Auf der Frühlingsinsel unerwünscht! - Volker Himmelseher - E-Book

Auf der Frühlingsinsel unerwünscht! E-Book

Volker Himmelseher

0,0

Beschreibung

Der fünfte Teneriffa-Krimi des Autors! Ein mexikanischer Drogenbaron flüchtet aus den blutigen Verteilungskämpfen in seiner Heimat mit einigen Bandenmitgliedern nach Teneriffa. Der Müßiggang führt schnell zur Langeweile, und so mischt er im kriminellen Milieu der Prostitution und Drogen kräftig mit. Inspektor Vicente Morales und seine Leute setzen alles daran, die Frühlingsinsel von diesen unerwünschten Mitbewohnern wieder zu säubern …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Prolog

Ein Drogenbaron beschließt, Mexiko zu verlassen

Mexiko hält Einzug auf Teneriffa!

Inspektor Vicente Morales kämpft mit Familienproblemen und steht vor einem neuen Fall

Inspektor Vicente Morales macht seinen Antrittsbesuch beim Gast aus Mexiko

Überraschendes Zusammentreffen beim Konzert

Die Katze lässt das Mausen nicht

Julio Pérez da Silva sucht Zerstreuung und findet …

Mordpläne

Pasar a cuchillo – über die Klinge springen lassen

Generationskonflikte

Juan Machado und Mitamon tun ihren blutigen Job

Problemkinder

Wer A sagt, muss auch B sagen, das Morden geht weiter

Teniente Vicente Morales denkt mit

Erste Verhöre

Frustrierte Helden

Julio Pérez da Silva sinkt immer tiefer in den Sumpf

Ein Exempel wird statuiert

Kurier des Todes

Die Drogenszene soll aufgemischt werden

Brainstorming unter Ermittlern

Julia und Julio bleiben weiterhin ungehorsam

Das Schicksal pocht auch an mexikanische Türen

Vicente Morales sucht Trost unter Freunden

Die Polizei verunsichert die Szene

Kampf um die Drogenszene

Auch offene Türen können Probleme aufwerfen

Das Morden geht weiter

Die Ermittlungen gehen weiter

Don Victor hält dagegen

Ende ohne Schrecken

Vorbemerkung des Autors

Die Geschichte ist meiner Fantasie entsprungen. Problemfelder wie das Drogendilemma in Mexiko oder Drogendelikte und Prostitutionsvergehen auf den Kanaren fanden jedoch Berücksichtigung im Romangeschehen.

Mit meinem vierten Roman sollten eigentlich die beiden bisherigen Protagonisten, die Psychologin Teresa Zafón-Martin und ihr Ehemann Teniente Coronel Ramón Martin, ihren verdienten Ruhestand finden. Die Leserin oder der Leser möge mir nachsehen, dass sie aus einer gewissen Anhänglichkeit auch in meinem fünften Krimi nochmals kurz in Erscheinung treten.

Dr. Volker Himmelseher

Prolog

Mexikos Aufstieg zum führenden Land des Drogenhandels begann Mitte der achtziger Jahre, als Kolumbiens Staatsmacht mithilfe der USA die eigenen Drogenbarone und die mächtigen Kartelle Medellín und Cali weitestgehend in die Knie zwang.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Kolumbianer in Mexiko schon längst kleine Babykartelle ins Leben gerufen. Die wuchsen zu gefährlicher Größe heran. Bald gab es sieben nationale Kartelle. Daneben operierten ausländische Gruppierungen aus China, Russland und auch der Ukraine. Das Staatsgebiet wurde unter ihnen aufgeteilt. Besonders mächtig wurden das Kartell Suárez, das Tijuana-Kartell, das Golf-Kartell, Los Zetas und das Sinaloa-Kartell.

Schnell waren Mexikos Sicherheitskräfte, die Justiz und regionale Autoritäten vom Drogenhandel unterwandert. Man stellte ihre Repräsentanten vor die Wahl: Plata o plomo, Geld oder die Kugel. Wer sich nicht bestechen ließ, wurde erschossen. Gouverneure blieben in Amt und Würden, obwohl bekannt war, dass sie mit Kartellen zusammenarbeiteten! Über 90 Prozent der mit dem Drogenhandel verbundenen Straftaten blieben ungesühnt.

Der Strom des Rauschgifts floss nun von den Anden über Mexiko in die USA. In Hunderten Kilometern Dschungel zwischen Ecuador und Kolumbien waren Rauschgiftlabors verborgen und sorgten für Nachschub. Reines Kokain wurde in LKWs bis zur Küste transportiert und von dort über den Pazifik nach Norden verschifft.

Rauschgift aus Kolumbien wurde zur Halbinsel Yucatán gebracht. Los Zetas organisierte den Verkauf in die USA. Die USA verbrauchten die Hälfte des weltweit produzierten Kokains, Europa immerhin noch ein Viertel. Dieser enorme Drogenkonsum der reichen Länder förderte das Gedeihen der Kokainmafia. Korruption und Gewalt gingen damit einher.

Nach ernst zu nehmenden Schätzungen erzeugt das Kokaingeschäft sieben Milliarden Dollar Einnahmen im Jahr! Ein Kilo kostet auf dem mexikanischen Markt 7000 Dollar, in den Straßen New Yorks mindestens das Dreifache! 300 Tonnen Kokain gelangten allein 2008 in die Staaten, nahezu 90 Prozent davon über mexikanische Transitrouten.

Einzelne mexikanische Landstriche befinden sich mittlerweile in desolatem Zustand. Chihuahua, der größte der 32 Bundesstaaten, direkt an der US-Grenze gelegen, wurde zum Aufmarschgebiet der Drogenmafia, aber auch der Streitkräfte der Regierung. Die Kartelle bekriegen sich untereinander, um sich lukrative Gebiete unter den Nagel zu reißen.

Die in Chihuahua gelegene Stadt Ciudad Júarez weist die höchste Mordrate der Welt auf. 40 Prozent des Kokains für den US-Markt werden hier durchgeschleust. Die Stadt war einst ein Ort mit Zukunft. Es herrschte Vollbeschäftigung. Mit Restaurants und Nachtklubs, in denen Gäste aus dem benachbarten US-Städtchen El Paso bis morgens durchfeierten, wurde reichlich Geld verdient. 1994 schlossen die USA und Mexiko einen Freihandelsvertrag, der viele US-Firmen über die Grenze nach Ciudad Júarez lockte. Die Firmen reizten die billigen Arbeitskräfte und Grundstücke. Auch die Steuern waren viel niedriger als in den Staaten.

Aus 300 000 Einwohnern wurden plötzlich 1,3 Millionen! Die Blütezeit währte jedoch nicht lange. Bald tobte der Machtkampf der Kartelle Sinaloa und Júarez um die Pfründen des Rauschgiftgeschäfts. 8000 Menschen starben im Kugelhagel, 160 000 flohen vor der Gewalt, 120 000 Häuser, Lagerhallen und Geschäfte standen zum Verkauf. Die Immobilienpreise lagen am Boden.

Die 4500 Bundespolizisten und 3500 Soldaten, die der mexikanische Präsident gegen die Mafia in die Stadt schickte, kannten sich dort nicht aus. Sie kämpften gegen einen übermächtigen Feind. Der hatte längst zugeschlagen und war verschwunden, wenn sie zum Tatort kamen.

Die Einwohner verloren bald jedes Vertrauen in die Schutztruppen. Jeden Tag erlebten sie das gleiche ungesühnte Spektakel: Mord, Gewehrschüsse, Schreie und Brände. Allein zwischen 1992 und 2007 verschwanden 600 Frauen, die in den amerikanischen Fabriken gearbeitet hatten. Ihr Schicksal blieb ungeklärt. Man vermutet allerdings, dass sie gefoltert, vergewaltigt und umgebracht wurden.

Der Polizeichef der Stadt musste sein Amt niederlegen. Die Drogenbarone hatten seinen Stellvertreter bereits Wochen zuvor umgebracht. Nun drohten sie, alle 48 Stunden einen weiteren Offizier zu erschießen, wenn er nicht seinen Hut nähme.

Nicht nur im Norden des Landes wurde gemordet Auch der Touristenort Acapulco war inzwischen im Griff der Drogenkartelle. Schlagzeilen von Mord und Entführung bestimmten die Zeitungsüberschriften und schreckten Touristen ab. Revierkämpfe waren an der Tagesordnung. Killer warfen Dutzende verstümmelte Leichen in Straßengräben. Am Rande von Schnellstraßen wurden enthauptete Leichen abgelegt. Tote hingen als Zeichen der Allmacht der Kartelle kopfüber von Autobahnbrücken. Rund um die Stadt wurden Massengräber gefunden.

Die kriminellen Gruppen verübten neben dem Drogengeschäft auch andere Delikte. Sie brachten Illegale über die Grenze, trieben Handel mit Raubkopien und organisierten Prostitution und Schmuggel aller Art. Diese Straftaten waren oftmals ertragbringender als der Drogenhandel selbst.

Das verdiente Geld steckten die Verbrecher in legale Firmen auf der ganzen Welt und waren mit diesem »sauberen Vermögen« in der Lage, ihr Umfeld in ihrem Sinne zu beeinflussen. Es wurde bestochen, Wahlkämpfe wurden beeinflusst und die Bevölkerung mit Geschenken abhängig gemacht. Selbst Schulen, Kirchen und Straßen bauten die Barone, wozu der Staat schon lange nicht mehr in der Lage war.

Trotz 40 000 Toten konnte es nicht verwundern, dass junge Mexikaner sich darum rissen, Bandenmitglieder zu werden. Sie kannten zwar die Gefahr, sahen aber keine andere Chance zu überleben und hofften einfach nur, Glück zu haben.

Auch bei ihrer Anwerbung arbeiteten die Kartelle mit Kalkül: Ein »Arbeitsvertrag« mit ihnen beinhaltete eine Art Lebensversicherung: Wenn ein Bandenmitglied starb, bekamen die Hinterbliebenen Geld oder eine Immobilie.

Bestochene Journalisten relativierten in ihren Artikeln die Gefahren:

»Die mexikanische Revolution hat in sieben Jahren 1 000 000 Menschen das Leben gekostet!«

»Venezuela, Kolumbien oder El Salvador haben ganz ähnliche Verbrechensraten wie wir!«

»Was sind unsere 40 000 Toten gegen die Toten des Völkermordes in Ruanda!«

In der Realität wurde Mexiko aber nach dem Irak das gefährlichste Land der Welt!

Erfolge der Staatsgewalt gegen die Mafia verkamen zu Tropfen auf dem heißen Stein. Der Kampf war wie der Kampf gegen Windmühlen. Einzelne Drogenbosse wurden festgenommen oder erschossen. Andere verrieten sich gegenseitig. Wo man sie vernichtete, kamen neue nach, wie die Köpfe der Hydra.

2008 zierte jedes Titelblatt der Zeitung Diario eine kleine schwarze Schleife. Damit forderte der Verleger Gerechtigkeit für Diario-Mitarbeiter, die von der Mafia ermordet wurden. Der Journalist Armando Rodriguez wurde vor seinem Haus ermordet, weil er gegen die Drogenbarone geschrieben hatte. Da waren gerade in einer Woche 50 Menschen gestorben. Der Teufel ist von der Kette gelassen, betitelte er die Bilder seines Fotografenkollegen, der für seine Fotografien ebenfalls gestorben war.

Der christdemokratische Präsident Felipe Calderon erklärte bei seinem Amtsantritt den Kampf gegen das Rauschgift zum Staatsziel Nummer eins. Im März 2010 verpflichtete seine Regierung Sender und Redaktionen, angesichts des Ausnahmezustandes an der Drogenfront staatstreu zu berichten. 50 000 Soldaten stellte er zur Verstärkung der Polizei in die umkämpften Gebiete des Nordens ab. Einzelne Schlachten gewann er: Dreistellige Millionensummen wurden beschlagnahmt, 35 000 Fahrzeuge und 84 000 Waffen sichergestellt. 29 Tonnen Kokain, 6000 Tonnen Marihuana und eine Tonne Heroin konfiszierten seine Truppen. Letztlich aber kannte er das ökonomische und politische Terrain nicht gut genug, um wirklich zu siegen. Er ließ unkoordiniert kämpfen und handelte ohne wirksame multinationale Strategie. Besonders die USA brachte er nicht auf seine Seite. Die Vereinigten Staaten froren weder die ausländischen Konten der Mafia ein noch unterbanden sie die Waffenschieberei. So konnte die Mafia weiter aufrüsten.

Obama erkannte als erster US-Präsident den Waffenschmuggel als bilaterales Problem. Mehr als 90 Prozent der Waffen, mit denen sich Mexikaner töteten, stammten schließlich aus den USA! Wenn jemand jenseits der Grenze dutzendweise AK-47 - Gewehre kaufte und bei der Rückkehr nach Mexiko die Frage gestellt bekam: »Wozu sind die?«, antwortete er frech mit »Weihnachtsgeschenke«, und man ließ ihn anstandslos passieren!

Beim mexikanischen Wahlkampf am 1. Juli 2012 schwiegen die Kandidaten zum Drogenkrieg. Mit Strategien gegen das größte Problem des Landes konnte man nicht punkten!

Nur mit markigen Sprüchen versuchte man die Spirale des Todes zu beenden:

– Man muss die Macht der Kartelle durch Enteignung ihres Vermögens brechen!

– Präventivprogramme gegen die Armut im Land müssen her. Sie nähmen den Drogenbaronen ihre billigen Helfer!

– Schafft eine landesweit vernetzte professionelle Ermittlertruppe!

– Wir brauchen eine Reform des Justizsystems!

– Legalisiert den Drogenkonsum, das würde den ökonomischen Anreiz für die Verbrecher zunichtemachen!

Die Kartelle töteten munter weiter. Die Bevölkerung fiel in Resignation oder hegte Gedanken an Flucht.

Eine Erkenntnis setzte sich fest: Die britischen Einwanderer kamen mit dem Ziel nach Nordamerika, dort ein neues, würdiges Leben zu beginnen. Die Spanier hingegen kamen nach Lateinamerika, um das Land auszuplündern. Diese Mentalität hat sich bis heute erhalten!

Den Armen blieb nur die Möglichkeit der illegalen Auswanderung, meist über die amerikanische Grenze. Den Reichen ermöglichte ihr Geld die Ausreise und ein sorgenfreies Leben in einem besseren Land.

Man nahm sie dort freundlich auf, denn Geld stinkt nicht …!

Gibt es keine Gerechtigkeit?

A cada cerdo le llega el San Martín. – Jedes Schwein wird einmal geschlachtet. – Jeder Missetäter bekommt seine Strafe! – Bleibt dieser Satz ein leeres Versprechen?

Ein Drogenbaron beschließt, Mexiko zu verlassen

Victor Pérez da Silva saß in seinem heruntergekühlten Arbeitszimmer hinter dem mächtigen Mahagonischreibtisch und dachte nach. Nur die Klimaanlage ermöglichte, dass seine Gedanken nicht abschweiften. Draußen herrschten über 40 Grad. Dort pochte die Hitze selbst im Schatten der Wände.

Pérez da Silva wohnte in Cherán, einer Kleinstadt im Bundesstaat Michoacán, Mexiko. 17 000 Einwohner von überwiegend indianischer Abstammung lebten mitten in der Roten Zone, dem Herrschaftsgebiet des Drogenkartells Michoacán. Cherán war die Heimatstadt des vormaligen Präsidenten Calderón. Der hatte hier bis zu seiner Abwahl vergeblich gegen die Drogenmafia gekämpft. Mittlerweile waren in diesem Distrikt drei Viertel aller Gemeinden der Kontrolle der Staatsmacht entglitten. Michoacán war zum Umschlagszentrum für Rauschgift geworden, von dem die Transportroute an den Pazifikhafen Lázaro Cárdenas führte und weiter nach Norden. Hier kämpften inzwischen drei Kartelle um die Vormachtstellung.

Die örtliche Gang, der Pérez da Silva vorstand, hatte sich vor einem halben Jahr von La Familia Júarez abgespalten. Quien no se arriesga, no gana. – Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, war Pérez da Silvas Devise gewesen. Die neue Vereinigung trug weiße Hemden mit roten Kreuzen, die Familia Schwarzhemden mit weißen Tüchern. Die Abspaltung war nicht ohne Kampf abgegangen. Er währte noch immer und hatte schon viele Opfer gekostet.

Eines Tages waren die Weißhemden in ihrem Gebiet auf Kontrollfahrt gewesen. Don Victors ältester Sohn Benito gehörte wie sein Onkel Manolo zur Patrouille. Kugeln aus Schnellfeuergewehren gegnerischer Scharfschützen streckten sie nieder. Benito hatte zwar eine kugelsichere Weste getragen, aber die rettete ihn nicht. Zwei Kugeln trafen ihn in den Kopf! Die Scharfschützen hatten sich hinter Sandsäcken auf die Lauer gelegt. Manolos Trupp hatte nicht mit so viel Frechheit gerechnet und sie bis zuletzt für eigene Leute gehalten.

Seit diesem Anschlag wütete Don Victor als todbringender Racheengel. Der Tod seiner Angehörigen hatte ihn dünnhäutig und rachsüchtig gemacht. Mit der Zeit aber wurde ihm klar, dass er kaum siegen konnte, auch wenn er das Land mit noch so viel Toten überschwemmte. Nachts verfolgten ihn Angstträume und Panikattacken. Er wollte nicht, dass daraus Todesangst wurde, und fasste den Entschluss, mit seiner Familie das Land zu verlassen. Heute wollte er seine Entscheidung bekannt geben. Er beschäftigte sich gerade damit, die richtigen Worte zu finden. Seine Familie hatte zu tun, was er wollte, aber bei Miguel Mitamon, seiner rechten Hand, musste er Überzeugungsarbeit leisten. Mit ihm zusammen wollte er auswählen, welche seiner Männer mitkommen durften. Die Auswahl würde nicht leichtfallen. Er hatte über 100 Männer und Frauen unter Waffen. Doch er konnte sich nicht um das Schicksal aller kümmern. A poco pan, tomar primero! – Wenn’s wenig gibt, nimm du zuerst!, galt als Spielregel.

Sein Plan war im Detail ausgearbeitet: Ihr erstes Ziel sollten die USA sein. Als endgültigen Aufenthaltsort hatte er Teneriffa auserkoren. Dort hatte er im Jahr zuvor ein prächtiges Anwesen gekauft und genug Geld transferiert, um gut leben zu können. Gut leben war ihm wichtiger, als ehrenvoll zu sterben.

Don Victor hatte Mitamon herbeirufen lassen. Der erschien wie ein echter Warlord. Er hatte die Haare kurz geschoren wie US-Marines. Sie waren seine Vorbilder. Er trug ein schwarzes Pistolenhalfter sichtbar über dem weißen Hemd mit den roten Kreuzen. »Draußen vor der Tür steht sein schwerer Geländewagen mit verspiegelten Scheiben«, dachte Don Victor amüsiert. »Er ist der Mann, den ich für meine Pläne brauche, wie den richtigen Schlüssel fürs Loch.«

»Was kann ich für dich tun, Boss?«, fragte Mitamon respektvoll. Don Victor legte ihm seine Pläne dar. Das Gesicht des Mafioso blieb völlig bewegungslos. Victor Pérez da Silva wusste genau, dass Mitamon trotzdem hinter seiner Stirn Für und Wider auslotete. Er wartete gespannt auf dessen Reaktion.

Die blieb nicht lange aus: »Aber es sieht doch alles danach aus, als würde die Partei der institutionalisierten Revolution, die PRI, wieder wie früher agieren. Mit der kamen die Barone doch immer gut zurecht. PRI ließ uns gewähren, brachte den Krieg zwischen uns sogar zum Erliegen. Warum willst du zu einem so günstigen Zeitpunkt aussteigen?«

»Also Wider«, konstatierte der Drogenboss und suchte nach einer überzeugenden Antwort. »Mir ist diese Hoffnung zu ungewiss. Präsident Pena hatte seine Amtszeit mit dem Versprechen angetreten, den Sumpf der Drogenmafia auszutrocknen. In den sechs Amtsjahren, die er hatte, gelang ihm das zwar nicht, aber er setzte eine Spirale blutiger Gemetzel in Gang, die nicht so leicht zurückgedreht werden kann. Der Blutzoll ist zu riesig geworden. Waren es 2006 noch 2119 Tote, so zählte man 2011 bereits 12 359! Viele Männer und Frauen von uns sind darunter. Ich möchte nicht, dass noch mehr dazukommen. Escurrir el bulto. – Den Kopf aus der Schlinge ziehen scheint mir angesagt.«

»Vielleicht sollten wir das Drogengeschäft nur für eine Zeit ruhen lassen und uns anderen Dingen zuwenden. Ich denke an Erpressen von Schutzgeldern, Schmuggeln von Wanderarbeitern in die USA oder auch Anzapfen von Pipelines und Verkauf des gestohlenen Mineralöls. Auch damit kann man reichlich Geld verdienen. A Dios rogando y con el mazo dando. – Gott hilft dem Tüchtigen«, erwiderte Mitamon.

»Bleib mir mit Gott vom Leib! Auch die anderen Kartelle geben sich schon längst nicht mehr mit dem Drogengeschäft zufrieden und haben diese Pfründe entdeckt. Sie würden zum Zankapfel wie das Drogengeschäft selbst«, wiegelte Don Victor ab. »Man sagt, dass La Familia sich sogar am Mineralölkonzern Pemex, der sich im Staatsbesitz befindet, beteiligt hat. Über das Tankstellennetz waschen sie nun in großem Stil ihr Geld. La Familia ist schon viel weiter als wir. Du solltest das einsehen. En cien años todos calvos. – Alles hat ein Ende. – Nichts ist für die Ewigkeit!«

Miguel Mitamon sah ein, dass er nur noch auf Zeit spielen konnte. »Aber unsere Flucht muss sorgfältig vorbereitet werden«, wandte er ein.

»Dafür habe ich dich hergerufen. Außerdem habe ich auch bereits einiges unternommen.«

Pérez da Silva ließ keine weiteren Fragen zu. Er erklärte Mitamon die Einzelheiten: »Als erstes Etappenziel habe ich die USA ins Auge gefasst. In Chicago können wir bei Freunden unterkommen. Dafür ist bereits gesorgt.«

»Wie ist es mit Geld? Wovon willst du leben?«, fiel ihm Mitamon ins Wort.

»Ich hab in den letzten Jahren ein paar Geschäfte ohne dich abgewickelt. Es war gut zu erfahren, dass ich das noch kann. Die Finanzströme aus dem Kokainverkauf und die Verschleierungstaktik haben sich nicht viel geändert, seit ich die Verantwortung an dich abgegeben hatte. Die Ware wurde von Südamerika nach Europa geschleust. Das Geld dafür kam aus den Niederlanden und wurde an verschiedene Autohändler in Deutschland verteilt. Die verkauften und verschifften Wagen nach Nigeria und transferierten die Erlöse auf die angegebenen Konten in den USA bzw. auf Teneriffa, wo wir später hingehen werden.« Mit einem breiten Grinsen sah er Mitamon an, der nun sprachlos war.

»Warum ging das alles ohne mich? Vertraust du mir nicht mehr?«, meldete der sich erneut zu Wort. Sein vorwurfsvoller Blick traf Don Victor härter als Schläge.

»Das hat überhaupt nichts mit Vertrauen oder Misstrauen zu tun«, wehrte der sich. »Ein Mann muss das Fundament für seine Zukunft selbst schaffen, das gilt erst recht für den Boss! Nun, wo es steht, suche ich wieder deine Hilfe.«

Mitamon war längst nicht überzeugt.

»Ich wünsche mir, dass du und deine Familie mitkommen. Aber es ist klar, dass wir nicht alle unsere Leute mitnehmen können. Hier möchte ich mit dir eine sorgfältige Auswahl treffen«, fuhr Don Victor fort. Dann setzten sich die beiden Männer zusammen und trafen die erforderlichen Entscheidungen. Alle Mitglieder der Gang wurden auf ihre persönlichen Fähigkeiten hin überprüft und auf 20 von ihnen fiel die Wahl. Als alles entschieden war, zog sich Mitamon mit ungutem Bauchgefühl zurück. Er musste die neue Situation seiner Frau erklären und war sicher, dass die äußerst ungnädig reagieren würde.

Mexiko hält Einzug auf Teneriffa!

Es war schon früh warm geworden. La Quinta, ein Viertel von Santa Ursula, erwachte trotz der Hitze aus seiner alltäglichen Lethargie. Zuerst waren es nur Mütter und Kinder, die am Straßenrand die Geschehnisse gespannt verfolgten. Während der Zeit der Siesta kamen noch einige Männer hinzu. Wer zog in das seit Langem unbewohnte Luxushaus auf den Klippen? Ein Ölscheich, ein Wirtschaftsboss oder ein Unterweltboss? Auf jeden Fall ein schwerreicher Erdenbürger!

Vier schwere Limousinen waren vorgefahren und hinter dem mächtigen Rolltor verschwunden. Die Neugierigen hatten niemanden erkennen können. Die Fenster der Wagen waren verspiegelt und verdunkelt gewesen. Kurz nach der Ankunft sorgte eine Helikopterlandung hinter den Mauern des Areals für erneute Aufregung. Das Pfeifen der Rotorblätter und das Knattern der Motoren übertönten das Geschnatter der Gaffer. Mariachi-Musik setzte ein. Die neuen Bewohner waren wohl Mexikaner!

Maria Pérez da Silva sah in den Garten hinaus. Endlich war sie für sich. Ihr Mann und ihr Sohn begutachteten das neue Zuhause. Maria fühlte sich alt. Erste graue Strähnen sprenkelten ihr schwarzes Haar. Sie hatte es so züchtig hochgesteckt wie zur Zeit ihrer ersten Verliebtheit. Sie war der Frisur treu geblieben, hatte irgendwie den Absprung verpasst, sich der heutigen Zeit anzupassen. Ihre beiden Jungen hatten ihr einige zusätzliche Pfunde eingebracht. Wenn sie sich im Spiegel besah, war aus dem zierlichen, schönen Mädchen von damals eine alternde Matrone geworden. Sie verspürte das auch daran, dass Victors Liebeswerben rar geworden war. Beim Beischlaf kamen sie längst nicht mehr zum springenden Punkt. Die Sehnsucht nach Geschlechtsverkehr war immer abstrakter geworden. Ihre letzten Orgasmen hatte Maria nur vorgetäuscht, um ihrem Mann zu gefallen. Hatte ihre Gefühlsänderung vielleicht auch etwas mit Victors Älterwerden zu tun? Die ganze Welt wurde immer absonderlicher, drehte sich immer schneller, nahm Tempo auf, genau wie das Älterwerden.

Seit dem Umzug in die USA hatte ein riesiges Loch in ihrem Universum geklafft. Alles war ihr fremd geworden. Bekannte und Freunde fehlten. Die Hektik Chicagos, die Hochhäuser, die vielen Menschen und der Verkehr waren ihr genauso unheimlich gewesen wie die fremde Sprache. Ihre Bekannten hatten sogar damit begonnen, Kaugummi zu kauen! Dann kam der Flug ins neue Exil. Er hatte sie sehr mitgenommen. Sie hatte eine Urangst in sich, dass die Seele auf einem Flug den Körper nicht so schnell begleiten konnte, wie es die Geschwindigkeit des Flugzeugs gebot.

Nun wanderte sie furchtsam durch das riesige neue Haus. Erschlagen von den Eindrücken, musste sie sich in kürzester Zeit schon wieder neu sortieren. Eine kleine Erleichterung war für sie, dass man auf der Insel wenigstens ihre Sprache sprach. »No hay mal que por bien no venga. – Alles Schlechte hat auch seine gute Seite«, tröstete sie sich.

Die Temperaturen waren sehr angenehm, sonnig warm, nicht so heiß wie in Mexiko und nicht so kalt wie während der Monate in Chicago, wo sogar der Eriesee zugefroren war. Maria sah durch die großen Glasfenster und konnte über das gesunde Grün der Gartenanlage mit den vielen wie Farbflecken hingetupften Blumen bis hinunter aufs Meer sehen. Das war schön. Alles wirkte frei, weit und offen. Unterhalb der Terrasse bewegten sich die fleischigen, stacheligen Blätter einer riesigen Sukkulente sanft im Wind. Ein Platzregen hatte auf ihnen perlende Tropfen zurückgelassen.

Maria schaute nochmals aufs Meer und verband den ersten positiven Eindruck schon wieder mit einem Aber: »Ich würde lieber am Fluss leben. Er fließt und fließt, immer nach vorne. Das Meer kommt und geht. Ich hätte lieber Fluss in meinem Leben!« In Cherán war es allerdings noch trauriger gewesen. Dort hatte sie in einer Festung gewohnt, immer auf der Hut vor feindlichen Anschlägen. Würde sie nun endlich Frieden und Sicherheit finden? Sie wünschte sich nichts sehnlicher als das. Doch sie kannte ihren Mann. Wo er war, lagen Gewalt und Gefahr in der Luft. Das war ihm einfach mitgegeben.

Der abrupte Aufbruch aus den Staaten und die Tatsache, dass er so schnell notwendig wurde, waren Beleg dafür. Maria beschloss, die Zeit der Ruhe und Sicherheit zu genießen, solange sie eben konnte. Ihr Blick fiel auf den Flügel, der in der Ecke des übergroßen Wohnraumes stand. Wollte Victor, dass sie Klavier spielen lernte? Oder stand das Instrument nur als Statussymbol herum? Bei den vielen unnützen Dingen, die sicher teuer gewesen waren, vermutete sie Letzteres. Sie ging weiter. Die Küche gefiel ihr. Alles war massiv, sauber und hell. Sie war mit jeder Art Technik ausgerüstet, die Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch Gewalt antun konnte. Doch auch hier hatte Victor sie entmachtet. Für die modernen Geräte brauchte man einen Führerschein! Es reichte nicht, dass ihr eine Zugehfrau zur Hand ging. Das Gefühl von Abhängigkeit mochte sie gar nicht.

Deprimiert fuhr sie mit ihrem Erkundungsstrip fort. Sie fand bald noch etwas, das sie störte. Das Haus war kein gemütliches Heim. Es spiegelte protzig den Reichtum und die Macht des Hausherrn wider! Was war nur aus ihrem Mann geworden? Victor hatte abgehoben. Er war nicht mehr der, den sie einmal geliebt hatte. A mal tiempo se le combate con buen cara. – Gute Miene zum bösen Spiel machen, nahm sie sich trotzdem vor.

Inspektor Vicente Morales kämpft mit Familienproblemen und steht vor einem neuen Fall

Angenehmes Wetter umfing ihn. Vicente Morales beeilte sich, aus dem Büro zu kommen. Es gab eine große Neuigkeit, die er mit seiner Frau Isabel teilen wollte. Sein beruflicher Alltag würde eine große Veränderung erfahren!

Vor einigen Jahren hatte sich ein unschuldiger Häftling in einer Gefängniszelle erhängt. Das wurde auf Morales’ harte Verhörmethoden zurückgeführt. Danach bekam seine Karriere einen Knick. Xavier Tormes, der Polizeipräsident von Puerto, hatte ihn auf eine Position unter dem jüngeren Teniente Ramón Martin versetzt. Bis dahin waren sie gleichrangig gewesen. Morales hatte weniger unter dieser Herabsetzung als unter dem Freitod des Häftlings gelitten. Er war mit seinem angekratzten Seelenfrieden sogar gern die schweigende Hälfte des Teams Martin geworden. Er wollte nicht mehr selbst führen, zog es vielmehr vor, unter Ramón zu arbeiten. Er konnte gut zuhören, brauchte nur in kleinen Dosierungen Selbstbestätigung und fühlte sich so von zu großer Verantwortung befreit.

Heute aber hatte ihn der Polizeipräsident mit einem besonderen Auftrag betraut. Ein mexikanischer Drogenbaron war mit großer Entourage auf die Insel eingeflogen. Er sollte dessen Überwachung leiten! Xavier Tormes erwartete nichts Gutes von dem Mexikaner und versprach dem Inspektor für die Aufgabe alle Hilfestellungen. Nun sollte er also wieder vornean stehen! Tormes wollte es so. Irgendwie schmeichelte ihm das, und die Zeit hatte seine Wunden ein wenig geheilt. Er wollte sich jedoch nicht verbiegen lassen. Er würde die Arbeit auf seine leise, unbeirrbare Art in Angriff nehmen. Er würde ein stiller Anführer sein …

Der Inspektor freute sich auf sein Zuhause. Er hatte den Besitz seiner Eltern vor fünf Jahren übernommen. Es war ein geräumiges Haus in La Paz, direkt an der Promenade, mit Blick auf die Bucht von Puerto und den Atlantik. Im Garten mit den vielen Blumen und Schmetterlingen ließ es sich herrlich träumen!

Als Morales die Haustür aufschloss, blieb alles ruhig. Ein Hauch von Enttäuschung huschte über sein Gesicht: War Isabel nicht daheim? Dann sah er, dass die Balkontür angelehnt war. Isabel war bestimmt draußen und unterhielt sich mit Julia. Das taten Mutter und Tochter gern. Vicente beschlich ein wenig Eifersucht, denn er fühlte sich irgendwie ausgegrenzt.

Heute war jedoch nichts zu hören. Als er sich dem Balkon näherte, sah er nur Isabel. Sie schaute gedankenverloren in die Ferne und war so abwesend, dass sie nicht bemerkte, dass er hinter ihr stand. Mit einem Räuspern suchte er ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich mit geweiteten Augen um. Er bückte sich und küsste sie spontan auf den Mund.

»Hallo, mein Schatz, wo ist unser Sonnenschein?«

Isabel hatte gerade zu einem Lächeln angesetzt, doch das erlosch mit seiner Frage. »Ich weiß nicht, wir haben uns gestritten. Sie ist einfach weggegangen.«

»Sie muss sich eben die Hörner abstoßen. Worum ging es denn diesmal?« Obwohl er eigentlich seine Neuigkeit loswerden wollte, fragte er nach dem Wohl und Wehe seiner Tochter. Die war ihm wichtiger als seine eigenen Belange.

»Um Schule und Uni. Kein weiteres Lernen, kein Studium. Sie will mal wieder in den Sack hauen!«

»Den Zahn müssen wir ihr ziehen. Julia soll nicht zu der generación perdida, Spaniens verlorenen Kindern, gehören! Ohne eine fundierte Ausbildung gibt es in der heutigen Zeit keine Zukunft.«

»Mit solchen Argumenten kommst du bei Julia nicht weit. Auch ich finde sie ziemlich überholt. Die jungen Menschen, die heute in unserem Land demonstrieren, gehören zu der am besten ausgebildeten Generation, die Spanien je hervorgebracht hat. Trotzdem ist jeder Zweite arbeitslos! Setz noch einen Master auf dein Studium drauf, oder lern eine weitere Sprache – das funktioniert nicht mehr. Die jungen Menschen sind frustriert und versuchen ihren Frust zu betäuben. Sei froh, dass wir es bei Julia nicht mit Alkohol und Drogen zu tun haben!«

Auch wenn Isabel für Vicente ein wenig zu schwarz sah, registrierte er mit Zuneigung, dass sie schon wieder begonnen hatte, Julia in Schutz zu nehmen. Trotzdem nahm er ihre Worte sehr ernst. Sie war für ihn eine unersetzliche Partnerin. Er genoss das Gespräch auf Augenhöhe. Meist schwammen sie sogar auf gleicher Wellenlänge. Er erinnerte sich spontan an den Beginn ihrer Liebe:

Sie kannten sich aus der Schulzeit. Nach dem Abitur traten beide in den Staatsdienst, Isabel beim Finanzamt und er bei der Polizei. Ordnung im Leben war für sie wichtig. Natürlich auch bei der eigenen Tochter. Es gab auch zwischen ihnen Meinungsverschiedenheiten. Die waren aber, wie bei einem guten Koch Salz oder Pfeffer, stets wohldosiert und eher ein Stimulans ihres Eheglücks. Er konnte ihr Zusammenleben nur als glücklich bezeichnen.

Seine Tochter war ihre große Freude. Isabel und er hatten sich sehnlichst ein Kind gewünscht. Was war das für ein Gefühl gewesen, als seine Frau schwanger geworden war! Sie arbeitete weiter, bis der Mutterschutz begann. Auch nach der Geburt ging sie wieder ins Büro. Isabels Mutter umsorgte die Kleine und wurde ein wenig Ersatzmutter. Erst mit deren plötzlichem Tod hatte sich Isabel in den zeitweiligen Ruhestand versetzen lassen. Ihr Versuch, das Kind neben der Arbeit gemeinsam zu versorgen, misslang. Vicentes altmodische Erziehung stand dem im Wege. Er hatte gelernt, dass der Mann der Ernährer war und die Frau für Haushalt und Kinder zu sorgen hatte. Sein Bemühen, Isabel zur Hand zu gehen, mündete meistens in Sätzen wie: Wenn du schon glaubst, das Bad putzen zu müssen, dann solltest du nicht um die Shampooflaschen herumwischen, sondern sie anheben! Seine Antworten waren gelassen geblieben: »Ja, ja, ich weiß, Gott sprach, ich werde es so einrichten, dass alle Frauen hinter jeder Ecke einen idealen Ehemann finden. Und so schuf er die Erde rund!«

Sie hatten sich auch mit den Umständen arrangiert. Das Gefühl, gleichwertig zu sein, blieb Grundlage ihres Glücks, obwohl er der Ernährer war und sie den Haushalt machte. Sie bewahrten sich ihre intellektuelle Beziehung, das gegenseitige Zuhören und vertraute Miteinander. Kompromisse, als Preis für ihr Kind, zahlten sie gern. Auch Vicentes Leben veränderte sich. Fast seine gesamte Freizeit füllte nun dieser kleine Wurm aus! Wie stolz er seine Tochter auf dem Arm getragen hatte. Er konnte ihr bis heute nichts abschlagen.

Ein Lächeln lag noch auf seinem Gesicht, als er aus diesen Gedanken zurückkehrte. Schnell wurde er wieder ernst. Empathie war schön, aber nun war für Julia ein starkes Gegenüber wichtiger! Er wollte nicht zulassen, dass sich in ihrem Kopf Pläne einnisteten, die ihr später schadeten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, das musste auch für Julia gelten!

Isabel bemerkte, wie sehr ihren Mann die Probleme der Tochter beschäftigten. Sie versuchte, ihn abzulenken: »Nun wollen wir uns nicht auch noch in die Haare bekommen. Der Tag ist viel zu schön dafür. Wir müssen mit Julia Tacheles reden, so etwas kann man nicht aussitzen.« Ihre Rechte fuhr sanft in Vicentes Nacken und kraulte ihn dort, wo er es besonders gern hatte. »Sonst schnurrt er, heute würde mir schon genügen, wenn er sich wieder beruhigt«, dachte sie.

Vicente funktionierte! Mit weichen Augen sah er sie an und sagte: »Du hast recht. Carpe diem! Lass uns den schönen Abend nutzen und noch etwas am Meer spazieren gehen. Camine por la sombra, porque el sol derrite los bombones. – Geh im Schatten, denn die Sonne lässt Süßes schmelzen«, setzte er liebevoll hinzu. »Ich habe dir übrigens etwas Wichtiges zu berichten!«

»Ich bin gespannt.«

»Wir können Julia einen Zettel hinlegen, dann weiß sie Bescheid.«

Sie machten sich frisch und fuhren hinunter an die Strandpromenade. »Wir sind nicht die Einzigen, die auf diesen Gedanken gekommen sind«, sagte Isabel lachend. Am Strand herrschte reges Treiben. Viele sonnenhungrige Touristen, aber auch Einheimische tummelten sich auf den mit blühenden Sträuchern gesäumten Wegen, saßen auf bunten Plastikstühlen in den Strandbars oder lagen im Sand.

Vicente bestellte zwei Bier, die in eisgekühlten Gläsern serviert wurden. »Was hast du für Neuigkeiten?«, wollte Isabel wissen und sah, dass ihre Frage Sorgenfalten auf seine Stirn brachte. Aber dann überwog die Erleichterung, seiner Frau endlich berichten zu können.

»Du kennst doch das Anwesen in La Quinta, direkt auf den Klippen, mit Sicht aufs Meer und den Teide?«

»Natürlich.« Isabel wusste, dass es sein Traumhaus war. Schon oft waren sie um das unbewohnte Grundstück spaziert und hatten den besten Blick auf Haus und Gartenanlagen gesucht.

»Dort ist in den letzten Tagen ein neuer Bewohner eingezogen. Er scheint nicht der Feinsten einer zu sein.« »Wie kannst du das sagen? Du kennst ihn doch gar nicht.«

»Aber ich werde ihn kennenlernen. Ich soll mich für Javier Tormes dienstlich mit ihm befassen. Der Kerl ist mit einem größeren Gefolge auf die Insel gekommen.«

»Das kann man sich bei dem riesigen Haus auch nicht anders vorstellen.« Isabel hörte aufmerksam zu, und ihr entging nicht, wie aufgeregt ihr Mann war. Sein Auftrag musste ihm sehr wichtig sein, und sie war neugierig geworden: »Was werft ihr ihm vor? Sollst du ihn observieren oder geht es um Personenschutz?«

»Auch wenn man ihm nichts nachweisen kann, er gilt als Krimineller! Sein Name ist Victor Pérez da Silva. Er kommt aus Mexiko. Dort gehörte er einer berüchtigten Dynastie von Drogenbossen an. Als nahe Familienangehörige im Bandenkrieg erschossen wurden, hat er sich mit seinem Vermögen in die USA abgesetzt und sich nun für Teneriffa entschieden. Geld stinkt nicht, und unsere Regierung hat ihn mit Kusshand ins Land gelassen. Das FBI überwacht immer noch jeden seiner Schritte. Dabei fiel er mit dubiosen Internetgeschäften auf.«

»Was waren das für Geschäfte?«

»Nun, wenn ich es richtig verstanden habe, kaufte er alle Aktien eines internationalen Shoppingportals. Dann kündigte er millionenschwere Investitionen an. Als die Kurse explodierten, verkaufte er schleunigst. Die versprochenen Investitionen waren natürlich vergessen! In der amerikanischen Öffentlichkeit ging das unter. Diese Aktion war zwar anrüchig, aber nicht illegal. Was kann man von einem Land schon erwarten, in dem sich die Lehman-Bank verzockte, die Immobilienblase platzte und Abertausende Bürger ihr Haus verloren! Das so mühelos verdiente Geld erlaubt Pérez da Silva nun ein sorgenfreies Leben. Natürlich hat er noch viel mehr, und alles nicht sauber verdient!«

»Vicente hat endlich wieder eine Aufgabe, die er selbst verantworten muss«, dachte Isabel voll Freude. Sie nahm sich vor, ihn mit all ihrer Kraft zu unterstützen.

»Siehst du, mein Schatz, nun kommst du wieder dorthin, wo du hingehörst. Ich habe es dir vorausgesagt. Du erhältst sogar die Chance, dein Traumhaus von innen zu sehen!«

»Unter diesen Umständen würde ich gern darauf verzichten. Ich hasse Dreckskerle, die sich bei uns einnisten und das gute Image der Insel besudeln. Ich hasse Menschen, die ohne Skrupel die Wirtschaft ruinieren und das auch noch Management nennen. Sie essen Sterneküche, stecken ihre Liebschaften in Haute Couture und ihren missratenen Kindern die Taschen voll Geld. Solche Leute glauben auch noch, sie schafften Mehrwerte. In Wirklichkeit vernichten sie nur die Ersparnisse des kleinen Mannes. Wenn sie sich nur untereinander schaden würden, wäre mir das egal. Aber sie schädigen fast immer nur Schwächere!«, antwortete er hitzig.

Isabel ließ ihn sich den Frust von der Seele reden. Sie merkte, das tat ihm gut. Dann wies sie auf das Positive seines Auftrags hin und die Umstände, denen er ihn verdankte. »Mach dir keine Sorgen. En todas partes cuecen habas. – Es wird überall mit Wasser gekocht. Außerdem stimmt nicht, dass die Welt nur den Lauten, den Alphatieren gehört. Xavier Tormes ist ein guter Polizeichef. Er hat einen Blick für die Fähigkeiten der Leisen. Deshalb hat er dich für die Aufgabe ausgewählt. Dein Feuer brennt inwendig. Ich weiß, wovon ich rede.« Sie küsste ihn zärtlich auf das Ohrläppchen. Ein Glücksgefühl durchfuhr ihn. Er nickte nachdenklich in die aufkommende Stille.

Das Paar schaute auf den azurblauen Atlantik hinaus, der heute glatt wie ein Spiegel war. Dort, wie auch auf den blühenden Oleanderbüschen des Parks, fanden sie Ablenkung von ihren Problemen und kamen zur Ruhe.

Vicente bekam Lust, eine Kleinigkeit zu essen, und sah die Speisekarte an. Da stutzte er: Un cuarto de pollo, ein Viertel Hähnchen, war ins Englische mit »chicken room« übersetzt.

Isabel lachte: »Da hat es einer mit der Übersetzung zu wörtlich genommen! Hähnchenzimmer, Cuarto heißt auch Zimmer! Unser geliebtes Schweinefleischgericht Secreto Iberico habe ich auch schon mal als ›Iberian Secrets‹ gelesen.« Nun lachten beide. Später am Abend gingen sie Hand in Hand zum Wagen zurück.

Zu Hause empfing sie Julia tödlich beleidigt. »Wo wart ihr? Ich habe heute nichts Warmes in den Bauch bekommen«, beschwerte sie sich.

»Du weißt doch sonst genau, was für dich gut ist. Deshalb hast du sicher etwas im Kühlschrank gefunden«, konterte ihre Mutter spitz. »Ich bin nicht einfach abgehauen«, fügte sie hinzu.

Vicente drängte es zu vermitteln. Doch dann erinnerte er sich an ihre Absprache, Julia als Einheit gegenüberzutreten. »Warum behandelst du uns nur noch wie Feinde?«, fragte er ganz auf Isabels Linie.

»Wie eine Freundin behandelt ihr mich schließlich auch nicht. Meine Freunde dürfen jedenfalls all das, was ihr mir verbietet«, erwiderte Julia wütend.

»Dann wollen ihre Eltern nicht das Beste für sie«, fiel ihr Vater ihr ins Wort.

»Ich will doch nur wie Maria die Schule verlassen und für ein soziales Jahr nach Madrid. Ich muss weg von dieser Insel, sonst bekomme ich einen Koller. Maria hat nur noch einen Vater, vielleicht erhält sie deshalb die Erlaubnis«, keifte Julia mit einem ungnädigen Blick zu ihrer Mutter hin. »Und dann möchte ich noch etwas für mich tun. Ich will eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela machen.«

»Das sind doch Hirngespinste. Hier wanderst du doch auch nicht«, antwortete Isabel verärgert.

»Das sind keine Hirngespinste. Alles ist genau geplant. Der Weg beträgt rund 120 Kilometer. Die werde ich in sechs Etappen zurücklegen: Sarria – Portomarin – Palas de Rei – Melide – Arzúa – Arca – Santiago. Ich kenne alle Pilgerherbergen. Was ich als Ausrüstung brauche, weiß ich ebenfalls. Nach Sarria komme ich von Madrid aus übrigens mit dem Bus.«