Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe - Joyce Carol Oates - E-Book

Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe E-Book

Joyce Carol Oates

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Beschreibung

Für Merissa, Tink und Nadja ist es das letzte Jahr in ihrer Schule, die Weichen werden gestellt. Merissas Zukunft sieht rosig aus: Sie ist beliebt und ehrgeizig, schreibt in jedem Fach Bestnoten und hat den Studienplatz schon sicher. Tink dagegen ist rebellisch, sie lässt sich weder von Lehrern noch von Eltern oder Mitschülern etwas sagen. Die schüchterne Nadja bewundert im Stillen Tinks Selbstbewusstsein. Sie selbst kann sich gegen Angriffe und Mobbing nicht zur Wehr setzen. Dass alle drei Mädchen mit den gleichen Ohnmachtsgefühlen kämpfen, hätte niemand gedacht. Ein Jugendbuch über Familie, Freundschaft und das Erwachsenwerden zwischen Internetmobbing und Selbstzweifeln.

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JOYCE CAROLOATES

ZWEI ODERDREI DINGE,DIE ICHDIR NICHT ERZÄHLTHABE

Aus dem Englischenvon Brigitte Jakobeit

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

Two or Three Things I Forgot to Tell You

bei HarperTeens, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

ISBN 978-3-446-24706-2

© The Ontario Review, Inc. 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Marion Blomeyer/Lowlypaper, München © plainpicture/Ableimages

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Tink und

ihre Schwestern

PROLOGTINK

Ich geh nirgendwohin.

Keine Chance.

Sonst würdet ihr ja nichts

mehr auf die Reihe kriegen.

1DASPERFEKTEMÄDCHEN

1GUTE NACHRICHTEN!

»Merissa! Glückwunsch!«

Hannahs Begeisterung war echt. Hannahs Freude für Merissa war echt. Merissa merkte das.

Als sie sich ein wenig in Hannah hineinversetzte, fürchtete Merissa, ihre Freundin könne gekränkt, neidisch oder gar verärgert sein – (denn Hannah Hellers Noten in der Quaker Heights Day School waren immer etwas schlechter als die von Merissa Carmichael, ganz zu schweigen davon, dass Merissa stellvertretende Chefredakteurin des Jahrbuchs war, Leiterin der Theatergruppe und Co-Captain des Hockeyteams und Hannah sich praktisch an denselben Colleges beworben hatte wie sie) – denn es ist bei Weitem nicht so leicht, sich über die guten Nachrichten der besten Freundin zu freuen als im Stillen über ihre schlechten.

Aber Hannah freute sich wirklich für Merissa. Und falls sie auch nur einen Hauch von Gekränktheit, Angst, Selbstzweifel oder gar Selbsthass empfand, verbarg sie es gekonnt.

»Ein Studienplatz an der Brown University! Omeingott!«

Eine so gute Nachricht hatte Hannah nicht zu bieten – noch nicht.

»Merissa, das ist fantastisch. Deine erste Wahl!«

Die Mädchen umarmten sich und lachten.

Hannah spürte die spitzen Knochen von Merissas Wirbelsäule durch ihren Pullover, und Merissa spürte Hannahs weiche Pölsterchen am Rand ihres BHs. Rasch traten die Mädchen wieder auseinander, als hätten sie eben zu viel von der anderen erfahren.

»M’rissa! Glückwunsch!«

Chloe Zimmer kam auf Merissa zugeschwirrt und umarmte sie schnell und atemlos. Anita Chang kam und kniff Merissa gerade so fest in den Arm, dass es wehtat. Dann kamen Shelby Freedman, Martine Hesse und schließlich Nadia Stillinger, die ihre Freundin ungeschickt umarmte und ein komisches Wimmern von sich gab – »Ohhhh, M’rissa!« –, was bedeuten sollte, dass Nadia, die nicht die geringste Aussicht auf einen Studienplatz an der Brown oder einer anderen Elite-Uni hatte, weder neidisch noch eifersüchtig war, sondern einfach nur traurig wie ein Kind, sie bald zu verlieren.

Die Mädchen besuchten die Abschlussklasse an der Quaker Heights Day School: Es war schon Dezember.

Ihr letztes gemeinsames Jahr. Das Jahr ohne Tink.

»Glückwunsch, Merissa!«

»Tolle Nachricht, Merissa!«

»Wir sind alle so stolz auf dich, Merissa!«

»Was ist das für ein Gefühl, Merissa? Wie ein Lottogewinn, oder?«

Mr Trocchi schüttelte ihr die Hand wie einer Erwachsenen. Mrs Conway gratulierte mit einer schnellen, lehrerhaften Umarmung. Mr Doerr und sein »minimalistisches« anerkennendes Lächeln. Ms Svala, die Turnlehrerin – noch ein forscher Händedruck und ein feuchtes, breites Grinsen. Dana Crowley: »Gute Arbeit, Merissa!« Die Schulpsychologin für die Oberstufe, Mrs Jameson, und Direktor Nichols – vor Stolz strahlend. Und Merissas Lehrer in Naturwissenschaft, Mr Kessler, der sie auf seine ruhige Art wirklich sehr ermutigt hatte.

»Du bist sicher erleichtert, Merissa, dass du jetzt schon weißt, wo du nächstes Jahr hingehst. Dass die Spannung endlich vorbei ist.«

Nur dass die Spannung in unserem Leben nie richtig vorbei ist – Tink weiß das!

2GUTE NACHRICHTEN, FORTSETZUNG!

Diese fantastische Woche!

Zuerst erfuhr Merissa, dass Mr Trocchi, der Leiter der Theater-AG, sie für die begehrte Rolle der Elizabeth Bennet in einer Bühnenadaption von Jane Austens Stolz und Vorurteil ausgewählt hatte – »Du triffst Austens unverwechselbare Mischung aus beißendem Humor und moralischem Ernst wirklich gut, Merissa. Glückwunsch!«

(Schwer, darüber hinwegzusehen, dass Brooke Kramer in den folgenden Tagen gekränkt und verkniffen aussah, wenn sie ihr über den Weg lief – denn Brooke, seit der neunten Klasse Mitwirkende in zahlreichen Schulproduktionen, hatte ebenfalls für die Rolle vorgesprochen und war bitter enttäuscht, gegenüber Merissa Carmichael den Kürzeren zu ziehen, die ihrer Ansicht nach längst nicht so gut spielte wie sie.)

Am nächsten Tag, Mathekurs! In dem Mr Doerr beim Zurückgeben der Tests von letzter Woche in seiner grimmig-trockenen Art bemerkte, Merissa Carmichael habe ihr Geschlecht in Sachen Mathe »errettet«, denn sie hatte 96 Prozent, mehr als jeder andere Schüler, außer natürlich Virgil Nagy mit seinen gewohnten 100 Prozent.

(Schwer, darüber hinwegzusehen, dass sich auf Shaun Ryans Gesicht Enttäuschung und Scham breitmachten, als Mr Doerr ihm seinen Test zurückgab; und dass Shaun am Ende des Kurses nicht mit ihr den Raum verließ, sondern sie ignorierte und ein Stück zurückblieb, um mit einem anderen Schüler, der in dem Test offenbar auch nicht so gut abgeschnitten hatte, hämische Witze zu reißen.)

Am nächsten Tag, Treffen der Jahrbuchredaktion des Abschlussjahrgangs! Aus irgendeinem Grund erwies es sich als das produktivste Gruppentreffen des Herbstsemesters: Alex Wren, Chefredakteur, hatte keine seiner sarkastischen Launen, sondern war lustig, charmant und flirtete mit Merissa, obwohl sie ihn in Trocchis Mathetest »um 10 Punkte übertroffen« hatte. Dana Crowley, die Leiterin des Projekts und Englisch-/Journalismus-Lehrerin, blieb nur kurz da und mischte sich nicht auf ihre gewohnt freundlich-rechthaberische Art ein, die alle hinter ihrem Rücken heimlich die Augen verdrehen ließ. Und der schöne Coverentwurf, an dem Merissa und Chloe viele Stunden lang gearbeitet hatten – Farbe, Layout, Schrifttype –, wurde mit einhelliger Begeisterung angenommen.

(»Was sie wohl sagen werden«, meinte Merissa zu Chloe, »wenn wir in der Danksagung für die Covergestaltung Tink, Inc. angeben?« Die Mädchen lachten nervös. Denn fast sechs Monate nach Tinks T∗d war das Thema Tink Traumer an der Quaker Heights Day School noch immer brisant. Der Entwurf, den die anderen in der Gruppe so bewundert hatten, enthielt ein herrlich strahlendes Foto des Sternbilds Orion aus Tinks Nachthimmel-Serie, in das auf geniale Weise die länglichen Buchstaben

QAKERHEIGHTSYEAR ’12

eingefügt waren. Die Wirkung war bombastisch und spannend. Chloe sagte mit gesenkter Stimme: »Meinst du, Tink ist dort?« – womit sie den Nachthimmel auf dem Foto meinte; und Merissa erwiderte schnell und mit abgewandtem Blick: »Nein. Tink ist hier.«)

Das waren die Ereignisse vom Montag, Dienstag, Mittwoch. Und dann kam am Mittwoch noch der (dicke) Zulassungsbrief der Brown University, adressiert an Merissa Carmichael, 18 West Brook Way, Quaker Heights, New Jersey, während sie in der Schule war.

(Obwohl Merissa ihre Mutter gebeten hatte, ihre Post bittebittebitte nicht zu öffnen und sich die Verletzung ihrer »Privatsphäre« verbeten hatte, konnte Mrs Carmichael nicht widerstehen, den Umschlag noch auf der Vordertreppe aufzureißen, nachdem sie ihn aus dem Briefkasten geholt hatte. Seit Monaten hatten die Carmichaels fast ausschließlich über Merissas Collegebewerbung geredet, und ihr Vater, der in Dartmouth studiert hatte, wünschte sich für seine Tochter nichts sehnlicher als die Aufnahme an einer »führenden« Elite-Uni.)

Dann, Donnerstag: als Merissa (erstens) erfuhr, dass ein Aufsatz, den sie für Mr Kesslers Naturwissenschaftskurs geschrieben hatte – »Unsere Umwelt und wir« –, den dritten Platz in einem von Scientific American gesponserten Highschool-Wettbewerb belegt hatte, zu dessen Teilnahme Mr Kessler sie ermutigt hatte, und der auf der Website der Zeitschrift veröffentlicht werden sollte; und (zweitens) das Hockeyteam, in dem Merissa gewöhnlich nur eine durchschnittlich-bis-gute Spielerin war, gegen das besser platzierte Team der Lawrence gewann, und das nicht zuletzt durch ihr geschicktes Abblocken der Starspielerin im Lawrence-Team (auch wenn Merissa sich hinterher über ihr Humpeln lustig machte und behauptete, es tue gar nicht weh, nachdem die wütende Lawrence-Spielerin ihr den Hockeyschläger an den Knöchel geknallt hatte).

Außerdem am Donnerstag: Infolge der guten Nachricht von der Brown University, die sich schnell herumgesprochen hatte, beglückwünschten sie mehrere Schüler des Abschlussjahrgangs, die ebenfalls einen Studienplatz an der Harvard, Princeton, Yale oder Brown bekommen hatten – obwohl es keine engen Freunde von ihr waren, sondern Schüler, die sie größtenteils mochte und bewunderte.

(Nur dass es Merissa unangenehm war, wenn sie die anderen prahlen hörte, dass sie jetzt zur Elite gehörten.)

(Nur dass es sie beunruhigte, dass Shaun Ryan ihr aus dem Weg ging – mittlerweile war das unübersehbar. Und nicht nur Shaun, auch andere Jungen, die sich an der Brown beworben hatten.)

Dann, Freitag: Merissas Referat im Englisch-Leistungskurs, eine kritische Analyse von Dostojewskis Roman Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, löste eine lebhafte Diskussion aus – Gibt es so etwas wie ein Kellerwesen, das in unserem Inneren wohnt und unser (»Tageslicht«-)Ich bestimmt, auch wenn wir es nicht kennen? Gibt es eine Möglichkeit, dieses Wesen zu entdecken? – und brachte ihr ein A-plus von Mrs Conway ein.

(Was jedoch seltsam war: Als Merissa ihren Vortrag im Englisch-Seminarraum beendet hatte, wo Schüler und Lehrer kameradschaftlich an einem ovalen Tisch saßen, schlug ihr Herz schnell und leicht wie ein flatternder Schmetterling, gefangen in einem kleinen Raum, und ihre Achselhöhlen juckten, und auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß! Ihre Freundinnen Chloe und Hannah – und Anita Chang, eine eher sporadische Freundin, der man nicht gern den Rücken zukehrte, weil man befürchten musste, dass sie etwas Gemeines über einen sagte, und Gordy Squires, Virgil Nagy und Alex Wren – sie alle starrten Merissa einen langen, peinlichen Augenblick lang an, bis jemand sagte: »Wahnsinn, Merissa! Wow.«)

Hey! Nicht schlecht, Meris.

Tink pikste Merissa in die Rippen. Und da Merissa nicht viel Fleisch auf den Rippen hatte, tat der Pikser weh.

Freu dich, Meris. Solange sie dich benoten, sind Noten was Gutes.

Tinks warmer Atem in ihrem Ohr ließ Merissa die feinen Härchen im Nacken zu Berge stehen.

Tinks besonderer Duft – nach verbrannten Nelken und rot versengtem Haar, darunter ein salzig-säuerliches Aroma.

Hauptsache ist, du freust dich, Kumpel. Enttäusche mich nicht, ich brauche meine Freundin.

War Tink ehrlich? Oder machte sie sich lustig?

Oder hatte sie eine ihrer boshaft-gemeinen Launen, bei denen man nicht genau wusste, ob sie mit einem lachte oder einen auslachte. Man konnte Tink Traumer nicht trauen, als sie noch lebte, wie sollte man ihr dann jetzt trauen, wo sie im Jenseits war?

»Heute hab ich von Tink gehört.«

Merissa redete leise. Damit Hannah, wenn sie es überhören wollte, nicht reagieren musste.

Aber Chloe atmete erschrocken ein – »Ohhh! Ich g-glaube, ich auch.«

Mit gedämpften Stimmen unterhielten sich die Mädchen. Sie lehnten an Chloes offenem Schließfach vor Mrs Crowleys Klassenzimmer, eine kleine Oase der Ruhe und Abgeschiedenheit inmitten des Lärms auf dem Flur. Sie standen dicht zusammen, mit dem Rücken zu den anderen, und hofften, dass niemand es wagen würde – auch keine ihrer engen Freundinnen –, sich einzumischen.

Chloe sagte: »Ich-ich-ich war mir nicht sicher, ob es wirklich Tink ist … Als ich heute früh bei mir zu Hause die Treppe runterging, war ich irgendwie, ich weiß nicht – traurig. Meine Mutter schrie wegen irgendwas in der Küche herum – ich glaube, sie hat mit meinem Bruder geschimpft. Er hatte mit seinen Turnschuhen Dreck ins Haus gebracht, es sah aus, als würden überall kleine Scheißhaufen herumliegen – und plötzlich überkam mich so ein komisches Gefühl …«

Merissa wartete. Sie kannte dieses Gefühl sehr genau.

»Und da hab ich mich gefragt, ob ich das den Rest meines Lebens, ihr wisst schon – durchstehe – aber ich meinte das natürlich nicht ernst«, sagte Chloe schnell und lachte, »nicht so wie Tink … Und im selben Moment war da so ein warmes, pelziges Gefühl, wie ein Katzenfell an meinem Gesicht – genauso hat Tinks Haar gerochen oder ihre Haut – so ein Geruch nach etwas Versengtem. Gesagt hat sie nichts, nur irgendwie gelacht, aber nicht bösartig – sie hat gelacht, weil ich so dumm bin und so viel Wind um … um alles mache. Und plötzlich ging es mir besser. Ich weiß nicht, warum – alles war wie vorher –, trotzdem ging es mir viel besser. Ich glaube, das war Tink.« Chloe verstummte und wischte sich über die Augen. »Was hat Tink zu dir gesagt?«

Merissa konnte sich nur an eines erinnern: Freu dich.

Freu dich – Kumpel?

Merissa lachte. Es war typisch für Tink, dass sie »Kumpel« sagte – sie parodierte gern das Gerede von Jungs.

»Oh, ich glaube, zu mir hat Tink auch nichts gesagt – es war wie bei dir, sie war in der Nähe. Dann – ist sie verschwunden.«

Aus Taktgefühl sagte Merissa ihrer Freundin nicht, dass Tink mit ihr geredet hatte. Denn jetzt, nach Tinks T∗d, waren ihre Freundinnen noch eifersüchtiger auf sie als früher.

3F

»Schätzchen! Glückwunsch.«

Sie wappnete sich für das Unvermeidbare, noch während ihr Vater sich bückte, um sie zu umarmen – (eine ungeschickte Daddy-Umarmung, denn Daddy umarmte seine siebzehnjährige Tochter nicht mehr so locker wie früher die siebenjährige). »Ich wusste, dass du’s schaffst, M’rissa!«

Wusste, dass du’s schaffst.

Und woher zum Teufel wusstest du das, Daddy?

Freitagnachmittag. Merissas berauschende Woche ging langsam zu Ende.

So viele gute Nachrichten, es war wie eine Achterbahnfahrt. Eine wilde, beängstigende Fahrt, bei der man zu sterben glaubt – die man nicht zu überleben glaubt – und ein entsetztes Kreischen ausstößt, das sich für die Menschen am Boden wie Lachen anhört.

Komische Vorstellung, dass sie zu einer Elite gehörte.

Daddy mochte sie also wieder, denn Daddy war stolz auf sie. Eine Elite-Uni – braves Mädchen. Brown!

»Mom hatte auch was damit zu tun, Daddy. Vergiss nicht die gute alte Mom.«

»Hey, neiiin! Wie könnte ich die gute alte Mom vergessen?«

Vater und Tochter lachten beide. Gemein.

Einmal hatte sie Tink anvertraut: »Zwischen Daddy und mir läuft so was echt Komisches, Lustiges – als wäre Mom jemand, den man auslacht, und sie hat keine Ahnung, warum.«

Worauf Tink sagte: »Wie kommst du darauf, dass deine Mutter keine Ahnung hat?«

Tink grinste hämisch, kratzte ihre sommersprossigen Arme und fixierte Merissa mit ihren grün glitzernden Laseraugen.

Merissa sagte beschämt: »Ich weiß nicht mehr, wann es anfing. Es war irgendwie schon immer da, schon seit ich klein war. Daddy war immer auf Geschäftsreise, er ist die Hälfte der Zeit unterwegs, und wenn er heimkommt, ist es ein Ereignis. Und Mom, na ja – Mom ist immer zu Hause. Mom ist zu Hause.«

»Im Gegensatz zu Big Moms.«

(Tinks Mutter, Veronica Traumer, war eine bekannte – oder, wie Tink sagen würde, pensionierte – Fernsehschauspielerin. Eine glamouröse Frau, die es zur Raserei trieb, wenn ihre Tochter sie Big Moms nannte.)

(Tinks Vater war nicht mehr mit ihrer Mutter verheiratet. Vielleicht war er auch nie mit ihr verheiratet gewesen. Darum redete Tink auch nicht gern über ihren Vater, den sie manchmal nach einer Fernsehserie den Unsichtbaren nannte. Aber man durfte Tink nie – wirklich nie – nach ihren Eltern oder etwas in ihren Augen Privatem fragen.)

Merissa sagte: »Als ich noch ganz klein war, hockte sich Daddy neben mich, und wir flüsterten und lachten zusammen, und Mom wollte gern mit uns lachen und sagte immer: ›Was heckt ihr zwei da eigentlich aus?‹, und wenn wir es ihr nicht sagten, war alles noch lustiger.«

Tink lachte ein flaches, nasales, glucksendes Lachen: »Ha-ha. Ko-misch!«

»Ich befürchte nur, dass Mom gekränkt ist. Dabei ist es ja gar nicht schlimm. Wir necken sie nur. Manchmal erinnert Daddy mich an die Jungs in der Schule – nicht an die netten, sondern an die anderen.«

»›Chauvinistenschweine‹ haben Feministinnen sie früher genannt.«

»Oh nein – so ist Daddy nicht. Er kann manchmal gemein sein, aber er ist definitiv kein Schwein.«

»Und woher weißt du das?«

Die? Dieses hässliche kleine Ding, das nur aus Sommersprossen und Knochen besteht? Sie war ein Kinderstar?

Mr Carmichael war Tink nur ein paarmal begegnet, und es war jedes Mal nicht besonders gut gelaufen. Unter Merissas Freundinnen, die sie in den letzten Jahren mit nach Hause gebracht hatte, schien er Hannah, Chloe und Nadia zu mögen – (wobei die Stellung von Nadias Vater einen bleibenden Eindruck auf ihn machte) –, aber nicht Tink Traumer, die ihn vor den Kopf gestoßen hatte, als Merissa die beiden einander vorstellte: Sie hielt ihm die Hand hin wie eine Erwachsene – »H’lo, Mr Carmichael! Freut mich« – und grinste ihn frech an, was aber, und dazu musste man Tink kennen, nicht überheblich gemeint war oder die Erwartungen eines Erwachsenen über den Haufen werfen sollte, es war lediglich die verspielte Parodie eines Lächelns, das so viel bedeutete wie: Kleines Mädchen trifft zum ersten Mal den Vater ihrer Freundin.

»Soso! ›Tink‹ – so heißt du doch? ›Tink‹.«

Mr Carmichael stand verlegen vor ihr. Tink brachte es in voller Größe – und sie konnte sich »groß« machen, indem sie die Luft anhielt, Schultern und Kopf hob und auf den Fußballen balancierte wie ein kampflustiger Federgewichtler – gerade mal auf eins achtundfünfzig. Sie wog knapp zweiundvierzig Kilo. Man hätte sie für elf oder zwölf halten können und nicht für fünfzehn, wie sie es damals war.

Merissa erinnerte sich mit Schrecken an die Zeit, als Tink sich den Kopf so gut wie kahl geschoren hatte und scharfe kleine rötliche Stacheln aus ihrer Kopfhaut sprossen wie eine groteske Form dornigen Pflanzenlebens. Außerdem waren Tinks Gesicht und Unterarme mit Sommersprossen übersät wie Spritzer von einem Pinsel, und mit ihrem schiefen kleinen Lächeln sah sie aus wie ein boshaftes, gerissenes Kind.

»Ja, freut mich auch, Tink. Amüsiert euch gut, Mädels.«

Mr Carmichael war zurückgewichen. Das Händeschütteln mit Tink war kurz.

»Tut mir leid wegen meines Dads«, sagte Merissa, die enttäuscht war, dass ihr Vater ihre Freundin offenbar nicht sehr mochte, »aber er ist echt total beschäftigt – unter der Woche sehen wir ihn fast nie. Er ist – ich weiß nicht, was mein Dad genau macht – er ist Rechtsberater bei …«

Tink lachte. Dass Mr Carmichael sich nicht bemüht hatte, freundlich zu ihr zu sein, wie er es normalerweise bei Merissas Freundinnen war, sofern er Zeit hatte, schien sie überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil, sie war vermutlich der einzige Mensch, der es lustig fand, wenn andere, besonders Erwachsene, sich schleunigst vor ihr verzogen.

»Dein Dad hat das Signal verstanden – Tink f nicht mit den Vätern ihrer Freundinnen.«

»Tink tut was nicht?«

»Tink f nicht.«

Merissa wusste nicht, ob sie schockiert, verärgert oder beleidigt sein sollte.

»Und was bedeutet f?«

»Flirten, flunkern, fummeln.«

»Merissa?«

»J-ja, Mom?«

»Woran denkst du gerade, Liebes? Du wirkst irgendwie gedankenverloren und ein bisschen … traurig.«

Merissa lief rot an. »Ach, Mom! Ich hasse es, wenn du mir nachspionierst.«

»Merissa, ich spioniere dir nicht nach – wirklich nicht. Ich hab nur gefragt …«

»Also gut, ich denke an nichts, Mom, ich geh nur nach oben und fang mit den Hausaufgaben an. Und ich bin nicht traurig.«

»Dazu hast du auch gar keinen Grund, Liebes. Nicht nach dieser Woche und all den wunderbaren Dingen, die du erlebt hast. Zumindest die, von denen du mir erzählt hast.«

Merissas Mutter lachte. Als ob das ein Witz wäre und nicht eine alberne, sinnlose Bemerkung, wie Merissas Mutter sie in letzter Zeit häufig von sich gab und die einen fragen ließ, wovon sie eigentlich redete – ob sie mehr wusste, als sie zugab, oder zumindest wollte, dass man das dachte.

»Keine Sorge, Mom. Ich denke nicht an du-weißt-schon-wen.«

»Das – das dachte ich auch nicht. Nicht diese Woche, bei so vielen – guten Nachrichten …«

Tink. Natürlich denke ich an Tink.

Ich denke an Daddy, und wenn ich nicht an ihn denke, denke ich an Tink.

Und wenn ich nicht an Tink oder Daddy denke, denke ich an – irgendwas anderes.

»Ich habe eben gehört, wie dein Vater mit dir geredet hat – er freut sich riesig, Merissa. Dein Studienplatz an der Brown ist eine wunderbare Nachricht für uns – ich meine, für uns alle.« Merissas Mutter lächelte – versuchte zu lächeln –, aber man sah die Anspannung in ihrem Gesicht. Merissa schaute schnell weg, denn sie wollte diese feuchten, ängstlichen Augen nicht sehen.

»Er ist so stolz auf dich, Merissa. Er prahlt bei allen …«

Merissa, die an sich halten musste, um nicht unhöflich zu werden – ihre Mutter tat ihr leid, und sie hatte Angst vor ihr, vor dem, was ihre Mutter vielleicht schon bald erfahren würde –, murmelte etwas von Hausaufgaben und einer SMS an Hannah wegen des Jahrbuchcovers und ging in Richtung Treppe.

Sie war jetzt seit ungefähr zehn Minuten zu Hause. Sobald sie aus der Schule zurückgekommen und durch die Tür in den hinteren Flur getreten war, hatte es angefangen – dieses erregend-juckende Gefühl an den geheimen Stellen ihres Körpers, unter ihren Kleidern.

Gleich! Gleich bin ich da, wo ich sein muss.

Darauf habe ich den ganzen Tag gewartet – nur darauf.

Merissa fürchtete, ihre Mutter könne sie am Handgelenk festhalten oder auch nur berühren. Ihre Mutter gehörte zu den Frauen, die einen einfach immer anfassen mussten, um sicherzustellen, dass man ihnen zuhörte.

»… essen heute Abend etwas später, um halb acht. Dein Vater muss noch eine Weile am Telefon bleiben, eine Konferenzschaltung …«

»Klar, Mom. Ich komm dann runter und helfe dir.«

»In letzter Zeit steht er sehr unter Druck. Deswegen …«

»Klar, Mom! Bis später.«

Auf der Treppe, als ihr Herz schnell und leicht und freudig schlägt, denkt sie: Flirten. Flunkern. Fummeln.

Und: Vielleicht habe ich das nicht oft genug gemacht. Mit Daddy.

4(GEHEIM!)

Merissa war jetzt allein.

Zum ersten Mal seit heute Morgen, als sie noch im Dunkeln vor Tagesanbruch aufgewacht war und die Bürde der GUTEN NACHRICHTEN! GUTEN NACHRICHTEN! GLÜCKWUNSCH! sich auf sie gesenkt hatte wie eine tief liegende giftige Wolke.

Schnell die Tür zu. Endlich in ihrem Zimmer, in Sicherheit.

Horchen, ob ihre Mutter ihr womöglich gefolgt war.

Und in dem kleinen Bad neben ihrem Zimmer öffnete sie mit zitternden Händen – zitternd vor Aufregung und Vorfreude! – eine Schublade neben dem Waschbecken, tastete ganz hinten nach dem Griff eines kleinen, aber sehr scharfen Schälmessers, holte es heraus und presste die Spitze an die Innenseite ihres Handgelenks, wo die Haut blass und dünn war und man die blauen Äderchen gerade eben sehen konnte: »Ich kann das. Jederzeit. Niemand kann mich aufhalten.«

Ihre Stimme klang genüsslich, froh. Während der gesamten Woche mit all den guten Nachrichten hatte Merissa nicht einmal in diesem Tonfall gesprochen.

»Das perfekte Mädchen«, hatte Tink Merissa Carmichael aufgezogen.

Aber nicht einmal Tink wusste über das hier Bescheid.

Im Spiegel über dem Waschbecken schwebte ein luzide-bleiches Gesicht. Die weit auseinanderstehenden Augen waren dunkel, glänzend und entschlossen.

In solchen (heimlichen) Momenten konnte Merissa ihren Anblick ertragen.

Denn sie sah nicht sich, sondern eine andere – eine Fremde – mit der geheimen Macht über Leben und Tod in den Händen.

Nur ein normales Schälmesser, gestohlen unten aus der Küche.

Wo es so viele Messer gab – einige wunderschön, glitzernd, in Japan geschliffene Tranchiermesser aus rostfreiem Stahl, sehr teuer. Niemand würde dieses kleine Messer vermissen.

Seit achtzehn Monaten bewahrte Merissa diese (heimlichen) Momente in ihrem Herzen. Damals hatte sie sich zum ersten Mal geritzt, ungeschickt und eher beiläufig, in einem Akt der Verzweiflung und nicht aus vorsätzlichem Willen.

Inzwischen hatte Merissa die Kontrolle.

Selbst Tink hatte nichts gewusst. (Aber vielleicht geahnt?)

Für die Mädchen an der Quaker Heights, vielleicht auch für die Jungen, hatte Tink Traumer den Weg vorgegeben. Man musste sie nicht mögen – genau genommen hatte sie sogar bei Weitem mehr Gegner als Bewunderer –, aber man musste zugeben, dass Tink Traumer nicht nur ihr Leben in die Hand genommen hatte, sie hatte auch den Mumm gehabt, dieses Leben wegzuwerfen.

Letztendlich kotzte Merissa diese Woche mit den guten Nachrichten an. Man kann nur begrenzt lächeln und »Danke« sagen, wenn andere einen beglückwünschen – irgendwann möchte man nur noch sagen: »Bitte lasst mich in Ruhe! Es kommt nie wieder vor.«

Gute Noten, Klassenämter, Jahrbuchredaktion, Hockey, Mädchenchor, die Rolle der Elizabeth Bennet in Stolz und Vorurteil, jede erdenkliche Ehrenliste und jetzt noch ein Studienplatz an der Brown – sie kam sich schuldig vor, egoistisch.

Als wäre ihr Bauch von Diet Coke aufgebläht – ekelhaft.

Aber Daddy war stolz auf sie. Und wenn Daddy stolz auf Merissa war, hieß das, dass sie so weitermachen konnte, zumindest noch eine Weile.

(Vorsichtig) hob sie ihr Hemd, um sich den jüngsten Schnitt anzusehen.

Nur ein kleines Kreuz auf dem Oberbauch, jeder stichartige Schorf ungefähr zweieinhalb Zentimeter lang. Merissa hatte schon vergessen, warum sie sich dort geritzt hatte – der spezielle Grund spielte selten eine Rolle –, aber es sah gut aus. Heilte und war nicht entzündet.

Und wenn sie mit der Spitze des Schälmessers daran herumpulte, schoss ein rasender flammenartiger Schmerz aus der winzigen Wunde wie ein gedämpfter Schrei.

Jetzt war Merissa zufrieden.

»›Glückwunsch!‹«

5(SCHLECHTE NACHRICHTEN!)

»Merissa, Schätzchen? Ich muss dir was sagen.«

Nein nein nein nein NEIN.

6(STRAFE!)

Um 19.20 Uhr ging Melissa schließlich nach unten.

Sie fragte sich, warum ihre Mutter sie nicht gerufen hatte, um ihr beim Kochen zu helfen.

(War das nicht so geplant gewesen? Was war los?)

Nach all den guten Nachrichten. Merissa Carmichael unter der Elite.

Nachdem Daddy sie umarmt und gesagt hatte: Ich wusste, dass du’s schaffst, Merissa! Braves Mädchen.

Natürlich war das kein Grund zur Aufregung. Morgan Carmichael war ein viel beschäftigter Mann.

Daddy liebt mich. Liebt uns.

Was mit Tink passiert ist, wird mir nicht passieren.

Da sie zu zerstreut war, um sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren, hatte sie die Zeit vor dem Abendessen mit dem Schreiben von SMS an ihre Freundinnen verplempert, die sie erst vor wenigen Stunden gesehen hatte und von denen eine – Nadia Stillinger – in letzter Zeit innerhalb von Sekunden antwortete, als wäre sie sehr, sehr einsam oder sehr, sehr besorgt, und diese offensichtliche Bedürftigkeit weckte in Merissa gehässige Gefühle.

Was immer es war, darauf wollte Merissa sich nicht einlassen.

»Mom, warum? Ich meine – warum nicht? Wo ist Daddy?«

»Ich-ich glaube, er musste wieder ins Büro zurück, Liebes. Er war nur am Telefon, seit er zu Hause war. Er hat irgendwas von einer Krise mit den ›Vierteljahresdividenden‹ gesagt. Oder vielleicht …«

Merissa hörte nicht mehr zu. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.

Seit September war das schon so oft passiert. Vater arbeitete bis spätabends im Büro – das ganze Wochenende auf Geschäftsreise.

Merissa stieg die Schamesröte ins Gesicht.

»Schon gut, Mom. Alles klar. Kein Problem.«

»Wir können in der Küche essen, Merissa, oder wenn du fernsehen möchtest …«

»Ich bin nicht hungrig, Mom. Eigentlich hatte ich sowieso keinen Hunger.«

Als ob sie essen könnte! Wenn eindeutig Strafe gefordert war, gab es nur eines: Ritzen und Fasten.

»Daddy hat mich gebeten, dir zu sagen, dir auf alle Fälle zu erklären, dass er ›notgedrungen‹ weggerufen wurde – er macht das am Wochenende wieder gut.«

Merissa dachte: Mom lügt. Sie hat Angst. Genau wie ich.

»Warum konnte mir Daddy das nicht selbst sagen? Ich war doch oben in meinem Zimmer. Er hat mich noch vor einer Stunde gesehen.«

Peinlicherweise klang ihre Stimme kindisch und wehleidig. Tink wäre überrascht – das sollte das perfekte Mädchen sein? Das Mädchen, das in dieser Woche von allen in der Quaker Heights Day School beneidet wurde?

»Nun ja, solche Notfälle kommen vor, Merissa. Manche Dinge liegen nicht in unserer Hand – daran ist niemand schuld.«

Doch. Du bist schuld.

Wenn er dich nicht liebt. Warum sollte ich dich dann lieben?

Merissa sagte kühl, es sei in Ordnung, es sei wirklich nicht schlimm. Sie sah Daddy ja am Wochenende, er wollte mit ihr in den Meadowlands Schlittschuhlaufen gehen.

Merissa rannte wieder nach oben. Schließ – die – verdammte – Tür.

Sie schaute auf ihr Handy, aber es war nur eine SMS gekommen.

GLÜCKWUNSCH MERISSA!

HABE SUPERNACHRICHT GEHÖRT BROWN IST TOLL

XXX COREY

Corey war ein Cousin von Merissa – ein Neffe ihrer Mutter. Die gute Nachricht hatte in der Familie blitzschnell die Runde gemacht, wahrscheinlich verbreitet von ihrer Mutter.

Corey war neunzehn, im zweiten Studienjahr an der – wo noch mal? – Sarah Lawrence. Er schrieb mit Lichtgeschwindigkeit und hatte es im nächsten Moment schon wieder vergessen.

Merissa löschte die Nachricht, ohne zu antworten. Corey würde sich sowieso nicht erinnern.

Die Woche war zu lang gewesen. Allmählich wurde das Ganze ein Witz. Ihr war übel vor Scham. Shaun musste sie hassen.

Bei Brookes Party hatte er versucht, Merissa zu küssen – genau genommen hatte er sie auch geküsst, zum ersten Mal überhaupt, und versucht, ihre Lippen mit seiner Zunge zu öffnen –, aber sie war (unwillkürlich) zurückgezuckt.

Nach all der Zeit, all den Jahren, in denen sie in der Schule »Freunde« gewesen waren und sich zueinander hingezogen fühlten – hatte Merissa jedenfalls immer gedacht.

Als Merissa erstarrte, zog Shaun sich von ihr zurück.

Er wurde rot und stammelte etwas wie Oh, hey – okay. Tut mir leid, M’riss.

Merissa hatte ihn gekränkt, so viel stand fest. Sie hatte sich total blamiert.

Shaun Ryan war – im Wesentlichen – ein netter Junge, und sein offensives Auftreten ihr gegenüber schien ihm aufrichtig leidzutun. Er hatte ihr Lächeln und ihr warmes, kehliges Gekicher falsch verstanden. Aber wenn die anderen Jungen es erfuhren, würde Shaun sich schämen, und dann würde er sie bald nicht mehr ausstehen können.

Sie konnte ihm keinesfalls eine SMS schreiben, in der stand:

SHAUN BITTE VERSUCH ES NOCH MAL. BITTE KÜSS MICH NOCH MAL. ES TUT MIR SO LEID – ABER WÜRDEST DU ES BITTE NOCH MAL VERSUCHEN …

Auf keinen Fall. Man hat nur eine Chance.

Immerhin hatte Merissa Shaun und die Hälfte der Jungs in der Abschlussklasse ausgestochen und einen Studienplatz an der Brown bekommen. Sie hatten sich alle beworben; Brown stand ganz oben auf ihrer Liste.

Aber Alex Wren war freundlich zu Merissa gewesen, und Alex hatte sich auch beworben. Verzweifelt dachte sie: Alex mag mich! Vielleicht erfährt es Shaun und ist eifersüchtig.

Es war alles so lächerlich. Tink hatte recht: Man weiß, wenn es Zeit ist auszusteigen.

Wieder stieg das zittrige Gefühl in ihr auf, das erregende Jucken überzog ihre Haut. Ihre Finger suchten gierig die heimlichen, stichartigen Schnitte und Schorfwunden in ihrem Fleisch, nicht nur das kleine Kreuz am Bauch – es gab noch andere, rautenförmige, herzförmige unter ihren harten kleinen Brüsten, auf der leichten Wölbung ihres Bauchs, den Innenseiten ihrer Schenkel.

Strafe! Muss sein.

Sofort.

»Widerlich.«

Merissa meinte ihre wabbelige Haut. Wenn man sich zwicken und Fleisch zwischen den Fingern spüren konnte, war man dick.

So dachten alle Mädchen in der Quaker Heights. Und es war absolut widerlich, dick zu sein.

Merissa konnte sich nicht vorstellen, wie Nadia ihren Anblick im Spiegel ertragen konnte. Nadia war ganz hübsch – besonders ihre warmen braunen Augen –, aber ihr Gesicht war rund wie ein Teller, und wenn man sie von der Seite anschaute, hatte sie einen richtigen Bauch.

Merissa schauderte. Wenn sie wie Nadia aussehen würde, würde sie sich die Pulsadern aufschneiden.

Eine SMS kam auf ihrem Handy an. NADIA.

Merissa löschte sie, ohne sie zu lesen.

»Was will sie eigentlich immer von mir? Sie ist nicht meine Freundin.«

Merissa tastete nach der Schere auf ihrem Schreibtisch. Nur eine kleine Schere, nicht das Messer.

Rasch presste sie die scharfe Scherenspitze auf die Innenseite ihres linken Unterarms, am Ellbogen. (Weiter oben auf Merissas Arm waren mehrere kleine, verschorfte Wunden, die aussahen wie Tattoos.) Mit einer schnellen Handbewegung durchdrang sie die Haut, um den Druck in ihrer Lunge zu erleichtern, damit sie atmen konnte.

Der Schnitt war nicht tief – ein paar Blutstropfen. Mit einem Papiertaschentuch aufgesaugt und die Toilette hinuntergespült.

Keine schlimme Strafe. Aber Merissa ging es besser.

7(DAS UNAUSGESPROCHENE)

Daddy zieht vorübergehend aus. Du weißt, dass er in letzter Zeit nicht immer glücklich war und viel gereist ist, und jetzt zieht er aus – vorübergehend. Er wollte, dass ich es dir zuerst sage, aber er redet auch noch mit dir, und wenn er mit dir spricht, möchte er – oh Merissa, das ist wichtig für uns beide, für dich und für mich, Liebes –, dass du nicht WEINST.

Denn Merissas Daddy mochte, wie so viele Väter – oder besser, wie so viele Männer und Jungen –, keine Tränen.

Und vor allem mögen viele Männer – und Jungen – keine Tränen, für die sie verantwortlich sind.

Tränen sind Erpressung, sagt Merissas Daddy.

Und wie HÄSSLICH wird selbst ein schönes Mädchengesicht, wenn es von Tränen entstellt ist! Rotznase, Triefaugen, verzogener Fischmund – Daddy wird die Stirn runzeln und Abstand nehmen, wenn Merissa – (»das perfekte Mädchen«) – ihre Tricks ausspielt.

8»NICHTS MIT DIR ZU TUN«

»Merissa, Liebes – du darfst keinesfalls denken, das alles hätte etwas mit dir zu tun.«

Aber genau das dachte Merissa. Sie wusste es.

Schon seit Anfang September, als alles begann.

(Sie hatte es keinem erzählt. Keiner ihrer Freundinnen. Nicht mal Tink – und außerdem hatte Tink sie verlassen.)

Ihre Mutter hielt vorsichtig und tapfer Merissas schlaffe Hand.

Im stillen Haus saßen Mutter und Tochter in der grellen Morgensonne am Küchentisch (Daddy war am Abend zuvor nicht nach Hause gekommen). Das dumpfe Knirschen des Müllwagens draußen auf dem West Brook Way und das Geklapper der Mülltonnen klang, wie höhnisches Gelächter.

»… er sagt, dass es keine andere gibt … oder wenn es eine gab, eine Zeit lang letztes Jahr, weißt du noch, als er so hart an dem Northridge-Bericht arbeiten musste …« Merissas Mutter verstummte, als wäre ihr plötzlich klar geworden, dass sie zu viel sagte. Die Haut um ihre Augen war verquollen und blutunterlaufen, außerdem roch ihr Atem säuerlich, ein, wie Merissa feststellte, inzwischen vertrauter Geruch, wenn ihre Mutter sich ihr näherte. (Musste wohl irgendein Medikament sein, das sie nahm, um schlafen zu können. Oder gegen »Angst«.) »Dein Vater schwört, es gibt keine … ich möchte ihm glauben. ›Nur eine Trennung auf Probe‹, sagt er. Er zieht auf die andere Seite der Stadt, in ein Neubauviertel am Fluss – bei uns fühlt er sich ›beengt‹, sagt er – er liebt uns, sagt er – aber …«

Merissa sah, wie der Mund ihrer Mutter sich bewegte, aber sie hörte nicht alles, was sie sagte. Das Ganze war so lächerlich! So peinlich! Wie eine Szene in Tinks Melodram Gramercy Park. (Tink hatte ihren Freundinnen mal eine Folge auf DVD gezeigt, in der sie ein neunjähriges Mädchen spielte und ihre Mutter, Veronica, die neurotische Frau eines reichen Mannes und in der Serie nicht verwandt mit Tink. Die Mädchen hatten über das kitschige, von Stimmungsmusik untermalte Rührstück gelacht, über die traurigen, dummen Frauen, deren Leben ein Wirrwarr von enttäuschten Ehen und Liebesaffären war.) Nur war dies Merissas echtes Leben.

Hoffnungslos, dachte Merissa. Wir beide.

All die guten Nachrichten, die Merissa erhalten hatte – selbst der Studienplatz an der Brown –, was bedeutete das jetzt noch?

Nichts. Gar nichts.

Wenn Daddy sagte, er sei stolz auf sein kleines Mädchen und liebe sie – gar nichts.

Allerdings wusste Merissa, dass er vor einigen Jahren anders empfunden hatte. So wie er Merissas Mutter gegenüber anders empfunden hatte und gegenüber dem Verheiratet- und Vatersein.

Er hatte sie geliebt, lange bevor sie zu dem Menschen wurde, der sie jetzt war, als sie noch kleiner war und so süß. Als sie Daddys kleines Mädchen gewesen war und er sie voller Liebe angesehen hatte – sie auf seinen Schoß setzte und ihr zuflüsterte.

Wer ist mein kleines Mädchen? Mein süßes kleines Mädchen.

Das war, noch bevor Morgan Carmichael so erfolgreich wurde. Bevor er immer häufiger über Nacht wegblieb. Manchmal auch am Wochenende. Unterwegs – auf Geschäftsreise.

Weil Merissa inzwischen kein Baby mehr war. Sie war dünn (Gott sei Dank!), was bedeutete, dass man ihre Rippen durch die helle Haut sehen und die Wirbel ihres Rückgrats spüren konnte, wenn man sie anfasste (was Merissa nicht zuließ, wenn sie es verhindern konnte), aber sie war definitiv weiblich: Brüste und kleine Lockenhaare, die in ihren Achselhöhlen, ihrem Schritt und an den Beinen sprossen.

Und groß: zu groß. Denn es gab Jungen, die kaum ihre Größe erreichten und sie deshalb nie fragen würden, ob sie mit ihnen ausgehen würde. Selbst wenn sie sich ein bisschen duckte, war das nicht zu verbergen.

Bei der letzten Messung war sie einen Meter einundsiebzig groß und wog siebenundvierzig Kilo.

Doch das wog sie schon länger nicht mehr, und inzwischen konnte sie sich nicht mehr untersuchen lassen, aus Angst, die kleinen Wunden und der Schorf könnten entdeckt werden.

Nicht anfassen! Mein Körper ist mein Geheimnis.

Von Tink hatte sie gelernt: Lass den Feind nicht an dich ran.

Nur Freundinnen, die sich als »loyal erweisen«, dürfen sich nähern. Aber auch Freundinnen sollte man nicht alle Geheimnisse anvertrauen …

Manchmal ist ein Geheimnis zu gefährlich, um es einer Freundin zu erzählen.

Darum hatte auch niemand gewusst, was Tink plante.

Und deshalb hatte niemand sie aufhalten können. Hatte niemand schreien, sie anschreien können: Verdammt noch mal, Tink, wir lieben dich!

Niemand hatte sie verraten können, indem er es Big Moms erzählte. Oder den Lehrern in der Schule.

Es war offensichtlich, dass Tink ihr Vorhaben sorgfältig geplant hatte. Alles, was Tink machte, besonders ihre künstlerischen Projekte, war sorgfältig geplant, und nur wenig blieb dem Zufall überlassen.

Tatsache war: Tink war an ihrem siebzehnten Geburtstag, dem 11. Juni 2011, für t∗t erklärt worden (Merissa konnte es nicht denken, geschweige denn aussprechen, dieses schreckliche Wort).

Für t∗t erklärt an einem Morgen, als ihre Mutter, Veronica Traumer, »Big Moms«, Tausende von Meilen entfernt in Los Angeles weilte.

Für t∗