Zwischen Krieg und Terror - Ulrich Tilgner - E-Book

Zwischen Krieg und Terror E-Book

Ulrich Tilgner

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Beschreibung

VOM SONDERKORRESPONDENTEN DES ZDF FÜR DEN MITTLEREN OSTEN. DIE HINTERGRÜNDE DES ISLAMISCH-WESTLICHEN KONFLIKTS.

Weder Militärs noch Diplomaten haben die Krisen im Mittleren Osten noch unter Kontrolle. Nur jenseits militärischer Aktionen und Angriffsdrohungen gibt es einen Weg, gemeinsam eine friedliche Entwicklung ohne Gewalt zu fördern. Ulrich Tilgner, Journalist vor Ort, über eine Region zwischen Krieg und Frieden.

Der uralte Kampf zwischen Morgenland und Abendland droht wieder aufzubrechen – mit gefährlichen Konsequenzen für den Weltfrieden. Mit ihrem Krieg gegen den Terror haben insbesondere die USA jene Geister gerufen, die sie eigentlich schwächen und vernichten wollten. Diese These vertritt der Journalist Ulrich Tilgner, der seit über 25 Jahren aus der Region berichtet und tiefe Einblicke in die sensibelsten Bereiche orientalischer Politik hat. Ob er die Auseinandersetzungen um das iranische Atomprogramm beleuchtet, das Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan beschreibt oder den drohenden Bürgerkrieg im Irak, überall, wo die USA den Konflikt eskalieren lassen, beschleunigen sie die Radikalisierung und Re-Islamisierung der Gesellschaft. Viele Gläubige im Mittleren Osten sehen in der amerikanischen Konfliktstrategie einen Versuch, den Islam insgesamt zu schwächen. Damit spielt jede Form der Eskalation den radikalen Kräften in die Hände, die im aufbrechenden Kulturkampf den Islam um jeden Preis vor westlichen Wertvorstellungen schützen wollen. Dialogbereite Kräfte verlieren an Bedeutung. Die Gefahr, dass sich mit jeder militärischen Aktion der Terrorismus ausbreitet, da er idealen Nährboden findet, kann, so Tilgner, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deshalb plädiert er für den Dialog zwischen den Kulturen, um die Probleme eines komplexen Modernisierungsprozesses im Mittleren Osten zu bewältigen, ohne uralte Abwehrmechanismen neu auszulösen.

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Inhaltsverzeichnis
 
Lob
Einführung
 
Erster Teil – Iran und die Bombe
Kapitel 1 – Eine neue Atommacht?
Das nukleare Versteckspiel der Mullahs
Der Lieferant aus Pakistan
Halbherzige Verhandlungen der Europäer
Das Scheitern der Reformbewegung
Ahmadinejad als Antwort
Kapitel 2 – Die Geschichte einer Erzfeindschaft
Die Besetzung der US-Botschaft in Teheran
Terrorismusvorwürfe gegen Iran
Iran nächstes Kriegsziel der USA?
Amerikaner verstärken psychologische Kriegführung
Irans strategische Rohstoffreserven
Kapitel 3 – Risiko eines Krieges
Wagenburgmentalität
Die Gefahr eines Flächenbrandes im Mittleren Osten
Verhandlungen statt Eskalation
 
Zweiter Teil – Der Krieg gegen den Terror
Kapitel 4 – Der Irak versinkt in Chaos und Anarchie
Der Krieg der Sunniten
Tägliche Gewalt und Verbrechen der US-Streitkräfte
Iraks wirtschaftlicher Verfall
Kapitel 5 – Terroristen auf dem Vormarsch
Propagandaoffensive der Terroristen
Terroristen nutzen Stammesstrukturen
Terror für den Bürgerkrieg
Kapitel 6 – Pulverfass Irak
Erneutes Eingreifen von US-Soldaten
Ein Land droht auseinander zu brechen
Kapitel 7 – Rückschläge in Afghanistan
Kabul: Tummelplatz der Hilfsorganisationen
Drogenbarone, Warlords und die Taliban
 
Dritter Teil – Dialog statt Krieg
Kapitel 8 – Al-Kaida-Terror im Irak ignoriert
Eine neue Phase des Terrors
Anschläge im Westen
Kapitel 9 – Historisches Umdenken
Rekordhoch bei US-Militärausgaben
Primat der Politik
Religion verdrängt Nationalismus
Kapitel 10 – Dialog der Kulturen
Feindbilder
Gescheiterter Demokratieexport
Zentrale Rolle des Völkerrechts
 
Anmerkungen
Personenregister
Orts- und Sachregister
Danksagung
Copyright
Krieg ist nicht – ich wiederhole -, Krieg ist nicht »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Im Gegenteil – er stellt ein katastrophales Versagen politischen Könnens und Vorstellungsvermögens dar.
Kofi Annan (UN-Generalsekretär 1996 bis 2006)
Einführung
Im Mittleren Osten steht das Politbarometer auf Sturm. Versuche, Krisen beizulegen, verkehren sich in ihr Gegenteil. Bis heute sind Diplomaten und Militärs gescheitert, das Ausufern der Gewalt einzudämmen. Der Konflikt um Irans Atomprogramm eskaliert, in Teilen Iraks herrscht Bürgerkrieg, und in Afghanistan gewinnen die Taliban erneut an Boden. Auch im Nahen Osten zeigen der Libanonkrieg und die Kämpfe im Gazastreifen, dass die Gewalt immer wieder ausbricht, solange die Ursachen der Konflikte ungelöst bleiben.
Scheitern prägt die westliche Politik im Orient. In immer neuen Formen tritt der Terrorismus auf. Militante Organisationen in der arabischen und islamischen Welt sehen im Terror die wirkungsvollste Kampfform in der Auseinandersetzung mit dem Abendland. In den Staaten des Westens verüben Einwanderer oder gar deren dort geborene Kinder Anschläge, ohne dass sie dabei aus dem Orient angeleitet werden. Der Preis, den die Welt bei dieser Eskalation der Gewalt zahlen muss, lässt sich noch nicht abschätzen.
Mich irritiert die Leichtfertigkeit, die viele Politiker in Europa und den USA veranlasst zu glauben, Menschen im Orient wünschten sich nichts sehnlicher, als an der westlichen Zivilisation teilzuhaben. Dabei zeigt sich immer deutlicher, dass weite Teile der islamischen Welt Lebensweisen ablehnen, wie sie sich in den westlichen Industriegesellschaften ausgeprägt haben. Oft bildet Angst vor Überfremdung das entscheidende Motiv für die Gewaltausbrüche: sei es, dass sich Händler in Bazaren vor der Ausbreitung der Filialen von Supermarktketten fürchten, dass Stammesführer um ihre Vormachtstellung in seit Jahrhunderten von ihnen kontrollierten Gesellschaften bangen, dass sich Mütter um die Moral ihrer Töchter sorgen oder dass Geistliche gleich den Glauben insgesamt gefährdet sehen. Aus unterschiedlichen Motiven speist sich eine zunehmende Ablehnung der abendländischen Kultur, die nur zu leicht in Aggressionen gegen alles Fremde umschlägt. Dem Westen wird unterstellt, Begriffe wie »Frieden« und »Demokratie« zu missbrauchen, um die Region in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit zu bringen.
In solch einer Atmosphäre können bereits kleine Fehler von Politikern, ungeschicktes Verhalten von Diplomaten oder falsches Auftreten von Soldaten Gräben vertiefen oder gar Brücken einreißen, die zwischen Orient und Okzident existieren und eigentlich genutzt werden müssten, um gemeinsame Interessen zu stärken und kulturelle Gegensätze zu überwinden. Den Akteuren vor Ort fehlt sehr häufig die Kraft, ihre Differenzen friedlich aus der Welt zu schaffen.
Im israelisch-arabischen Konflikt bricht die Gewalt periodisch immer wieder aus. Terror auf der einen Seite und staatliche Vergeltung auf der anderen (so die israelische Sicht) oder (vom Standpunkt der Araber aus) Besatzung durch eine fremde Macht und Terror als wirkungsvollste Form des Widerstands dagegen bilden eine Spirale der Gewalt. Keine der beiden Seiten ist in der Lage, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Die Unfähigkeit, den Konflikt um das iranische Atomprogramm bereits in seinen Anfängen zu entschärfen, das bisherige Scheitern beim Aufbau einer Zivilgesellschaft im Irak wie in Afghanistan und die Hilflosigkeit gegenüber dem Terrorismus haben ähnliche Ursachen. Kulturen und Traditionen des Morgenlandes werden ignoriert und bei der Lösung von Problemen nicht berücksichtigt.
Wie sonst können Politikern Begriffe wie »Kreuzzug«1 in der Auseinandersetzung mit dem Orient über die Lippen kommen? US-Präsident George W. Bush macht es sich zu leicht, wenn er meint, in gewissen Teilen der Welt werde er falsch interpretiert. Denn nur zu oft handelt es sich um mehr als Missverständnisse oder Naivität. Wenn in den Demokratien des Westens nicht einmal mehr vorstellbar ist, dass dort Zivilisten von Soldaten auf das Fürchterlichste gefoltert, erniedrigt oder sogar ermordet werden, warum nimmt man es dann ohne größere Anzeichen von Empörung hin, dass Soldaten westlicher Staaten solche Verbrechen im Orient begehen? Mit Doppelmoral allein lässt sich dieses unterschiedliche Verhalten nicht erklären. Arroganz und Überlegenheitsgefühl führen zur Verharmlosung, wenn es um die Bewertung verbrecherischer Aktionen in der Fremde geht. Dann darf es nicht verwundern, wenn sich die Kluft zwischen Morgen- und Abendland vergrößert. Mit dem Einsatz moderner Militärtechnik lassen sich solche Diskrepanzen nicht beseitigen. Das Heer Alexanders des Großen und die römischen Legionen mussten dies genauso erfahren wie die Kreuzritter und die britischen Kolonialtruppen.
Mit ihrem »Krieg gegen den Terror« haben die USA Kräfte gestärkt, die sie eigentlich aus dieser Welt verbannen wollten. Im Irak hat sich dies besonders deutlich gezeigt. Es sind keineswegs nur terroristische Zirkel, die sich von der Weltmacht angegriffen fühlen. Viele Gläubige in der Region argwöhnen, das eigentliche Ziel des Westens sei die Schwächung des Islam. So fällt es Osama bin Laden nicht sonderlich schwer, sich als gemäßigt und als Verteidiger der Religion gegen eine äußere Bedrohung zu gerieren. In großen Teilen der islamischen Welt wird ihm mittlerweile stille, wenn nicht gar unverhohlene Sympathie oder Bewunderung zuteil. Die USA haben sich mit ihrer Verlegung auf militärische Mittel im Kampf gegen den Terrorismus in eine Sackgasse manövriert und somit für eine Eskalation der ohnehin bereits brisanten Situation gesorgt. Das Scheitern westlicher Politik spielt dem Terrorismus in die Hände.
Dabei sollten die Erfahrungen im Irak und in Afghanistan die Einsicht stärken, dass sich solche Konflikte auf militärischem Wege nicht lösen lassen. Damit wird die Atomkrise um Iran zur Nagelprobe, da sich eine diplomatische Lösung weiterhin nicht abzeichnet. Die USA sind entschlossen, den Aufbau des iranischen Atomprogramms im äußersten Fall mit Waffengewalt zu unterbinden, um Iran bereits im Vorfeld daran zu hindern, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Andererseits sieht die iranische Führung in der Entwicklung des Atomprogramms langfristig ein Mittel, das eigene System zu stärken. Ein Nachgeben gegenüber äußerem Druck würde in Teheran als Anfang vom Ende der eigenen Herrschaft empfunden.
Der Streit um die Mohammed-Karikaturen und die Empörung vieler Moslems über die Äußerungen des Papstes zum Islam belegen anschaulich, wie angespannt die Lage heute ist. Gegenseitiges Misstrauen erschwert Kompromisse. Im Wiederaufbrechen alter Konfliktlinien zeigt sich, dass die wirtschaftliche Globalisierung Kräfte im Abend- und im Morgenland mobilisiert, die bereits als überwunden galten. So droht sich die Bekämpfung des Terrorismus, mit der die USA auf die Anschläge vom 11. September 2001 geantwortet haben, zu einem Krieg der Kulturen auszuweiten. Politiker beider Seiten sehen sich im Recht, und manche glauben gar, in göttlichem Auftrag zu handeln. Präsident Bush etwa beansprucht, im Rahmen einer »Berufung von jenseits der Sterne für die Freiheit einzustehen«2. Madeleine Albright, die seinerzeit als US-Außenministerin die Koalition gegen Saddam Hussein aufbauen half, wirft ihm vor, Moslems in aller Welt vor den Kopf gestoßen zu haben, indem er sich einer absolutistisch-christlichen Rhetorik bediente, um außenpolitische Themen zu erörtern.3 Bush selbst fühlt sich gründlich missverstanden. Nach den Terrorakten des 11. September habe er zu heftige Worte gewählt.4 Allerdings brauchte er fünf Jahre, um zu bedauern, dass es nicht richtig gewesen sei, dazu aufzurufen, Osama bin Laden »tot oder lebendig« zu fassen. Künftig werde er in der Wahl seiner Worte größere Umsicht walten lassen, gelobt er Besserung.5
Damit zeigt Präsident Bush nur, dass die US-Regierung ihre Fehler nicht einmal oberflächlich aufarbeitet. Statt sich über die falsche Begründung, mit der die USA und Großbritannien 2003 in den Irak einmarschiert sind, Gedanken zu machen und sich zu fragen, ob man einen solchen Krieg überhaupt hätte führen dürfen, wenn die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen gar nicht existierte, werden andere Argumente nachgeschoben. Eigentliche Absicht sei gewesen, die Freiheit in der Welt zu verbreiten. Denn ihr Fortbestand in den USA hänge zunehmend von dem Erfolg der Freiheit in anderen Ländern ab, erklärte der Präsident zwei Jahre nach dem Angriff auf Irak. Und da laut seiner Diktion die größte Hoffnung für Frieden auf der Verbreitung der Freiheit in der gesamten Welt beruht, hatte Bush auch keine Skrupel, den Angriffskrieg als probates Mittel einzusetzen. Angesichts eines solch messianischen Weltbildes rückt ein Ende der Auseinandersetzungen zwischen Orient und Okzident in weite Ferne.
Im Konflikt zwischen Israelis und Arabern zeigt sich, wohin die Anwendung von Gewalt führt, wenn darin ein Mittel gesehen wird, Frieden zu schaffen. Auch der jüngste Versuch Israels, die libanesische Hisbollah militärisch zu zerschlagen, blieb erfolglos, weil seit Jahrzehnten bestehende politische Defizite und Versäumnisse nicht durch den Einsatz von Soldaten ausgeglichen und nachgeholt werden können. Selbst wenn sich in den Kämpfen nur Hisbollah-Kommandos und israelische Truppen gegenüberstanden – auch der neue Libanonfeldzug Israels enthielt Elemente eines Stellvertreterkriegs.
Syrien und Iran haben die libanesischen Schiiten auch aufgerüstet, um mit ihrer Hilfe den Staat der Juden unter Druck zu setzen oder sogar angreifen zu können. Solange die syrischen Golanhöhen von israelischen Truppen besetzt sind, wird das Regime in Damaskus die Hisbollah als permanente Bedrohung Nordisraels nutzen. Und für Iran bilden die Kommandos der Schiiten im Libanon sogar eine Möglichkeit, die Fehde mit dem Westen, und hier vor allem mit den USA, auszuweiten, ohne selbst direkt beteiligt zu sein.
Die Brutalität bei den Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Arabern wurde allzu oft von Außenstehenden angeheizt. Diese Einmischung Dritter verschärft die Spannungen im Orient. Schon immer handelte es sich bei der von den arabischen Staaten propagierten Solidarität mit den Palästinensern vor allem um Lippenbekenntnisse, die in erster Linie von eigenen Schwierigkeiten ablenken oder um Unterstützung für völlig andere Zielsetzungen werben sollten. Saddam Husseins Raketen auf Israel im Jahre 1991 sind ein Beispiel dafür. Ihrem Einsatz lag die zynische Überlegung zugrunde, in der arabischen Welt zusätzliche Sympathien für den Krieg mit den USA zu erhalten. Heute nutzt Iran den Konflikt auch, um eigene Ziele im Atomstreit besser durchsetzen zu können.
Seit der Gründung des Staates Israel wird das explosive Verhältnis von Palästinensern und Israelis durch äußere Einmischung erschwert, ohne dass die internationale Gemeinschaft sich auf ihre Verantwortung besinnt, zur Normalisierung dieser Beziehungen beizutragen – eine Verantwortung, die nach dem Sechstagekrieg im Jahre 1967 nur gestiegen ist. Damals besetzte Israel den Gazastreifen, die Westbank und die Golanhöhen. Der Mangel an Entschlossenheit der arabischen Staaten, diese Gebiete den israelischen Truppen wieder zu entreißen oder durch Verhandlungen zurückzugewinnen, führte bei den Palästinensern zu einer Besinnung auf die eigene Stärke und löste damit eine Blüte des palästinensischen Nationalbewusstseins aus.
Erst der Kuwaitkrieg im Jahre 1991 setzte international Kräfte frei, den palästinensisch-israelischen Konflikt zu beenden. Auch wegen des in der arabischen Welt verbreiteten Antiamerikanismus drängten die USA auf ein Ende der Auseinandersetzungen und unterstützen Bemühungen hinsichtlich einer friedlichen Koexistenz beider Völker. Die Amerikaner müssen ihren Ruf in der arabischen Welt verbessern, wenn sie langfristig im Nahen und Mittleren Osten Einfluss gewinnen wollen.
Mit dem Abkommen von Oslo, in dem Israelis und Palästinenser sich verpflichteten zu verhandeln, um eine Annäherung zu erzielen, ergab sich eine historische Chance, Frieden zu schaffen. Doch der Prozess scheiterte, weil sich die internationale Staatengemeinschaft wieder nur sehr zögerlich bereit fand, die Umsetzung des Friedensplans mit Nachdruck voranzutreiben. Religiöse Fanatiker auf israelischer und palästinensischer Seite bekämpften eine nationale Aussöhnung und setzen sich damit zunächst einmal durch.
Auch dadurch verliert der Nationalismus, die treibende Kraft des Osloer Abkommens, an Dynamik. Er wird zerrieben zwischen dem Prozess der Globalisierung und dem Rückfall in religiöse Denkmuster. Radikale islamische Organisationen im Gazagebiet und im Westjordanland kämpfen nicht mehr für die Bildung eines eigenen Staates an der Seite Israels, sondern für die Zerstörung des Staates der Juden – ein Ziel, dem sich auch die libanesische Hisbollah verschrieben hat. Deren Raketenangriffe beantwortet Israel mit einer Großoffensive. Doch die Entwicklung der Kämpfe zeigt, wie ungeeignet Krieg ist, um Frieden zu schaffen. Auch die Stationierung internationaler Truppen kann eine politische Lösung des arabisch-israelischen Konflikts nicht ersetzen. Dafür bedarf es gewaltiger diplomatischer Anstrengungen. Deren Ziel muss es sein, mit weltweiter Unterstützung die Grundlagen für die Bildung eines lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite Israels und ein dauerhaftes friedliches Verhältnis zwischen Israel und Syrien zu schaffen. Dies wären auch große Beiträge, um die Lage im Irak und in Afghanistan zu beruhigen und die Krise um das iranische Atomprogramm zu entschärfen. Statt Kampf und Krieg könnte Dialog das Verhältnis der Kulturen prägen.
Erster Teil
Iran und die Bombe
1
Eine neue Atommacht?
»Wir sind schon ein Atomstaat, und wir können die Atomtechnologie zu hundert Prozent anwenden. Wir werden sie für friedliche Zwecke nutzen, zum Beispiel in der Medizin und in der Landwirtschaft. Wir arbeiten nicht heimlich. Kameras der IAEA befinden sich überall. Wir sind nicht wie andere, die alles heimlich machen.«1 Blufft Mahmoud Ahmadinejad nur, und will er damit von einem geheimen Waffenprogramm ablenken? International hat Irans Präsident seine Glaubwürdigkeit verspielt. Gilt er doch als skrupelloser Politiker, der in den Besitz der Bombe gelangen möchte und auch einen Krieg mit dem Westen nicht scheut, um iranische Großmachtsträume zu verwirklichen. Sicher ist nur, dass Iran bei der Entwicklung der Atomtechnologie wichtige Fortschritte erzielt hat und damit auch in der Lage wäre, eine eigene Bombe zu bauen.
Für Israel ist der Fall klar. Laut der Überzeugung von Ministerpräsident Ehud Olmert steht Iran an der Schwelle, Atomwaffen zu entwickeln.2 Es sei nur noch eine Frage weniger Monate, bis die Islamische Republik sie besitze. Dabei vermochten iranische Techniker im April 2006 Uran bisher nur auf 4,5 Grad anzureichern. Dies ist zwar ein wesentlicher Schritt, doch die Mengen sind zu gering, und der Anreicherungsgrad ist viel zu niedrig, um eine solche Waffe zu entwickeln. Außerdem werden diese Bemühungen zur Beherrschung der Atomtechnologie von der »International Atomic Energy Agency« (IAEA), der Internationalen Atomenergie-Behörde, mit Argusaugen überwacht. In den Medien der Islamischen Republik werden sie dennoch als Meilenstein in der Entwicklung des Landes gefeiert. Ahmadinejad übertreibt den Erfolg. Ihm geht es auch um eine Demonstration, den Eindruck zu erwecken, letztlich sei es seiner politischen Entschlossenheit zu verdanken, dass Iran es trotz internationaler Proteste gewagt habe, Uran anzureichern. Mit dieser Maßnahme – so der Präsident – erhielten das Regime und das Land die Anerkennung, die ihnen bisher verwehrt worden seien. Dabei verschweigt Ahmadinejad wohlweislich, dass die Anreicherung von Uran das Ergebnis einer jahrelangen Geheimpolitik der islamischen Führung darstellt, die weit vor seiner Präsidentschaft ihren Anfang nahm.

Das nukleare Versteckspiel der Mullahs

Ob es binnen weniger Monate oder erst in einigen Jahren geschafft werden kann, sei dahingestellt – eines ist sicher: Iran verfügt über die Voraussetzungen zur Konstruktion von Atombomben. Eindeutige Erkenntnisse über den möglichen Zeitpunkt gibt es nicht. Beim Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS) in London hegt man die Erwartung, dass es bereits 2010 so weit sein könnte. Die Politik solle von den schlimmsten Annahmen ausgehen, erklärt Institutsleiter John Chipman bei der Vorlage des Jahresberichts 2006.3 Allerdings hatte er bereits vier Jahre zuvor die Möglichkeit einer irakischen Bombe in Erwägung gezogen und damit weltweit blinden Alarm ausgelöst. Bei der Schätzung der Frist für den Zeitraum, den Iran zur Fertigstellung einer Bombe benötigt, gleichen sich die Prognosen. John Negroponte, der Direktor der US-Geheimdienste, spekuliert im Juni 2006, bis 2010 werde es so weit sein.4 Auch private Institute und Stiftungen in den USA gehen von einem Zeitraum von drei bis vier Jahren aus.
In zwei Punkten ähneln sich alle Aussagen: Niemand behauptet, dass Iran schon im Besitz der Bombe sei. Und in den Prognosen und Spekulationen über das diesbezügliche Potenzial des Landes heißt es, es fehle ihm die für eine Bombe benötigte Menge an hoch angereichertem Uran. Es herrscht sogar weitgehend Einigkeit darüber, dass Iran ohne zusätzliche geheime Produktionsstätten in absehbarer Zeit nicht genügend Uran herzustellen in der Lage sei. Die Kapazität der bisher bekannten Anlagen reiche zudem nicht aus, um bereits in den kommenden Jahren eine Bombe herstellen zu können. Es werden sogar Vermutungen geäußert, der iranische Präsident übertreibe die Erfolge bezüglich der Urananreicherung, um seine Stellung zu festigen. So stamme das zu diesem Prozess erforderliche Uran-Hexafluorid gar nicht aus der eigenen Produktion, sondern es sei 1991 von China gekauft worden.5 Allerdings wird damit auch deutlich, wie schwer es ist, den iranischen Machthabern eine zeitlich exakte Entwicklung eines militärischen Atomprogramms nachzuweisen.
Den Beteuerungen aus Teheran, man habe nicht die Absicht, eine Bombe zu bauen, schenkt die internationale Staatengemeinschaft allein schon deshalb keinen Glauben mehr, weil die iranische Führung in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit weltweit über das Ausmaß des Atomprogramms und die Arbeiten daran getäuscht hat. Vor Ort lässt sich kein Eindruck gewinnen, zu sehr sind Dichtung und Wahrheit vermengt, zu üppig sprießen Gerüchte. In den vergangenen fünf Jahren bin ich mit vollkommen widersprüchlichen Aussagen konfrontiert worden. Dozenten und Professoren behaupten, wenn im Lande an militärischen Atomprogrammen gearbeitet werde, müssten sie es wissen; deren Existenz sei auszuschließen. Gleichzeitig wird aber von Forschungszentren in Bergstollen und unterirdischen Produktionsstätten gemunkelt. Nur gibt es dafür keine Beweise, und auch den Inspektoren der IAEA mangelt es diesbezüglich an konkreten Belegen.
In dieser Situation könnte es sich vielleicht als hilfreich erweisen, die offiziellen Aussagen von Verantwortlichen zu bewerten. Vor allem Hojatoleslam Hassan Rohani, der ehemalige Generalsekretär des iranischen Nationalen Sicherheitsrats, geht in Reden und Artikeln auf Details der iranischen Verhandlungen und des Atomprogramms ein.6 Aber auch hieraus ergibt sich keine Indizienkette, aus der ersichtlich wird, dass man in der Islamischen Republik bereits an der Entwicklung der Bombe arbeitet. Dies zeigen auch die IAEA-Berichte. Bis heute hat die Wiener Behörde Iran nicht vorhalten können, ein militärisches Atomprogramm zu betreiben. Fragen der IAEA, die Teheran nicht beantwortet, deuten auf mögliche militärische Planungen. Aber auch das muss noch lange nicht heißen, dass das Land die Bombe konstruiert oder ihre Entwicklung plant.
Iranische Militärs wie etwa der langjährige Verteidigungsminister Admiral Ali Shamkani haben mir gegenüber beteuert, Iran baue keine Atomwaffen und wolle sie auch nicht. Schließlich sei die Herstellung der Bombe aus religiösen Gründen verboten. Diesen Hinweis habe ich immer als Totschlagargument empfunden. Denn bei genauerem Nachfragen würde ich die Befragten indirekt beschuldigen, nicht gläubig zu sein. Gleichzeitig ist das Lügen aber aus religiöser Sicht erlaubt, wenn damit eine Gefahr vom Islam abgewendet werden kann. Also ist – genau gesehen – der Hinweis auf das Verbot der Atomrüstung aus Glaubensgründen nicht wirklich entlastend.
Aus iranischen Erklärungen lassen sich Schlussfolgerungen ziehen. Dabei ist eine Rede von Rohani aufschlussreich. Dieser Geistliche, der jahrelang mit der IAEA in Verhandlungen gestanden hat, erstattet am 30. September 2005 iranischen Spitzenpolitikern eine Art Rechenschaftsbericht mit höchst brisanten Details. Zwar werden die Ausführungen des Geistlichen in einer Zeitschrift wiedergegeben, deren Erscheinen letztlich allerdings verhindert. Doch der Wortlaut der Rede gelangt ins Internet. Aufgebrachte konservative Abgeordnete fordern nach der Veröffentlichung sogar, Rohani wegen Verrats vor Gericht zu stellen – vielleicht wegen folgender Aussage zur besonderen Bedeutung des atomaren Brennstoffkreislaufs: »Über ihn zu verfügen, gleicht ungefähr der Fähigkeit, atomare Waffen herzustellen, falls der politische Wille des Landes danach verlangt.«
Genau diese Schwellenfähigkeit zum Bau der Bombe ist es, die Iran meiner Meinung nach anstrebt. Da ist es dann nicht mehr wesentlich, ob der Schritt auch vollzogen werden soll. Denn diese Entscheidung kann schnell gefällt werden.
Rohani geht in seiner Rede auch auf die Entwicklung des Atomkonflikts ein: »In den letzten Jahren – ab 1999 – beschlossen wir, unsere Möglichkeiten besser zu nutzen und aktiver zu werden. Die Behörden, die sich mit den Angelegenheiten der Atomenergie befassen, erhielten Handlungsmöglichkeiten, die sie davor nicht hatten: weniger Papierkram, weniger Verbote und mehr Möglichkeiten für die Entwicklung von Atomenergie. Daraufhin schrieben die westlichen Medien immer öfter, Iran baue an einer Bombe. Das war im September 2002. Kurz danach schaltete sich auch die IAEA ein. Sie begann diverse Fragen zu stellen, um herauszufinden, ob sich das alles noch im legalen Bereich bewege oder ob der Iran heimlich aktiver sei, als man in der Öffentlichkeit denke.«7
Die Islamische Republik arbeitet mit Hochdruck an ihrem Atomprogramm, andere Deutungen lassen diese Ausführungen gar nicht zu. Und es wird auch deutlich, dass die Verantwortlichen Anweisung haben, im Geheimen vorzugehen. Bei der Beschaffung der erforderlichen Geräte und Anlagen werden unkonventionelle Wege beschritten und Importe verdeckt organisiert. Das geplante Umgehen der Exportbeschränkungen anderer Länder kann eine der Konsequenzen dieser »größeren Freiheiten« sein, die den Projektplanern eingeräumt werden. Doch die Aktivitäten fallen auf, in Wien schrillen die Alarmglocken. Die Atomenergie-Behörde entdeckt, dass Iran unkontrolliert ein Atomprogramm entwickelt.
Aber es kommt nicht zur Krise, weil im Herbst 2002 der bevorstehende Irakkrieg alle anderen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens in den Hintergrund drängt. Irans Atomprogramm verschwindet wieder von den Titelseiten, obwohl die Atomenergie-Behörde in Wien neue Untersuchungen in die Wege geleitet hat. Mohammed Al Baradei, der Generaldirektor der UN-Organisation, fordert im Februar 2003 nach einer Besichtigung der geheim gebauten Anlage bei Natanz, in der mit Gaszentrifugen Uran angereichert werden soll, dass Iran ein Protokoll über zusätzliche Kontrollen unterzeichnet.8 Die iranische Regierung sichert Al Baradei dann auch zu, künftig vorab Informationen über geplante neue Atomanlagen zu liefern. Iran steht unter Verdacht, Beobachtung und verstärktem Druck. Die Regierung in Teheran befürchtet, dass der Gouverneursrat der IAEA den Fall an den Weltsicherheitsrat in New York weiterleitet.
Um diese Zuspitzung zu verhindern, versucht Iran, das Atomproblem in Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten zu lösen. Die Regierung in Teheran möchte die während des Irakkriegs aufgetretenen Differenzen zwischen den USA und einigen westeuropäischen Staaten nutzen, um etwaige internationale Sanktionen gegen die Islamische Republik abzuwenden. Aber Verhandlungen mit den Europäern können nur erfolgreich sein, wenn Iran auf seine Bemühungen, einen geschlossenen Brennstoffkreislauf herzustellen, verzichtet. Diese Forderung, der sich auch Russland nicht verschließt, wurde zuvor von Großbritannien, Frankreich und Deutschland in einem Brief erhoben.9
Iran lädt im Herbst 2003 die Außenminister der drei europäischen Staaten ein, um den enormen Druck abzufedern, der international entsteht. Rohani beschreibt den iranischen Politikern in seiner Rede das Dilemma, mit dem sich die für das Atomprogramm Verantwortlichen konfrontiert sahen: »Wir wussten: Wenn wir keine komplette Übersicht über unseren Atomfall abgeben, würde die IAEA sofort erkennen, dass wir nicht bereit sind, mit ihr zusammenzuarbeiten. Schließlich hatten Länder wie China oder Russland, mit denen wir Geschäfte gemacht hatten, der IAEA alles berichtet, während wir das nicht gemeldet hatten. Wir haben nachträglich erfahren, dass die IAEA sogar über geheime Laborversuche informiert war, selbst wenn diese Jahre zurücklagen.«10
Im Iran ist man überrascht über die Detailkenntnisse der IAEA. Rohani erläutert an einem Beispiel die Überwachungsdichte der Wiener Behörde: »Es gab einen Test von einem Universitätsprofessor. Einer seiner Studenten schrieb darüber einen Bericht. Ein Exemplar davon lag der IAEA vor, wobei wir davon nichts wussten. Sie kannten alles, was wir geheim gehalten hatten. Es gab sogar einen Fall, der zwölf Jahre zurücklag. Als wir den Bericht abgeben mussten, fragte einer der Zuständigen der IAEA, ob wir auch über diese Sache berichten würden. Er wollte uns klar machen, dass sie bereits alles wussten.«11 Die UN-BEHÖRDE in Wien scheint bestens informiert zu sein.
Der Bericht des ehemaligen iranischen Chefunterhändlers lässt keine Zweifel: Iran hat sein Atomprogramm bewusst vor der Weltöffentlichkeit abgeschottet. Es handelt sich nicht um irgendwelche Missverständnisse oder, wie Teheran offiziell verlauten lässt, um einige offene Fragen, die noch geklärt werden müssen. Iran kann seine Aktivitäten auf dem atomaren Sektor auch nicht öffentlich machen, ohne mit heftigen internationalen Reaktionen rechnen zu müssen. In Russland und auch in den nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandenen zentralasiatischen Republiken sind für eine Bombenproduktion wichtige Elemente und auch Sprengköpfe, Granaten und komplette Bomben gekauft worden. Dies geschah unter dem Eindruck des achtjährigen Krieges mit Irak, den die Islamische Republik nur mit einer Mobilisierung der letzten Reserven durchstand. Ohne nennenswerte ausländische Unterstützung fehlten der Regierung im letzten Kriegsjahr die Devisen, neue Waffensysteme zu kaufen oder deren Entwicklung zu bezahlen. Vor allem die Revolutionswächter drängten darauf, neu aufzurüsten und auch Laserwaffen und Atombomben zu beschaffen. Am 16. Juli 1988, vier Tage bevor er einem Waffenstillstand öffentlich zustimmte, begründete der damalige Staatsführer Ayatollah Khomeini seine Entscheidung in einem Brief an die Spitzenpolitiker des Landes. Als Hauptgrund, den Krieg nicht fortzusetzen, nannte er die fehlenden Möglichkeiten, Waffenanforderungen der Kommandeure erfüllen zu können. »Wenn wir stark wären und über eine große Menge Laser- und Atomwaffen verfügen würden, die für einen Krieg derzeit notwendig sind, könnten wir eine Angriffsaktion durchführen«, lautete seine Lageeinschätzung. Um die Existenz des islamischen Systems nicht zu gefährden, akzeptierte er die UN-Bedingungen für einem Waffenstillstand. Mit dem Ende des Krieges bestand keine Notwendigkeit mehr, ein militärisches Atomprogramm fortzusetzen.
Vor diesem Hintergrund müssen die iranischen Bemühungen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre gesehen werden, eine Atombombe zu entwickeln.
Genau diese Bemühungen werden heute unter dem Hinweis auf die außergewöhnlichen Umstände des Krieges mit Irak nicht mehr erwähnt, weshalb die damaligen Atompläne auch nicht als Beweis dafür dienen können, dass Iran dieses Vorhaben keineswegs aufgegeben hat. So legt Rohani in seiner internen Rede denn auch Wert darauf, zu betonen, Iran strebe ausschließlich eine zivile Nutzung der Atomtechnik an. Und in einem Artikel schreibt er: »Wenn wir die Absicht gehabt hätten, eine Bombe zu bauen, so hätten wir dies in der Zeit tun können, in der die IAEA unsere Arbeiten nicht aktiv überprüft hat.«12 Doch dies ist gar nicht der entscheidende Punkt. Die offenen und die verdeckten Teile des Programms deuten darauf hin, dass die Islamische Republik seit mehreren Jahren systematisch auf die Schwellenfähigkeit zur Produktion von Atomwaffen hinarbeitet.
Iran will nicht nur einer der führenden Rohstofflieferanten weltweit und das wirtschaftlich stärkste Land der Golfregion werden, sondern auch – zumindest indirekt – zum Club der Atommächte aufschließen. Aus einer Position der Stärke soll die internationale Isolierung durchbrochen und die weltweite Anerkennung erzwungen werden. Diese Politik wird von allen Fraktionen der iranischen Führung getragen. Vor diesem Hintergrund beginnen im Oktober 2003 die politischen Gespräche mit Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Bundesaußenminister Joschka Fischer erklärt mir nach seiner Ankunft in Teheran, die europäischen Staaten beabsichtigten, die Islamische Republik zu einem Verzicht auf einen geschlossenen Kreislauf atomarer Produktion zu bewegen und somit den Ausbruch einer neuen Krise im Mittleren Osten zu verhindern.
Nach stundenlangen Verhandlungen willigt Iran ein, alle Arbeiten an der Urananreicherung auszusetzen. Dabei werden Gespräche jedoch mehrfach unterbrochen, weil die iranische Delegation für die Zugeständnisse an die Europäer eine Zustimmung von Ayatollah Khamenei, der höchsten geistlichen Autorität des Landes, einholen muss. Rohani zeigt sich in der Rückschau mit der Entwicklung sehr zufrieden: »Für uns war das ein sehr schönes Erlebnis. Wir haben die Sitzung im Oktober gut hinter uns gebracht. Leider hat das Vertrauen zwischen uns und Europa später einen Knacks bekommen.«13
Und das ist kein Wunder – während die Europäer Wort halten und im Gouverneursrat der IAEA verhindern, dass das iranische Atomproblem an den Weltsicherheitsrat verwiesen wird, erfüllt Iran seine Zusage, mit der IAEA zusammenzuarbeiten, nur teilweise. Trotz der Vereinbarung mit den Europäern verheimlicht die Islamische Republik weiterhin bedeutende Teile ihrer Forschungsarbeiten und meldet der Behörde in Wien unter anderem nicht den Besitz von in Pakistan gekauften P-2-Zentrifugen. Der Schwindel fliegt auf, weil Libyen Washington und London über Details eines weltweiten geheimen Handelsnetzes für waffenrelevante Atomtechnologie informiert, an dem auch Iran beteiligt ist.
Offensichtlich hat die Teheraner Führung ihre den europäischen Außenministern gegebenen Zusagen nicht eingehalten. Zwar behauptet Iran, die Zentrifugen seien nicht benutzt worden, doch ungeklärt bleibt, warum der Kauf verheimlicht wurde und für welchen Einsatz die modernen Zentrifugen vorgesehen sind. Möglicherweise sollen auch keine Hinweise auf das Programm aus der Endphase des iranisch-irakischen Krieges gegeben werden.
Rohani räumt in seiner Rede weitere gravierende Brüche der Absprachen mit den Europäern ein. Demzufolge wurden vom Iran nur solche Teile der Atomanlagen stillgelegt, die wegen technischer Probleme ohnehin nicht einsatzbereit waren, während in anderen Werken produziert beziehungsweise die Produktion vorbereitet wird.
Dieser schwere Vertrauensbruch gegenüber den Europäern konnte bis heute nicht gekittet werden. Auch der Kauf von Laserausrüstungen, mit denen Uran angereichert werden kann, wird der IAEA verschwiegen. Rohani allerdings spielt das Nichteinhalten der Übereinkunft herunter: »Wir haben in allen Fällen die Wahrheit gesagt, aber es ist möglich, dass wir unsere Mitteilungen manchmal ein bisschen verspätet gemacht haben.«14

Der Lieferant aus Pakistan

Als Libyen den USA und Großbritannien 2003 die Lieferanten für das eigene militärische Atomprogramm nennt, werden damit auch die verdeckten Aktivitäten Irans bekannt. Geschäftsleute, die über verschwiegene Kanäle Ausrüstungen zum Bau einer Bombe beschaffen, haben Iran Zentrifugen verkauft. Frontmann dieser Atommafia ist der aus Sri Lanka stammende Buhary Seyed Abu Tahir, der auf der Gehaltsliste des pakistanischen Atomkonstrukteurs Abdul Kadir Khan steht. Abu Tahir organisiert für Kadir Khan aber auch die Atomlieferungen an Libyen: Im Oktober 2003 werden auf dem deutschen Schiff BBC China Bauteile einer Anlage zur Anreicherung von Uran gefunden, die für Libyen bestimmt sind.15
Abu Tahir hat eine bemerkenswerte Karriere vorzuweisen. Seit den achtziger Jahren leitet er die in Dubai ansässige Firma »SMB Group«. 1985 lernt er Kadir Khan kennen und steigt ins Atomgeschäft ein. 1995 organisiert er den Transport von zwei Containern mit Zentrifugen von Pakistan nach Iran. Abu Tahir wird nach Aufdeckung der Libyengeschäfte verhaftet. Bei seiner Vernehmung in Malaysia erklärt er, Iran habe für die Lieferung drei Millionen Dollar bezahlt.16 Libyen kontaktierte Kadir Khan ein weiteres Mal im Jahre 1997, so Abu Tahir in seinen Aussagen weiter. Und 2001 verkauft Kadir Khan den Libyern angereichertes Uran, das direkt aus Pakistan angeliefert wird. Zentrifugen des Typs P1 erhält Libyen während des letzten US-Krieges in Afghanistan gegen die Taliban.
Kadir Khan unterhält bereits seit den achtziger Jahren ein geheimes Netzwerk zur Beschaffung der erforderlichen Technik für das pakistanische Atomprogramm. Es sind vor allem Ingenieure und Firmen aus Mitteleuropa, die dem Land ihr Knowhow verkaufen. In dieser Zeit entwickeln sich auch Kadir Khans erste Kontakte mit dem Iran. Damals überließ er der Regierung in Teheran sogar zumindest einige Pläne zum Bau von Zentrifugen für die Anreicherung von Uran, und 1987 verkaufte er sie dorthin. Die Islamische Republik will Zehntausende dieser ersten pakistanischen Zentrifugen – deshalb auch P1 genannt – nachbauen. Kadir Khan kann Iran beliefern, weil er aus Europa, vor allem aus Holland, Deutschland und Frankreich, Materialmengen nach Pakistan importiert, die den Bedarf für den Bau der pakistanischen Atombomben bei weitem übersteigen. Diese ersten Exporte des Managers des pakistanischen Atomprogramms blieben über viele Jahre geheim, sie zeigen aber die zentrale Bedeutung, die Kadir Khan bei der Verbreitung der militärischen Atomtechnologie zukommt.
Erst als Libyen die Importe einräumt und Mitarbeitern britischer sowie US-amerikanischer Geheimdienste Einsicht in die höchst geheimen Waffenprogramme gewährt, wird das Ausmaß der Geschäfte Kadir Khans bekannt. Der Pakistani ist von Geldgier getrieben, gleichzeitig aber auch ein Überzeugungstäter. Es erfülle ihn mit Stolz, die Technologie für Atomwaffen an islamische Länder weitergegeben zu haben, erklärt er Besuchern.
Einige der Maschinen für die Entwicklung der Atomtechnik werden von der Firma »Scomi Precision Engineering« (Scope) in Malaysia gebaut. Heute beteuert die Unternehmensleitung, nichts von der Bestimmung ihrer Produkte gewusst zu haben. Hauptaktionär von Scope ist der Sohn des damaligen Premierministers Kamaluddin Abdullah. Der Auftrag stammt von der Firma »Gulf Technical Industries«, die Abu Tahir gehört.
Auch an dieser internationalen Verschachtelung lässt sich erkennen, wie wichtig es den Hauptakteuren ist, Spuren zu verwischen. So wird bei einem der Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Atomschmuggel Kadir Khans die Behauptung protokolliert, der an den Geschäften beteiligte Schweizer Ingenieur Urs Tinner habe sogar Originale von Konstruktionsplänen für den Bau einer Atombombe erhalten.17 Tinner soll diese Pläne an die Atomenergie-Behörde weitergegeben haben.
Der Ingenieur war bei Scope für die Maschinenproduktion zuständig. Mitarbeiter der Firma berichten der Staatsanwaltschaft, der Schweizer habe immer sehr genau darauf geachtet, dass keine seiner Konstruktionszeichnungen in die falschen Hände gerieten. Selbst die Dateien in den Computern der Firma seien gelöscht worden. Der Schweizer habe alles versucht, um Spuren seiner Tätigkeit zu beseitigen. Tinner weiß offensichtlich, dass die in der Fabrik gefertigten Elemente für den geplanten Bau einer Atombombe in Libyen bestimmt sind.
Das Netzwerk von Kadir Khan operiert jahrelang unbehelligt und macht gewaltige Umsätze. Bis heute sind die genauen Details nicht bekannt. Vor allem gibt es keine Informationen, ob der in Pakistan lebende Wissenschaftler nicht auch direkt oder indirekt Al Kaida beliefert hat. Kadir Khans Umsätze sind gewaltig, allein die Islamische Republik entlohnte seine und die Dienste seiner Mitarbeiter mit insgesamt zweihundert Millionen Dollar.

Halbherzige Verhandlungen der Europäer

In Teheran wissen die Politiker genau, dass ihr Atomprogramm weltweit oder doch wenigstens vom Westen abgelehnt wird. Aber die islamische Führung glaubt aus zwei Gründen, ihr Projekt heimlich fortsetzen zu können. Beim Nationalen Sicherheitsrat rechnet man nicht damit, dass Iran wegen seiner Atompolitik militärisch angegriffen wird: »Jetzt gibt es keine Wahrscheinlichkeit für einen Krieg, auch wenn unser Fall an den Sicherheitsrat verwiesen wird. Amerika hat noch viele Probleme im Irak. Daher ist der Beginn einer neuen Krise sehr unwahrscheinlich«, meint Rohani.18 Gleichzeitig geht er aber auch davon aus, dass die USA auf weit mehr als die Einstellung des unterstellten iranischen Atomprogramms aus sind: »Europa will nur, dass wir keinen geschlossenen Kreislauf haben, aber Amerika will uns vor den Sicherheitsrat bringen mit Atomenergie als Ausrede, und dann kommen wir da nicht mehr raus, weil sie alle Probleme, die sie mit uns haben, mit einem Mal aus der Welt schaffen wollen – Probleme wie der Nahe Osten, Terror und so weiter…«
So strebt die iranische Führung die atomare Schwellenfähigkeit an, um diesem Druck aus einer Position der Stärke begegnen zu können. Auch durch den Bau von Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können, verspricht sich die Islamische Republik eine größere Sicherheit. Doch damit werden die Verhandlungen nur erschwert. Iran zieht die Gespräche in die Länge, und auch die Europäer lassen sich Zeit. Mit dem Verzicht auf die Anreicherung von Uran scheint das Problem zunächst einmal entschärft. Dabei betonen die iranischen Unterhändler zumindest indirekt immer wieder, es handle sich um eine freiwillige, zeitlich begrenzte Aussetzung.
Im Frühjahr 2005 drängen die Iraner auf eine Fortsetzung der Gespräche. Rohani kritisiert die bis dahin von den Europäern ins Gespräch gebrachten Leistungen für einen iranischen Verzicht auf die Anreicherung als ungenügend. Der Sekretär des iranischen Sicherheitsrats bezeichnet die angebotene Lieferung von Ersatzteilen für gebrauchte Flugzeuge als »Witz« – im Gegensatz zu den zehn Atomkraftwerken, die ihm vorschweben. 19 Dabei verweist er allerdings auch auf die Probleme seiner Forderungen. Denn die Hersteller der fortgeschrittensten Atomtechnologie kommen aus den USA, und damit würden Lieferungen unter das von den USA gegen Iran verhängte Handelsembargo fallen. Für einen Verhandlungsvorschlag, wie ihn die Iraner von den Europäern erwarten, wäre also eine Zustimmung seitens der USA erforderlich. Doch die Europäer unterbreiten gar kein Angebot. Denn sie haben es nicht eilig, weil sie lieber mit dem neuen Präsidenten, der im Juni gewählt werden wird, eine Einigung erzielen würden. Khatami, dem Reformpräsidenten, mangelt es in den Augen der westlichen Regierungen an Durchsetzungsvermögen, um die gesamte iranische Führung für ein verbindliches Abkommen gewinnen zu können. In Teheran sind die europäischen Diplomaten stolz auf ihre Idee, mit dem Nachfolger Khatamis, der in ihren Augen nur Altpräsident Hashemi Rafsanjani sein kann, das Atomproblem aus der Welt zu schaffen.
Und der verspricht im Wahlkampf offen und verdeckt, Iran aus der außenpolitischen Isolierung zu führen. Als ehemaliger Oberbefehlshaber der Streitkräfte während des Krieges gegen den Irak ist er über Irans atomare Rüstungsbemühungen Ende der achtziger Jahre bestens im Bilde. Und als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats weiß er auch, welches Doppelspiel die Islamische Republik während der Verhandlungen mit den Europäern in den Jahren zuvor betrieben hat.
Zwei Wochen vor der Wahl habe ich die Gelegenheit, Rafsanjani zu interviewen. Ruhig und selbstsicher geht er von einer Einigung mit den Europäern aus: »Wir müssen uns bemühen, dass sie einsehen, dass unsere nukleare Technologie friedlichen Zwecken dient. Deswegen sind auch die Gespräche sehr schwierig, aber es gibt viel Verhandlungsspielraum. Im Endeffekt muss in diesen Verhandlungen eine Lösung gefunden werden, wie die Welt sicher sein kann, dass Iran diese atomare Technologie nur für friedliche Zwecken nutzt – und das ist möglich.«
Philippe Welti, der Schweizer Botschafter, gibt sich nach einem Treffen mit Rafsanjani vorsichtig optimistisch. Er geht davon aus, dass Rafsanjani seinen politischen Einfluss »für politische Änderungen in der Außenpolitik nutzen wird«. Welti macht jedoch eine wichtige Einschränkung: »Das setzt natürlich voraus, dass er gewählt wird.«
Eine mögliche Wahlniederlage wird von den EU-Staaten kaum ins Kalkül gezogen. Möglicherweise hätte ein wirklich gutes Angebot an den Iran in der Atomfrage im Wahlkampf für entsprechenden Diskussionsstoff und neuen Schwung bezüglich der außenpolitischen Öffnung des Landes sorgen können.
Rafsanjani verfolgt dieses Ziel zwar auch, doch auf außenpolitische Argumente setzt er erst in der Endphase des Wahlkampfs. Stunden vor der Wahl überrascht er mich, als er in einem weiteren Interview von politischen Fehlern Irans gegenüber den USA spricht und dann fordert: »Es muss Bemühungen geben, die Atmosphäre zum Nutzen beider Länder zu verbessern. Mit dem, was die USA und auch wir gegen diese schlechte Atmosphäre unternehmen, und mit besseren Kontakten müssen wir in der Praxis zeigen, dass wir unsere Probleme lösen wollen.« Rafsanjani setzt darauf, dass die Mehrheit der Iraner eine Lösung der außenpolitischen Konflikte wünscht. Doch hierin täuscht er sich und muss eine bittere Niederlage einstecken.
Mahmoud Ahmadinejad, der neue Präsident, verkündet noch am Tag seines Sieges, er wolle Iran zu neuer Stärke führen und einem Druck von außen nicht nachgeben. »Atomenergie ist ein Ergebnis der wissenschaftlichen Entwicklung des iranischen Volkes. Und niemand kann ein Volk an der wissenschaftlichen Entwicklung hindern. Das Recht des iranischen Volkes wird bald von denen anerkannt werden, die dies bisher verweigert haben.«20 Hinter diesen Worten zeichnen sich für die Europäer kaum überbrückbare Probleme bei der diplomatischen Suche nach einer Verständigung auf einer vernünftigen Basis ab.
Am 8. August legen die Europäer Iran ihr Kompromissangebot vor. Chancen für eine Einigung in letzter Minute bestehen nicht mehr, da die Offerte politisch zu spät erfolgt. Zudem enthält sie keine wirklichen Anreize für den neuen Präsidenten, seine radikale Politik in der Atomfrage zu ändern, und europäische Diplomaten verhehlen nicht, dass es sich auch nur um einen Einstieg zu weiteren Verhandlungen handelt. Prompt wird das Angebot von den Iranern denn auch als ungenügend abgelehnt.
Die europäische Diplomatie wird eine Einigung mit Iran nicht mehr aus eigener Kraft schaffen. Irans Reformer trifft es noch schlimmer. Sie stehen vor einem politischen Scherbenhaufen. So bildet die Wahlschlappe denn auch den Endpunkt eines kontinuierlichen Niedergangs. Mohammad Khatami, der sein Amt 1997 als Hoffnungsträger angetreten hat, gilt unter Studenten in den letzten Tagen seiner Amtszeit nur noch als Symbol für das Scheitern der Reformbewegung.

Das Scheitern der Reformbewegung