Zwischen Licht und Dunkelheit - Isabell von Berden - E-Book

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Isabell von Berden

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Beschreibung

Dr. Marie Cornelius betreibt eine familiär geführte Arztpraxis und genießt das Vertrauen einer großen Zahl von Patientinnen und Patienten. Als Allgemeinmedizinerin verfügt sie über ein umfassendes medizinisches Wissen. Sie ist in ihrem Wesen einfühlsam und psychologisch hervorragend ausgebildet, als Ärztin deutlich beliebter als die meisten Kollegen. Mit ihrem Mann Bastian, einem hochqualifizierten Lehrer, führt Marie eine harmonische Ehe, die ihr den nötigen Rückhalt für den beruflichen Alltag gibt. Frau Dr. Marie Cornelius ist eine spannende, brillant geschilderte Arztromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Ach Bastian, ich freu mich schon so auf unseren Ausflug«, rief Dr. Marie Cornelius und holte ihre alten Wanderstiefel aus dem riesigen Wandschrank neben dem Schlafzimmer. »Wie froh ich bin, dass ich sie damals gefunden habe, sie passen mir wie angegossen«, meinte sie zufrieden. »Wie schaut es bei dir aus, hast du schon alles für unsere Wanderung zusammen?«, fragte sie und legte die passenden Socken gleich zu ihren Stiefeln. Bastian kam um die Ecke und hob triumphierend seinen Rucksack hoch. »Was meinst du denn, ich habe alles Notwendige schon eingepackt. Nur für die Notfall-Apotheke bist du zuständig, Frau Doktor«, antwortete er und schaute seine Frau an. Wie begeisterungsfähig sie doch ist, und mit ihrer Vorfreude und der guten Laune, die sie so gerne versprühte, steckte sie fast jeden an, dachte er. Marie bekam von seinen Gedanken nichts mit. Sie strahlte ihren Mann kurz an und dann verschwand ihr Kopf wieder im Schrank. Bastian hörte ein verzweifeltes Schnauben: »Mist, wo habe ich denn meine Jacke, dass ich so gerne zum Wandern anziehe? Sie muss doch irgendwo hier sein.« Ihr Mann lachte. »Du und dein kreatives Chaos. In dem Schrank würde ich gar nichts finden, nach dem ich gerade Ausschau halte. Aber – das muss ich lobend erwähnen - man findet tatsächlich so manches, von dem man nicht mehr wusste, dass man es hatte.«

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Seitenzahl: 125

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Frau Dr. Marie Cornelius – 8 –Zwischen Licht und Dunkelheit

Unveröffentlichter Roman

Isabell von Berden

»Ach Bastian, ich freu mich schon so auf unseren Ausflug«, rief Dr. Marie Cornelius und holte ihre alten Wanderstiefel aus dem riesigen Wandschrank neben dem Schlafzimmer. »Wie froh ich bin, dass ich sie damals gefunden habe, sie passen mir wie angegossen«, meinte sie zufrieden. »Wie schaut es bei dir aus, hast du schon alles für unsere Wanderung zusammen?«, fragte sie und legte die passenden Socken gleich zu ihren Stiefeln.

Bastian kam um die Ecke und hob triumphierend seinen Rucksack hoch. »Was meinst du denn, ich habe alles Notwendige schon eingepackt. Nur für die Notfall-Apotheke bist du zuständig, Frau Doktor«, antwortete er und schaute seine Frau an. Wie begeisterungsfähig sie doch ist, und mit ihrer Vorfreude und der guten Laune, die sie so gerne versprühte, steckte sie fast jeden an, dachte er.

Marie bekam von seinen Gedanken nichts mit. Sie strahlte ihren Mann kurz an und dann verschwand ihr Kopf wieder im Schrank. Bastian hörte ein verzweifeltes Schnauben: »Mist, wo habe ich denn meine Jacke, dass ich so gerne zum Wandern anziehe? Sie muss doch irgendwo hier sein.«

Ihr Mann lachte. »Du und dein kreatives Chaos. In dem Schrank würde ich gar nichts finden, nach dem ich gerade Ausschau halte. Aber – das muss ich lobend erwähnen - man findet tatsächlich so manches, von dem man nicht mehr wusste, dass man es hatte.«

»Ach Bastian, sei nicht so gemein und hilf mir doch beim Suchen. Du weißt doch, dass ich es wirklich nicht schaffe, auch noch das riesige Monster hier penibel aufzuräumen.« Die Ärztin steckte den Kopf aus dem Wandschrank und sah Bastian hilfesuchend an.

Ihr Mann nickte und meinte: »Rück mal zur Seite, Schatz. Ich versuche mein Glück.« Dann nahm er eine Taschenlampe aus seinem Rucksack, leuchtete in den Schrank, und nach kurzer Zeit rief er triumphierend: »Schau, ist das die Jacke, nach der du gesucht hast?«

»Du bist wirklich der Beste«, rief seine Frau glücklich und nahm sie dankbar entgegen. »Jetzt habe ich auch alles für unseren Ausflug zusammen.« Sie zog die Jacke gleich an und meinte: »Dann packen wir nur noch rasch unseren Burscherl ein und schon kanns losgehen.«

Kurze Zeit später saßen sie im Auto. Marie sah Bastian an. »Ein ganz klein wenig regt sich schon mein schlechtes Gewissen gegenüber unserem Burscherl. Du weißt genau, wie gerne er mit uns wandert.«

Ihr Mann nickte und sah in den Rückspiegel. Der kleine Hund und treue Begleiter des Ehepaares lag zufrieden im extra für ihn abgesicherten Teil des Autos. »Aber schau, diese Wanderung wäre für ihn sicher zu anstrengend. Immerhin haben wir eine Tour von mehreren Stunden vor uns.«

Marie sah zu Burschi hinüber. »Du hast natürlich recht, aber irgendwie vermisse ich ihn jetzt schon.« Sie nickte und meinte: »Aber ich bin ganz sicher, dass es ihm bei Sabine sehr gut gefallen wird. Dort kann er bei der Wandergruppe mitmachen und das macht ihm großen Spaß.«

Sabine erwartete das Ehepaar schon. Auch sie war sportlich angezogen, denn gleich sollte ihr Sportprogramm für den Tag beginnen. Marie und Bastian begrüßten ihre langjährige Freundin herzlich. »Es ist so lieb von dir, dass du unseren Hund für zwei Tage bei dir aufnimmst«, meinte Marie und holte Burschis Körbchen aus dem Auto.

Sabine Klare - ehemalige Krankenschwester und immer unterstützende Hilfe für Marie – lächelte und meinte: »Das mach ich doch gerne und außerdem freue ich mich über seinen Besuch.« Sie kraulte Burschis Köpfchen. »Na, kleiner Kerl, wir werden es uns so richtig gut gehen lassen«, meinte sie zuversichtlich. »Und ich bin mir sehr sicher, dass es ihm ganz großen Spaß machen wird, bei unserer Gruppe mit zu laufen.«

Bastian nickte und zog Marie zum Auto. »Komm Schatz, ich weiß, dass es dir schwerfällt, dich von unserem Hund zu verabschieden, aber wir wollen den Joschi doch auch nicht warten lassen.«

»Ich freue mich schon so. Viel zu lange haben wir solch eine Wanderung nicht mehr gemacht«, meinte Bastian, als sie wieder im Auto saßen. »Ich hoffe so, dass es ein tolles Erlebnis wird.«

Seine Frau lächelte ihn an. »Aber selbstverständlich wird es wieder ein ganz besonderes Erlebnis werden. Der Joschi weiß schließlich ganz genau, was eine schöne Wandertour ausmacht. Er arbeitet die Route immer so akribisch aus, um sicherzustellen, dass es eine durch und durch eine schöne Tour wird. Ach, der Joschi ist so ein sympathischer Kerl und so zuverlässig! Erinnere dich doch nur an unsere erste Wanderung mit ihm.«

Joschi, eigentlich hieß er Josef, Josef Leitner, war Bergführer aus Leidenschaft. Eigentlich war er Besitzer eines kleinen Hotels, das er seit dem Tod seiner Frau mithilfe seiner Schwester Evi führte. Aber immer wieder zog es ihn hinaus in die Natur. Marie und Bastian hatten ihn kennengelernt, als sie vor einigen Jahren ein Wochenende im Hotel verbracht hatten. Die drei hatten sich sofort verstanden, es gab so viel Gemeinsames zwischen ihnen. Damals hatte Joschi dem Ehepaar von seinen gelegentlichen Touren in der freien Natur vorgeschwärmt und die beiden waren so angetan, dass sie seit dieser Zeit kleinere Wanderungen mit Joschi gemeinsam unternahmen und so waren sie im Laufe der Jahre gute Freunde geworden. Natürlich hatte es sich bei seinen anderen Gästen auch schon herumgesprochen, dass der Herr Leitner ab und an geführte Wandertouren unternahm. Im Grunde genommen machte er die Touren für sich, aber immer wieder fragten Gäste, ob sie ihn nicht einmal dabei begleiten dürften.

Jetzt hatte er eine wieder einmal eine Wanderung geplant, die etwas anspruchsvoller war. Es sollte zum Steinbockerl gehen. Der Weg dorthin war wohl besonders idyllisch und führte durch größtenteils unberührte Natur. Vorbei an saftigen Wiesen und kleinen Bächen mit kristallklarem Wasser. Joschi hatte seinen Freunden davon vorgeschwärmt und die beiden waren sich sofort einig, dass sie den Joschi dabei unbedingt begleiten wollten.

Gleich am nächsten Morgen in der Früh sollte es losgehen. Die Nacht verbrachte das Paar noch im gemütlichen Hotel.

»Ich bin schon gespannt, wer die Tour morgen noch mit macht. Joschi meinte, insgesamt seien wir dieses Mal mit fünf Leuten unterwegs«, meinte Marie und holte eine Karte aus ihrem Rucksack. »Schau, ich habe den Weg, den wir zurücklegen werden, hier in der Karte schon einmal markiert. Ich freue mich so sehr auf unser Abenteuer, Basti!«

Bastian warf einen kurzen Blick auf die Karte. »Ich bin auch schon so gespannt, was uns alles erwartet. Ich hoffe nur, das Wetter spielt mit. Erinnerst du dich daran, dass wir einmal in einen Regenschauer geraten sind und pitschnass wieder im Hotel ankamen?« Er lachte. »Das möchte ich bitte nicht noch einmal erleben!«

Marie stimmte in sein Lachen ein. »Oh ja, wir drei waren nass bis auf die Haut, trotz unserer Regenkleidung. Ach schau, ich sehe das Hotel schon.« Und wirklich, das Hotel Jakobshöhe lag schon vor ihnen. Es wurde von der Sonne beschienen und sah so einladend aus. Auf der Wiese neben dem Hotel grasten entspannt ein paar Pferde. Sie gehörten zum Gestüt von Evi, der Schwester von Josef Leitner. Sie züchtete gemeinsam mit ihrem Mann Reitpferde und die beiden hatten sich im Laufe der Jahre einen guten Namen mit der Zucht der edlen Warmblüter erarbeitet. Aber ganz besonders süß waren die kleinen Ponys, die hier auch zu Hause waren. Die Schwester von Joschi hatte vor wenigen Jahren ihr Herz für die kleinen Kerlchen entdeckt und besonders Marie gefielen sie auch so gut! Waren sie doch einfach zu niedlich!

Marie seufzte tief auf und warf Bastian einen Blick zu. Der spürte den Blick und lächelte. Wusste er doch so genau, wie sehr Marie dieses Idyll gefiel. Aber auch er selber spürte jedes Mal, wenn sie hierher kamen, wie gut ihm diese Auszeit immer wieder tat.

»So, da wären wir«, meinte er und fuhr auf den Parkplatz des kleinen Hotels. Joschi hatte sie anscheinend schon gesehen, er kam seinen Freunden lachend entgegen. »Wie schön, euch wieder einmal hier zu haben«, rief er und begrüßte die beiden herzlich.

Bastian nahm rasch ihr Gepäck aus dem Auto und meinte: »Joschi, weißt du, dass ich mich schon die ganze Woche auf deinen köstlichen Kaiserschmarrn gefreut habe? Und ich glaube«, er schaute sich zu Marie um, »Marie ergeht es nicht anders.«

Joschi hakte seine langjährige Freundin unter und meinte lächelnd: »Den hab ich selbstverständlich für heute auf der Speisekarte stehen und euer Zimmer ist wie immer das mit der Nummer fünf.«

»Wie damals, als wir das erste Mal in deinem hübschen Hotel übernachtet haben«, seufzte Marie zufrieden auf.

Als sie dann endlich am Tisch saßen und es sich so richtig schmecken ließen, meinte Marie neugierig: »Jetzt musst du uns aber berichten, wer morgen noch mehr zu unserem Team gehört.«

Joschi schüttelte den Kopf. »I kenn sie auch nicht. Es ist a Paar, beide sind so um die dreißig und sie sollen wohl recht sportlich sein.« Er schaute seine Freunde an und meinte: »Ich muss sagen, sie hörten sich sehr sympathisch an. Ihr wisst ja, dass mir das sehr wichtig ist. Ich will mir meine Freude an der Natur nicht von Leuten, die ich nicht mag, kaputt machen lassen.«

Das Ehepaar blickte Joschi verständnisvoll an. Wussten sie doch zu genau, wie wichtig ihm der Aufenthalt draußen in der Natur war. Die Natur hatte ihm geholfen, mit dem Tod seiner Frau fertig zu werden. »Ohne die Natur hätte ich nicht überlebt«, hatte er damals gemeint. »Die Natur hat so eine gewaltige Kraft und jeder, der will und es braucht, kann sich von dieser Kraft nehmen.«

Auch Marie und Bastian holten sich in gemeinsamen Auszeiten in der Natur Kraft und Stärke. Marie nickte dem Freund zu. »Ach Joschi, du ahnst nicht, wie sehr wir diese Tour herbeigesehnt haben. In letzter Zeit«, sie blickte zu ihrem Mann, »gab es doch einige Herausforderungen für uns beide. Bastian hat sich intensiv um einen Schüler gekümmert, der eigentlich die Schule verlassen sollte. Es sah ganz danach aus, als drohe er auf den falschen Weg zu geraten.« Die Ärztin lächelte ihrem Mann zu. »Gottlob hat sich dein Einsatz gelohnt, jetzt läuft es für den Jungen wieder richtig gut.« Joschi nickte. Er wusste, wie engagiert seine Freunde waren, wenn es darum ging, anderen Menschen Unterstützung zu geben.

Marie ergänzte: »Und du weißt ja, Joschi, wie es in der Praxis zugeht. In den letzten Wochen herrschte eine recht schlimme Magen-Darm-Verstimmung bei uns im Ort und viele hat es doch arg erwischt. Aber jetzt«, sie nickte den beiden Männern erleichtert zu, »sind wir hier und schon jetzt fühle ich mich richtig erholt.«

*

Silke Brenner befühlte aufmerksam das T-Shirt und hob es dann an ihre Nase, um daran zu riechen. »Andreas«, rief sie ihrem Freund zu, »Hab ich das richtige Shirt gefunden? Ich suche das himmelblaue mit den dunklen Streifen.«

Andreas Furth sah auf und lachte bewundernd. »Wie schaffst du es nur, fast immer das richtige zu finden?«

Silke lächelte. »Dann hab ich also recht? Es ist das blaue?«

Andreas trat zu ihr und nahm sie von hinten in seine Arme. »Ja klar, du hast recht. Aber wieso kannst du das so gut? Für mich fühlen sich fast alle Shirts gleich an. Und einen Unterschied riechen kann ich überhaupt nicht.«

Silke lachte zufrieden. »Du bist auch nicht blind und kannst immer auf deinen Sehsinn zurückgreifen. Ich muss das mit meinen anderen Sinnen ausgleichen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und meine Nase funktioniert wirklich gut!« Sie lehnte sich gegen ihren Freund und strich mit dem Finger sachte über ihre Nase. »Sie ist anscheinend in der Lage, die verschiedenen Zusammensetzungen der Kleidung wahrzunehmen. Und den Rest erledigen meine Hände.« Silke fühlte die Strickjacke von Andreas und roch kurz daran. »Und das muss deine Strickjacke sein, die du trägst.«

Andreas schüttelte den Kopf. »Eigentlich brauchst du dein Gerät zum Erkennen der Farbe gar nicht, Liebes.«

Silke wiegte den Kopf. »Na ja, ich finde manche Teile wirklich schnell, aber im Allgemeinen verlasse ich mich schon lieber auf die Technik. So sicher bin ich dann doch nicht.« Natürlich hatte seine Freundin wieder einmal recht. Andreas gab ihr einen Kuss. »Kommst du alleine klar, ich würde noch gerne bei Markus vorbeischauen?« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Er hat mich doch gefragt, ob ich ihm ein paar meiner Fachzeitschriften übers Surfen ausleihen kann. Du weißt ja, dass er demnächst einen Surfkurs mitmachen will.«

Silke nickte und meinte: »Grüß ihn von mir und richte ihm aus, dass ich mich jetzt schon darauf freue, mehr darüber zu erfahren, wie ihm das Surfen gefällt.«

Nachdem ihr Freund die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, nahm die junge Frau noch die Wanderschuhe aus dem Schuhschrank und stellte sie neben die Tür. Morgen wollen wir so früh wie möglich los, dachte sie und ich will unter keinen Umständen, dass wir wegen mir – wegen meiner Sehschwäche – zu spät wegfahren. Ein wenig stolz bin ich schon auf mich, wie ich das alles bisher gemeistert habe, überlegte sie zufrieden. In der Tat, inzwischen konnte sie mit ihrer nicht mehr vorhandenen Sehkraft ganz gut umgehen und den Alltag meistern.

Sie setzte sich in ihren Sessel, schloss die Augen und schon sah sie alles wieder vor sich. Ihren schrecklichen Unfall vor vier Jahren. An jenem Tag hatte ein anderes Auto ihr die Vorfahrt genommen. Der Fahrer war ein junger Mann gewesen. Sein panisches Gesicht mit den vor Schreck weit aufgerissenen Augen sah sie immer noch vor sich. Es war das Letzte gewesen, was sie überhaupt mit ihren Augen gesehen hatte. Wenn dieses Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte, dachte sie immer, wie unfair es war, dass sich gerade dieses schreckensverzerrte Gesicht des Fahrerflüchtigen bei ihr eingebrannt hatte. Denn das Schlimmste für Silke war, dass sich der Unfallgegner einfach aus dem Staub gemacht hatte. Er hatte sich nicht um sie gekümmert, sondern die Flucht ergriffen. Anscheinend war ihm bei dem Unfall nichts passiert. Wie schlecht und böse musste man sein, umso etwas machen zu können, dachte die junge Frau häufig.

Sie selbst hatte schwere Kopfverletzungen davon getragen, aber das Schlimmste war, sie verlor ihre Sehkraft! Sie konnte nicht mehr sehen, war von einem auf den anderen Tag blind! Bei dieser Diagnose brach eine Welt für sie zusammen! So große Pläne hatte sie doch gehabt. Gerade erst hatte Silke ihre erste Stelle als Grundschullehrerin angetreten. Anfangs waren die behandelnden Ärzte zuversichtlich gewesen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Brenner, ihr Sehnerv ist bei dem Unfall eingeklemmt worden«, hatte der Augenarzt damals gemeint. »In ein paar Wochen werden Sie so gut sehen können wie vorher, da bin ich mir recht sicher.«

Inbrünstig versuchte Silke, darauf zu vertrauen, während die Ärzte eine Untersuchung nach der anderen bei ihr vornahmen. Sie ließ alles klaglos über sich ergehen, wollte stark bleiben und gab alles, um nicht die Geduld zu verlieren. Ihre Eltern, die anfangs ständig um sie herum waren, meinten es gut, aber ihre unausgesprochenen Sorgen um die Tochter konnten der jungen Frau nicht weiter helfen. Sie wusste doch zu genau, was die beiden dachten: Wie sollte sie ihre Arbeit als Grundschullehrerin weiter ausführen? Wie sollte das Leben der Tochter überhaupt weitergehen? Und das konnte Silke nicht ertragen! Das Mitleid der Eltern half ihr nicht, machte alles nur noch schlimmer!