Zwei in einem Herzen - Josie Silver - E-Book

Zwei in einem Herzen E-Book

Josie Silver

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Beschreibung

Bist du mutig genug, um die Liebe erneut in dein Herz zu lassen?

Als Lydias große Liebe Freddie mit Ende Zwanzig bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kommt, bricht für sie eine Welt zusammen. Nur in ihren Träumen, in denen sie Freddie begegnet, kann sie glücklich sein. Doch Lydia findet Trost bei Jonah, Freddies bestem Freund, der neben ihm saß, als der Unfall passierte. Jonah ist der einzige Mensch, der Lydias Schmerz wirklich verstehen kann, der Einzige, für den Freddie genauso wichtig war wie für sie. Und als Jonah an einem Silvesterabend vor ihrer Tür steht, scheint aus ihrer Freundschaft etwas anderes geworden zu sein. Doch beide wissen, dass diese Liebe niemals sein darf …

»Dieses Buch ist ein Geschenk – wunderschön und gefühlvoll!« Jodi Picoult

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Seitenzahl: 548

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Zum Buch

Lydia und Freddie. Freddie und Lydia. Es ist die große Liebe für immer, dachte Lydia. Doch dann stirbt Freddie bei einem Autounfall und nichts ist mehr, wie es war. Lydia versinkt in tiefer Trauer, die ihr schlaflose Nächte bereitet, bis ihre Mutter schließlich den Arzt überzeugt, ihr ein Schlafmittel zu verschreiben. Das Unglaubliche geschieht: In ihren Träumen betritt Lydia eine Welt, in der es den Unfall nie gegeben hat. Hier ist sie endlich wieder vereint mit ihrer großen Liebe. Das Wissen, dass sie Freddie nachts wiedersehen wird, gibt ihr Kraft, die Tage zu überstehen. Doch irgendwann spürt sie, dass sie sich nicht länger vor dem echten Leben verstecken kann. Ausgerechnet Jonah, Freddies bester Freund, gibt ihr das Gefühl, nicht allein mit ihrem Schmerz zu sein. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich einem Menschen nochmal so nah fühlen könnte. Doch sie muss sich entscheiden. Welches Leben soll sie wählen – Traum oder Wirklichkeit?

Zur Autorin

Josie Silver ist eine hoffnungslose Romantikerin, die ihren Ehemann an seinem 21. Geburtstag kennenlernte, nachdem sie ihn fast über den Haufen gerannt hätte. Mit ihm und ihren beiden Kindern lebt sie in einer kleinen Stadt in den Midlands.

Lieferbare Titel

Ein Tag im Dezember

JOSIE SILVER

ROMAN

Aus dem Englischen von Babette Schröder

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Two Lives of Lydia Bird erschien erstmals 2020 bei Penguin Random House UK, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 06/2020

Copyright © 2020 by Josie Silver

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sandra Ladwig

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur unter Verwendung von Gettyimages (Fabrice LEROUGE, A-Digit, WLADIMIR BULGAR, shan.shihan); NG Image Collection (Babak Tafreshi)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24738-6V002www.heyne.de

Für meine Schwester, die beste Freundin meines Lebens.Was für ein Glück,dass wir uns haben.

Prolog

Lebensverändernde Momente ereignen sich meist, wenn man nicht damit rechnet. Manchmal wird einem ihre Bedeutung erst im Nachhinein bewusst. Das letzte Mal, dass man sein kleines Kind auf der Hüfte getragen hat. Der Moment, in dem man einen Blick mit einer Fremden tauscht und einvernehmlich die Augen verdreht, woraufhin diese zur besten Freundin wird. Ein Sommerjob, für den man sich spontan bewirbt und dann die nächsten zwanzig Jahre macht. Solche Dinge. Und so ist auch mir keineswegs bewusst, dass es sich um einen solchen Moment handelt, als am 14. März 2018 um achtzehnuhrsiebenundvierzig mein Handy klingelt. Stattdessen fluche ich leise vor mich hin, weil sich ein Lockenwickler in meinem Haar verheddert hat und ich schon zu spät dran bin.

»Hallo?«

Als ich auf Freisprechen tippe und Freddie über den Straßenlärm hinweg schreien höre, muss ich lächeln.

»Ich bin dran«, sage ich laut mit Haarnadeln zwischen den Zähnen.

»Hör zu, Lyds, Jonahs Wagen streikt, darum fahre ich auf dem Rückweg schnell bei ihm vorbei und hole ihn ab. Das dauert nicht lange, höchstens zehn Minuten.«

Ich bin froh, dass er in diesem Moment meinen Gesichtsausdruck nicht sehen kann. War es Prinzessin Diana, die sagte, sie wären in ihrer Ehe zu dritt gewesen? In meiner sind wir es auch. Freddie Hunter und ich sind zwar noch nicht verheiratet, aber fast. Wir sind verlobt, und ich bin offiziell fast die glücklichste Frau der Welt. Um das »fast« zu erklären, verweise ich auf die Bemerkung weiter oben, denn es gibt Freddie, mich und Jonah Jones.

Ich verstehe Freddie. Schließlich telefoniere ich auch jeden Tag mit meiner Schwester, aber Elle sitzt nicht ständig auf unserem Sofa, trinkt unseren Tee und fordert meine Aufmerksamkeit. Wobei Freddies bester Freund eigentlich nicht fordernd ist. Jonah ist so entspannt, dass er sich meist in der Horizontalen befindet, und ich mag ihn – ich würde ihn nur noch mehr mögen, wenn ich ihn nicht so oft sehen würde. Heute Abend zum Beispiel. Freddie hat Jonah zum Abendessen eingeladen, ohne mich vorher zu fragen – dabei habe ich Geburtstag.

Ich gebe den Kampf mit dem Lockenwickler auf, spucke die Haarnadeln aus und nehme stattdessen gereizt das Telefon in die Hand.

»Mensch, Freddie, muss das sein? Wir haben für acht Uhr bei Alfredo reserviert. Wenn wir zu spät kommen, vergeben die den Tisch anderweitig.«

Das weiß ich aus bitterer Erfahrung: Unsere Firmenweihnachtsfeier endete in einem Desaster, weil wir genau zehn Minuten zu spät kamen und schließlich alle in feinem Zwirn bei McDonald’s landeten. Heute findet mein Geburtstagsessen statt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Mutter wenig begeistert sein wird, wenn sie einen Big Mac statt Fettuccine mit Hähnchen serviert bekommt.

»Beruhige dich, Aschenputtel, du kommst nicht zu spät zum Ball. Versprochen.«

Typisch Freddie. Er nimmt das Leben einfach nie ernst, auch bei den wenigen Gelegenheiten nicht, bei denen das ausnahmsweise ganz schön wäre. In seiner Welt ist die Zeit dehnbar, er kann sie seinen Bedürfnissen anpassen – oder, wie in diesem Fall, Jonahs Bedürfnissen.

»Okay«, seufze ich resigniert. »Aber beeil dich, Herrgott.«

»Verstanden«, sagt er und dreht bereits das Autoradio auf. »Roger. Over.«

Im Schlafzimmer herrscht Stille. Ob es wohl irgendjemandem auffallen würde, wenn ich das Haarbüschel abschneide, das sich in dem Lockenwickler verfangen hat?

Und das war er. Mein lebensverändernder Moment glitt am 14. März 2018 um achtzehnuhrsiebenundvierzig unbemerkt an mir vorbei.

2018

Wach

DONNERSTAG, 10. MAI

Vor sechsundfünfzig Tagen ist Freddie Hunter, auch bekannt als die große Liebe meines Lebens, gestorben.

Im einen Moment verfluche ich ihn, weil er zu spät kommt und mir mein Geburtstagsessen verdirbt, im nächsten versuche ich zu begreifen, was die zwei uniformierten Polizistinnen in meinem Wohnzimmer machen. Eine hält meine Hand, während sie mit mir spricht, und ich starre auf ihren Ehering, dann auf meinen Verlobungsring.

»Freddie kann nicht tot sein«, sage ich. »Wir heiraten nächstes Jahr.«

Mein Selbsterhaltungstrieb verhindert, dass ich mich genau erinnern kann, was anschließend passiert ist. Ich weiß noch, dass man mich im Streifenwagen mit Blaulicht in die Notaufnahme gefahren hat und dass meine Schwester mich gestützt hat, als mir im Krankenhaus die Beine wegsackten. Ich erinnere mich, dass ich Jonah Jones den Rücken zugedreht habe, als er fast ohne eine Schramme im Wartezimmer erschien. Nur eine Hand war verbunden, und oberhalb von seinem Auge klebte eine Kompresse. Ist das gerecht? Zwei steigen ins Auto und nur einer steigt wieder aus. Ich erinnere mich, was ich anhabe, eine neue grüne Bluse, die ich mir extra für das Abendessen gekauft hatte. Ich habe sie einem Wohltätigkeitsladen gegeben, weil ich sie nicht mehr tragen wollte.

Seit jenem grausamen Tag habe ich mir unzählige Male das Hirn zermartert und versucht, mir jedes einzelne Wort des letzten Gesprächs mit Freddie ins Gedächtnis zu rufen. Ich weiß, dass ich genörgelt habe, weil er knapp in der Zeit war. Und dann kommen die Fragen. Hat er sich meinetwegen beeilt? Ist der Unfall meine Schuld? Ich wünschte, ich hätte ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Hätte ich gewusst, dass ich das letzte Mal mit ihm spreche, hätte ich es ihm natürlich gesagt. Manchmal wünsche ich mir, er hätte so lange gelebt, dass wir noch ein einziges Gespräch hätten führen können – andererseits weiß ich nicht, ob mein Herz das ertragen hätte. Wahrscheinlich ist es am besten, es ist einem nicht bewusst, wenn etwas Bedeutsames zum letzten Mal geschieht. Das letzte Mal, dass meine Mutter mich von der Schule abholt und ihre Hand sich beruhigend um meine kleine Hand schließt. Das letzte Mal, an dem sich mein Vater an meinen Geburtstag erinnert.

Wisst ihr, was Freddies letzte Worte waren, als er an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag zu mir unterwegs war? »Roger. Over.« Es war eine Angewohnheit von ihm, jahrelang hat er diesen Quatsch zum Abschied gesagt, und jetzt gehören diese Worte mit zu den bedeutendsten meines Lebens.

Vermutlich passt es zu Freddie, dass er sich mit diesen Worten verabschiedet hat. Er hatte einen unstillbaren Lebenshunger, Wagemut gepaart mit tödlichem Ehrgeiz – tödlichem Spaß, wenn man so will. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der ein derartiges Talent hat, immer das Richtige zu sagen. Er besitzt – besaß – die Gabe, anderen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie gewonnen haben, obwohl er im Grunde genau das bekommen hatte, was er wollte. Er begann in der Werbung und schoss ungebremst die Karriereleiter hinauf, den Blick stets auf den nächsten Preis gerichtet. Er ist – war – der Schlaueste von uns, derjenige, der aufgrund seiner Persönlichkeit oder irgendeiner tollen Tat den Menschen auch nach seinem Tod lange im Gedächtnis geblieben wäre.

Und jetzt ist er verdammt noch mal tot, sein Auto hat sich um eine Eiche gewickelt, und ich fühle mich, als hätte mich jemand aufgeschlitzt und einen Knoten in meine Luftröhre gedreht. Es ist, als würde nicht genug Luft in meine Lungen gelangen – ich bin ständig außer Atem und kurz davor, in Panik zu geraten.

Nachdem meine Mutter den Arzt gestern im Wohnzimmer angeschrien hatte, hat er mir schließlich ein Schlafmittel verschrieben, eine Monatspackung irgendeines neuen Medikaments. Er tat es widerwillig, weil er eigentlich der Meinung ist, dass man »Trauer durchleben muss, um sie zu überwinden«. Diesen Scheiß habe ich mir nicht ausgedacht. Das hat er tatsächlich vor ein paar Wochen zu mir gesagt, und dann ließ er mich mit leeren Händen zurück, um zu seiner äußerst lebendigen Frau und seinen Kindern nach Hause zurückzukehren.

Dass meine Mutter um die Ecke wohnt, ist Fluch und Segen zugleich. Wenn sie zum Beispiel ihre großartige Hühnersuppe kocht und einen noch heißen Topf davon vorbeibringt, oder wenn sie an einem kalten Novembermorgen am Ende der Straße auf mich wartet, um mich zur Arbeit zu fahren – dann ist die Nähe Gold wert. Wenn ich aber mit einem heftigen Kater im Bett liege und sie in mein Schlafzimmer platzt, als wäre ich noch immer siebzehn, oder wenn ich ein paar Tage nicht aufgeräumt habe und sie mich von oben herab mustert, als wäre ich einer dieser TV-Messies – dann ist unsere Nähe ein Fluch. Ebenso, wenn ich in Ruhe trauern will, deshalb die Wohnzimmervorhänge um drei Uhr nachmittags noch zugezogen sind und ich drei Tage lang denselben Pyjama trage. Wenn sie mir Tee kocht, den ich zu trinken vergesse, und Sandwiches macht, die ich hinten in den Kühlschrank packe, während sie oben das Bad putzt oder den Müll rausbringt.

Natürlich weiß ich, dass sie mich nur schützen will, insbesondere im Moment. Der Arzt hatte ihretwegen geradezu vor Angst gezittert, als er zögerte, mir Schlaftabletten zu verschreiben. Ich bin mir tatsächlich auch nicht sicher, ob ich die Tabletten nehmen soll, wobei die Vorstellung, sich ins Nirwana zu schießen, weiß Gott verlockend ist. Ich weiß nicht, warum ich hier Gott ins Spiel bringe. Freddie ist, war und wäre immer ein überzeugter Atheist gewesen, und ich habe bestenfalls eine zwiespältige Haltung zu Gott. Von daher gehe ich nicht davon aus, dass Gott etwas damit zu tun hat, dass ich in eine klinische Studie für Hinterbliebene aufgenommen wurde. Der Arzt empfahl mir vermutlich, an der Studie teilzunehmen, weil meine Mutter extrem starkes Valium für mich gefordert hatte und diese neuen Tabletten als milder gelten und sich für einen eher ganzheitlich orientierten Ansatz eignen. Ehrlich gesagt, ist es mir ziemlich egal, was sie sind. Ich bin so oder so die traurigste und müdeste Probandin der Welt.

Freddie und ich besitzen dieses fantastische Bett. Es klingt unglaublich, aber das Savoy hat damals Hotelbetten zum Schleuderpreis versteigert, um Platz für neue zu schaffen, und dieses Bett ist eine Trauminsel von epischen Ausmaßen. Zuerst haben die Leute die Augenbrauen hochgezogen: Ihr kauft ein gebrauchtes Bett? »Warum um alles in der Welt macht ihr das?«, fragte meine Mutter derart fassungslos, als hätten wir ein vom Obdachlosenheim entsorgtes Klappbett erstanden. Diese Zweifler haben ganz offensichtlich nie im Savoy übernachtet. Ich zwar auch nicht, aber ich hatte im Fernsehen einen Bericht über die handgefertigten Betten gesehen und wusste genau, was ich erwarb. Und so kamen wir zu dem bequemsten Bett im Umkreis von hundert Meilen. Freddie und ich haben darin unzählige Sonntagsfrühstücke genossen, gelacht und geweint und uns innig geliebt.

Als meine Mutter mir einige Tage nach dem Unfall sagte, sie habe die Bettwäsche gewechselt, löste sie damit bei mir unabsichtlich einen Nervenzusammenbruch aus. Ich sah mir von außen dabei zu, wie ich mich schluchzend an die Tür der Waschmaschine klammerte, während die Wäsche durch die Seifenlauge wirbelte und die letzten Spuren von Freddies Duft den Abguss hinuntergespült wurden.

Meine Mutter war außer sich, versuchte, mich vom Boden hochzuziehen und rief meine Schwester zu Hilfe. Am Ende kauerten wir zu dritt auf den nackten Dielen und beobachteten die Bettwäsche, alle drei in Tränen aufgelöst, weil es so verdammt ungerecht ist, dass Freddie nicht mehr da ist.

Seitdem habe ich nicht mehr in dem Bett geschlafen. Vielmehr glaube ich, dass ich seitdem kaum noch richtig geschlafen habe. Manchmal nicke ich ein: den Kopf auf dem Tisch neben meinem unberührten Frühstück; auf dem Sofa zusammengerollt unter Freddies Wintermantel; sogar im Stehen an den Kühlschrank gelehnt.

»Komm, Lyds«, sagt meine Schwester jetzt und schüttelt mich sanft an der Schulter. »Ich komme mit nach oben.«

Verwirrt sehe ich auf die Uhr, weil es taghell war, als ich die Augen geschlossen habe, und jetzt ist es so dämmerig, dass jemand die Lampen eingeschaltet hat, vermutlich Elle. Sie ist so umsichtig. Ich habe immer schon gedacht, dass sie eine bessere Ausgabe meiner selbst ist. Was Größe und Körperbau angeht, sind wir uns sehr ähnlich, aber im Gegensatz zu mir ist sie dunkel: ihre Haare, ihre Augen. Außerdem ist sie netter als ich, meist zu nett. Sie war den Großteil des Nachmittags hier – ich glaube, meine Mutter hat einen Dienstplan aufgestellt, um sicherzugehen, dass ich nie länger als zwei Stunden alleine bin. Wahrscheinlich hängt er seitlich an ihrem Kühlschrank, direkt neben der Einkaufsliste, die sie jede Woche erstellt, und dem Essenstagebuch, das sie für ihren Abnehmkurs führt. Meine Mutter mag Listen.

»Wohin nach oben?«, frage ich, setze mich aufrechter hin und bemerke ein Glas Wasser und ein Röhrchen mit Tabletten in Elles Hand.

»Ins Bett«, sagt sie mit eiserner Stimme.

»Mir geht es gut hier unten«, murmle ich, obwohl man auf unserem Sofa nicht allzu bequem schläft. »Es ist noch nicht einmal Schlafenszeit. Wir können uns noch eine Soap ansehen …« Ich deute auf den Fernseher in der Ecke und versuche mich an irgendeine Soap zu erinnern, dann seufze ich gereizt, weil meinem müden Hirn keine einfällt. »Du weißt schon, die mit dem Pub, den Glatzköpfen und dem Gejohle.«

Sie lächelt und verdreht die Augen. »Du meinst EastEnders.«

»Genau die«, sage ich abwesend und sehe mich suchend nach der Fernbedienung um.

»Das ist jetzt schon zu Ende. Außerdem hast du EastEnders seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen«, sagt sie entschieden.

Ich verziehe das Gesicht. »Doch. Da ist … da ist diese Frau mit den baumelnden Ohrringen und … und die, die von Barbara Windsor gespielt wird«, sage ich und hebe das Kinn.

Elle schüttelt den Kopf. »Beide tot«, erklärt sie.

Die Armen, denke ich, und ihre armen Familien.

Elle streckt mir die Hand hin. »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, Lydia«, sagt sie sanft und energisch, mehr Krankenschwester als Schwester.

Tränen brennen in meinen Augen. »Ich glaube, ich kann nicht.«

»Doch«, sagt sie resolut, die Hand noch immer ausgestreckt. »Was willst du sonst machen? Den Rest deines Lebens auf dem Sofa schlafen?«

»Wäre das so schlimm?«

Elle hockt sich neben mich und nimmt meine Hand, die Tabletten in ihrem Schoß. »Ja, das wäre es, Lyds«, sagt sie. »Wenn Freddie anstelle von dir hier wäre, würdest du doch auch wollen, dass er irgendwann anständig schläft, oder?«

Ich nicke bedrückt. Natürlich.

»Du würdest hier herumgeistern, bis du ihn ins Bett gejagt hättest«, sagt sie und reibt mit ihrem Daumen über meine Knöchel. Fast ersticke ich an dem Kloß in meinem Hals, der seit dem Tag von Freddies Tod dort feststeckt.

Ich beobachte, wie sie eine kleine neonpinkfarbene Tablette aus dem Röhrchen in ihrer Handfläche schüttelt. Reicht das, um mich wieder in Ordnung zu bringen? Ein paar Wochen ausreichend Schlaf, und ich werde wie neu und wieder einsatzfähig sein?

Elle hält unbeirrt meinem Blick stand. Tränen laufen mir über die Wangen, als mir klar wird, wie fertig ich bin. Emotional und körperlich bin ich am Tiefpunkt angelangt. Oder zumindest hoffe ich das, denn ich glaube nicht, dass ich es überlebe, sollte ich noch tiefer fallen. Mit zitternden Fingern nehme ich die Tablette, stecke sie mir in den Mund und spüle sie herunter.

An meiner Schlafzimmertür drehe ich mich zu Elle um.

»Ich muss das allein machen«, flüstere ich.

Sie streicht mir das strähnige Haar aus den Augen. »Bist du sicher?«, fragt sie und mustert mich mit ihren dunklen Augen. »Wenn du willst, bleibe ich bei dir, bis du eingeschlafen bist.«

Ich schniefe und schaue auf den Boden. »Ich weiß«, sage ich, nehme ihre Hand und drücke sie fest. »Aber ich glaube, ich gehe besser …« Ich finde nicht die richtigen Worte. Ich weiß nicht, ob das bereits eine Wirkung der Tablette ist oder ob es einfach keine passenden Worte gibt.

Elle nickt. »Ich bin unten, wenn du mich brauchst, okay? Ich gehe nicht weg.«

Meine Finger schließen sich um die Klinke. Seit Mum die Bettwäsche gewechselt hat, habe ich die Tür geschlossen gelassen, ich wollte nicht auf dem Weg ins Bad versehentlich einen Blick auf das makellos saubere Bett werfen. In meinem Kopf habe ich aus dem Zimmer einen fremdartigen Ort gemacht, den man ebenso wenig betreten darf wie einen mit gelbem Band abgesperrten Tatort.

»Es ist nur ein Bett«, flüstere ich und schiebe langsam die Tür auf. Kein gelbes Absperrband hindert mich am Eintreten, und es sind keine Monster unter dem Bett. Aber es ist auch kein Freddie Hunter da, und das bricht mir das Herz.

»Nur ein Bett«, sagt Elle und streicht mir mit der Hand über den Rücken. »Ein Ort, um sich auszuruhen.«

Aber sie lügt. Uns beiden ist klar, dass es viel mehr ist. Dieses Zimmer, Freddies und mein Schlafzimmer, war einer der Hauptgründe, warum wir dieses Haus gekauft haben. Luftig, dank der tiefen Schwingfenster von Licht durchflutet und mit honigfarbenen Dielen, in klaren Sommernächten von hellen Streifen Mondlicht durchzogen sind.

Irgendjemand, vermutlich Elle, hat bereits die Nachttischlampe auf meiner Seite des Bettes eingeschaltet, und ein weicher Lichtkegel empfängt mich, obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen ist. Sie hat auch das Bett zurückgeschlagen, es erinnert mehr an ein Hotelzimmer als an ein Schlafzimmer. Der Duft von frisch gewaschener Bettwäsche umfängt mich, als ich die Tür schließe. Keine Spuren von meinem Parfum, gemischt mit Freddies Aftershave, keine vom Büro zerknitterten Hemden, die nachlässig über dem Sessel hängen, oder abgestreifte Schuhe, die es nicht mehr bis in den Kleiderschrank geschafft haben. Es ist makellos sauber. Ich komme mir vor wie ein Gast in meinem eigenen Leben.

»Es ist nur ein Bett«, flüstere ich wieder und setze mich auf den Rand. Mit geschlossenen Augen lege ich mich hin und rolle mich unter der Decke zusammen.

Wir haben übertrieben viel Geld für standesgemäße Wäsche für unser Savoy-Bett ausgegeben – weiße Baumwollwäsche mit einer höheren Fadenzahl als in den meisten Hotels, in denen ich jemals übernachtet habe. Als mein Körper über das Laken gleitet, merke ich, dass es schon warm ist. Elle, meine liebste Schwester, hat eine Wärmflasche hineingelegt und den sauberen Laken die Kälte genommen. Mein Bett, unser Bett, umschließt mich wie ein alter Freund, den ich eine Weile vernachlässigt habe.

Schmerzerfüllt liege ich auf meiner Seite der Matratze und strecke wie immer die Arme nach Freddie aus. Dann schiebe ich die Wärmflasche auf seine Seite und wärme das Laken an, bevor ich hinüberrutsche und sie mit beiden Armen an die Brust drücke. Ich vergrabe mein tränennasses Gesicht in Freddies Kopfkissen und heule wie ein verwundetes Tier, ein Laut, der ebenso fremd wie unkontrollierbar ist.

Und dann verhallt er nach und nach. Mein Herzschlag beruhigt sich, und meine Glieder werden bleischwer. Mir ist warm, ich fühle mich geborgen, und zum ersten Mal seit sechsundfünfzig Tagen bin ich ohne Freddie nicht verloren. Ich bin nicht verloren, weil ich, während ich in den Schlaf gleite, geradezu spüre, wie sein Gewicht auf die Matratze sinkt, wie er seinen Körper an meinen schmiegt, seinen Atem gleichmäßig in meinem Nacken. Rette mich aus diesen dunklen, unbekannten Gewässern, Freddie Hunter. Ich ziehe ihn dicht an mich und atme seinen Geruch ein, dann falle ich in einen tiefen, friedlichen Schlaf.

Im Schlaf

FREITAG, 11. MAI

Kennt ihr diesen wundervollen Moment an einem Sommermorgen, wenn die Sonne früh aufgeht, man halb wach ist und dann wieder einschläft, froh, noch ein bisschen schlummern zu können? Ich drehe mich um und stelle fest, dass Freddie noch immer bei mir ist. Darüber bin ich so erleichtert, dass ich ganz still liegen bleibe und versuche, in seinem Rhythmus zu atmen. Es ist vier Uhr morgens, zu früh, um aufzustehen, weshalb ich die Augen wieder schließe. Ich glaube, ich habe mich noch nie so wohlgefühlt. Das von unseren aneinandergeschmiegten Körpern warme Bett, das tiefgoldene Licht, ehe die Sonne aufgeht, das leise Gezwitscher der Vögel. Bitte, lass diesen Traum niemals enden.

Wach

FREITAG, 11. MAI

Noch bevor ich die Augen ein zweites Mal öffne, weiß ich, dass er fort ist. Das Bett fühlt sich kühler an, das Sonnenlicht um sechs Uhr morgens ist härter, und der Gesang der Vögel klingt, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen. Freddie war hier, ganz sicher. Ich vergrabe den Kopf im Kissen, schließe fest die Augen und suche in der Dunkelheit hinter meinen Lidern den Schlaf. Wenn ich schlafen kann, finde ich ihn vielleicht.

Tief in mir spüre ich Panik. Je mehr ich mich zu entspannen versuche, desto mehr läuft mein Gehirn auf Hochtouren und bereitet sich auf den bevorstehenden Tag vor – jede Menge dunkler Gedanken und verzweifelter Gefühle steigen in mir auf, mit denen ich nichts anfangen kann. Dann stockt mein Herz, denn mir fällt ein: Ich habe Schlaftabletten. Pinkfarbene Pillen, dazu gemacht, mich auszuschalten. Erleichtert nehme ich das Röhrchen, das Elle auf den Nachttisch gelegt hat, in die Hand, schraube es auf und schlucke eine Pille.

Im Schlaf

FREITAG, 11. MAI

Der Wecker informiert uns, dass es sieben Uhr morgens ist. »Morgen, Lyds.« Freddie dreht sich um und küsst mich auf die Stirn, sein Arm liegt schwer auf meinen Schultern. »Ich will heute nicht spielen. Wollen wir im Bett bleiben? Ich melde dich krank, wenn du mich krankmeldest.«

So etwas in der Art sagt er fast jeden Morgen, und ein paar Minuten tun wir so, als würden wir diese Idee ernsthaft erwägen.

»Bringst du uns dann das Frühstück ans Bett?«, murmle ich, lege meinen Arm um seinen warmen Körper und vergrabe das Gesicht in dem weichen Flaum auf seiner Brust. Es gefällt mir, dass er sich so kräftig anfühlt. Aufgrund seiner Größe und der breiten Schultern hat er eine starke körperliche Präsenz. Weil er die Statur eines Rugbyspielers besitzt, wird er in beruflichen Situationen manchmal unterschätzt, was er nur zu gern zu seinem Vorteil nutzt. Er ist durch und durch ehrgeizig.

»Solange du mittags frühstücken willst.« Ich höre das Lachen hinter seinem Brustbein, und er streicht mir über den Kopf.

»Klingt gut«, sage ich, schließe die Augen und atme seinen Geruch tief ein.

Wir kuscheln uns noch ein paar faule, himmlische Minuten aneinander und dösen vor uns hin, wobei uns bewusst ist, dass wir bald aufstehen müssen. Doch wir zögern es hinaus, weil es diese Momente sind, die zählen. Diese Momente schweißen Freddie und mich zusammen. Sie sind das Fundament unserer Liebe, ein unsichtbarer Umhang um unsere Schultern, wenn wir draußen in der Welt unserem Alltag nachgehen. Freddie wird nicht auf den interessierten Blick der faszinierenden Frau auf Bahnsteig vier eingehen, die auf den 7.47 Uhr-Zug wartet. Und ich albere zwar gern mit Leon herum, dem Barista in dem Café, in dem ich mir manchmal Mittagessen hole, flirte jedoch nicht mit ihm – auch wenn er wie ein Filmstar aussieht und unerhörte Dinge auf meinen Kaffeebecher schreibt.

Ich weine. Einen Moment weiß ich nicht, warum, dann fällt es mir wieder ein, und ich pumpe gierig Luft in meine Lungen, wie jemand, der aus dem tiefen Wasser wieder an die Oberfläche taucht.

Freddie schreckt hoch und fasst mit besorgter Miene meine Schulter. »Was ist los, Lyds?«, fragt er eindringlich, bereit, mich zu trösten, egal, was mir Kummer bereitet.

Ich bekomme keine Luft, der Atem brennt in meiner Brust.

»Du bist gestorben«, stoße ich die schrecklichen Worte schluchzend hervor, und mein Blick sucht sein geliebtes Gesicht nach Hinweisen auf den Unfall ab. Dort ist nichts, was auf die verhängnisvolle Kopfverletzung hindeutet, die sein Leben gefordert hat. Seine Augen haben ein so ungewöhnlich dunkles Blau, dass man sie aus der Ferne für braun halten könnte. Manchmal trägt er bei wichtigen Präsentationen eine schwarz gerahmte Brille mit Fensterglas und gaukelt eine Schwäche vor, wo keine ist. Jetzt sehe ich in diese Augen und streiche mit der Hand über die dunkelblonden Stoppeln auf seinem Kinn.

Ein leises Lachen steigt in ihm auf, und in seine Augen tritt ein erleichterter Ausdruck.

»Du Dummi«, sagt er und umarmt mich. »Du hast nur geträumt.«

Wie sehr wünschte ich, dass das wahr wäre. Ich schüttle den Kopf, darum nimmt er meine Hand und legt sie auf sein Herz.

»Mir geht es gut«, beharrt er. »Fühl doch nur, mein Herz schlägt.«

Das stimmt. Ich spüre es unter meiner Hand schlagen, und doch weiß ich, dass das nicht sein kann. Jetzt legt er seine Hand auf meine und lacht nicht mehr, weil er meine Verzweiflung sieht. Natürlich versteht er das nicht. Wie sollte er? Er ist nicht real, aber bei Gott, es fühlt sich anders an als alle anderen Träume, die ich jemals gehabt habe. Ich schlafe und bin trotzdem wach. Ich spüre seine Körperwärme und kann Spuren seines Aftershaves auf meiner Haut riechen. Ich schmecke meine Tränen, als er sich herunterbeugt und mich zärtlich küsst. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Während ich mich an ihm festhalte, versuche ich, flach zu atmen, als bestünde er aus Rauch und könnte davonwehen, wenn ich zu heftig Luft hole.

»Ein Albtraum, das ist alles«, flüstert er, streicht mir über den Rücken und lässt mich weinen, weil er nichts anderes tun kann.

Wenn er nur wüsste, dass das hier das Gegenteil eines Albtraums ist. Ein Albtraum ist es, wenn die ganze Familie schon um den Tisch im Restaurant versammelt ist, um Geburtstag zu feiern und man ungeduldig auf seinen Freund wartet.

»Du fehlst mir. Du fehlst mir so sehr,« schluchze ich. Ich zapple herum, und er legt sehr fest die Arme um mich und sagt, dass er mich liebt und dass es ihm gut geht. Uns beiden.

»Wir kommen zu spät zur Arbeit«, sagt er sanft nach ein paar Minuten.

Ich liege ruhig mit geschlossenen Augen da und versuche, mir das Gefühl seiner Arme um meinen Körper einzuprägen, um mich daran zu erinnern, wenn ich aufwache.

»Lass uns hierbleiben«, flüstere ich. »Lass uns für immer hierbleiben, Freddie.«

Er fasst in mein Haar und zieht sanft meinen Kopf nach hinten, damit er mir in die Augen sehen kann. »Ich wünschte, ich könnte«, sagt er, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. »Aber du weißt doch, das kann ich nicht. Ich leite heute Morgen dieses Meeting mit den PodGods«, ergänzt er, als müsste ich das wissen, was aber nicht der Fall ist.

»Den PodGods?«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Die Typen mit den Kaffeekapseln? Von denen hab ich dir erzählt, weißt du noch? Die sind zum Pitch alle mit neongrünen PodGods-T-Shirts und Baseballkappen erschienen.«

»Wie konnte ich die vergessen«, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe.

Er löst sich von mir und küsst mich auf die Wange.

»Bleib heute zu Hause«, sagt er mit besorgtem Blick. »Du nimmst dir nie einen Tag frei. Mach das heute einfach, ja? Ich bringe dir einen Tee.«

Ich widerspreche nicht, dabei bin ich seit sechsundfünfzig Tagen nicht bei der Arbeit gewesen.

Seit ich ihn an einem Spätsommernachmittag zum ersten Mal geküsst und seine DNA eingeatmet habe, hat sich mein Leben um Freddie Hunter gedreht. Es hatte sich schon eine Weile angebahnt – in der Schulkantine saß er stets neben mir, um mir mein Eis zu klauen, und im Klassenzimmer flogen eindeutige Bemerkungen zwischen uns hin und her wie bei einem Tennismatch. Auch wenn er eigentlich in eine andere Richtung musste, nahm er denselben Heimweg wie Jonah und ich, meist unter einem fadenscheinigen Vorwand – er müsse etwas für seine Mutter besorgen oder seine Oma besuchen. Als Jonah Windpocken bekam und zwei Wochen zu Hause bleiben musste, hatte ich keine Chance. Selbst jetzt habe ich noch Schmetterlinge im Bauch, wenn ich daran denke: Freddie schenkte mir einen Ring mit einer gelben Plastikblume, so wie sie in Knallbonbons stecken, dann küsste er mich auf der Mauer unseres Nachbarn.

»Wird sich deine Oma keine Sorgen um dich machen?«, fragte ich nach den fünf aufregendsten Minuten meines Lebens.

»Kaum. Sie wohnt in Bournemouth«, sagte er, und wir lachten, weil das mindestens hundert Meilen entfernt war.

Von da an war ich Freddie Hunters Freundin. Am nächsten Morgen schob er mir einen Schokoriegel zusammen mit einer Nachricht in die Tasche, in der er mir mitteilte, dass er mich nach Hause bringen würde. Von jemand anderem hätte das womöglich besitzergreifend wirken können, mein zartes Teenagerherz sah darin nur mitreißende Direktheit.

Jetzt beobachte ich, wie er sich entschieden in Richtung Bad bewegt, um die Dusche anzustellen, und zuvor ein sauberes weißes Hemd vom Kleiderbügel zieht.

»Ich will es ja nicht beschreien, aber ich glaube, die Sache ist unter Dach und Fach«, sagt er, als er kurz ein geschäftliches Telefonat führt, das Handy zwischen Ohr und Kinn geklemmt, um Unterwäsche aus der Schublade zu nehmen. Ich verfolge seine alltäglichen Bewegungen und reagiere mit einem brüchigen Lächeln, als er die Augen verdreht, weil sein Gesprächspartner nicht zum Schluss kommt.

Er verschwindet im Bad. Als ich das Wasser in der Dusche höre, setze ich mich auf und schlage die Decke zurück.

»Was geschieht mit mir?«, flüstere ich, stelle die Füße auf den Boden und setze mich auf die Bettkante wie ein Patient, der am offenen Herzen operiert worden ist. Denn so fühlt es sich an. Als ob jemand meine Brust geöffnet und mein Herz massiert hätte, damit es wieder zu pumpen beginnt.

»Ich glaube nicht an Märchen oder Zauberbohnen«, murmle ich und beiße mir so fest auf die zitternde Unterlippe, dass ich den unverkennbar metallischen Geschmack von Blut wahrnehme.

Freddie kommt in einer Dampfwolke aus dem Bad, steckt das Hemd in die Hose und knöpft sie zu.

»Ich muss los«, sagt er und greift nach seinem Telefon. »Wenn ich Wasser aufsetze, kannst du dir den Tee dann selbst machen? Wenn ich mich beeile, erwische ich den Zug noch.«

Genau deshalb haben wir uns für dieses Haus entschieden – weil der Bahnhof hier gleich um die Ecke ist, falls wir morgens spät dran sind. Freddies Job im Zentrum von Birmingham beansprucht genug seiner Zeit, darum ist es gut, wenn die Fahrt nicht allzu lange dauert. Mein eigener Arbeitsweg ins örtliche Rathaus ist kürzer, nur zehn Minuten brauche ich bis ins Parkhaus. Ich mag das denkmalgeschützte Gebäude, es erinnert mich irgendwie an ein Kinderbuch. Das krumme Fachwerkhaus am Ende der geschwungenen Hauptstraße gilt als das älteste Bauwerk der Stadt. In dem kleinen alten Shropshire-Städtchen stehen viele solcher Gebäude, und seine Einwohner sind sehr stolz auf den Eintrag im Domesday Book. Es hat viele Vorteile, in einer so kleinen Gemeinde aufzuwachsen. Viele Familien leben seit Generationen hier. Leicht übersieht man, wie viel das Leben in einer solchen Gemeinschaft wert ist, und fühlt sich schnell erdrückt, weil jeder alles über den anderen weiß. Doch all das kann auch sehr wertvoll und tröstlich sein, insbesondere in schwierigen Situationen.

Doch nicht nur wegen der Lage haben wir uns in das Haus verliebt: Wir hatten es zu Beginn des Frühjahrs besichtigt, als die Sonne den honigfarbenen Stein und die tiefen Erkerfenster bestens zur Geltung brachte. Es ist ein mittleres Reihenhaus, und es einzurichten erwies sich als Albtraum, weil es keine einzige gerade Wand oder Tür gibt. Das macht seinen Charme aus, habe ich jedes Mal gesagt, wenn Freddie sich den Kopf an dem tiefen, offen liegenden Küchenbalken stieß. Mir gefällt der Gedanke, dass die Einrichtung an Kate Winslets Haus in Liebe braucht keine Ferien erinnert: offene Regale, ein gemütliches Durcheinander. Ich habe die Einrichtung sorgfältig auf Flohmärkten zusammengesucht und wurde nur gelegentlich von Freddies Vorliebe für eher moderne Dinge gezügelt. Ein Kampf, den er jedoch stets verlor. Meine Elsternaugen lieben schöne Dinge, und ich bin viel auf Pinterest unterwegs.

Vor ein paar Tagen, nachdem ich mich gezwungen hatte, mich anzuziehen und im Spirituosengeschäft rasch meine Weinvorräte aufzufüllen, stellte ich auf einmal fest, dass ich nicht nach Hause gehen wollte. Das ist mir seit dem Morgen, an dem wir die Schlüssel bekommen haben, noch nie passiert, und als mir klar wurde, dass mein Zuhause nicht mehr mein Zuhause ist, schnürte sich mein Herz noch mehr zusammen. Ich hätte mir nie vorstellen können, das Haus zu verkaufen, aber in jenem Moment habe ich keine Verbindung zu ihm gespürt. Ich ging in die andere Richtung und drehte zwei Runden um den Park mit dem großen Kinderspielplatz, erst dann konnte ich nach Hause gehen. Und nachdem ich wieder zurück war, wollte ich seltsamerweise nicht mehr weg. Ich stecke voller Widersprüche – kein Wunder, dass meine Familie sich große Sorgen um mich macht.

Es war unser Haus, jetzt gehört es mir. Doch es macht keinen Spaß, mit achtundzwanzig frei von Hypotheken zu sein, wenn ich dafür ohne Freddie leben muss. Damals hatten wir beide den Eindruck, unser Finanzberater hätte uns mit der Lebensversicherung übers Ohr gehauen. Die Vorstellung, dass einem von uns etwas passieren könnte, bevor das Haus abbezahlt war, schien uns grotesk. Wie glücklich wir waren, wir fühlten uns so sicher.

Ich reiße mich aus meinen Gedanken und merke, dass ich schon wieder den Tränen nahe bin. Freddie sieht mich fragend an. »Ist es jetzt okay?«, fragt er, legt die Hand um mein Kinn und streicht mir mit dem Daumen über die Wange.

Ich nicke und drehe den Kopf, um seine Hand zu küssen, während er mich auf den Scheitel küsst. »Brav«, flüstert er. »Ich liebe dich.«

So würdelos es wäre, am liebsten würde ich mich an ihn klammern und ihn anflehen mich nicht wieder zu verlassen, aber das tue ich nicht. Wenn dies meine letzte Erinnerung an uns ist, möchte ich sie so gut es geht in meinem Herzen bewahren. Darum stehe ich auf, fasse das Revers von seinem Sakko und sehe in seine wunderschönen vertrauten blauen Augen.

»Du bist die Liebe meines Lebens, Freddie Hunter«, sage ich und bringe die Worte klar und deutlich heraus.

Er senkt den Kopf und küsst mich. »Ich liebe dich mehr als Keira Knightley.« Bei unserem üblichen Spiel lacht er leise.

»So sehr also?«, frage ich mit großen Augen, denn sonst steigen wir mit einer nicht ganz so attraktiven Person ein und arbeiten uns langsam hoch – er zu Keira und ich zu Ryan Reynolds.

»So sehr«, sagt er und wirft mir im Gehen einen Kuss zu.

Panik steigt in mir auf, und ich krümme auf den Dielen die Zehen, um ihm nicht hinterherzulaufen. Ich lausche, wie er die Treppe hinuntergeht, wie die Haustür ins Schloss fällt, und eile zum Schlafzimmerfenster, um ihn im Laufschritt zur Ecke gehen zu sehen. Weil ich mit den alten Verschlüssen kämpfe, schaffe ich es nicht, das Fenster rechtzeitig zu öffnen. Ich rufe seinen Namen, auch wenn ich weiß, dass er mich nicht hören wird. Warum habe ich ihn gehen lassen? Was, wenn ich ihn nie wiederfinde? Ans Fensterbrett geklammert, hefte ich den Blick auf seinen Rücken. Irgendwie erwarte ich, dass er verblasst, doch das tut er nicht. Er biegt nur um die Ecke und ist weg, bei irgendeinem Kaffeekunden, der Frau auf Bahnsteig vier, an Orten, an denen ich nicht sein kann.

Wach

FREITAG, 11. MAI

Ich erwache mit nassem Gesicht und einer verkrusteten Lippe, die nach Blut schmeckt. Ich nehme mein Smartphone zur Hilfe und stelle bei näherer Untersuchung fest, dass ich mir ziemlich heftig von innen auf die Unterlippe gebissen habe. Ich kann den Abdruck meiner Zähne erkennen, und die Lippe ist geschwollen wie nach einer missglückten Botoxbehandlung. Ich habe schon besser ausgesehen – Freddie hätte meine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kugelfisch sicher amüsiert.

Freddie. Erschöpft von meinem hyperrealen Traum oder was immer das war, schließe ich die Augen. Ich kann es nur mit dem neuesten Modell eines Fernsehers in einem Elektrogeschäft vergleichen. Ein nagelneues Gerät, das ein Vermögen kostet: Die Farben sind brillanter, die Konturen schärfer, der Ton klarer. Es war wie ein Film in Technicolor, als würde ich einen Film im IMAX sehen. Nein, eher als wäre ich selbst in einem Film im IMAX gewesen. Es war zu real. Freddie war lebendig, er hatte geduscht, war spät dran und machte Witze über Keira Knightley.

Ich zermartere mir das Hirn und versuche mich daran zu erinnern, ob er mir vor seinem Tod jemals von einem Kunden erzählt hat, der Kaffeekapseln produziert. Ganz sicher nicht. Es ist, als hätte Freddie die letzten siebenundfünfzig Tage hinter einem Schleier gelebt und wäre seinem Alltag nachgegangen, ohne sich um die Welt zu scheren.

Erneut überkommt mich das dringende Bedürfnis, wieder einzuschlafen, ihn zu suchen und in das Leben zurückzukehren, in dem Freddies Herz noch schlägt. In jener Welt ist er allerdings bereits unterwegs, um die Werbebranche mit weißen Manschetten und einem Lächeln zu erobern. Nachdem ich gestern Abend erst gar nicht ins Bett wollte, widerstrebt es mir jetzt zutiefst, aufzustehen und mich dem neuen Tag zu stellen. Ich brauche eine gute Viertelstunde, um mich aufzuraffen und das Schlafzimmer zu verlassen. Am Ende schließe ich einen Handel mit mir selbst: Wenn ich aufstehe und den Freitag hinter mich bringe, wenn ich dusche, esse und vielleicht sogar eine Weile das Haus verlasse, dann darf ich noch eine Tablette nehmen.

Ich esse früh zu Abend, gehe wieder ins Bett und vielleicht, nur vielleicht, werde ich den Abend mit meinem Liebsten verbringen.

Wach

SAMSTAG, 12. MAI

»Ich habe von Freddie geträumt«, sage ich und lege die Hände um meinen Kaffeebecher, eher um mich an ihm festzuhalten, als mich an ihm zu wärmen. Elle sieht über den Küchentisch zu mir und nickt nachdenklich.

»Das passiert mir auch hin und wieder«, sagt sie und rührt Zucker in ihren Kaffee. »Ehrlich gesagt, würde es mich eher überraschen, wenn du nicht von ihm träumen würdest.«

»Ach ja?« Ich schaue sie durchdringend an, damit sie mir ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, denn das hier ist wichtig. »Mir ist das bisher noch nie passiert.« Mein Magen zieht sich vor Enttäuschung zusammen. Der Traum fühlte sich viel zu intim an, um etwas Alltägliches zu sein.

Elle sieht auf die Küchenuhr.

»Bereit zum Aufbruch?«

Wir gehen zum Frühstück zu Mum. Das machen wir jetzt meist am Samstagmorgen. Anschließend gehe ich zu Freddies Grab. Es ist Mums Art, meinem Wochenende Struktur zu geben. Elle spart sich eine Bemerkung über meine ungekämmten Haare und das T-Shirt, das ich schon gestern anhatte. Es hat Freddie gehört. Meine Haare habe ich auch für ihn wachsen lassen. Er mochte sie lang, darum habe ich sie seit Jahren kaum schneiden lassen. Mit der Zeit wurden sie zu meinem Markenzeichen. Lydia, Freddies Freundin, die mit den langen, blonden Haaren.

Letzte Woche hätte ich wahrscheinlich meine Jeansjacke übergezogen, die Haare nachlässig mit einem Gummi zusammengebunden und das für gesellschaftsfähig gehalten. Aber es ist nicht letzte Woche. Wenn meine Begegnungen mit Freddie mir etwas gezeigt haben, dann, dass ich lebe, und Menschen, die leben, sollten sich pflegen. Selbst Freddie, der eigentlich nicht mehr lebt, hat geduscht.

»Gibst du mir zehn Minuten?« Ich werfe Elle ein schwaches Lächeln zu. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mich etwas schminke.« Seit der Beerdigung habe ich meinen Schminkbeutel nicht mehr angerührt.

Sie wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. Ganz offensichtlich habe ich sie überrascht.

»Also, ich wollte ja nichts sagen, aber du hast in letzter Zeit etwas mitgenommen ausgesehen«, sagt sie.

Bei ihrem Scherz zieht sich mein Magen zusammen. Wir haben uns immer so nah gestanden wie … vielleicht so nah wie Zwillinge? Nein, das trifft es nicht. So nah wie Schwestern passt aber auch nicht, weil es Schwestern wie meine Kollegin Julia und ihre ältere Schwester Marie gibt. Julia behauptet, Marie sei eine solche Kuh, sie könne unmöglich dieselben Gene wie sie haben. Und dann gibt es Schwestern wie Alice und Ellen, Zwillinge, mit denen ich zur Schule gegangen bin. Sie trugen die gleichen Klamotten und führten den Satz zu Ende, den die andere begonnen hatte, hätten sich jedoch gegenseitig vor den Bus gestoßen, um den Kapitän des Netball-Teams zu bekommen. Elle und ich, wir sind Monica und Rachel, Carrie und Miranda. Wir haben uns immer gegenseitig am lautesten angefeuert und uns stets am liebsten bei der anderen ausgeweint, und erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich mich von ihr zurückgezogen habe. Ich weiß, dass sie mir das keine Minute vorwirft oder übel nimmt, aber es muss hart für sie gewesen sein. In gewisser Weise hat sie nicht nur Freddie, sondern auch mich verloren. Ich nehme mir vor, ihr eines Tages, wenn es mir besser geht, zu sagen, dass sie an den dunklen Tagen manchmal der einzige Lichtblick war.

»Ich brauche nicht lange«, sage ich und schiebe den Holzstuhl kratzend über die Dielen.

»Ich mach mir in der Zeit noch was zu trinken«, sagt sie.

Ich lasse Elle in der Küche zurück, es beruhigt mich zu hören, wie sie Wasser laufen lässt und im Schrank klappert. Sie war hier immer ein häufiger und sehr willkommener Gast. Nicht annähernd so häufig wie Jonah Jones, versteht sich – er hat hier fast so viel Zeit mit Freddie verbracht wie ich. Oft lümmelten sie auf dem Sofa und sahen sich einen Film an, von dem noch niemals jemand gehört hatte, oder aßen Pizza vom Lieferservice, weil keiner von beiden ein Jamie Oliver war. Das habe ich Freddie nie gesagt, aber manchmal hatte ich das Gefühl, Jonah würde mir übel nehmen, dass er mir seinen besten Freund überlassen musste. Vermutlich ist die Drei immer eine schwierige Zahl.

»Kein David heute?«

Mum sieht an uns vorbei, als sie die Tür öffnet. Manchmal denke ich, dass sie David lieber hat als uns. So war es auch mit Freddie. Sie verwöhnt Männer gern auf diese Mutter-Sohn-Art.

»Heute Morgen sind wir allein, tut mir leid«, sagt Elle, klingt allerdings überhaupt nicht bedauernd.

Mum seufzt theatralisch. »Damit muss ich mich wohl abfinden. Obwohl ich ihn bitten wollte, die Sicherung im Stecker von meinem Föhn zu wechseln – der hat schon wieder den Geist aufgegeben.«

Elle fängt hinter Mums Rücken meinen Blick auf, und ich weiß genau, was sie denkt. David ist handwerklich völlig unbegabt. Wenn ein Regal aufgebaut, ein Zimmer gestrichen oder eben eine Sicherung ausgetauscht werden muss, ist Elle dafür zuständig. Unsere Mutter hängt jedoch an der altmodischen Vorstellung, dass David der Mann im Haus ist und alle männlichen Tätigkeiten übernimmt. Sie könnte die Sicherung sehr wohl selbst wechseln: Sie hat uns allein großgezogen, und wir sind nicht gestorben. Anscheinend denkt sie, es würde Davids Selbstwertgefühl stärken, wenn sie ihn mit seltsamen Aufgaben betraut. Er aber kann noch nicht einmal auf einen Tritt steigen, ohne dass ihm der Schweiß ausbricht. Vor einigen Wochen musste ich Mum in der Küche ablenken, während er für Elle die Leiter hielt, damit sie die Regenrinne reinigte. Wir spielen dieses Spiel alle mit. Freddie war der Macher in der Familie, und nachdem er nicht mehr da ist, wurde David gegen seinen Willen zum Handwerker in der Familie befördert.

»Es gibt Omelette mit Käse und Zwiebeln«, sagt Mum, als wir ihr in die Küche folgen. »Ich teste die neue Pfanne.« Sie wedelt mit in leuchtendem Pink.

»Aus dem Shopping-Kanal?«, fragt Elle und lässt ihre Tasche neben dem Küchentisch fallen.

Mum zuckt mit den Schultern. »Er war zufällig eingeschaltet. Du weißt ja, dass ich normalerweise nichts im Fernsehen kaufe, aber Kathrin Magyar war so begeistert von der Pfanne. Außerdem war der Griff von meiner alten Bratpfanne gerade abgefallen. Es schien mir ein Wink des Schicksals zu sein.«

Ich verkneife mir ein Lächeln, und Elle wendet den Blick ab. Mums Küchenschränke sind voll von überflüssigen Geräten, von denen die superschicke Fernsehmoderatorin Kathrin Magyar ihr weisgemacht hat, sie würden ihr Leben revolutionieren.

»Soll ich Zwiebeln schneiden?«, frage ich.

Mum schüttelt den Kopf. »Schon passiert. Die sind im Mini-Hacker.«

Ich nicke und entdecke ihn auf der Arbeitsplatte. Ich frage nicht, ob der auch aus dem Shopping-Kanal ist, denn natürlich ist er das, ebenso wie die elektrische Käsereibe, die sie normalerweise für den Cheddar benutzt.

Stattdessen koche ich Kaffee, zum Glück ohne die Hilfe eines überflüssigen Geräts.

»Hast du die Tabletten ausprobiert?«, erkundigt sich Mum und schlägt Eier in eine Schüssel.

Ich nicke und zucke bei der Erinnerung an Freddie innerlich zusammen.

Sie wühlt in dem Krug mit Küchenwerkzeug, bis sie den Schneebesen findet. »Und?«

»Sie haben gewirkt.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe durchgeschlafen.«

»Im Bett?«

Ich seufze, und Elle wirft mir ein schwaches Lächeln zu. »Ja, im Bett.«

Vor Erleichterung glätten sich die Falten auf Mums Stirn, und sie schlägt die Eier schaumig. »Das ist gut. Ab jetzt schläfst du nicht mehr auf dem Sofa, okay? Das tut dir nicht gut.«

»Ja, versprochen.«

Elle deckt den Tisch für drei. Unsere Familie war auf fünf angewachsen, jetzt ist sie wieder auf vier geschrumpft, aber in ihrer reinsten Form bestand sie immer aus drei Mitgliedern: Mum, Elle und ich. Unseren Vater kennen wir kaum. Er hat sie fünf Tage vor meinem ersten Geburtstag sitzen gelassen, und das hat Mum ihm nie verziehen. Elle war eine aufgeweckte Dreijährige, ich noch ein Baby, und er entschied, dass das Leben mit drei Frauen nicht sein Ding ist und zog nach Cornwall, um Surfen zu lernen. Alle paar Jahre teilt er uns mit, wo er gerade ist. Ein- oder zweimal ist er sogar unangekündigt aufgetaucht, als wir noch in der Schule waren. Er ist kein schlechter Mensch, nur rastlos. Es ist schön zu wissen, dass es ihn gibt, aber ich werde ihn nie im Leben wirklich brauchen.

»Ich überlege, mir einen neuen Küchentisch zu kaufen«, sagt Mum, als sie die Teller vor uns stellt und sich setzt.

Elle und ich starren sie an. »Das kannst du nicht machen«, sage ich.

»Auf keinen Fall«, bekräftigt Elle.

Mum richtet den Blick an die Decke. Ganz offensichtlich hat sie mit Widerstand gerechnet. »Mädchen, der hier liegt in den letzten Zügen.«

Wir haben unser ganzes Leben lang um diesen mitgenommenen zerschrammten Holztisch gesessen, immer auf genau denselben Plätzen. An ihm haben wir vor der Schule gefrühstückt, am Wochenende unsere Sandwiches mit Bacon und Rote Bete gegessen und uns gestritten. Unsere Mutter ist ein Gewohnheitsmensch. Ihr Zuhause hat sich im Lauf der Jahre wenig verändert, und Elle und ich haben uns daran gewöhnt, dass es mehr oder weniger so bleibt, wie es ist. Wenn ich es mir recht überlege, könnte man dasselbe über Mum sagen – solange ich denken kann, trägt sie denselben aschblonden Bob. Elle und ich haben unsere herzförmigen Gesichter von ihr geerbt, und wir haben alle die gleichen tiefen Grübchen, wenn wir lachen, als hätte uns jemand einen Finger in die Wangen gebohrt. Sie ist unser Sicherheitsnetz, und dieses Haus ist unser Zufluchtsort.

»An diesem Tisch haben wir unsere Hausaufgaben gemacht.« Elle legt schützend eine Hand auf die Tischplatte.

»Alle Weihnachtsessen meines Lebens haben an diesem Tisch stattgefunden«, sage ich.

»Aber er ist überall bekritzelt«, sagt Mum.

»Ja«, erwidert Elle. »Weil ich mit fünf unsere Namen eingeritzt habe.«

Kurz nachdem sie Schreiben gelernt hatte, meißelte Elle mit einem blauen Kugelschreiber unsere Namen tief in die Platte. Es heißt, sie sei schrecklich stolz gewesen und konnte es kaum erwarten, Mum zu zeigen, was sie gemacht hatte. Die Namen sind heute immer noch da, kindliche Buchstaben unter unseren Platzdeckchen. Gwen. Elle. Lydia. Hinter jedem ist ein dünner kleiner Vogel.

»Willst du ihn haben?«, fragt Mum Elle, deren Haus extrem ordentlich ist, alles ist aufeinander abgestimmt, nichts alt oder zerschrammt.

»Er gehört hierher«, erklärt Elle.

Mum sieht mich an. »Lydia?«

»Du weißt, dass ich keinen Platz habe«, entgegne ich. »Aber bitte behalte ihn. Er gehört zur Familie.«

Sie seufzt unschlüssig, sie weiß genau, dass wir recht haben. Ich glaube, eigentlich will sie ihn auch nicht aufgeben. »Vielleicht.«

»Das Omelett ist herrlich«, sagt Elle.

Mir kommt ein Gedanke. »Hat Kathrin Magyar dir einen neuen Esstisch verkauft?«

Mum greift nach ihrem Kaffee und tätschelt die Tischplatte wie einen alten Freund. »Ich storniere die Bestellung.«

Kathrin Magyar mag gut sein, aber gegen Familie Bird hat sie keine Chance.

Ich blicke auf Freddies Grab hinunter, auf die in Zellophan verpackten Rosen, die vor dem Grabstein liegen. Neben dem Strauß aus Gänseblümchen und Wildblumen, den ich letzte Woche mitgebracht habe, wirken sie etwas protzig. Es muss noch jemand hier gewesen sein. Ein Kollege, oder vielleicht Maggie, Freddies Mutter, wobei sie nicht oft herkommt – sie findet es zu belastend. Freddie war ihr heiß geliebtes einziges Kind, es fiel ihr schon schwer, ihn mit mir zu teilen. Sie war nicht unfreundlich zu mir, aber sie genoss es, Freddie für sich zu haben. Seit Freddie tot ist, haben wir uns zweimal getroffen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das einer von uns etwas bringt. Sie trauert auf eine andere Art, mit der ich nicht viel anfangen kann.

Dass ich die Besuche an Freddies Grab nicht als bedrückend empfinde, hat mich überrascht. Ich bin dankbar, einen Ort zu haben, an dem ich mit ihm sprechen kann. Als ich den frischen Strauß auspacke, den ich auf dem Weg besorgt habe, springt mein Blick wieder zu den Rosen. Ich habe Bartnelken, Freesien und ein interessant aussehendes silbergrünes Blattwerk gewählt. Nie nehme ich so etwas klischeemäßiges wie Rosen. Rosen sind für Valentinstage, die unoriginelle Wahl eines einfallslosen Liebhabers. Fehlt nur noch ein Teddy dazu. Die Liebe von Freddie und mir war Welten entfernt von den Klischees auf Grußkarten und von herzförmigen Luftballons. Sie war groß und echt, und jetzt fühle ich mich wie ein halber Mensch, als hätte ein Künstler den Bleistift umgedreht und mich zur Hälfte mit ausradiert.

»Wer hat dich besucht, Freddie?«, frage ich und setze mich ins Gras, die Tasche zu meinen Füßen. Es hat etwas schrecklich Deprimierendes, eine Tasche mit Friedhofszubehör im Kofferraum aufzubewahren. Eine leere Wasserflasche, die ich am Hahn auffülle, eine Schere, um die Blumen auf die richtige Länge zu kürzen, Reinigungstücher, solche Dinge.

Als ich die ersten Male hergekommen bin, habe ich mir vorher überlegt, was ich sagen wollte. Das hat nicht funktioniert. Darum sitze ich jetzt einfach schweigend da, schließe die Augen und stelle mir vor, ganz woanders zu sein. Ich habe alle möglichen Orte heraufbeschworen, an denen ich mit ihm war. Ich habe zu Hause auf dem Sofa gesessen, meine Füße auf Freddies Schoß. Ich habe neben ihm in einem schrecklichen Hotel in der Türkei auf einer Liege gelegen – eine unbedacht gebuchte Pauschalreise, die wir nur mit Unmengen kostenloser Rakis überlebt haben. Und wir haben uns bei Sheila’s gegenübergesessen, einem Café um die Ecke von unserem Haus, in dem wir nach einer durchzechten Nacht ein englisches Frühstück gegen den Kater bestellt haben. Für mich mit Rote Bete, die Sheila extra besorgt hat, weil ich sie regelmäßig bestellt habe. Ich brauche nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, wo ich uns heute sehe. Wir liegen uns in unserem großen, warmen Savoy-Bett gegenüber, die Decke über die Schultern hochgezogen.

»Hallo, du«, sage ich, als ich die Augen schließe, und schon umspielt ein Lächeln meine Lippen. »Ich bin’s wieder.«

Nach letzter Nacht habe ich keine Schwierigkeiten, mir Freddies Gesicht vorzustellen, so wie sonst manchmal. Er verschränkt seine warmen, kräftigen Finger mit meinen, und in meiner Vorstellung grinst er und sagt: »Schon wieder? Du bist aber aufdringlich.«

Ich schnaufe leise. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es war, dich wiederzusehen«, flüstere ich leise. »Du hast mir so gefehlt.«

Er streckt die Hand aus und streicht mit den Fingern über meine Wange. »Du mir auch«, sagt er, und dann schweigen wir einige Minuten. Ich sehe ihn an, und er mich, auf eine nachdenkliche Weise, für die wir uns nie die Zeit genommen hätten, wenn er hier wäre. »Was gibt’s Neues bei dir?«, fragt er nach einer Weile und wickelt eine Strähne von meinem Haar um seinen Finger.

»Eigentlich nicht viel«, sage ich, was nicht untertrieben ist, da ich derzeit kaum das Haus verlasse. »Heute Morgen habe ich mit Mum und Elle gefrühstückt. Omelette mit Käse und Zwiebeln, weil Mum eine neue Pfanne ausprobieren wollte, die sie im Teleshop gekauft hat.« Ich halte inne, dann fahre ich fort. »Tante June und Onkel Bob lernen jetzt Bogenschießen«, berichte ich. Freddie hat sich immer darüber amüsiert, dass die zwei ständig ein neues Hobby haben. Unabhängig von irgendwelchen Begabungen scheinen sie sich durch das gesamte Programm der Volkshochschule zu arbeiten, und das stets gut gelaunt. Seit Freddies Tod ist Tante June eine große Hilfe für Mum. Sie ist Mums Stütze, damit Mum mich stützen kann. Ich liebe Tante June, sie ist Mum verblüffend ähnlich. Sie haben dasselbe ansteckende Lachen, bei dem jeder sofort mitlachen muss.

»Neulich Abend sind Dawn und Julia aus dem Büro vorbeigekommen. Sie haben eine Karte und Weintrauben mitgebracht. Weintrauben! Als wäre ich krank.« Ich höre den Hohn in meiner Stimme und habe ein schlechtes Gewissen. »Es war nett, dass sie vorbeigekommen sind. Ich bin momentan nicht die beste Gesellschaft.« Ich verstumme, dann lache ich leise. »Ich mag gar keine blöden Weintrauben.«

Während ich überlege, was es noch zu berichten gibt, halte ich die Augen geschlossen. »Elle hat einen neuen Job«, sage ich, als mir einfällt, dass es bei meiner Schwester große Neuigkeiten gibt. »Sie wird Eventmanagerin in einem schicken neuen Hotel in der Stadt. Laut Elle bedeutet das eine Menge Kuchen umsonst.«

Was kann ich ihm sonst noch erzählen? In meinem Alltag ist wenig passiert. Wahrscheinlich würde er sich über ein paar Sportnachrichten freuen, Fußball oder Rugby, aber da kenne ich mich nicht aus.

»Der Arzt hat mir irgendwelche neuen Tabletten verschrieben«, sage ich etwas verlegen, weil Freddie immer gegen Tabletten war. »Nur zum Schlafen. Mum hat darauf bestanden, du weißt ja, wie sie ist.« Mir ist klar, dass es keine Schande ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber er soll stolz auf mich sein, weil ich so gut zurechtkomme. In meiner Vorstellung fragt er mich, ob die Tabletten geholfen haben, und ich lächle zögernd. »Ich habe nicht daran geglaubt, dass sie helfen. Bis zu dem Abend habe ich gar nicht mehr in unserem Bett geschlafen.«

»Und wie war es?«, fragt er.

»Mir war nicht klar, dass du noch da bist«, flüstere ich, und mein Herz klopft schneller. »Ich hatte solche Angst zu schlafen, ich wusste nicht, dass du dort auf mich wartest.« Ich lache übermütig. »Ich fühle mich heute anders, Freddie«, sage ich leise, obwohl niemand da ist, der mich hören könnte. »Seit dem Unfall ist mir jeder Tag vorgekommen, als würde ich durch grauen Nebel waten, aber heute sehe ich einen Lichtstreif. Es ist … ich weiß nicht …« Ich zucke mit den Schultern und überlege, wie ich es ihm erklären kann. »Als würdest du mir von weit her mit einer Fackel leuchten, und ich müsste mich sehr konzentrieren, um dem komplizierten Weg zu folgen. Um dich zu finden. Was machen wir jetzt da, wo du bist?« Ich sehe auf meine Armbanduhr. »Samstagmittag. Bestimmt gehst du mit Jonah zum Fußball.«

Gott, ich kann sogar einem Toten gegenüber passiv-aggressiv sein. Doch wenn ich an Jonah und die schnell verblassende Narbe über seiner Braue denke, kommt mir alles so ungerecht vor. Freddie hätte an meinem Geburtstag direkt nach Hause kommen sollen, ohne bei Jonah vorbeizufahren. Meist meldet sich dann meine Vernunft und sagt mir, wie ungerecht es ist, Jonah auch nur den Hauch eines Vorwurfs zu machen. Seit der Beerdigung bin ich Jonah mehr oder weniger aus dem Weg gegangen. Auf seine Nachrichten habe ich nicht geantwortet, auf Anrufe nicht reagiert. Ich weiß, dass er das nicht verdient, aber ich kann nicht anders.

»Sei nicht so streng mit ihm«, sagt Freddie.

Ich seufze, er hat leicht reden. »Ich weiß, ich weiß. Es ist nur …« Ich öffne das Paket mit den Reinigungstüchern, denn es auch nur auszusprechen überfordert mich. »Manchmal denke ich nur, hättest du ihn doch nur ein einziges Mal selbst fahren lassen …« Ich schnaufe und wische energisch über den Grabstein, während ich den Satz im Geiste zu Ende führe.

»Er war mein bester Freund«, erinnert mich Freddie. »Und deiner auch, schon vergessen?«

Ich packe die verwelkten Blumen in den Müllbeutel und knicke kopfschüttelnd die morschen Stile um. »Natürlich habe ich das nicht vergessen«, sage ich. Ich kenne Jonah sogar länger, als ich Freddie kannte. »Aber die Dinge ändern sich. Menschen ändern sich.«

»Jonah nicht«, sagt Freddie. Ich erzähle ihm nicht, dass er sich täuscht. Durch den Unfall ist ein Licht in Jonah erloschen, und ich weiß nicht, ob er es schafft, es jemals wieder zu entzünden. Seufzend blicke ich zum Himmel. Mir ist klar, dass ich es Jonah noch schwerer mache, weil ich auf Abstand zu ihm gegangen bin, und ich komme mir deshalb schäbig vor.

»Ich werde es versuchen, okay?«, sage ich. »Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, gebe ich mir Mühe.« Das verspreche ich, weil ich weiß, dass ich Jonah nur selten zufällig begegne.

»Ich glaube, ich muss gehen«, sage ich und packe meine Sachen zurück in die Tasche. Dabei lasse ich den Blick über die goldenen Buchstaben auf dem Grabstein gleiten. Freddie Hunter. Seine Mutter wollte Frederick schreiben – fast hätten wir uns deshalb zum ersten Mal gestritten. Ich habe mich durchgesetzt. Er wollte auf keinen Fall Frederick genannt werden, unter keinen Umständen hätte ich zugelassen, dass dieser Name für immer in diesen Grabstein geätzt wird.

Ich bleibe neben dem Stein sitzen, bereit zu gehen und auch wieder nicht. Das ist das Schlimmste an den Besuchen hier: der Abschied. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was in diesem Boden von ihm noch übrig ist. In den schlimmsten Nächten nach seiner Beerdigung habe ich ernsthaft überlegt, über das Friedhofstor zu klettern und mit den Fingern in der Erde zu graben, bis meine Finger sich um das schlichte schwarze Gefäß schließen, das mein Leben ebenso enthält wie seins. Zum Glück haben wir Freddie einäschern lassen. Ich weiß nicht, ob ich dem Drang hätte widerstehen können, mit Fackel und Spaten hier aufzutauchen, um mich in der dunklen Erde neben ihm zu begraben.

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus, stemme mich hoch und löse die feuchte Plastiktüte, auf der ich gesessen habe, von meiner Jeans, dann küsse ich meine Fingerspitzen und lege sie stumm auf den Stein. »Hoffentlich bis später«, flüstere ich und drücke beide Daumen, während ich mich umdrehe und in Richtung Parkplatz gehe.

Als ich die Taschen im Kofferraum verstaue und den Deckel zuschlage, merke ich überrascht, dass das Telefon in der Gesäßtasche meiner Jeans vibriert. Auf dem Display leuchtet Elles Name auf.

In einer Stunde im The Prince? Ich bin schon da, hab Bammel vorm neuen Job! Du kannst doch bestimmt auch einen Drink vertragen?