an der Hintertür klopfen. Ich ließ ihn herein. Hilde hatte damals ein eigenes Zimmer. Karl erzählte mir alles. Er war unverletzt, aber schrecklich hungrig, schmutzig und traurig. Etwas später, als schon der Tag anbrach, ging ich mit ihm fort.«

»Warum erzählst du mir nie von deiner Schwester Hilde? Ich sehe ihr doch angeblich ähnlich, oder?«, fragte Nellie. »Wie sieht deine Schwester aus?«

Doch Antons Stimme klang plötzlich ganz anders. »Sei so lieb, Schatz«, sagte er leise. »Sei so lieb und bring mir noch Kaffee!«

Sie goss Kaffee nach. Er sagte: »Da waren auch noch die Klahr-Buben, große Burschen, groß, stark, Sepp und Rudi. Herrgott, wie wir uns geprügelt haben! Hilde hat uns natürlich immer begleitet, aber nie mitgekämpft.«

Er hielt einen Moment inne und schien an etwas zu denken. Er sagte: »Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Tag im Frühling, als ich gerade mit Onkel Fritz in die Stadt fahren wollte. In den letzten beiden Jahren verbrachte ich nur die Ferien am Annenhof, weil ich die Schule in Gloggnitz besuchte. Was für ein Tag. Ganz unglaublich. Ich glaube, es gibt jedes Jahr nur einen richtigen Frühlingstag, vielleicht sogar nur einen im ganzen Leben. Jedenfalls ist der Frühling in Österreich anders als hier. Wir waren ungefähr einen Kilometer vom Haus entfernt; da war es, mit seinen grünen Fensterläden und seinem braunen Dach, auf dem zur Sicherheit ein paar Steinblöcke lagen, genauso wie auf einer Postkarte. Auf den Feldern blühten Hunderte Blumen, gelb, weiß, blau, Butterblumen und Osterglocken. Ich weiß wirklich nicht mehr, welcher Monat es war, nicht einmal, welches Jahr, bestimmt vor den Nazitagen, und Mama und Hildchen und noch ein Mädchen, Mizzerl Haber aus Neustadt … Sie hatten uns eben erst verabschiedet, weil Onkel Fritz ein großes Auto hatte, mit dem man nicht bis ans Haus fahren konnte. Ich sehe sie jetzt vor mir, wie sie querfeldein zum Haus zurückgehen, und alle drei tragen weiße Sommerkleider, weil es warm war. Auf dem Gipfel der Rax lag noch ein wenig Schnee. Sogar Onkel Fritz konnte sehen, wie schön alles war, obwohl er am Steuer saß und meist ganz andere Sachen im Kopf hatte …«

Nellie beschäftigte sich mit ihren Schuhen. Sie hatte sich ihr bestes Paar Wildlederschuhe mit hohen Absätzen ausgesucht. Sie sagte: »Wahrscheinlich seine Geschäfte. Ich verstehe nicht, warum du nicht nach Österreich zurückkehrst, wenn du dich so sehr nach deiner Schwester sehnst? Du siehst ganz betrunken aus, wenn du über sie sprichst.«

»Ja, ja«, sagte Anton. »Betrunken.« Er stieg aus dem Bett und setzte sich zu Nellies Füßen auf den Boden. Er sagte: »Karl würde mich nie zurück nach Österreich gehen lassen. Außerdem will ich nicht. Ich will es nicht. Ich muss hier etwas erledigen, das viel wichtiger ist. Und ich habe Karl viel lieber als die anderen. Sonst hätte ich ihn nicht begleitet. Er passt auf mich auf.«

Anton warf rasch einen Blick aus dem Fenster. Draußen war es jetzt heller, und die Vögel zwitscherten. Nellie ging zum Schrank hinüber und nahm ihre Geige aus dem Kasten.

»Außerdem«, sagte Anton langsam, »außerdem … Ich liebe dich viel mehr als Hilde. Du hast eine so seidige Haut.«

Nellie zuckte die Schultern. Sie stimmte ihre Geige und spielte das Menuett aus Don Giovanni. Sie spielte es zweimal.

Anton sagte: »Sehr, sehr schön. Ich liebe dich. Sei nicht albern.« Er küsste ihre Hand, die mit dem Bogen herabhing.

»Es ist jetzt so still«, sagte er. »Die Zeit zum Lieben. Ach, London ist furchtbar. Aber ich liebe dich. Ich liebe … Ich liebe all die Flüchtlinge.« Er schwieg lange. Dann fragte er: »Verzeihst du mir, dass ich so viel geredet habe?«

III. Der 1. Mai

Karl Herbst wohnte mit seinem Bruder Anton im Kellergeschoß eines Hauses in Bloomsbury, das er gemietet und eingerichtet hatte, um es zu günstigen Preisen unterzuvermieten, wenn möglich an Flüchtlinge. Außerdem hatte das Innenministerium Karl die Genehmigung erteilt, eine deutsche Leihbücherei zu führen. Das alles brachte nur wenig Geld ein, aber Karl genoss es, da er so die Gelegenheit bekam, viele Flüchtlinge zu treffen, meist Neuankömmlinge. Er war ein komischer Kauz, stämmig mit lockigem Haar.

Es war der 1. Mai und es hatte stark geregnet. Karl dachte oft an seine »menschliche Würde«, doch als er an den schönen, verlassenen Plätzen von Bloomsbury vorbei nach Hause ging, sah er aus der Ferne aus wie ein rollender Ball. Er trug keinen Hut.

An einer Straßenecke traf er Sandor Felix. »Was machen Sie denn hier?«, fragte Karl ein bisschen großmütig. Jeder war gegenüber Sandor Felix großmütig, wenn nicht herablassend. »Kommen Sie, wir trinken zu Hause Tee!« Dieser Bursche namens Felix sah heute Abend nicht nur hungrig, sondern auch steifgefroren aus.

»Bitte. Danke!«, sagte Sandor Felix und folgte Karl mit einem Schritt Abstand. Wann immer man Felix derart unvermittelt ansprach, wurde er meist gelber im Gesicht und warf einem als Zeichen der Dankbarkeit einen sorgenvollen Blick zu. Sein Stolz beruhte auf dem zweifelhaften Ruhm, Londons ältester Flüchtling zu sein, denn er war schon 1920 vor dem Weißen Terror aus Ungarn geflohen. Bislang hatte er noch keinen Treffer gelandet.

Dunkle Treppen führten hinunter in Karls und Antons Keller. Das Hinterzimmer diente als Arbeitsraum und auch als Küche. Die Tür war gerade geschlossen. Sie hörten das Klappern einer Schreibmaschine – Anton arbeitete. Das vordere Zimmer war mit Büchern vollgestopft. In der Mitte stand ein Harmonium, daneben ein Schreibtisch. An den Wänden hingen Fotos berühmter Leute, eine Totenmaske von Lenin und eine Büste von Popper-Lynkeus. Ein Buddha lächelte aus einer Ecke. Auf dem Schreibtisch stand ein Radioapparat.

Karl bückte sich und zündete den Gasbrenner an. »Setzen Sie sich, wo immer Sie Platz finden«, sagte er zu Sandor Felix. »Ich setze den Kessel auf.«

Doch da gab es keinen Platz für Felix, um sich zu setzen. Also ging er umher und blieb hin und wieder vor den Regalen der Leihbücherei stehen. Es gab hauptsächlich unpolitische Bücher, was eine der Bedingungen des Innenministeriums gewesen war.

Die Schreibmaschine nebenan schwieg. Das Gas machte ein sonderbares Geräusch, das anzeigte, dass der eingeworfene Shilling fast aufgebraucht war. Draußen war es recht dunkel. Man konnte die Beine von hübschen Mädchen und die Einkaufskörbe alter Frauen aus der Froschperspektive sehen. Im Nebenzimmer wurden Stimmen laut. Oben klingelte das Telefon und später die Türglocke.

Karl kehrte hastig zurück. Seine Augen brannten.

»Kommen Sie mit und schauen Sie sich das Schlamassel an«, sagte er leise. Sandor begleitete ihn in das andere Zimmer.

Anton saß reglos vor der Schreibmaschine in der Nähe des Kamins. Er begann wieder sehr langsam zu tippen. In der linken Ecke war das Spülbecken mit noch schmutzigem Geschirr und einigen Gabeln und Messern. Rechts stand das Bett hinter einer staubigen Nische. Auf dem zerrissenen Teppich in der Mitte des Zimmers lag, halb bedeckt mit einem bräunlichen Lumpen, der Kadaver einer schwarzen Katze.

»Tim«, sagte Karl und wandte sich ab. Anton tippte weiter. Sandor Felix kam näher. Er war kurzsichtig. Er schnupperte mit sorgenvollen Nasenlöchern, denn das Hinterzimmer roch eindeutig nach Nahrungsmitteln. Dann bückte er sich, um das tote Kätzchen besser sehen zu können.

»Gerade heute, am 1. Mai«, sagte Karl. Er goss das Teewasser vom Kessel in die Teekanne. »Hör auf mit deinem dummen Geschreibe«, schrie er Anton an. »Du hast kein Herz.«

»Ich muss meine Arbeit erledigen«, sagte Anton. Er tippte nun rasend schnell. Sandor Felix schüttelte den Kopf und ging im Zimmer auf und ab.

»Du hast kein Herz, sage ich«, schrie Karl so laut er konnte. »Entschuldigen Sie mich einen Moment?« Er nahm den Lumpen mit der toten Katze und trug sie fort. Ein paar Minuten später sahen sie ihn nebenan über den Hinterhof gehen und den Kadaver vorsichtig bei den Mistkübeln am hinteren Ende ablegen. Anton sagte eher zu sich selbst: »Das Gas geht gleich aus.« Dann blickte er von seiner Schreibmaschine auf. »Wie geht es Ihnen, Herr Felix?«, fragte er. Sein Gesicht war von der Arbeit gerötet. »Sie haben nicht zufällig einen Shilling dabei?«

Sandor Felix schüttelte wehmütig den Kopf. Anton sagte: »Ich mochte ihn sehr. Wahrscheinlich hat der Hausbesitzer ihn vergiften lassen. Er ist auf dieser wunderbaren Treppe immer ungezogen gewesen. Dieser Mann hat uns schon lange gedroht, er werde ihn umbringen. Karl wird das schwer zu schaffen machen.« Und er tippte weiter.

»Möchten Sie nicht mit uns Tee trinken?«, fragte Sandor Felix sanft und warf hektische Blicke auf die Teetassen, das Brot und die Butter.

Anton schüttelte schweigend den Kopf. Karl kehrte zurück aus dem Hinterhof. Er sagte kein Wort. Er wusch seine Hände am Wasserhahn und deutete dann mit seinen Schultern in Richtung Tür. Er trug das Tablett in das vordere Zimmer. Sandor folgte und schloss die Tür hinter sich.

Sie tranken den Tee im Halbdunkel. Sandor leerte zwei Tassen. Karl wollte ihm von Tim erzählen, was für ein netter und freundlicher Kater er gewesen war, und von der Grausamkeit des Hausbesitzers, und dass es deshalb nicht der Wahrheit entsprach, dass alle Engländer Tiere liebten – wie die Zeitungen immer behaupteten.

Doch er erzählte ihm gar nichts. Heute war der 1. Mai. Er hatte den 1. Mai viele Male gefeiert, und nie zuvor in seinem ganzen Leben hatte er sich so zurückhaltend wie heute benommen.

Sie saßen in der Nähe des Kamins. Das Gas kam immer spärlicher, und schließlich blieb nur ein schwacher Hauch von der Flamme.

Karl suchte in seinen Taschen nach einem Shilling, fand aber nur ein paar Pennys. Er sah Sandor an, ohne auch nur die peinliche Frage zu stellen.

»Es gibt Schlitze«, sagte Sandor, »Schlitze, die auch Pennys annehmen. Man wirft einen Penny ein, und es geht an, für kurze Zeit.« Er rieb die Hände.

»Leider ist der hier keiner von denen«, sagte Karl. Er zuckte die Schultern.

»Es gibt solche Schlitze und andere«, sagte Sandor.

»Ist es nicht ziemlich kalt?«, fragte Karl. Das Gas versiegte und ging aus. Sie saßen schweigend in der Kälte mit ihren leeren Tassen.

Karl stand auf. »Noch ein Stück Brot?«, fragte er. »Gibt es Neuigkeiten?«

Sandor dankte ihm und sagte, es gebe nichts Neues. Karl sagte: »Wenn es schon kalt ist, kann es ebenso gut auch dunkel sein.« Er zog die Vorhänge zu. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen schien das Licht der Straßenlaterne ins Zimmer. Karl schaltete das Radio ein: Im Staatssender lief ein Streichquartett von Schubert. Das winzige Lämpchen in der Mitte des Radios glich einem Fenster in die helle weite Welt.

Gegen acht kam ein Brief mit der Abendpost. Er kam aus Österreich. Karl las ihn in Sandors Gegenwart und ging dann in Antons Zimmer. »Nur eine Sekunde!«, sagte er. »Schlechte Nachrichten?«, fragte Sandor Felix schwermütig. »Teils, teils. Vater hat Bronchitis.«

IV. Ein vornehmer Besucher

Es war ein herrlich warmer Morgen. In Karls Haus schliefen alle lang und fest. Es war fast unnatürlich, so lange zu schlafen, während draußen all die Vögel zwitscherten und die zahllosen Blumen blühten, und drinnen die Flüchtlinge, ihre Sorgen und Nöte. Aber sie hatten ihre Träume.

In den frühen Morgenstunden hatte Anton von einer jungen Dame geträumt. Im Laufe des Traums verwandelte sich die junge Dame in eine griechische Göttin. Er erwachte, erregt von der Erinnerung an ein Land irgendwo im Süden, mit Booten in der Sonne, Palmen und Kindern. Seine Augen waren geschwollen, und er spürte einen großen Klumpen in der Brust. Zunächst erinnerte er sich nicht an den Brief, der ihnen von der Krankheit ihres Vaters berichtet hatte. Mama hatte ihn geschrieben und Hilde hatte sogar ein Postskriptum angefügt, und so hatte er ihn die ganze Nacht unter seinem Polster aufbewahrt. Trotzdem hatte er darauf vergessen. Er hatte zu lange gearbeitet und Kopfweh.

Karl kam in die Küche, um Tee zu kochen, während Anton im Bett blieb. »Guten Morgen, Toni«, sagte Karl sehr freundlich. »Guten Morgen, Karlchen!«, sagte Anton und sprang aus dem Bett.

Karl setzte den Kessel auf. Anton schnitt das Brot und strich Butter auf zwei Scheiben. Sie setzten sich zum Frühstück.

»Gib mir den Brief zurück«, sagte Karl.

Anton ging zu seinem Bett und gab ihm den Brief. Anton putzte sich die Zähne, während Karl den Brief noch einmal las.

»Wir haben keine Milch«, sagte Karl. »Und es gibt auch keine Zeitung. Womöglich flattert das Hakenkreuz schon über Westminster. Man kann nie wissen.«

»Sofort«, sagte Anton. Er zog seinen Regenmantel über seinen rot-blau gestreiften Pyjama. Die Hose war ihm ein wenig zu kurz.

Er ging die Treppe hinauf und wollte gerade die Milchflasche und die Zeitung von draußen hereinholen, als ein Taxi vor dem Haus stehen blieb. Ein kleiner, korpulenter Mann mit dunklem Teint und weißem Haar stieg hastig aus und begann mit dem Fahrer zu reden. Der Mann rauchte eine Zigarre.

»Ich weiß nicht«, sagte der Fahrer. »Ich bin hier fremd.« Der kleine Mann näherte sich der Tür. Dann erst erkannte ihn Anton. Es war Dr. Georg Marcus, der bekannte Regisseur und Autor.

»Hallo, da sind Sie ja«, sagte Marcus laut. Er eilte an Anton vorbei ins Haus. Drinnen wollte er Anton die Hand geben, doch der trug die Milchflasche und die Zeitung.

Marcus lächelte. »Ich bin etwas früh dran.«

Marcus klopfte an die Tür, doch Anton stieß sie mit dem Arm auf. »Ich bringe dir einen Besucher mit«, sagte Anton.

Marcus ging ein paar Augenblicke im Zimmer auf und ab, den Hut in der Hand. Sein großes, dunkles Gesicht wurde plötzlich ernst. Er sagte: »Ich wollte Sie nicht beim Frühstück stören, aber es ist ziemlich dringend.« Er schnippte die Asche von seiner Zigarre ins Spülbecken.

»Wir gehen ins andere Zimmer«, sagte Karl. »Anton, bleib lieber hier. Könntest du das Frühstücksgeschirr abräumen? Bitte, Dr. Marcus.«

Anton schnitt eine Grimasse, aber er räumte das Frühstück ab. Er liebte Marcus, er liebte alte Männer mit weißen Schnurrbärten und Zigarren, alte Männer, die noch nicht all ihren Mut und ihre Kraft verloren hatten. Er liebte auch seinen Vater. Jetzt war sein Vater krank. Er hoffte, dass es nichts Ernstes war. Anton goss den übrig gebliebenen Tee langsam ins Spülbecken.

Karl hatte seinen Posten hinter seinem Schreibtisch bezogen. Auf seinem Schreibtisch herrschte immer dieselbe Unordnung, ganz gleich ob morgens oder abends. Marcus stand nahe an Karls Ellbogen und sagte dann: »Nun … Sie wissen es sicher schon. Es ist ein großer Verlust für uns Flüchtlinge.«

»Wie bitte?«, fragte Karl zurück.

»Sie wissen es also nicht? Gestern Abend wurden Frau Stern und ihre Tochter tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Sie haben sich angeblich vergiftet. Einfach vergiftet, mit einem Schlafmittel. Also …«

Er drehte sich zur Wand und begann langsam ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zu nehmen und durchzublättern. Karl schwieg. Er saß an seinem Schreibtisch und dachte an Frau Stern, die er sehr gut gekannt hatte. Sie war eine weißhaarige, edelmütige Person gewesen, die jahrelang eine wichtige Rolle in der deutschen Untergrundbewegung gespielt hatte – ab 1936 hatte sie in England gelebt. Jetzt hatte sie sich vergiftet – aber warum?

»Ja«, sagte Marcus. Er drehte sich wieder um. »Einfach vergiftet. Ich war Frau Sterns Onkel. Ich dachte, Sie wüssten das.« Er lächelte vage. Anton trat ein. Er war komplett angezogen, und als er Marcus’ verlegenes Lächeln sah, lächelte er ebenfalls, auf genau dieselbe Weise.

»Karl«, sagte Anton. »Dr. Poliak aus dem zweiten Stock möchte dich sprechen. Ich glaube, es ist wieder wegen der Mäuse.«

Karl erhob sich von seinem Schreibtisch. »Er muss warten«, sagte er schroff. Anton wollte gerade gehen, doch Karl hielt ihn zurück. »Du musst Dr. Marcus dein Beileid bekunden. Frau Stern und ihre Tochter sind gestern Abend gestorben. Frau Stern war Dr. Marcus’ Nichte.« »Wie bitte?«, fragte Anton. Und er reichte Marcus die Hand. Marcus ergriff sie eifrig. Anton hasste den Tod einfach, wie er in der Welt umging, nach links und nach rechts, in so vielen Verkleidungen.

»Und jetzt besucht Dr. Marcus uns persönlich, weil er wahrscheinlich irgendein Buch benötigt. Habe ich recht?«, fragte Karl. Er hatte sich noch nicht ganz beruhigt.

Marcus sagte leise: »Herr Herbst, machen wir einander die Sache nicht zu schwer. Ja, ich brauche einige Bücher für den Vortrag am Freitagabend. Dennoch muss ich sagen, dass es mir sehr leid tut, Sie unter solchen Umständen zum ersten Mal zu besuchen. Hätte ich gewusst, wo Sie wohnen, wäre ich bestimmt schon früher gekommen. Glauben Sie mir. Lassen Sie uns Freunde sein.«

Karl verbeugte sich in seiner unbeholfenen Manier. »Bitte, darf ich Ihnen mein Beileid bekunden?« Marcus hatte sich zu den unteren Regalen gebückt, zog ein Buch nach dem anderen heraus und stapelte die Bände neben sich.

Anton fühlte sich unsicher. Schließlich platzte er mit seiner Frage heraus: »Woran sind sie gestorben?«

Marcus antwortete nicht. »Gestorben!«, rief Karl. Er lachte verbittert. »Man hat sie umgebracht. Die Gestapo hat sie ermordet. Wie Frau Fabian vor einigen Jahren. All die Umstände scheinen die gleichen zu sein.« Er wurde rot und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Marcus trat mit einem Buch in der Hand vor. »Hören Sie, Herr Herbst«, sagte er, »wir wissen noch nichts Genaues. Es wäre bestimmt schon schlimm genug, wenn man sie in den Tod getrieben hätte. Aber mir wäre lieber, meine Freunde würden ermordet, als zu wissen, dass sie Selbstmord begangen haben. Ich glaube nicht, dass man sich einmischen darf und damit davonkommt.«

Marcus schwieg. Einen kurzen Augenblick lang sah er aus, als würde er nach irgendeinem Geräusch vor dem Haus lauschen. Anton dachte erneut an den Tod. Marcus war kein junger Mann, vielleicht dachte er selbst an den Tod, fürchtete sich davor und lauschte, ob er sich näherte. Er hatte sich einen Sessel genommen und ihn neben das Bücherregal geschoben, so konnte man die Bücher leichter durchstöbern.

In diesem Moment liebte Anton ihn sehr. Er warf seinem Bruder einen tadelnden Blick zu. Dann sagte er: »Hätten Sie vielleicht doch gern etwas zum Essen oder Trinken, Dr. Marcus? Ich bringe Ihnen ein Glas Milch.«

Anton wandte sich zur Tür, als jemand anklopfte. Karl sagte: »Herein!«, und Dr. Fritz Poliak aus Wien trat ein. Er war elegant gekleidet, wie die meisten wohlhabenden Wiener Ärzte und Anwälte. Dr. Poliak war Anwalt und erst seit kurzem Flüchtling. Er trug einen Kneifer von der Art, die während des letzten Krieges auf dem Kontinent Mode geworden war. Ein solcher Pincenez kniff buchstäblich in die Nase. In Wien nannte man ihn »amerikanischen Pincenez«.

Karl stellte sie einander vor. Marcus erhob sich von seinem Sessel und gab Dr. Poliak die Hand. Es herrschte Schweigen. Dr. Poliak wollte sich eigentlich über die Mäuse beschweren. Karl kam seinen ständigen Klagen zuvor, indem er von dem tragischen Zwischenfall erzählte. Er sprach über alles mit ruhiger Stimme. Wieder herrschte Schweigen. Anton verließ das Zimmer. Dr. Poliak sagte: »Es ist furchtbar. Einfach furchtbar.« Er schüttelte den Kopf. Er ließ die Schultern hängen und fügte hinzu: »Die armen Angehörigen.«

Anton kam zurück mit einem Glas Milch. Er stellte das Glas auf Karls Schreibtisch. Mit einer Handbewegung lud er Marcus ein, die Milch zu nehmen. Marcus lächelte Anton an, stand aber nicht auf. »Selbstmord von Flüchtlingen«, sagte Dr. Poliak, der das Glas anstarrte.

Marcus murmelte etwas wie: »Es ist noch nichts erwiesen.« Er schnitt eine Grimasse. Er schien Dr. Poliak von Anfang an nicht leiden zu können. »Beide Damen waren politisch aktiv«, sagte Marcus.

»Genau das ist es«, sagte Dr. Poliak. Er wurde noch trauriger. »Das ist der Grund. Verdammte Politik. Entschuldigen Sie die Frage … Aber sie waren wohl Juden?«

Anton bestätigte dies, da sich sonst niemand rührte. Poliak fuhr fort: »Wir Juden verdanken unsere bedauernswerte Lage nur unserer ständigen Einmischung in die Politik. Es ist furchtbar. Warum? Geht uns die Politik etwas an? Nein. Wir sollten froh sein, dass wir diesem Irrenhaus in Deutschland entkommen sind und in einem ehrlichen und freundlichen Land aufgenommen wurden. Aber nein … Statt ruhig zu bleiben, müssen wir uns in alles einmischen …«

Marcus stand langsam auf. Er zögerte einen Augenblick. Plötzlich sagte er sehr laut: »Also, Doktor … Ich habe Ihren Namen vergessen, ich habe ein schlechtes Gedächtnis für Namen und möchte mich auch gar nicht an Ihren Namen erinnern. Schauen Sie, Sie Doktor aus Wien oder Wiener Neustadt, ich will solche Sachen nicht hören, solange ich hier bin. Zuhause können Sie tun, was Sie wollen, und sich wie ein Schwein im Dreck suhlen, aber hier nicht …«

»Entschuldigen Sie«, sagte Dr. Poliak. Er lehnte sich leicht gegen Karls Schreibtisch. Marcus ging wieder im Zimmer auf und ab. »Ich entschuldige nichts«, schrie er. »Ganz gewiss entschuldige ich nicht solchen Unfug. Wie können Sie es wagen? Leute wie Sie, die sich um jeden Preis anpassen, sind der Fluch der Welt. Wenn Sie glauben, Sie könnten sich hier oder in Amerika friedlich niederlassen, es sich gemütlich machen und Waffenstillstand predigen … Nun, dann täuschen Sie sich sehr! Sind Sie verrückt? Haben Sie je vom Nazismus gehört?«

Dr. Poliak drehte sich wie in Panik zur Tür. Anton war ganz bleich, sein Herz klopfte schrecklich. Er starrte nur auf Marcus’ dunkles Gesicht, das immer röter wurde, und auf seine Augen – nicht länger traurig, sondern wütend.

»Bitte entschuldigen Sie«, wandte Dr. Poliak ein. »Ich protestiere ausdrücklich.« Er versuchte ebenfalls zu schreien. Karl saß ruhig an seinem Schreibtisch.

Marcus lief dunkelrot an. Er brüllte: »Sie … Nichts. Kein Protest, ich bitte Sie. Schauen Sie sich einmal ein wenig um, schauen Sie sich Ihre Kollegen an, blicken Sie in Ihr eigenes Herz. Was bedeutet das alles? Ich sage … Gegen den Nazismus zu kämpfen heißt, gegen das Untier im eigenen Herzen zu kämpfen. Es bedeutet, die Welt zu verändern. Schweigen Sie! Schweigen Sie endlich und verschwinden Sie …«

Karl erhob sich. Er sagte: »Entschuldigen Sie, Dr. Marcus, das ist schließlich mein Haus. Obwohl ich ganz Ihrer Meinung bin, ist das …« Er hielt inne. Er sah, wie sein kleiner Bruder ihn mit Blicken durchbohrte. »Es ist immer noch mein Haus«, endete Karl sanftmütig und setzte sich wieder.

Dr. Poliak war schon an der Tür. Mit einem Schulterzucken sagte er: »Eine Propagandarede zur falschen Zeit, Dr. Marcus. Aber aus Rücksicht auf Ihre Trauer …« Und dann ging er.

Marcus schrie ihm immer noch nach: »Sie müssen auf nichts Rücksicht nehmen. Wir sehen uns wieder. Ihr Mitleid und Ihr Beileid würde ich nicht einmal umsonst annehmen. Ich nehme keine Almosen an. Ich habe vierzig Jahre lang dem deutschen Theater gedient. Ich brauche keine Hilfe und keine Rücksicht von einem Schwein wie Ihnen.«

Er atmete schwer. Niemand im Zimmer sagte ein Wort. Oben hörten sie eine Tür zuschlagen. Marcus setzte sich und stand plötzlich wieder auf wie ein sehr junger Mann. Nur sein bräunlicher Teint war gelb geworden. Er trat an den Schreibtisch heran, und dann sagte Anton aus dem Hintergrund: »Ihre Milch, Dr. Marcus!«

Marcus drehte sich rasch um. Er sah aus, als würde er gleich wieder von vorne beginnen, doch letztendlich lächelte er nur. »Danke«, sagte er und trank die Milch aus. »Bis bald, die Herren«, sagte er und ging, ohne ihnen die Hand zu geben. Karl lächelte, aber Anton war immer noch bleich. Diesmal konnten sie die Tür oben nicht hören. Anton: »Das wird noch übel enden. All diese Aufregungen! Wie kann er nur so leben!«

Marcus kam mit einem großen Knall zurück ins Zimmer, drang zur Mitte vor, wo er die Bücher auflas, die er ausgesucht hatte. »Notieren Sie sie, Herr Herbst«, sagte er und lächelte matt, »bevor Sie es vergessen!« Karl holte sein Register und notierte die Titel, die Marcus ihm zurief.

Anton sagte zögernd: »Sie kommen doch übermorgen zu unserem Treffen, Dr. Marcus? Sie sind uns nicht böse?«

Marcus schüttelte beiden die Hand. »Ich liebe Sie beide«, sagte er. »Natürlich. Ich komme. Ich lese aus meinen Gedichten. Natürlich«, und er ging hinaus.

V. Das Treffen

Es war kurz nach der Pause. Ein paar junge Burschen hatten eine Leiter organisiert und öffneten die Dachfenster. Gott sei Dank kam etwas frische Luft herein. Bis dahin war es bei dem Treffen schrecklich heiß und stickig gewesen.

Es gab kein Büffet. Die Leute waren froh, sich kurz ausruhen zu können. Viele trafen und begrüßten sich, die sich zum letzten Mal in einem Konzentrationslager getroffen hatten.

Draußen regnete es. Nellie ging zu Anton und sagte: »Warum schaust du so bekümmert drein? Alles ist wunderbar!« Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem altmodischen Spitzenkragen. Es war ein langes Kleid und ließ sie viel größer aussehen.

Anton sagte: »Sicher, ganz wunderbar. Mir gefiel der Professor am besten, dir auch?«

Sie sagte fast ärgerlich: »Was glaubst du denn? Natürlich hat er mir am besten gefallen. Oder denkst du, dass ich es nicht verstehe?«

Einige englische Burschen drängten sich durch und trennten sie.

Anton war wütend. Es war einfach alles zu viel gewesen, und jetzt war es so weit; in ein paar Minuten musste er auf die Bühne und für die Freie Deutsche Jugend in England sprechen.

Trotz all der Zwischenfälle war das Treffen mit Sicherheit ein Erfolg. Man hatte Dutzende Besucher an der Tür abweisen müssen, weil es mehr Einladungen als Sitzplätze gab.

Jetzt sah Anton Marcus, umringt von vielen Leuten. Marcus hatte mit seinen Gedichten den größten Erfolg verbucht. Sein dunkles Gesicht strahlte vor Freude. Er winkte Anton heran und stellte ihn seinen Freunden vor. »Das ist Herbst junior«, sagte er auf Englisch.

Die Glocke läutete. Die Leute kehrten langsam zurück in den Saal. Anton sah Karl allein seinen Platz einnehmen. Er spürte, wie Angst und Aufregung ihm die Kehle zuschnürten. Er hoffte, dass mit seiner Rede alles gutgehen würde. Er wollte eigentlich nicht länger als zehn Minuten sprechen. Während Marcus seine Gedichte las, hatten einige Zuhörer den Saal verlassen. Vielleicht hatten ihnen die Gedichte nicht gefallen. Anton hielt sie für schön. Wahrscheinlich, weil er Marcus mochte.

Marcus hatte kein Wort zum Gedenken an Frau Stern gesagt. Es hatte mehr als eine Gelegenheit dafür gegeben, denn jedes Gedicht wurde durch eine kurze Vorrede des Autors eingeleitet. Sehr kurz, aber geistreich, aufrichtig und klar. Ganz sauber.

»Mit sauberen Händen – schuldlos«, dachte Anton. Ja, er würde seine Rede mit diesen Worten beginnen, auch wenn sie nicht in seinem Manuskript standen. Erneut läutete die Glocke. Wie in der Schule, dachte Anton.

Warum hatte sich Marcus nicht um Karl gekümmert? Anton beschloss, Karl während seiner ganzen Rede anzusehen. Oder vielleicht Nellie? Oder jemanden, der ganz unparteiisch war? Sollte er vielleicht an den Annenhof und Österreich denken?

Er spürte in seiner Tasche den Brief seiner Mutter. Er war schon völlig zerknittert. Seit diesem Brief hatte es keine weiteren Nachrichten aus Österreich gegeben. Anton hatte geschrieben, Karl ebenso, aber es gab immer noch keine Antwort. Was, wenn es Vater schlechter ging? Die beiden Brüder wussten nur zu gut, wie sehr ihr Vater gelitten hatte, seit die Nazis kamen. Und was war mit Onkel Fritz, sonst so zuverlässig, auch wenn man ihm nicht immer voll und ganz vertrauen konnte? Herrgott, wegen all dieser Ausflüchte und Andeutungen in den Briefen war es schwierig, sich ein genaues Bild zu verschaffen. Man sollte hinfahren und es herausfinden – aber wer könnte nach Österreich? Nun, Anton war gewiss nicht so bekannt wie sein Bruder. In Österreich nahm niemand einen jüdischen Großvater besonders ernst. Vielleicht sollte er doch einen Versuch wagen, wenn Vater schwer krank war?

Anton war ganz blass, als er die Bühne betrat. Der Saal war dunkel, die Bühne beleuchtet. Anton hielt Ausschau nach Nellie und Karl. Aber er konnte sie nicht finden. Er fand nur ein glänzendes Paar Schuhe, das dem berühmten Literaturkritiker Bach gehörte. Und dann, Gott sei Dank, entdeckte er Marcus’ Schuhe, die überhaupt nicht glänzten. Sogar die Schnürsenkel hingen nachlässig herab.

Anton sagte: »Ich denke, ich stehe mit sauberen Händen, also schuldlos vor Ihnen. Gustav Landauer sagte: ›Nichts lebt, außer die Taten ehrlicher Hände.‹ Sie meinen vielleicht, es sei nicht schwierig, unschuldig zu sein, solange man jung ist. Ich habe die Ehre, heute im Namen und im Auftrag der Jugendbewegung deutscher Flüchtlinge in England zu Ihnen zu sprechen. Ich …« Nichts davon stand in seinem Manuskript. Vielleicht sollte er sich lieber daran halten. Es war ein langes, zusammengefaltetes Papier und raschelte, als er es nun herausnahm und davon abzulesen begann.

Vor ihm, rund um seine Füße war es hell, aber direkt dahinter begann die Dunkelheit. Er konnte keinen von denen finden, nach denen er Ausschau gehalten hatte. Sogar Marcus’ Schuhe verschwanden in einer Art Nebel. Später erhob sich eine große Frau aus dem Nebel, dann ein junger Mann in einem meergrünen Anzug. Die Buchstaben nahmen Form an, und seine Übelkeit verschwand. Anton spürte, wie er vor Stolz errötete.

»Als wir Deutschland oder Österreich verließen, waren wir alle nur Kinder. Ich erinnere mich sehr gut an die stürmische Nacht, als mein Bruder und ich die Grenze überquerten. Für viele von euch mag es anders gewesen sein, aber gewiss nicht weniger schwierig. Vielleicht hatten wir ein paar romantische Gefühle. Hier unter anderen, erfahreneren Flüchtlingen haben wir gelernt, diese Gefühle auf ein vernünftigeres intellektuelles Fundament zu stellen.«

Anton sah sich um. Der letzte Satz klang für ihn nicht besonders aufrichtig, aber die Leute im Saal schienen es nicht zu bemerken. Sie blieben still. Und Anton steuerte nun sein Schiff tapfer in die Strömung seiner Rede.

»Wir versuchen uns in diesem Land als Jugendbewegung unter den Flüchtlingen zu organisieren. Unsere Interessen sind rein kultureller Natur, denn wir dürfen uns nicht in Politik einmischen. Wir müssen diese Einschränkungen beachten, denn wir profitieren von der Gastfreundschaft eines Landes, das hinsichtlich seiner ökonomischen, politischen und intellektuellen Struktur zu den schwierigsten und unergründlichsten der Welt zählt.«

Nun näherte Anton sich einem seiner Lieblingsthemen: Wie die Notfallkomitees sich nur vereinzelt und auf die falsche Weise um die geistige Entwicklung der Flüchtlinge kümmerten. Mehr oder weniger, so dachte er, wie böse und engstirnige Wächter. Als Karl seinen Entwurf durchgesehen hatte, hatte er ihn gewarnt, an dieser Stelle vorsichtig zu sein. Aber wo war Karl? Der Saal war ein schwarzes Loch, und da gab es niemanden außer ihn und vielleicht die erste Reihe.

»Sie sagen, wir sollten auf der Straße kein Deutsch sprechen. Kaum haben wir Deutsch in der Schule gelernt, da müssen wir auch schon alles darüber vergessen. Wir haben englische Schulen besucht oder besuchen sie noch, und dort vergessen wir recht viel von unserem Deutsch. Viele von unseren Eltern freuen sich und sind stolz, wenn sie Rechtschreibfehler und dergleichen in unseren Briefen entdecken.« Einige Zuhörer lachten. Anton warf einen raschen Blick auf sein Manuskript. Ihm wurde wieder übel. Er durfte nicht trödeln. Er sagte: »Ich glaube, dass die Muttersprache mehr ist als Rasse, Klasse und Religion. Sie ist all diese drei auf einmal. Wir können die Goethes und Nietzsches, die Rilkes und Heines nicht aus unseren Herzen verbannen. Wir wollen es auch nicht. Das unsichtbare und unsterbliche Deutschland der deutschen Sprache wird nie in unseren jungen Herzen vergehen.«

Jemand aus der hinteren Reihe begann zu klatschen. Plötzlich setzte allgemeiner Applaus ein. Vielleicht hatte Karl damit angefangen. Jedenfalls lächelte Anton ziemlich kindisch nach dem Applaus.

Er begann über den Kampf gegen den Faschismus zu sprechen. Die Leute im Saal blieben nicht so ruhig wie zuvor.

Anton dachte: »Welche Art Kampf habe ich geführt? Viele dort unten haben Monate und Jahre in Konzentrationslagern verbracht. Vielleicht bin ich nicht der Richtige, um für irgendwen zu sprechen. Aber sind sie es denn?«

Er fuhr fort: »Wir möchten unsere Feinde angreifen, die zufällig auch die Feinde des wahren Deutschlands sind – innerhalb Deutschlands. Und die Feinde der Welt – überall. Niemand ist frei von Fehlern. Es ist bequem, besonders wenn man jung und stolz darauf ist, besonnen zu sein – es ist verdammt bequem, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Wir jungen Leute müssen uns mal mehr, mal weniger Schwierigkeiten stellen als ihr mit euren Leiden und Erfahrungen. Man behauptet, dass die Leben von vielen von euch eigentlich viel zu bequem waren. Ich selbst hatte vor 1933 ein ganz bequemes Leben in einem schönen Haus, mit meiner Familie, meinen Eltern, Schwestern …«

Im Saal herrschte ein wenig Unruhe. Jemand in der ersten Reihe flüsterte etwas ins Ohr des Literaturkritikers Bach: »Er schweift ab!« Karl in der hinteren Reihe erkannte nun die Gefahr, dass Anton einmal mehr ins Traumland abwanderte. Karl hätte ihm am liebsten etwas zugerufen. Doch Anton schrie gleichzeitig aus vollem Hals, als wollte er sich selbst aufwecken: »Den Faschismus bekämpfen bedeutet, die Bestie im eigenen Herzen zu bekämpfen. Wir wollen nicht wie Tiere oder Sklaven leben. Wenn wir auf der Stufe von Tieren oder Sklaven bleiben wollten, gejagt und verfolgt, mit ein wenig Glück zwischendurch wie ein Mauerblümchen hinter Mauern und Gittern – dann hätten wir ebenso gut in Nazi-Deutschland bleiben können. Wir haben die Heimat verlassen oder wurden über die Grenze geschickt, weil wir uns als weder willig noch fähig erwiesen, an den blutigen Streichen der Nazis teilzunehmen, an ihrem Stechschritt und ihren opernhaften Gruselshows.«

Wieder wurde applaudiert. Anton kam nun richtig in Fahrt, wie in einer reißenden Strömung. Er sagte etwas über die Ziele der Jugendbewegung. Seine Stimme blieb während seiner übrigen Rede ebenso laut.

Er sagte: »Die Bestie erobert nur das Individuum. Wir wollen gemeinsam arbeiten. Dank dieses Gemeinschaftsgefühls werden wir feststellen, dass all unsere jugendlichen Bestrebungen und Versuche nichts anderes sind als ein Kurzschriftsymbol für die Mühen, Leiden und Anstrengungen der enterbten, betrogenen und beraubten Völker der ganzen Welt.«

Niemand klatschte, obwohl Anton damit gerechnet hatte. Anton war ziemlich wütend. Er dachte an die jungen Männer mit den schweren Stiefeln in der Garderobe. Er dachte, wie weit die Ideale von der Realität entfernt waren, zum Beispiel das Ideal des Proletariats vom einzelnen Proletarier. Sogar die Nazis waren Proletarier. Man fürchtete sie. Aber warum hatte er Angst vor ihnen allen?

»Wir sind jung«, rief er. »Junge Leute sind angeblich mutig, manchmal sogar tollkühn und unbesonnen. Man sagt, wir hätten die Reihen des Feindes bei Langemarck singend und scherzend gestürmt. Glauben Sie kein Wort davon! Wir sind nicht mutiger als ihr! Im Gegenteil. Außer der Angst vor dem Tod, die ihr alle verspürt, haben wir auch noch Angst vor dem Leben, und manchmal versuchen wir beide Ängste loszuwerden, indem wir sogenannte kühne Taten vollbringen. Wir hatten genug davon. Wir wollen bewusster werden. Wir wollen bewusst Ängste vertreiben und Misstrauen verjagen. Wir wollen versuchen – mit offenen Augen und mit unseren leider sehr begrenzten, aber angespannten Kräften –, daran teilzunehmen, den Tod vom Antlitz der Erde zu fegen …«

Nun sprach er mit leiser Stimme. Eigentlich war er fast fertig. Was er gerade gesagt hatte, stand nicht in seinem Manuskript. Er wollte noch mehr sagen. Er fürchtete sich nicht. Er war jung und hatte keine Angst vor dem Tod.

Er sagte: »Und jetzt, zum Abschluss meiner Rede, möchte ich an zwei Menschen erinnern, die sich nicht scheuten, ihr Leben für unsere Ideale zu opfern, die auch die ihren waren. Ich bitte das Publikum einige Augenblicke aufzustehen, zum ehrenvollen Gedenken an Frau Josefa Stern und Fräulein Clara Stern.«

Anton trat von der Bühne ab, wobei er fast über zwei Stufen gestolpert wäre. Er nahm seinen Platz in der Nähe von Dr. Marcus ein. Die Zuhörer wussten nicht, was sie tun sollten. Einige applaudierten, einige standen auf. Ein Raunen ging durch den Saal. Schließlich nahmen die meisten Haltung an, und später gab es ein wenig Applaus. Nicht viel. Anton hatte höchstwahrscheinlich seinen ganzen Auftritt vermasselt. Vielleicht absichtlich. Die Lichter gingen an und jemand kündete den nächsten Programmpunkt an.

Anton setzte sich neben Nellie. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und sagte: »Ganz gut. Du bist ein- oder zweimal hängengeblieben. Völlig unnötig, das über die Sterns.«

Anton vergaß alles über seine Rede. Er spürte Nellies Hand in seiner. Ihre war kühl, seine heiß. Er lauschte nicht einmal der Musik. Ein geflüchteter Pianist spielte die Apassionata.

VI. Nachricht aus Österreich

Nach dem Treffen gingen Nellie und Anton ins Kino. Sie sahen Angels with Dirty Faces, einen sehr spannenden Film, und waren fasziniert von der Härte der Schattenwelt, die ihnen für kurze Zeit wirklicher vorkam als ihre eigene Welt.

Leider konnten sie nirgendwo hingehen. Mr. Miller war immer noch in seinem Appartement, was sehr ungewöhnlich war, denn normalerweise ging er abends aus. Also mussten sie sich die Zeit vertreiben und besuchten verschiedene Lokale in Soho, ein billiges Restaurant und ein noch billigeres Kaffeehaus, und sie hörten Musik, aßen und tranken viel, und Anton war sehr verliebt in Nellie. Er wollte ihr ganz nah sein, und er hasste die Leute auf den Straßen und im Restaurant, nur weil sie da waren, und er hasste die Welt, die keine Welt für Liebe war.

Anton zahlte die Rechnung mit dem Geld aus der Kasse des Freien Deutschland. Ja, er war betrunken. Er sehnte sich nach Nellies weißen Armen und nach ihren attraktiven, wenn auch molligen Schultern. »Mit sauberen Händen, schuldlos« – doch er hatte auch seine Rede vergessen.

Schließlich schien die Zeit reif, um sich auf den Heimweg zu machen, also gingen sie durch die leeren Straßen von Bayswater, die im warmen Regen miteinander verschmolzen. Sie redeten wie im Traum.

Nellie wagte nicht, zu den Fenstern hinaufzuschauen, um nachzusehen, ob dort noch Licht brannte und Mr. Miller noch zu Hause war.

»Liebling«, sagte Anton, als sie die Tür erreichten. »Liebste. Liebling.«

»Still«, sagte Nellie. Sie suchte nach ihrem Schlüssel. Ein kleiner dicker Mann erhob sich von der Treppe.

»Hallo, Anton! Endlich! Höchste Zeit, dass du kommst.«

»Hallo, Karl«, sagte Anton sanftmütig. »Woher wusstest du …? Wie bist du hierher …?« Nellie hatte sich im Eingang untergestellt. Es regnete.

»Egal«, sagte Karl. Er gab Anton ein Papier. »Lies das. Ich habe überall nach dir gesucht. Ich wünschte, du wärst nicht fortgelaufen.«

Nellie sagte etwas, aber Anton verstand es nicht. Er ging ein paar Schritte zur nächsten Straßenlaterne.

Es war ein Telegramm. Es kam von Mama. Fast fehlerlos stand da gedruckt in der internationalen Telegrammschrift:

VATERS ZUSTAND KRITISCH BITTE KOMMT BEIDE ODER SCHICK WENIGSTENS ANTON ALLES LIEBE MAMA.

Anton schwieg. Nellie stand zwischen den beiden Brüdern. Karl sagte: »Du musst fahren. Ich kann nicht. Zum Glück hast du einen Pass. Wenn es nach dir gegangen wäre, hättest du nie die deutsche Botschaft besucht. Du fährst morgen früh über Ostende.«

Nellie legte ihren Arm um Antons Schulter, sodass sie das Telegramm lesen konnte. Er roch ihren Körper, den er so sehr begehrt hatte. Sein Vater lag im Sterben.

»Grundgütiger!«, rief Nellie. Sie küsste Anton rasch auf die Wange.

Karl musterte das Paar aus einiger Entfernung. Dann sagte er: »Nein, du bekommst keine Schwierigkeiten mit den Nazis wegen deines Passes. Zeig ihnen einfach dieses Telegramm.« Anton sprach kein Wort. Österreich. Zurück nach Österreich? Nellie sagte: »Tatsächlich? Glauben Sie wirklich? Und seine heutige Rede?«

»Niemand schert sich um solche Reden«, sagte Karl. Er wurde immer unruhiger, weil Nellie sie nicht allein ließ. »Denk nicht dran. Ein achtzehnjähriger Bursche. Ein Arier, wie sie behaupten.« Karl lächelte spöttisch.

»Ebenso arisch wie Sie«, sagte Nellie giftig. »Warum gehen Sie nicht?«

»Ja«, sagte Karl. »Warum gehe ich nicht?«

»Du spinnst«, sagte Anton zu Nellie. »Karl war sein ganzes Leben ein Revolutionär der ersten Reihe, nicht nur ein Schwätzer wie wir. Ach, Karl …« Er umarmte Karl. Regen spritzte ihnen ins Gesicht. Es roch nach Rauch.

»Geld ist eine andere Frage«, sagte Karl. »Wer bezahlt die Reise? Woher bekommen wir so rasch das Geld?«

Karl war in die Mitte des Gehsteigs getreten und rümpfte die Nase. Ein Polizist ging vorbei.

Anton sagte ruhig: »Bist du deshalb hergekommen?«

Karl antwortete: »Ich verstehe nicht.« Im matten Schein der Straßenlaterne konnte man unmöglich seinen Gesichtsausdruck erkennen.

»Ich verstehe Sie sehr gut«, sagte Nellie. »Wartet dort drüben. In der zweiten Straße zu eurer Rechten gibt es einen Kaffeestand. Ich bin in fünf Minuten wieder da.«

»Was wirst du tun?«, fragte Anton. Er legte ihr den Arm um die Taille, als gehörte sie wirklich ganz allein ihm.

»Sei still«, sagte sie. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Sie hasste Karl, der sie eben gezwungen hatte, ihre Vergnügungen aufzugeben. Sie wollte ihm zeigen, was sie wert war. »Sei still. Ich habe sein Scheckheft unter Verschluss.«

Sie öffnete die Tür und ging hinein. Die beiden Brüder überquerten die Straße. Sie sprachen kein Wort. Anton konnte jetzt ganz deutlich erkennen, dass im ersten Stock Licht brannte. Vielleicht war Nellie schnell nach oben gelaufen und hatte es selbst eingeschaltet.

Sie fanden den Kaffeestand. Sie gingen zur Theke und bestellten zwei Tee. Der Tee war Spülwasser, und mit Zucker wurde er auch nicht besser. Wenn man wollte, konnte man sich auf eine schmale Bank setzen. Zwei junge Kerle standen hinter der Theke. Neben Anton standen zwei alte Männer, Teetassen in der Hand.

Einer von ihnen sagte: »Wenn du es wirklich wissen willst, sag ich’s dir …« Dann schaute er sich misstrauisch um und zeigte, dass ihm nicht das Geringste daran lag, diese beiden Fremden in sein Geheimnis einzuweihen. Er flüsterte etwas ins Ohr des anderen Alten. Der junge Mann an der Teemaschine lächelte Anton an. Der andere junge Mann sagte verächtlich: »Pferde!«

Karl und Anton mussten viel länger als fünf Minuten warten. Anton dachte an tausend Dinge. Ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Karl schwieg ebenfalls. Nach einer halben Stunde sagte Karl: »Sie kommt nicht zurück. Gehen wir.« Anton sagte: »Trinken wir noch eine Tasse Tee.«

»Noch zwei Tee«, sagte Karl und legte ein paar Münzen auf den Tisch. »Wir müssen das Geld irgendwo anders auftreiben. Glaubst du, dass Marcus für diesen Zweck etwas Bargeld hat? Er mag dich doch so sehr.«

»Hör auf damit, bitte«, sagte Anton. »Sie kommt schon.« Er erinnerte sich an den Film, den er eben gesehen hatte, und an das Gesicht des Verbrechers, der in die Todeszelle getrieben wurde, und wie er vor Angst geschrien hatte. Nun, Vater hatte bestimmt eine Lungenentzündung und litt wahrscheinlich unter derselben Angst. Angst vor dem Tod.

»Sie ist wohl mit Mr. Miller ins Bett gestiegen«, meinte Anton trocken. »Scheint ein ziemlich dreister Gentleman zu sein.«

Karl tat so, als hätte er ihn nicht gehört. Er sagte. »Du … du hast immer die falsche Einstellung! Natürlich muss man die deutschen Pässe nehmen, solange wir sie noch bekommen können. Edelmut! Erhabenheit! Quatsch! Das zählt nicht, das zählt einfach nicht. Ich rechne nicht damit, dass du irgendwelchen Ärger haben wirst.«

»Nein«, sagte Anton. »Ich rechne nicht mit irgendwelchen Schwierigkeiten. Ich bin dir dankbar dafür.«