Mord nach Missbrauch - Volker Himmelseher - E-Book

Mord nach Missbrauch E-Book

Volker Himmelseher

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Beschreibung

Der 3. Fall von Inspektor Martín und Kriminalpsychologin Dr. Teresa Zafón: Eine Serie abscheulicher Morde hält die Polizei auf Teneriffa in Atem. Grausam zugerichtete Frauenleichen werden auf offener Straße aufgefunden, und das mitten in der Karnevalszeit! Wer tut so etwas? Gleichzeitig wird in La Laguna ein katholischer Priester vermisst. Inspektor Martín und Kriminalpsychologin Teresa Zafón bilden mit den Kollegen in Santa Cruz eine Sonderkommission...

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
MORD NACH MISSBRAUCH
Rezept
Personenverzeichnis
Weitere Kanaren-Krimis im Zech Verlag

Volker Himmelseher

Mord nach Missbrauch

Teneriffa-Krimi · Zech

DAS BUCH: Der 3. Fall von Inspektor Martín und Kriminalpsychologin Dr. Teresa Zafón: Eine Serie abscheulicher Morde hält die Polizei auf Teneriffa in Atem. Grausam zugerichtete Frauenleichen werden auf offener Straße aufgefunden, und das mitten in der Karnevalszeit! Wer tut so etwas? Gleichzeitig wird in La Laguna ein katholischer Priester vermisst. Inspektor Martín und Kriminalpsychologin Teresa Zafón bilden mit den Kollegen in Santa Cruz eine Sonderkommission...

DER AUTOR: Dr. Volker Himmelseher hat ein großes Unternehmen in Köln geführt. Dem Ruhestand nahe, schreibt er nun historische und Kriminalromane. Nach Das Drachenbaum-Amulett (2010) sind Tödliche Gier (2011) und Mord nach Missbrauch (2012) im Zech Verlag erschienen.

Impressum

Textgrundlage dieses E-Books ist die mit dem gleichnamigen Titel im Zech Verlag (Teneriffa 2012) erschienene Taschenbuchauflage, erstmals veröffentlicht im E-Pub-Format im April 2014.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, auch einzelner Teile, ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, öffentlichen Vortrag, Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen, z.B. über das Internet.

Alle Rechte vorbehalten. © 2014 ZECH VERLAG

Verena Zech, E-38390 Santa Úrsula (Teneriffa, Kanarische Inseln, Spanien)

Tel./Fax: (34) 922-302596 · E-Mail: [email protected]

Text: Volker Himmelseher

Covergestaltung: Karin Tauer

Konvertierung: Zech Verlag

E-Book ISBN 978-84-941501-3-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-84-938151-3-4

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Webseite:

www.editorial-zech.es/de/

*

Teneriffa, du hast einen Januskopf:

im Norden einen grünen Schopf,

im Süden eine trockene Haut,

fast alles auf Fels und Sand gebaut.

Hier liegen Wolken und Schauer

nur kurz, doch täglich auf Lauer.

Dort wünscht man sich, dass der Himmel weint,

wenn immer und immer die Sonne scheint.

1

Jordi Serrat wurde als erstes Kind einer armen Landarbeiterfamilie geboren. In Gesellschaft hungriger Läuse, deren Leiber binnen Minuten tiefrot vom gierig aufgesogenen Blut ihrer menschlichen Wirtsleute anschwollen, wuchs er auf. Perlen der Armut nannte man die Leiber der Läuse.

Dem Priester des Dorfes fiel der junge Serrat als besonders gescheites Kind auf. Deshalb vermittelte der Geistliche dem Knaben ein Stipendium an einer katholischen Schule.

Fernab von seinen Eltern wurde der Junge vom sechsten Lebensjahr an in Barcelona erzogen. Sein Klassenlehrer, der Priester Alfonso García Talavera, wurde schnell zum Albtraum des jungen Knabenlebens. Die gesamte Schulzeit hindurch quälte und missbrauchte der Geistliche seinen Schüler. Der Name des Priesters und dessen Misshandlungen blieben Jordi Serrat für immer ins Gedächtnis eingebrannt.

Angst, Respekt, aber auch eine Spur von Bewunderung überlagerten mit der Zeit diese schrecklichen Erinnerungen. Jordis Ausbildung war trotz aller Torturen weitgefächert und profund und ermöglichte es ihm schließlich, selbst Lehrer zu werden. Trotz der tiefen Verletzungen seiner Psyche wurde aus dem gequälten Schüler aus eigenem Antrieb kein quälender Lehrer.

Als Jordi Serrat mit zunehmendem beruflichem Erfolg endlich im Stande war, eine Familie zu ernähren, suchte er die Bekanntschaft von Frauen. Er wollte heiraten und Kinder haben. Zarte Bande der Zweisamkeit entwickelten sich trotz aller Versuche jedoch nie für längere Zeit. Seine schrecklichen Erlebnisse aus der Schulzeit standen dem entgegen.

Sein Stolz verbot es ihm, über die Anomalien, die er in jener Zeit erlebt hatte, mit einer Frau zu sprechen und sie sich endlich von der Seele zu reden. Und sein Schweigen darüber führte zu Sprachlosigkeit gegenüber dem anderen Geschlecht und verhinderte, wie eine unsichtbare Mauer, das Aufkommen jeglicher Zärtlichkeit.

Serrats Schweigen, gepaart mit der Unfähigkeit zu normaler körperlicher Liebe, zerstörte rasch alle eingegangenen Bindungen.

Seine Hilflosigkeit und Wut darüber wuchsen von Tag zu Tag. Was sollte er nur tun? Er wollte doch nur wie die anderen Männer sein. Er wollte die schreckliche Vergangenheit verdrängen, aber es funktionierte einfach nicht! Bald befürchtete er, dass die Zukunft für ihn schon vorbei wäre. Seine Seele hatte zu sehr Schaden genommen!

Jordi Serrat probierte beharrlich, beinahe trotzig, verschiedenste Prozesse der Selbstfindung, trank Alkohol und nahm LSD. Alle Versuche, die Vergangenheit zu bewältigen, erwiesen sich als ungeeignet, ihm dauerhaft zu helfen. Auch die Dienste von Therapeuten nahm er bereitwillig an. Er versuchte es mit Verhaltens-, Gestalt- sowie Klangtherapien.

Schließlich folgte er dem Rat eines Psychologen, sich von Barcelona, dem Ort seiner frühen Leiden, abzuwenden. Der Therapeut versprach ihm mit dem Leben auf einer fernen Insel Heilwirkung für seine kranke Seele. Auf dessen Zuraten schrieb er auch täglich alle seine Gedanken in ein Tagebuch. Auf diese Weise sollte er sich von ihnen befreien. Er tat alles, wie ihm geraten.

Jordi Serrat wohnte nun schon seit mehr als zehn Jahren auf der Kanareninsel Teneriffa, auf der sein Onkel, der Bruder seiner Mutter, bis zu seinem Tode ebenfalls sein Zuhause gehabt hatte. Dessen verwandtschaftliche Nähe war ihm für den Neubeginn eine Hilfe gewesen, auch wenn er ihn nur selten besucht hatte.

Jordi Serrat lebte unauffällig, still und bescheiden und schrieb sich in seinem Tagebuch den Kummer von der Seele. Als Lehrer einer Privatschule in Teneriffas Hauptstadt Santa Cruz fiel er weder positiv noch negativ auf. Die Tatsache, dass er nirgendwo aneckte, machte ihn unerwartet zum Kandidaten für die Nachfolge des aus Altersgründen scheidenden Schuldirektors.

Das Angebot des Schulaufsichtsrats und die Befürwortung des Kollegiums schmeichelten ihm. Er wollte jedoch vor seiner Entscheidung sicher sein, dass er seine schlimme Vergangenheit genügend im Griff hatte, um diese verantwortungsvolle Aufgabe wirklich übernehmen zu können.

Die Furcht, noch zu sehr unter dem bösen Einfluss seines ehemaligen Lehrers zu stehen, war ihm trotz aller Therapien geblieben. Seine Narben lagen nicht auf der Haut, und er war sich nicht sicher, wie sich seine inneren Wunden mit der Zeit entwickelt hatten.

»Ich bin schwach und labil«, dachte er oft am Rande der Verzweiflung. »Ich nehme in Krisensituationen eben doch noch die Farbe der Flüssigkeit an, in die man mich als Knabe so böse getaucht hat!«

Deshalb nahm er sich vor, seine Standfestigkeit zu prüfen, indem er sich mit seiner Vergangenheit nochmals hart konfrontierte. Er hoffte, damit das Angstgefühl zu überwinden, es könnte noch irgendwo in ihm eine Zeitbombe ticken.

An diesem Abend wurde in der Universität von La Laguna eine Podiumsdiskussion zum Thema »Misshandlung und Missbrauch in der katholischen Kirche« durchgeführt. Jordi Serrat hatte beschlossen, diese Veranstaltung aufzusuchen.

Er wollte erspüren, ob er eine offene Konfrontation mit diesem für ihn so schicksalhaften Thema ertragen konnte. Nur, wenn ihm das möglich war, wollte er sich um den Posten des Schulleiters bewerben.

2

In der Tageszeitung El Día wurde seit Tagen fast nur noch über Katastrophen aus aller Welt geschrieben. An vorderster Stelle stand das Erdbeben auf Haiti, es folgte das in der Türkei. Bombenanschläge in Afghanistan und Pakistan sowie Proteste der Palästinenser gegen den erneuten Siedlungsbau der Israelis komplettierten diese bedrückenden Meldungen.

Trotz dieser desolaten Situation überall in der Welt bereitete sich Teneriffa, wie jedes Jahr, auf den Karneval vor. Es wurde nur noch mit halbem Herzen gearbeitet. Stattdessen wurden bis spät in die Nacht Kostüme genäht, Dekorationen gefertigt und Festwagen gebaut. Wie jedes Jahr gelang es aufs Neue, nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Residenten und Urlauber für die unzähligen Veranstaltungen zu begeistern. Alle Menschen fieberten den närrischen Tagen entgegen.

3

Teniente Ramón Martín hatte wie Jordi Serrat diesen Abend verplant. Er wollte die Karnevalszeit nutzen, um sich bei Frau Doktor Teresa Zafón von seiner besten Seite zu zeigen. Die Tinerfeños wussten Feste zu feiern, und er war schließlich ein echter Insulaner! Auf den Karnevalsfestivitäten, bei ausgelassener Stimmung und mit der Möglichkeit, seinen Charme aufblitzen zu lassen, wollte er endlich das Herz der schönen Kriminalpsychologin erobern.

Der Inspektor konnte sich nicht damit abfinden, dass ihre Verbindung nur in Freundschaft verharrte. Schließlich war er ein leidenschaftlicher Mann, und seine Gefühle für Teresa saßen tief, auch wenn die attraktive Frau das immer wieder gerne herunterspielte. Der Tod seiner geliebten Frau lag nun schon so lange zurück, dass er sich nach einer ernsthaften Bindung sehnte. Die närrischen Tage erschienen Ramón Martín bestens geeignet, die begehrte Frau zu umwerben.

Die Tinerfeños mit ihren Kostümen und in heiterer Stimmung würden Teresa auch mancherlei Anlass für Beobachtungen und Analysen bieten, die sie so sehr liebte und suchte. Es wäre der Psychologin deshalb auch schwer gefallen, Ramóns Einladung abzulehnen.

Für den Abend hatte er Karten für die Gala de la Elección de la Reina Infantil, der Wahl der Kinderkönigin, besorgt. Diese Veranstaltung lag früh in der Saison und war eine der wenigen, in denen Kinder auftraten. Dass Ramón Martín sie ausgesucht hatte, sollte Teresa Zafón zeigen, wie sehr er Kinder mochte. »Ein Wink mit dem Zaunpfahl«, schmunzelte er vor sich hin, als er sich seine Beweggründe in Erinnerung rief.

Die Feier fand in der großen Halle des Centro International de Ferias y Congresos in Santa Cruz statt. Ramón Martín kannte den Ablauf des Abends. Er war seit Jahren bekennender Karnevalist und hatte Erfahrung mit den Programmen. Fleißige Hände würden den Mädchen prächtige Kostüme nähen und sie herrlich drapieren. Die Eltern würden voller Ehrgeiz und mit hohen Erwartungen hinter ihren herausgeputzten Sprösslingen stehen.

Um die ernste Angelegenheit der Königinnenwahl etwas aufzulockern, waren für das Rahmenprogramm Musikstücke und Tänze eingeübt worden. Für Stimmung und gute Laune war also gesorgt. Nur die glückliche kleine Kandidatin, bei der am Tag der Entscheidung alles auf den Punkt klappte, hatte die Chance, die Krone zu gewinnen. Das war der Traum aller teilnehmenden Mädchen und der sehnlichste Wunsch aller Eltern, besonders der Mütter.

Die Endausscheidung begann gegen 17 Uhr. Vorher wollte Ramón mit Teresa noch eine Kleinigkeit essen gehen. Er hatte für 14 Uhr im Hotel Mencey einen Tisch reserviert.

Das schöne altrosa Hotelgebäude umschloss eine herrliche Gartenanlage. Sein Restaurant war bekannt für besonders gute Küche und frische Produkte aus dem Atlantik. Ramón wollte Teresa mit Austern verwöhnen. »Die liebt sie mehr als mich«, hatte er bei der Auswahl wehmütig gedacht.

Das Hotel lag in bester Stadtlage nicht weit von den Gebäuden der Stadtverwaltung entfernt. In der Nähe lag auch ein wunderschöner Park, nach dessen Durchqueren man auf die Calle Pilar und direkt auf die Geschäftsstraßen der Hauptstadt gelangte. Der Name Mencey war kanarischen Ursprungs. Mencey hieß in der Sprache der Ureinwohner der Insel »König«, und so war das Haus auch von herrschaftlicher Ausstattung.

Seine Arbeit verlief zurzeit wenig spektakulär, und es war kein Problem, das Büro einmal früher zu verlassen. Sonst würde der immense Berg seiner Überstunden auch nicht kleiner werden! Ramón Martín hoffte, dass es die nächsten zwei Wochen so entspannt bleiben würde. Dann konnte er mit Teresa noch die eine oder andere Veranstaltung besuchen. Er hatte viel mit ihr vor.

Karneval galt als Zeit der Liebenden. Neun Monate später wurden die meisten Kinder im Jahr geboren, und etwas früher häuften sich die Hochzeiten! Warum sollte das nicht auch bei ihnen klappen?!

Teresa Zafón hatte seine Einladung gern angenommen. Der erste Schritt war also erfolgreich getan, und Martín war nicht bange vor dem nächsten. Gut gelaunt summte er ein Evergreen der Karnevalstage vor sich hin: »Sueño es realidad«, Traum ist Wirklichkeit. Dann harrte er ungeduldig der Dinge, die da kommen würden. Die Zeit bis zu ihrem Treffen verging ihm viel zu langsam.

4

Jordi Serrat wohnte an der befahrenen Rambla in Santa Cruz, die durch einen mit Bäumen bepflanzten Streifen in der Mitte der Fahrbahnen grün und schattig war. Besonders günstig für den Lehrer war die öffentliche Verkehrsanbindung. Von der nahe gelegenen Haltestelle Plaza de La Paz, die eine Straßenbahnlinie anfuhr, konnte er bis nach La Laguna gelangen. Er nutzte diese Möglichkeit oft und gern, schon wegen der Parkplatzprobleme in der Innenstadt. Auch die vielen Staus auf den ewig verstopften Straßen konnte er damit vermeiden. Er liebte es stressfrei und bequem.

Seine Wohnung war für eine einzelne Person angenehm und großzügig bemessen. Zwei seiner drei Zimmer, darunter auch das Arbeitszimmer, lagen nach hinten. Hier war es erträglich ruhig. Das nach vorne gelegene Zimmer dagegen befriedigte seine Neugier, er genoss es, von hier aus an dem Gewusel auf der belebten Straße teilzunehmen.

Serrat saß an seinem Schreibtisch und korrigierte Klassenarbeiten. Es sollten für die nächste Zeit die letzten sein, denn die Karnevalsferien standen bevor. Sein Zimmer war von der Klimaanlage angenehm herabgekühlt. Er hasste Hitze, und draußen herrschten heute immerhin 27 Grad.

Um das Rauschen der Anlage zu übertönen, hatte er seine HiFi-Anlage etwas lauter gestellt als sonst. Mozarts Klavierkonzert No 13 in C-Dur K 415, virtuos gespielt von Murray Perahia, füllte den Raum. Jordi Serrat liebte diese Sony-Classics-Einspielung sehr, denn sie beruhigte ihn. Bei ihren Klängen hatte er konzentriert und ungestört gearbeitet. Der Stapel der fertig korrigierten Hefte war immer größer geworden. Nur drei Arbeiten waren jetzt noch zu überprüfen. Nach der Durchsicht von zwei dieser Testaufgaben endete die CD. Jordi Serrat beschloss, keine weitere aufzulegen. Die verbleibende Zeit war zu kurz dafür.

Die plötzliche Stille lenkte ihn ab, und seine Gedanken schweiften bereits zu der abendlichen Podiumsdiskussion, die er besuchen wollte. Die letzte Korrektur ging ihm deshalb nicht mehr so flott von der Hand.

Das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche wühlte schon jetzt sein Innerstes auf. Er war zu sehr persönlich vorbelastet, um bei diesem Thema ruhig zu bleiben.

Als er mit dem letzten Heft fertig war, fragte er sich schuldbewusst, ob er, abgelenkt durch die eingetretene Stille und so unkonzentriert, wie er gewesen war, die Arbeit wirklich genauso gründlich korrigiert hatte wie die anderen zuvor. Er bezweifelte das ein wenig, ließ es aber dabei bewenden.

Serrat sah auf seine Armbanduhr. Er hatte noch Zeit genug, um sich frisch zu machen und umzukleiden. Er stand auf und ging nach vorne ans Fenster des Wohnzimmers. Der Verkehr staute sich auf allen vier Fahrbahnen der Rambla, und so beschloss er, mit der Tranvía-Straßenbahn zu der Abendveranstaltung nach La Laguna zu fahren.

5

Es war warm und schön auf der Insel. Teneriffas Hauptstadt Santa Cruz, an die Brise des Atlantiks gewöhnt, atmete allerdings bei 27 Grad etwas langsamer als sonst.

Ramón Martín und Teresa Zafón hatten das Hotel Mencey erreicht. Sie nahmen einen Drink inmitten der schönen Gartenanlage direkt am Swimmingpool, dann gingen sie gemächlich in das schönere der beiden Restaurants, das wie die gediegenen Konferenzräume im Erdgeschoss lag. Für die erlesene Qualität seiner Speisen sprachen die vielen Politiker und arrivierten Geschäftsleute, die hier täglich dinierten.

»Wir können uns auf eine kulinarische Überraschung freuen«, meinte Ramón gut gelaunt.

»Man sagt dem Küchenchef nach, dass er schon als 11-Jähriger jede freie Minute in der Küche seiner Klosterschule verbracht hat, die von Salesianer Mönchen geführt wurde. Er gilt als Meister seines Fachs und hat sein Wissen in den besten Häusern Portugals, Deutschlands und Frankreichs verfeinert.«

»Das hört sich ja sehr verführerisch an«, antwortete ihm Teresa und man konnte ihre Vorfreude aus ihrer Gestik erkennen.

Sie betraten den hellen Raum. Stuck an den Wänden in Form von dorischen Säulen und eingelassene Bögen mit fächerförmigen Muscheln im oberen Rundbogen sorgten für eine klassische Atmosphäre. In den Nischen standen weiße Büsten antiker Helden. Weitere geometrische Figuren waren um die Bögen friesartig in die Wand eingelassen und in taubenblauer Farbe abgesetzt. Die Tische waren rund, weiß eingedeckt, die gepolsterten Sesselrücken griffen mit taubenblauen Streifen die Farben der Wände auf und unterstrichen wie die kaskadenförmigen Kristalllüster mit eingestickten kleinen Krönchen die herrschaftliche Atmosphäre des Speiseraums.

Teresa und Ramón wollte beide nur ein leichtes Menü zu sich nehmen, und so beriet sie der nette Oberkellner auch. Teresa nahm, wie von Ramón vorausgesehen, eine kalte Austernsuppe vorweg. »Sechs entbartete Austern schwimmen zusammen mit gekochten, enthäuteten Würfeln von Kirschtomaten in geeistem Fischsud, der großzügig mit Champagner aufgeschüttet ist«, hatte ihr der Kellner detailverliebt vorgeschwärmt und auch nicht die frischen Basilikumblätter als Zugabe vergessen. Ramón Martín gab einem gekühlten Schaum aus Kartoffeln und Manchegokäse den Vorzug. Einig zeigten sich die beiden beim Hauptgang: Sie freuten sich zusammen auf Sankt-Peters-Fisch mit gegrillten Auberginen an Safran-Fumet und Wildreis gelegt.

Das gut aussehende Paar hatte sich aus gegebenem Anlass in Schale geworfen. Teresa Zafón schmückte ein luftiges buntes Seidenkleid, das schon auf den farbenfrohen Karnevalsabend einstimmte. Teniente Ramón Martín trug ein leichtes Baumwoll-Sakko in Marineblau mit goldenen Kapitänsknöpfen an den Ärmeln. Dazu passten die helle Hose, die farblich angeglichenen Strümpfe und die Mokassins aus hellem, superweichem Leder vortrefflich. Er hatte zu dem klassisch weißen Hemd eine gewagte bunte Krawatte gewählt und damit ebenfalls dem Karneval die notwendige Referenz erwiesen.

Ramón war begeistert von Teresas modischem Outfit und ließ sie das auch wortreich wissen. »Die Konkurrenz ist groß«, relativierte die Psychologin seine Schmeicheleien in der für sie typischen Art, freute sich aber über das Kompliment.

Das gute Essen beanspruchte alle ihre Sinne. Die Hitze bremste mehr und mehr ihre Redelust. Gegen ihren Vorsatz nahmen sie auf Anraten des Obers zum Abschluss doch noch, allerdings gemeinsam, ein Stückchen Kastanienkuchen zur obligatorischen Tasse Kaffee. Die im Teig verarbeitete, geriebene Orangenschale nahm dem braunen Kastanienmehl etwas die Süße, und der saftige Teig mit einem Schlag eiskalter Sahne an der Seite mundete ihnen trefflich. Sie ließen sich Zeit, die vielen schönen Eindrücke, die sie umgaben, richtig zu genießen, und machten sich erst auf den Weg zum Messegelände, als es wirklich Zeit dafür wurde.

Am blauen Himmel segelten mehrere Möwen mit ausgebreiteten Flügeln hoch oben auf der Luftströmung. Ihr raues Kreischen drang trotz der Entfernung deutlich bis an ihre Ohren. Es war, als sprächen die weißen Vögel zu ihnen, denn alles schien sich in ihrer aufgekratzten Stimmung um sie zu drehen.

Das Centro International de Ferias y Congresos lag in der Calle de la Constitución, die senkrecht von der Avenida de la Constitución abging und etwa einen halben Kilometer oberhalb des berühmten weißen Auditorio de Tenerife lag, in dem oft gute Konzerte geboten wurden.

Das Messegebäude hatte einen großen, ungeteilten Innenraum, der nicht nur Messen Platz bot, sondern auch sonstigen Festlichkeiten den richtigen Rahmen gab. Die großzügigen hohen Fensterfronten aus Glas ließen das Tageslicht hinein und machten für viele Stunden des Tages eine Beleuchtung der Halle entbehrlich.

An diesem frühen Abend jedoch strahlte es bereits einladend hell von innen nach außen. Teresa und Ramón hatten Sitzplätze in der dritten Reihe, genau in der Mitte vor der Tribüne. Die Rückwand und das Podium des Festsaales waren mit glänzenden Folien golden, silbern, türkis, blau und rosa dekoriert. Die blitzartig aufscheinenden Lichtspots sorgten für eine dynamische Untermalung der nun folgenden Auftritte. Das Programmheft verkündete, dass für die Königin und ihre sechs Ehrendamen 26 Kandidatinnen zur Wahl standen.

»Das wird ja Stunden dauern«, freute sich Teresa und wippte erwartungsfroh im Takt der lauten Live-Musik.

»Ich schätze, mit der Ansage, den unzähligen Musikgruppen, der Wahl selbst und der Siegerehrung zum guten Schluss werden wir über drei Stunden Stimmung erleben«, strahlte Ramón sie erwartungsfroh an.

Zunächst spielte die Gruppe Chic & Chic, dann wurde die erste junge Dame vorgestellt, so ging es Mädchen für Mädchen weiter. Dazwischen hörten die Besucher begeistert die fetzigen Melodien von Lenguas Largas, Triqui-Traquitos, Azahar, Loli Pérez, Marcha del Sur und vielen anderen Gruppen. Die Schlussakkorde der Künstler ertranken immer wieder in tosendem Applaus. Bald hatten beide jeweils eine feste Favoritin für die Königinnenwürde gefunden. Die schöne Psychologin entschied sich für die lachende blonde Lorena de Armas. Das Motto »Todas para Una y Una para Todas«, Alles für Eine und Eine für Alle, gefiel ihr genauso gut wie die Gruppe Los Joroperos, die Lorenas Patenschaft übernommen hatte.

Der Teniente favorisierte die zierliche Nayara Baute mit ihren braunen Schillerlocken und dem beigen Seidenkleid mit farbigen Rüschen. Die Kleine hatte ein bezauberndes Lächeln und ihr Motto »En el jardín de mis sueños«, im Garten meiner Träume, passte gut zu ihren verträumten Augen.

»So ein süßes Mädchen könnte ich mir auch als Kind vorstellen«, meinte er schwärmerisch.

»Nanu? Machos wünschen sich doch immer zuerst einen Sohn. Bist du kein echter spanischer Mann, mein Lieber?«, neckte ihn seine schöne Begleiterin.

»Es ist wirklich zum Mäusemelken«, dachte Martín betrübt. »Diese Frau sucht immer wieder einen Dämpfer.«

Teresa Zafón hatte für sich das Thema aber noch nicht abgeschlossen: »Ich mag im Übrigen an Kinder gar nicht mehr denken. Meine biologische Uhr tickt schon ziemlich am Limit.«

Ramón Martín wollte das so nicht stehen lassen: »Was sagst du da? Selbst Mütter mit Vierzig sind heute keine Seltenheit mehr!«

Yamara García unter der Patenschaft der Gruppe Bahia Bahitiare mit dem passenden Motto »Un minuto para la gloria« ging mit den meisten Stimmen als Siegerin hervor. Sie hatte reizende dicke Zöpfe und ein wahrhaft königliches Lächeln in ihrem kleinen Gesicht. Teresa und Ramón mussten sich damit zufrieden geben, dass ihre beiden Auserwählten nur unter die sechs Ehrendamen kamen.

Aufgedreht, aber auch müde fuhr das Paar bald darauf nach Puerto de la Cruz zurück. Vor ihrer Haustür gestattete Teresa dem verliebten Ramón zum Dank für den schönen Abend einen flüchtigen Kuss.

6

Als Jordi Serrat vor die Tür trat, schloss er für einen Moment die Augen vor dem grellen Sonnenlicht. Sofort war die Kühle seiner Wohnung vergessen. Die feuchtwarme Luft der Straße umfing ihn genauso unangenehm wie der Lärm und Gestank der Autoschlangen.

Unter Serrats Armen wuchsen schnell zwei dunkle Schweißflecken zu Tellergröße an. Rasch zog er sein Leinensakko aus und hing es am rechten Zeigefinger über die Schulter. Er ging nicht sofort zur Straßenbahnhaltestelle, sondern trat zunächst vor den Zeitungskiosk.

Jordi las mit Bedacht die Überschriften der Tagespresse. In den Zeitschriften wurde hauptsächlich über die bevorstehenden Karnevalsereignisse berichtet. Teneriffas große Vorliebe verdrängte den Rest der Weltnachrichten. Wichtige Meldungen schien es aber wohl auch nicht zu geben, und so machte sich Jordi gemächlich auf den Weg zur Haltestelle.

Ein erneuter Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er für den kurzen Weg noch über zehn Minuten Zeit hatte. An der Haltestelle angekommen, musste er mit etwa einem Dutzend weiterer Personen noch fünf Minuten in der brütenden Hitze auf die Ankunft der Tranvía warten.

Der Triebwagen der Bahn sah futuristisch aus, wie er so auf die Haltestelle zufuhr. Die Bahn war schneller als die vielen Autos, die sich im zähflüssigen Stau nur träge fortbewegen konnten. In der riesigen gläsernen Frontscheibe der Zugmaschine brachen sich die Sonnenstrahlen so stark, dass man das Innere des Wagens nicht erkennen konnte, nicht einmal den Fahrer hinter dem Steuerknüppel. Die petrolgrüne Verkleidung der Außenwände reflektierte die Strahlen der Sonne von ihrer blanken Oberfläche und traf den vorbeifahrenden Verkehr und die Fußgänger wie Laserstrahlen.

Das Abteil, in das Jordi Serrat einstieg, war geräumig und gut ausgestattet. Leider war es nicht gekühlt, und so schwitzte er weiter. Als er an die circa zwölf Kilometer lange Fahrstrecke dachte und die halbe Stunde Fahrzeit, stöhnte er leise auf. Der Waggon füllte sich von Haltestelle zu Haltestelle mehr. Mit der Zahl der Fahrgäste nahm die Hitze im Inneren ständig zu. Jordi Serrat war froh, dass er in La Laguna bereits an der ersten Haltestelle, Campus Guajara, aussteigen konnte. Von dort aus war es nur ein Katzensprung zur Universität.

Schnell befand er sich auf dem breiten, gepflasterten Zuweg zu den Vorlesungsräumen. Der war sauber und ordentlich auf beiden Seiten mit hartblättrigen Grünpflanzen eingefasst. Jordi Serrat gefiel der gepflegte Zustand des Geländes, denn er hatte einen ausgeprägten Sinn für Ordnung.

Am Gebäudeportal fand der Lehrer ohne langes Suchen den Hinweis auf den Hörsaal, in dem die Podiumsdiskussion stattfinden sollte. Es war vom Eingang aus nicht weit dorthin, er lag also gut in der Zeit. Als er den Saal betrat, atmete er erleichtert auf: Der Raum war angenehm temperiert!

Auf dem Podium standen Stühle für neun Personen. Sie waren noch nicht besetzt. Jordi Serrat wurde bewusst, dass er sich bisher gar nicht dafür interessiert hatte, wer zu den Referenten gehörte. Er beschloss, das jetzt auch nicht mehr nachzuholen. Er wollte einfach alles auf sich zukommen lassen.

Das Auditorium war schon gut gefüllt. Serrat schätzte die Besucherzahl auf knapp hundert. Er ging im Hörsaal nach hinten bis zur vorletzten Reihe. Er wollte weitab von der Bühne sitzen, um nicht aufzufallen. Selbst in dieser Reihe ließ er einige Plätze zu den bereits Sitzenden frei, um genügend Abstand zu halten.

Nachdem es zehn Minuten über der Zeit war, wurde es im Auditorium langsam unruhig. Die ersten Hörer, wahrscheinlich Studenten, begannen rhythmisch zu klatschen. Jordi Serrat schüttelte missbilligend den Kopf. Gerade Studenten mussten doch eigentlich die akademische Viertelstunde respektieren. Sie war im Universitätsleben für Kommen und Gehen gang und gäbe!

Aber es war, als hätten die Diskussionsteilnehmer nur auf das Klatschen gewartet. Wie eine Gänseherde kamen sie hintereinander hereinspaziert und nahmen auf ihren Stühlen Platz.

Nach einigen Grußfloskeln stellte sich Antonio Flores als Moderator der Veranstaltung vor und eröffnete die Gesprächsrunde:

»Die fehlende Bereitschaft, Missbrauch und Misshandlung aufzudecken oder anzuklagen, wird gerne mit der Angst begründet, die Opfer durch die Enthüllungen zu stigmatisieren. Da fallen mitunter schwülstige Sätze wie: ›Innere Wunden müssen nicht aufgerissen werden. Viel wichtiger ist es, eine Salbe aufzutragen!‹ Also, man soll wohl alles mit dem Mantel der Liebe zudecken?!« Mit provozierender Gestik schaute sich der Moderator um.

Abbé Dominique Perrault, ein französischer Geistlicher, hob zum Zeichen, dass er etwas sagen wollte, die Hand, stellte sich kurz vor und warf vehement in die Debatte ein: »Sie haben zu Recht ausgespart, dass es sich um ein spezielles Problem der katholischen Kirche handelt. Auch die intellektuelle Linke muss sich hierzu an die Nase packen. In deren Augen war die Kontrolle der Triebe schon immer nur ein Herrschaftsinstrument der Konservativen, um die bürgerliche Macht in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Diese Kontrolle musste nach ihren Vorstellungen dringend aufhören. Solche Reden gegen die bürgerliche Machterhaltung haben unzweifelhaft zu einer Absenkung der Tabuschranken gegen Pädophilie geführt und dadurch Missbrauch nahezu legitimiert. Das Problem ist also wirklich nicht nur eines der christlichen Kirchen!«

Durch das Auditorium gingen erste Zeichen aufkommender Unruhe.

Antonio Flores beschloss, solchen Störungen zu Beginn gleich entgegenzuwirken: »Liebe Zuhörer, ich bitte, solche Missfallensäußerungen zu unterlassen. Sie stören nur. Das Gespräch ist auf das Podium beschränkt, und hier oben soll jeder ungeschminkt seine Meinung äußern dürfen. Dies zu gewährleisten, wird eine meiner Hauptaufgaben sein.« Dann fuhr er fort: »Abbé Dominique, Sie haben mich fehlinterpretiert. Ich habe keinesfalls bewusst den Bezug zu den Kirchen, speziell zur katholischen Kirche, ausgelassen. Ich halte Ihren Einwurf sogar für falsch und illegitim. Man kann doch kaum glauben, dass sich die Repräsentanten der Kirche von den Linken bei der Absenkung ihrer Tabuschranken haben beeinflussen lassen. Da bin ich mir nun wirklich ganz sicher.«

Die Zuhörer im Saal setzten sich über Flores’ Bitte, Ruhe zu halten, hinweg. Lautes Klatschen machte die Stimmung im Saal deutlich.

»Die politische Ausrichtung der Zuhörer ist überwiegend links«, dachte Jordi Serrat etwas irritiert. Aber das war wohl bei Studenten normal, und die stellten eindeutig den Hauptteil der Zuhörerschaft.

Abbé Perrault ging über die Worte des Moderators einfach hinweg und sprach einen anderen Aspekt an, der ihm wichtig erschien: »Die zu untersuchende Problematik tritt im kirchlichen Bereich wohl am häufigsten in den Eliteschulen auf. Diese hermetisch abgeschlossenen Institute sind eine Welt für sich, und das ist genau das, was ihr großer Vorzug ist, sie aber auch gefährdet.«

Markus Bernard, ein deutscher Geistlicher, hob auf diesen Einwand hin die immensen Vorzüge dieser Schulform hervor: »Diese ›Welt für sich‹ bedeutet eine Welt ohne Drogendealer an den Schulhofpforten, ohne Verwirrung durch das andere Geschlecht, ohne Komasaufen an freien Wochenenden!«