Tödliche Wallfahrt - Volker Himmelseher - E-Book

Tödliche Wallfahrt E-Book

Volker Himmelseher

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Beschreibung

Die Römerin Carla liegt im Sterben. Lorenzo, der Schutzheilige ihrer Kirche, erscheint ihr im Traum und verspricht ihr Heilung durch den heiligen Hippolytus, der auch ihm geholfen hat. Dessen Gebeine ruhen in Köln in der Kirche St. Ursula. Carla ist zu schwach, um eine Wallfahrt nach Köln anzutreten. Aus Liebe zu ihr macht sich ihr Gatte auf den Weg dorthin, um für sie eine Reliquie des Heiligen zu beschaffen. Das gelingt ihm nur mit Hilfe von Raub und Mord. Ihm bleibt nur die Flucht. Eine tapfere Begine und ein Kölner Kaufmann sind ihm auf den Fersen. Kann die mit Blut besudelte Reliquie Carla heilen?

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Danksagung

Wesentliche Unterstützung erfuhr ich durch Frau Ingrid Wilkening, die mir mit ihrer kritischen und gründlichen Lektoratsarbeit zur Seite gestanden hat.

Dr. Volker Himmelseher

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

Carla konnte nicht einschlafen. Wie ein hilfloses Kleinkind lag die todkranke Römerin verloren unter den weißen Laken ihres Bettes. Gerade noch war es ihr kalt gewesen, gezittert hatte sie und sich in ihre Decke eingemummelt. Nun schüttelten sie heiße Fieberschauer. Sie warf alle Hüllen von sich und entblößte ihren schmächtigen Leib bis auf das dünne Nachtgewand. Ihr Haar klebte nass an ihrem Kopf und ließ das schmale, blasse Gesicht noch kleiner erscheinen. Die grässlichen Wechselbäder wiederholten sich andauernd und schwächten die Arme immer mehr. Erst eine Ohnmacht erlöste sie von den Qualen. Für längere Zeit schlief die Kranke traumlos. Dann wurde es plötzlich hell vor ihrem inneren Auge. Blitze zuckten und ein alter Mann erschien ihr in gleißendem Licht. Ein güldener Ring schwebte über seinem Haupt. Es musste ein Heiliger sein. Der Mann sprach zu ihr: »Gott prüft dich, du Arme. Gott ist aber auch Gnade und Rettung! Er kann dir helfen, durch sich oder seine Heiligen. Mir, Lorenzo, dem Schutzheiligen deiner Kirche, war in den schwersten Stunden Hippolytus Hilfe und Hoffnung zugleich. Bete zu ihm, suche ihn. Er hat seine letzte Ruhestätte im heiligen Köln, in Sankt Ursula. Bestimmt hilft er auch dir.«

Mit einem weiteren Blitz verschwand die Erscheinung, und Carla schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen. Als sie erwachte, standen die nächtlichen Bilder wieder vor ihr. Ihr Herz hüpfte vor Aufregung, und es drängte sie, ihrem Mann davon zu berichten. Ihr Gatte Francesco jedoch hatte sie in ihrem Schlaf nicht stören wollen. Er war bereits, ohne die übliche morgendliche Umarmung, zu seinem Handelshaus aufgebrochen.

Sein Tagwerk ging dem Ende entgegen. Francesco hatte den Einkauf neuer Wolle aus Mallorca auf den Weg gebracht, diverse Angebote für das Spinnen, Weben, Färben und Appretieren geprüft und die besten ausgewählt. Bei der Durchsicht der letzten Eintragungen in die Geschäftsbücher sowie der eingegangenen Briefe hatte seine Konzentration nachgelassen. Es war spät geworden, und er musste nach Hause zu seiner kranken Frau. Sie bedeutete ihm so viel.

Er durfte Carla nicht länger warten lassen. Sorgenvoll kraulte er seinen kurz geschnittenen schwarzen Vollbart. Er musste fortwährend an Carla denken. Sein blasses Gesicht war von Kummer gezeichnet. Francesco Bovatieri wusste sich keinen Rat mehr, wie er ihr helfen konnte. Er richtete sich auf, streckte seinen kompakten, muskulösen Körper, der sich beim langen Sitzen verkrampft hatte. Dann fand er einige leise Abschiedsworte für seinen Kontorvorsteher. Er ging zum Spiegel, setzte den grünen Hut auf das schwarze Haar, überprüfte die Lederschließe seines grünen Anzugs, den er über einer weißen Strumpfhose trug, ordnete den weißen Rüschenkragen, hängte sich den leichten roten Umhang um und ging zum Ausgang.

Draußen herrschte die Hitze des römischen Sommers. Wie angenehm temperiert war es hinter den dicken Mauern des Kontors gewesen! Die Sonne strahlte mit voller Kraft vom Himmel, und unter Francescos dünnen Schuhsohlen brannten die Pflastersteine. Die heilige Stadt lag unter einer alles erstickenden Dunstglocke. Der viele Unrat und all die Exkremente stanken gen Himmel. Der Kaufmann hielt angeekelt einen Zipfel seines Umhangs vor Mund und Nase und machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg nach Hause.

Bald schon passierte er die riesige Holztüre von Sankt Lorenzo Fuori le Mura, der Kirche seiner Gemeinde. Die Sonnenstrahlen reflektierten von der gewaltigen glänzenden Kuppel, und der Turm des Gotteshauses sah aus, als trüge er einen Heiligenschein. Dieses Bild berührte den Kaufmann. Flüchtig schlug er ein Kreuz und machte die Andeutung einer Verbeugung in Richtung der Kirche. Im gleichen Moment begann im Kircheninneren der Chor zu singen. »Gloria in Excelsis Deo«, schallte der Jubelgesang mit klaren Stimmen nach draußen. Francesco verharrte und lauschte den Klängen. Irgendwie hatten sie etwas Tröstliches. Dann erst setzte er seinen Heimweg fort.

Nach wenigen Augenblicken erreichte er sein Zuhause. Er führte das großzügige Haus eines erfolgreichen Kaufmanns. Bovatieri war mit Tuchhandel reich geworden. Allzu gern hätte er nun im fortgeschrittenen Alter von fünfundfünfzig Jahren diesen Reichtum mit seiner Frau genossen. Carla kämpfte jedoch mit einer bösen Blutkrankheit. Es gab kaum noch eine Chance, die schwer erarbeiteten Früchte seines Tuns gemeinsam mit ihr auszukosten.

Was aber bedeutet das ganze Geld und Gut, das ich besitze, ohne sie?, dachte er und verzog verbittert seine Lippen. Er eilte durch den Park seines Hauses, ohne die gepflegte Blütenpracht zu bemerken. Achtlos ging er durch den Flur mit den vielen schönen Kostbarkeiten aus aller Herren Länder, sprang die breite Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau. Erst jetzt bemerkte er, dass auch in seinem Heim die Hitze des Sommertages durch das dicke Mauerwerk abgehalten wurde. Die Temperatur war erträglich.

Der komfortable Schlafraum hatte große Fenster zur Sonnenseite hin, lag aber im Halbdunkel. Die schweren Seidengardinen waren zum Schutz gegen die Hitze zugezogen, auch gegen das grelle Tageslicht, das die Augen seiner Frau immer weniger ertragen konnten.

Mit zischendem Fauchen begrüßte ihn Caesar, Carlas weißer Perserkater, der, wie immer, am Fußende des großen Bettes lag. Die beiden mochten sich nicht. War es Eifersucht um die Hausherrin, die beiden ihre Liebe schenkte? Francesco würdigte den Kater keines Blickes. Es überraschte ihn, am Bett seiner Frau den Hausarzt zu sehen. Hatte sich ihr Zustand verschlechtert?

Doktor Paolo Datini betreute Carla schon seit Langem. Er war dabei zum Freund der Familie geworden. Der kleine rundliche Mann stand am Kopfende des Bettes, wie immer ganz in Schwarz gekleidet. Er hatte seine Brille auf der fleischigen Nase, den schwarzen Arztkoffer aus weichem Ziegenleder vor den Füßen und die kurzen fleischigen Hände wie zum Gebet aufeinandergelegt. Der Medikus sprach auf Francescos Frau ein. Bovatieri zögerte, ihn zu unterbrechen, doch der Doktor unterbrach sich selbst, als er den Hausherrn sah. Der grüßte ihn mit einem »Ciao Paolo«, ließ es damit der Höflichkeit genug sein und kniete vor dem Bett seiner Frau nieder und küsste sie auf die heiße Stirn. Wie schön war sie gewesen in ihren jungen Jahren! Große, ausdrucksvolle schwarze Augen, langes blauschwarz schimmerndes Haar, meist in einem festen Knoten getragen, hatte sie gehabt. Der Kontrast zu ihrer edlen weißen Haut und ihren vollen roten Lippen war unvergleichlich gewesen. Die schreckliche Krankheit, die nun schon seit mehr als sieben Jahren in ihrem Körper wütete, hatte ihr diese Schönheit geraubt. Heute war Carlas Leib nicht mehr zart, nein, knochig und ausgemergelt. Ihre Haare waren stumpf geworden. Ihr Gesicht ähnelte einer Totenmaske, und ihre Hände glichen denen eines Skeletts. Die Arme hat nichts mehr zuzusetzen, sinnierte er vor sich hin. Bovatieri war verzweifelt.

Was nützt es, sich die alten Zeiten vor Augen zu holen? Meist fror sie, dann schüttelten sie wieder heiße Fieberschauer. Nur noch mit fremder Hilfe wagte sie ab und zu ein paar Schritte durch das Haus. Sie plagt sich so sehr, weil sie weiß, wie sehr ich sie brauche, dachte ihr Ehegatte beschämt. Er umfing ihre heißen Hände und streichelte sie.

»Deine kleine Frau ist sehr tapfer, Francesco«, wandte sich der rundliche Arzt an den Kaufmann. Er sah, wie Francesco litt, und wollte ihn mit seinen Worten aufmuntern.

»Ihr seid ein Schmeichler«, presste Carla mit schwacher Stimme hervor. »Ich lass doch nur alles mit mir geschehen. Was tue ich denn noch?«

»Was Ihr tut, meine Liebe, ist kämpfen! Und Ihr kämpft mit all Euren Möglichkeiten. Darum heiße ich Euch tapfer und mutig!«

»So ist es, mein Schatz«, mischte sich Francesco ein. »Wir werden gemeinsam kämpfen und deine schreckliche Krankheit besiegen. Ich glaube fest daran, mein Ein und Alles.«

Ein kleines Lächeln huschte über das schmale Gesichtchen der Bettlägerigen. Es sah aus, als ginge ein Leuchten darüber.

»Für meine Rettung brauchen wir die Hilfe eines Stärkeren«, erwiderte sie schwach. »Aber vielleicht gibt es wirklich Hoffnung: Letzte Nacht erschien mir in meinen Fieberträumen San Lorenzo.«

»Er liegt in unserer Kirche zur ewigen Ruhe.« Francesco nickte erwartungsvoll.

Doktor Datini wusste hinzuzufügen: »Und er ist für uns Römer nach Petrus und Paulus der bedeutendste Heilige überhaupt.«

»Ihr habt recht, doch hört mir zu. Mein Atem ist zu schwach, um viele Worte zu machen.«

Sie atmete heftig ein. Die Männer sahen sich schuldbewusst an und blickten voll Spannung auf ihre blutleeren Lippen. Carla fuhr leise fort: »Der Heilige riet mir, die Hilfe von Hippolytus zu suchen. Der war sein Kerkermeister und hat ihm in seiner letzten Stunde geholfen. San Lorenzo hat ihn vor dem Tode noch bekehrt. Hippolytus starb danach den Märtyrertod. Er liegt in Köln in Sankt Ursula zu Grabe. San Lorenzo machte mir Mut, Hippolytus könne mir helfen, wie er ihm geholfen habe. Nun sehe ich wieder einen Hoffnungsschimmer.«

Die beiden Männer glaubten ihren Ohren nicht zu trauen. »Wie soll das gehen, von so weit weg, wie soll er dir helfen?«, fragte ihr Mann.

»Ach, mein dummer Schatz«, antwortete ihm Carla. Ihre Stimme wurde ein bisschen fester als sonst. »Was bedeuten bei Wundern Entfernung und Zeit? Ich habe den ganzen Tag zu ihm gebetet und glaube, ich fühle schon ein wenig Linderung.«

Der Arzt sah sie zweifelnd an. Datini widersprach ihr jedoch nicht. Er brachte es trotz seines schlechten Befundes nicht übers Herz, ihr die Hoffnung zu nehmen. Bei einem kurzen Seitenblick erkannte er, dass Francesco ebenfalls bereit war, den schmalen Weg der Hoffnung mitzugehen.

»Ich habe etwas für dich mitgebracht, meine Liebe. Schau her.« Francesco holte aus der Innentasche seines Umhangs eine zierliche blassrote Korallenkette hervor.

»Sieh, ich habe einen besonderen Glücksbringer für dich anfertigen lassen. Die Kette ist gearbeitet wie die des kleinen Jesus auf dem Bild in unserer Kirche.«

Er legte das Kleinod vorsichtig um ihren zerbrechlichen Hals. Nach einem Moment des Innehaltens fuhr er fort: »Was dir heute Nacht widerfuhr, macht mich glücklich. Wir sollten es nicht mit Gebeten bewenden lassen. Wir müssen der Weisung des Heiligen folgen und alles tun, was in unseren Kräften steht. Ich werde für dich nach Köln wallfahren.«

Carlas müde Augen weiteten sich vor Schreck. »Nein, du musst bei mir bleiben, in meiner Nähe!«

Francesco schüttelte den Kopf. Er strich ihr mit der Rechten über die eingefallenen Wangen und beschwichtigte sie: »Ich werde immer bei dir sein, mein Herz, auch wenn ich fern bin. Jetzt musst du tapfer sein. Wir müssen alles versuchen, dich wieder gesund zu machen.«

Auch Doktor Datini hegte Zweifel an der Richtigkeit von Francescos Vorhaben. Er versuchte auf seinen Freund bremsend einzuwirken: »Hör auf deine Frau. Vertrau lieber auf die Wirkung ihrer Gebete. Du bist in einem Alter, in dem du auch schon solche Fernreisen meiden solltest. Überall auf den Straßen herrschen Mord und Totschlag. In manchen Gegenden wütet sogar die Pest. Ich glaube, für Carla bist du daheim wichtiger. Tue hier Gutes und versuche lieber nicht, in der Ferne Weihrauch zu verbrennen.«

Francesco war nicht nur gläubig und fromm, sondern auch stur und zielstrebig. Diese Eigenschaften hatten in seinem Berufsleben den Erfolg begründet.

»Glaub mir, es ist für Carla das Beste, wenn ich reise. Ich fühle, dass Hippolytus ihr helfen wird. In jüngeren Jahren war ich oft in Köln. Auf Fernfahrt ins heilige Rom des Nordens, wie wir es nannten. Bis Flandern hat es mich sogar verschlagen. Ich kann mich in deutscher Mundart ein wenig ausdrücken. Was soll mir schließlich Schlimmes geschehen, wo ich doch ein gottgefälliges Werk angehen will?«

Alle Bedenken der beiden halfen nicht, ihn von seinem Plan abzubringen. So musste sich die Todkranke nach einigen Tagen damit abfinden, dass ihr Mann sie für längere Zeit verlassen würde.

2

Um sein Kontor machte er sich wenig Sorgen. Seine Bediensteten waren es gewohnt, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Sie hatten während seiner Fernreisen dafür Erfahrung gesammelt. So konnte sich der Kaufmann voll und ganz auf die Reisevorbereitungen konzentrieren. Francesco besorgte sich alles, was er als Pilger benötigte, einen Pilgerhut aus Filz, vorne aufgeschlagen und hinten mit einem Nackenschutz versehen, eine Kapuze mit Überwurf, einen groben Mantel, eine Feldflasche aus Leder, einen Rosenkranz für den Gürtel und einen Pilgerstab. Pilgern wurden auf ihrer Wallfahrt von den Gläubigen viele Hilfen gewährt. Er wollte als Pilger zu erkennen sein.

Nachdem er alle Vorbereitungen getroffen hatte, umarmte er Carla zum Abschied lange und innig. Hoffnungsvoll trat er die beschwerliche Reise in das ferne Köln an.

Der Kaufmann hatte es eilig. Er wusste, wie wertvoll jede Minute für seine Frau war, denn mit jedem Tag nahm ihre Lebenskraft ab. Deshalb suchte er für sich ein besonders gutes Pferd.

Gott sei Dank war der Weg über die Alpen noch frei und nicht so beschwerlich wie in den Wintermonaten. Er war schneefrei und passierbar.

Als Francesco Bovatieri endlich den Rhein erreichte, erlebte er eine herbe Enttäuschung. Er hatte gehofft, ein großes Stück des Weges auf einem Schiff mitzufahren, hatte aber die Rechnung ohne den heißen Sommer gemacht: Der sonst so mächtige Fluss war an vielen Stellen ausgetrocknet und konnte nicht beschifft werden. Wie tröstlich war es, dass wenigstens noch über lange Strecken die alten, gut befestigten Römerstraßen existierten. Wie stolz kann ich auf meine Vorfahren sein, dachte der Kaufmann.

Es dauerte mehr als dreißig Tage, bis der Römer am dunstigen Horizont die vielen Türme der Kirchen von Köln erblickte. Der Sommer war schon weit fortgeschritten und Francescos Herz schlug sorgenvoll, wenn er an die Rückreise dachte.

Würde er in den ersten Schneefall geraten? Möge mich der allmächtige Gott davor beschützen!

Der Trubel auf der Landstraße wurde immer größer. Viele Menschen waren unterwegs, um die bevorstehende große Prozession mitzuerleben. Die meisten Pilger betrachteten Köln dabei nur als Zwischenstation auf dem Weg nach Aachen. Sieben Jahre waren ins Land gegangen, seit auf der Brücke zwischen Turm und Kuppel des Münsters das Marienkleid zum letzten Mal gezeigt worden war.

Dieses Mal erwies sich die Trockenheit für Francesco als Vorteil. Am Rheinufer stellte er fest, dass er keine Fähre benötigte. Der Fluss war in seinem breiten Bett zu einem schmalen Rinnsal ausgetrocknet, man konnte ihn leicht mit dem Pferd durchreiten und musste nicht einmal eine besondere Furt suchen.

Francesco näherte sich der Stadt von der Südseite her. Bald stand er vor dem Severinstor, das Einlass durch die trutzige Stadtmauer bot. Über dem Toreingang ragte ein trapezförmiger Turm mit einem gezahnten Zinnenkranz empor. Er war links und rechts von kleineren Rundtürmen eingerahmt, die kegelförmige Dächer hatten. Die Fenster der gesamten Torburg waren lediglich schmale Schießscharten, die den Römer wie drohend zusammengekniffene Augen anstarrten.

Die Wachsoldaten nahmen ihre Aufsichtspflicht nicht allzu genau, denn es war Frieden im Land. Viele Pilger begehrten Einlass, und den konnte man ihnen in dieser frommen Zeit nicht verwehren.

Francesco hatte das Stadttor schnell passiert und befand sich auf der Severinstraße, die zu Beginn links und rechts von grünen Weingärten eingerahmt war. Inmitten der Gärten ragte die mächtige Silhouette der Kirche Sankt Severin empor. Francesco beschloss, sein Pferd am Zügel zu führen und den Weg zu Fuß fortzusetzen.

Vor der Kirche wurden Pilgerzeichen aus Blei und Zinnlegierung verkauft, die Francescos Neugier erregten. Er sah sich die verschiedenen Machwerke aufmerksam an, weil er auf jeden Fall irgendein Zeichen mit nach Hause bringen wollte.

Die zierlichen Abbilder hatten kleine Zungen, mit denen man sie sich an den Umhang stecken konnte. Ihr Gitterguss sorgte dafür, dass sich hinter dem Bild ein schöner Kontrast zum bunten Kleiderstoff ergab. Zwei Ösen links und rechts ermöglichten, das Abzeichen auch an Hut oder Rosenkranz zu befestigen. Der Römer wählte eines aus, das die Heiligen Drei Könige und die Ursulanischen Jungfrauen zeigte. Die waren von einem geperlten Kranz eingerahmt und durch eine gewölbte horizontale Mittellinie getrennt. In der oberen Hälfte sah man die Drei Könige zu Pferd, in der unteren das Schiff mit den heiligen Jungfrauen. Über allem stand in einem bekrönenden Mitteltürmchen die heilige Muttergottes mit Kind. Dieses Amulett gefiel Francesco am besten, und er erwarb es, ohne groß zu feilschen.

Viel ungarisches Geld war in Umlauf, kleine Silberpfennige, die ihm nicht so geläufig waren. Er musste sich bei der Rückgabe des Wechselgeldes sehr konzentrieren. Zufrieden steckte er seine Neuerwerbung an den Umhang. Für ihn war das Zeichen etwas Besonderes, obwohl es in diesen Tagen zu Tausenden verkauft wurde und nur Massenware war.

Francesco wollte eigentlich zunächst das Innere des Gotteshauses mit dem Schrein des heiligen Bischofs Severin besichtigen. Er entschied sich aber, lieber direkt auf Quartierssuche zu gehen. Sein Pferd war ihm hinderlich.

Die gerade Römerstraße führte stracks ins Zentrum der Stadt. Vorbei an dem Duitschen Haus, dem Waidmarkt und den Kirchen Sankt Ian und Sankt Katharina. Je tiefer er in die Stadt eindrang, umso unerträglicher wurde der Gestank. Viel Unrat türmte sich an den Straßenrändern. Die stinkenden Laugen, die Gerber und Färber in die Bäche leiteten, taten das Ihre hinzu. Das Getümmel auf der Straße wurde immer dichter. Sprachen aus allen Herren Ländern klangen durcheinander. Der Kaufmann erkannte Deutsch, Ungarisch, Spanisch, Niederländisch und vernahm auch mit Freuden seine eigene Muttersprache.

Es war Hochzeit für die vielen Kölner Schlupfhuren und Liebesdienerinnen in den Badehäusern und Bordellen. Rote Schleier und rote Tücher trugen sie auf Anordnung des Kölner Rates, um ihr sündiges Gewerbe kenntlich zu machen. Sie standen an vielen Häuserecken und warben mit anzüglichen Anspielungen um die Gunst der Freier. Wenn auch die meisten der Passanten in frommen Absichten reisten, waren sie einem Schäferstündchen nicht abgeneigt. Das konnte sie für die erlittenen Strapazen entschädigen! Keiner der Pilger dachte bei seinem Sündenfall an die mahnenden Worte, die sein Pfarrer ihm mit auf den Weg gegeben hatte: »Nolite diligere mundum. Thesaurizate vobis thesaurum in caelis!« – Ergötzt euch nicht an den Freuden dieser Welt. Häuft einen Schatz im Himmel an. Zu verlockend waren die weltlichen Reize!

Eine glutäugige Hübschlerin machte den Neuankömmling anzüglich an: »Die Filzlaus juckt und kratzt mich so schrecklich in der Liebespforte, dass ich mich mächtig nach dem elften Finger in mir sehne. Nur er kann mir Erleichterung verschaffen.«

Francesco verstand die Anspielung nur bruchstückhaft, lächelte freundlich und setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Das trug ihm den Spott der Verschmähten ein: »Hast wohl nichts zwischen den Beinen baumeln, Kleiner«, rief sie ihm bissig hinterher, bevor sie sich ihrem nächsten Opfer zuwandte.

Über »Vor den Vrouwenbruderen« erreichte Francesco Sankt Gereon. Der hintere Teil der Kirche mit seinem Dekagon erinnerte ihn an den Tempel der Minerva Medica in Rom. Heimweh und Sehnsucht nach Clara kamen auf. In seiner Brust spürte er Schmerzen.

Vorbei an dem Ostabschluss des Gotteshauses mit der Apsis und den beiden mächtigen Türmen stürzte er sich in den nächsten Trubel und versuchte, seinen Kummer zu vergessen. Die Straße summte wie ein Bienenstock. Überall waren die Pforten der Trinkhallen einladend geöffnet. Das fröhliche Gegröle und Lachen der Zecher tönte nach draußen und lockte so manchen Bummelanten nach drinnen. Von seinen früheren Aufenthalten in Köln wusste der Kaufmann, dass es rund um den Heumarkt gute Herbergen gab. Das war der größte Marktplatz Deutschlands, dort wollte er hin. Francesco konnte sich Besseres gönnen als die normalen Wallfahrer. Die gaben sich mit dem ärmlichsten Pilgerobdach zufrieden und lagen »die Bach« herauf und hinunter in allen Häusern. Sie nahmen bei Kölns Bürgern Unterschlupf, die ihnen gerne Gutes erwiesen, um selbst gottgefällig zu sein. Sie nächtigten in Ställen, aßen Kirschen, Pflaumen und anderes Obst und verrichteten ihre Notdurft in den Höfen. Lachend gab man ihnen die Schuld, wenn in den Gärten die Obstbäume ausschlugen und wie ein Wald wucherten.

Einige Pilger, die dem Italiener begegneten, trugen mannshohe Kerzen in den Dom oder nach Sankt Marien zu den Weißfrauen. Dafür hatten sie ihr letztes Geld zusammengekratzt. Überrascht war der Römer, als er vor dem Rathaus stand. Das hatte er ganz anders in Erinnerung. Ein hoher Turm war inzwischen an den alten Komplex angebaut worden. Kölns mächtige Zünfte und Gaffeln hatten ihn zur Erinnerung an ihren Sieg über die Patrizier errichten lassen.

Im Keller des Turms lagerte der Ratswein, im Erdgeschoss befand sich die Rentkammer, in der das städtische Vermögen verwaltet wurde. Darüber hatte der Rat seinen großen Sitzungssaal. Und im höchsten Stockwerk lagen das Stadtarchiv und die Waffenkammer. In der Turmspitze wohnte der Turmbläser und Brandwächter. Er war auch für das Läuten der Ratsglocke Sankt Michael zuständig, genau wie für die Feuerglocke.

Diese Stadt wächst und gedeiht, dachte der Kaufmann bewundernd. Francesco orientierte sich zum Rhein hinunter.

Als er endlich den Heumarkt erreichte, wurde er von einem neuen Spektakel abgelenkt. Eine Gruppe ausgelassener Ungarn mit riesigen Schnauzbärten und bunten Gewändern führte einen großen Bären an einem Ring durch die Nase mit sich. Sie ließen ihn auf der Gasse nach der Musik ihrer Pauken und Pfeifen tanzen. Viel Volk sah fröhlich zu und klatschte im Takt.

»Nun habe ich genug getrödelt«, mahnte Francesco sich und fühlte zum ersten Mal, wie erschöpft er von der Reise war. Sein Blick strich prüfend an den Fassaden der Häuser entlang und verharrte auf einem Gebäude. Es war mit bunten Fahnen und durch eine Aufschrift als Herberge gekennzeichnet. Das Haus gefiel Francesco sofort. Es war ein massiver Steinbau aus dicken Tuffsteinblöcken. Die Schmuckfriese aus grauem Schiefer waren bemalt und vergoldet. Das zweischiffige, zur Straßenseite senkrecht geteilte Gebäude hatte im Erdgeschoss große bleiverglaste Fenster und eine einladend offene Holztüre. Sie war in eine Verankerung im Mauerwerk eingehängt, sodass sie nicht zuschlagen konnte.

Vor dem Haus tranken gut gelaunte Gäste Keutebier aus Krügen. Sie saßen auf Holzbänken an blanken Bohlentischen eng zusammengedrängt. Einige von ihnen musterten den Neuankömmling neugierig. Francesco erkannte sie an der Sprache als Spanier und Holländer. Die dunkelhaarigen Männer mit Schnurbärten an den Ecktischen waren Ungarn.

Hier suche ich ein Bett, entschied er sich. Als Fremder unter Fremden fühlt man sich in der Fremde sofort wohler.

Er band sein Pferd an einen Haltering und betrat das Haus durch die offene Pforte. Links von dem schmalen Flur ging der große Schankraum ab. Die Einrichtung bestand auch hier aus Bänken, Tischen und wenigen Stühlen. Der Boden war mit frischen Binsen bestreut. Schüsseln, Kannen und Leuchter aus Zinn zierten den Sims. Was sein Auge sah, gefiel ihm, wie das dralle Weibsbild, das auf ihn zugeeilt kam.

Die Frau musterte ihn mit in die Hüften gestemmten Armen von oben bis unten. »Gott zum Gruße! Sucht er Unterkunft?«

Francesco nickte und bekräftigte mit seiner melodiösen Stimme in italienischem Akzent: »So ist es, Signora. Und ich glaube, ich bin fündig geworden.«

»Wie schön«, erwiderte sie und Schalk blitzte in ihren Augen. »Ihr habt Glück, wir haben noch eine Kammer frei. Aber die kostet gutes Geld! Die Nachfrage ist groß, und das muss man nutzen!«

»Ich weiß, wovon Ihr sprecht, bin selbst Kaufmann. Aber ich bin gewohnt, die Ware, die ich kaufe, vorher zu prüfen. Zeigt mir bitte das Haus, Signora.«

»Nichts lieber als das. Ich bin stolz darauf«, antwortete die lebhafte Frau bereits im Umdrehen und führte ihn durch den Schankraum nach hinten.

»Dort sind Wirtschaftsraum und Küche, wie Ihr unschwer erkennen könnt.« Auf dem großen Ofen standen schwere Töpfe. Zurzeit schmorte nichts darin. Die Küche war kalt. »Dort durch die Tür geht es hinaus auf den Hof. Wir haben einen eigenen Brunnen. Pumpe und Badestube sind auch draußen sowie eine Kalle, die mit keinem Nachbarn geteilt werden muss!«

Bei dieser Erklärung zeigte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das hölzerne Aborthäuschen am rechten Ende des Hofs. Francesco nickte anerkennend. Wenn ihm auch nicht die gleichen Annehmlichkeiten geboten wurden wie zu Hause, so war das, was er sah, für einen kurzen Aufenthalt mehr als tolerabel. Er hatte auf seiner Reise schon mit Schlechterem vorliebnehmen müssen.

Die Wirtsfrau eilte bereits weiter. Sie lief zurück zum Flur, die Stiege hinauf.

»Ihr habt Glück, ich kann Euch sogar eine einzelne Schlafkammer anbieten. Sie liegt hinter dem festen Mauerwerk und nicht unterm Dach, also gut abgeschirmt gegen die Hitze. Haltet gut Türe und Fenster zu, dann bleibt es schön kühl. Auch die Bettdecke ist dünn, wenn Ihr sie bei der Wärme überhaupt braucht.«

Francesco betrat mit ihr den kleinen Raum und fühlte sich in seiner bisherigen Einschätzung bestätigt. Die Binsen auf dem Boden rochen sauber. Die dicken Vorhänge vor den Fenstern hielten die Hitze ab. Im Halbdunkel sah er ein großes Bett und eine schwere Kommode, auf der eine kleine Statue der Muttergottes mit Kind stand.

»Ein gutes, christliches Haus«, sagte er anerkennend.

Schnell waren die beiden sich über den Logispreis einig. Francesco hatte sein Gepäck die ganze Zeit mit sich getragen. Er hatte nicht gewagt, das Bündel draußen beim Pferd abzustellen. Nun fiel ihm das Pferd wieder ein, und er war glücklich, von der Wirtsfrau zu hören, dass es für ein paar Pfennige mehr möglich war, den braven Gaul in einem Stall unterzustellen.

»Der gute Mann denkt an sich selbst zuletzt«, dachte er und kümmerte sich also zunächst um sein Pferd. Schließlich hatte es ihn aufopferungsvoll den langen, weiten Weg bis Köln getragen. Dann ging er in seine Schlafkammer zurück und packte seine Sachen aus. Danach stieg er in den Hof hinab, wusch sich den Oberkörper und sein verschwitztes Gesicht mit kaltem Wasser aus der Pumpe und kleidete sich mit einem neuen Leinenhemd. So erfrischt betrat er den Schankraum, wo er wieder auf die Wirtin traf. Er bestellte einen großen Krug kaltes Keutebier und ging vor die Tür.

Die Spanier forderten ihn auf, bei ihnen Platz zu nehmen. Da er alleine war, folgte er der Einladung gern. Bald radebrechte er mit seinen neuen Freunden um die Wette. Sie verstanden sich glänzend und das Keutebier lief durch die Kehlen so schnell hinab, dass die Bedienung kaum nachkam. Mit dem Trinken kam der Hunger. Schon bald hörte und fühlte Francesco Knurren in seiner Magengegend. Seinen Kumpanen blieb das nicht verborgen. Zu laut waren die Zeichen seines Heißhungers. Sie brachten ihm spöttische Scherze und frohes Gelächter ein.

»Signora, was habt Ihr für mich zu beißen?«, rief er hinter der Wirtin her. Sie schaffte mit gerötetem Gesicht und etwas außer Puste immer neue Pokale schäumenden Bieres heran. Trotz der harten Arbeit blieb sie fröhlich. Sie drehte sich zu dem hungrigen Römer um und lachte breit über ihr Sommersprossengesicht. »Zu beißen gar nichts, mein armer Italiano. Zur Stunde ist meine Küche noch kalt. Doch für gute Gäste habe ich etwas ganz Besonderes, einen Gaumenschmaus bei dieser Hitze: in kaltem Brunnenwasser gekühlten Grießbrei mit Rosinen!«

Für den ersten Moment war Francesco enttäuscht. Er hatte sich eigentlich auf etwas anderes gefreut, auf etwas Herzhaftes, so richtig passend zum Bier. Doch schnell gewann das Angebot durchaus etwas Verlockendes für ihn. »Dann muss ich aber wohl oder übel mein Getränk wechseln«, erwiderte er. »Was habt Ihr für einen lieblichen Roten dazu zu bieten?«

»Nehmt den von der Ahr. Er ist leicht gekühlt und nicht zu schwer. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Auch er steigt bei dieser Wärme schnell ins Hirn!«

Francesco stimmte zu. Der Rotwein mundete ihm zwar nicht so wie der gewohnte aus dem Piemont oder der Toskana, aber man konnte ihn gut trinken. Er trank nur wenig und schaufelte stattdessen mit viel Appetit den kalten Brei in sich hinein. Er wollte erst einmal eine richtige Grundlage schaffen.

»Das bekommen bei uns dürre, kranke Kinder, wenn sie aufgepäppelt werden sollen«, frotzelte einer der Spanier und hatte die Lacher auf seiner Seite.

Der Römer ließ sich davon nicht abhalten, sich seinen hungrigen Bauch genüsslich vollzuschlagen. Obwohl er müde in der Herberge angekommen war, verweilte er noch lange Zeit in diesem lustigen Kreis und erfuhr vieles über seine neuen Gefährten. Zwei von ihnen waren als Kaufleute unterwegs. Sie waren Weinhändler. Leider gab es also keine Berührungspunkte zu seinen Geschäften.

Die beiden anderen hatten gemeinsam ein schweres Schiffsunglück überlebt und zum Dank dafür eine Wallfahrt angetreten.

»Wir wollten nicht, wie üblich in Spanien, nach Santiago di Compostela pilgern«, erklärte José, ihr Wortführer. »Wir waren zunächst im heiligen Rom, und als wir erfuhren, dass nach sieben Jahren Pause in Trier, Köln und Aachen wieder die Zurschaustellung der berühmten Heiligtümer stattfindet, haben wir uns entschlossen, unsere Pilgerreise dorthin fortzusetzen. Wir haben in Trier schon den Rock Jesu gesehen und warten in Köln jetzt auf die große Prozession. Hier gibt es ja unzählige Heilige, die wir anbeten können. Wir haben schon am Sarg der Heiligen Drei Könige gebetet und den elftausend Jungfrauen die Ehre erwiesen. Zum krönenden Abschluss bleiben uns noch das Marienkleid und der Marienschrein zu Aachen! Diese Reise wird uns immer in Erinnerung sein, so bewegend sind die Eindrücke.«

»Ja, die Reise hat uns die Augen geöffnet«, bestätigte sein Freund Raoul. »Sie zeigte uns, wie groß die Macht und Herrlichkeit unseres Herrgotts ist. Unsere Wallfahrt kommt mir vor wie ein Ziehen durch die Zeit. Gottvater entgegen, es ist wie die Einkehr der Kinder Gottes in das himmlische Jerusalem.« Francesco fühlte den Zeitpunkt gekommen, den Absprung zu suchen. Die letzten Worte seines Vorredners schienen ihm für einen Spruch zum Abschied wie geschaffen: »Meine Augen sind nicht geöffnet, sie fallen mir vielmehr zu. Nach meinem beschwerlichen Tag haben sie wirklich Ruhe verdient. Ich wünsche Euch eine gute Nacht. Gehabt Euch wohl.« Er gab allen vieren die Hand und schwankte beschwipst mit der nötigen Bettschwere versehen die Stufen hinauf in seine Schlafkammer.

3

Er schlief traumlos und tief. Als er am nächsten Morgen mit schwerem Kopf erwachte, fühlte er sich schuldig. Zum ersten Mal seit seiner Abreise aus Rom war er ohne einen Gedanken an seine kranke Frau und ohne ein Gebet für sie eingeschlafen. Zerknirscht kniete er vor der Marienfigur nieder, holte das Vergessene mit Inbrunst nach und bat Gott, ihm sein Versäumnis zu verzeihen und nicht mit Bösem zu vergelten. Danach ging er hinab in den Hof. Nachdem er seinen Kopf mehrere Male in einen Eimer mit kaltem Wasser gesteckt hatte, fühlte er sich wieder besser. Als ihm aus der Küche der Duft von Gebratenem und Gesottenem um die Nase wehte, meldete sich sogar sein Appetit. Er genoss im Gastraum ein reichhaltiges Frühstück. Dann besann er sich auf den Grund seines Hierseins und machte sich auf, um die Kirche Sankt Ursula zu suchen.

Die freundliche Wirtin hatte ihm den Weg beschrieben, doch scheinbar war er noch nicht wach genug gewesen, ihn sich zu merken. Schon auf dem Altermarkt musste er erneut nach der Richtung fragen. Sein Augenmerk fiel auf einen blonden Jungen, der durch die Menschenmenge wuselte. Als der kurz davor war, Francesco umzurennen, sprach ihn der Römer an: »Kleiner, kannst du mir helfen, die Kirche Sankt Ursula zu finden?« Der flachsblonde Knabe hob den Blick zu ihm auf und schaute ihn trotzig an. »Nennt mich nicht klein, ich bin schon groß, habe schon manchen wichtigen Auftrag erledigt! Aber Ihr habt Glück. Ich muss selbst dorthin, bin Zugehjunge bei den Kanonissen dieser Stiftskirche und kenne den Weg im Schlaf.« Francesco hatte also ins Schwarze getroffen. »Gottvater scheint mir mein Versäumnis verziehen zu haben«, murmelte er leise vor sich hin.

»Dann kannst du dir was verdienen«, fuhr er laut fort und fragte den Jungen: »Wie heißt du?«

»Ich heiße Jan«, antwortete der immer noch etwas vergrätzt. »Unsere Äbtissin sagt stets: ›Tu täglich eine gute Tat!‹ Deshalb will ich Euch führen. Folgt mir. Ich bringe Euch nach Sankt Ursula!«

Er schritt mit wichtiger Miene voran, und sein goldenes Haar strahlte in der hochstehenden Sonne. Es wurde ein heißer Tag. Francesco ging schnaufend hinter ihm her. »Kennst du auch das Grab des heiligen Hippolytus? Er soll in dieser Kirche ruhen.«

»Natürlich kenne ich seine Grabstätte. Hippolytus liegt dort in einem wunderschönen Schrein. Jeden Abend sehe ich ihn, wenn ich mit unserer Kustodin noch einen letzten Kontrollgang durch die Kirche mache und nach dem Rechten sehe. Oft schon hat sie mir seine Geschichte erzählt.«

»Bitte lass sie mich wissen«, bat Francesco, und der Junge begann: »Hippolytus war der Kerkermeister des heiligen Laurentius und wurde von ihm bekehrt, bevor Laurentius den Martertod starb. Nur wenig später endete der Arme selbst als Märtyrer. Der gottlose Kaiser Valerius ließ ihn an wilde Pferde binden und zu Tode schleifen. Seine Amme Concordia und neunzehn seiner Verwandten wurden mit ihm geköpft.« Der Knabe schüttelte sich bei dieser Vorstellung und beendete seinen Bericht: »Der Orden der Stiftsdamen brachte Hippolytus’ Leichnam vor vielen Jahren aus Rom mit nach Köln.«

Das klang in Francescos Ohren wie Musik. Er war also auf dem richtigen Weg und kam seinem Ziel langsam näher!

Sie standen inzwischen auf dem Domhof vor der mächtigen Hauptkathedrale der Stadt. Sie war immer noch nicht zu Ende gebaut! Der große Holzkran auf dem einen Turm war beredtes Zeichen für die Saumseligkeit der Bauherren. Aber der Bau war auch in diesem Zustand schon imposant. Francesco betrachtete ihn voll Bewunderung. Dann gingen sie weiter. Am Dom vorbei durch die »Blumersgaß« führte ihr Weg »Hinder dem alten dhom« in die »Marzellen strays«. Von dort aus sahen sie schon das Frauenstift mit der Kirche der elftausend Jungfrauen. Es thronte, von einer hohen Mauer geschützt, inmitten von Strauchwerk, Bäumen und Feldern. Sie hatten noch ein schönes Stück Weg vor sich.

Die Stiftskirche war wie fast alle Kirchen im Grundriss als ein römisches Kreuz gebaut.

»Seht, hier an der Chormauer könnt Ihr lesen, dass wir unser Ziel erreicht haben«, sagte der blonde Knabe und zeigte mit der Rechten auf eine Inschrift. Francesco las sie mit Interesse:

Durch göttliche, flammende Gesichte häufig ermahnt und aufgefordert durch die Wunderkraft des hochherrlichen Martyriums der himmlischen Jungfrauen, die aus dem Osten erschienen, hat einem Gelübde gemäß Senator Clematius aus eigenen Mitteln auf ihrem ursprünglichen Platz diese Kirche wiederhergestellt. Sollte jemand auf diesem hochheiligen Boden, auf dem die heiligen Jungfrauen im Namen Christi ihr Blut vergossen haben, irgendeine andere Entseelte beisetzen, neben den Jungfrauen, so soll er mit dem ewigen Feuer der Hölle bestraft werden!

»Welch geharnischte Drohung!«, rief Francesco, nachdem er die lange Inschrift entziffert hatte.

Der Knabe nickte: »Ich kann Euch auch drinnen noch etwas dazu zeigen.« Er ging zum Eingang.

In das Innere der Kirche traten sie durch das Südportal. Aus dem dämmrigen Langhaus wurde der Blick der beiden wie von einem Magneten zum hellen, farbigen Chorfenster hingezogen. Es leuchtete in strahlenden Farben.

Bald fanden ihre Augen wieder ins schummrige Langhaus zurück. Francesco staunte nicht schlecht, was es dort zu sehen gab. An drei Seiten des Raumes lagen unzählige Gebeine gestapelt. Hinter diesen Knochenhaufen waren noch weitere Schädel aufgestellt. Diese Gebeine verbarg zum größten Teil ein dünner Vorhang aus Seide. Jan zog ihn zur Seite. So konnten sie auch die restlichen Reliquien bestaunen. Selbst im Mittelschiff waren viele heilige Häupter niedergelegt, in kleinen Wandschränkchen, die stark an Türchen eines großen Taubenschlags erinnerten. Die Schränkchen reichten hinauf bis in das Deckengewölbe. Sie waren mit Taft und Samt gepolstert, der mit goldenen Sternen bestickt war.

Es sah aus, als lägen die Häupter vor einem strahlenden Firmament. »Für die verehrten Heiligen scheint das Beste gerade gut genug«, stellte der Römer bewundernd fest.

Die ganze Kirche ist ein großes Ossarium, dachte er voll Ehrfurcht. Seine Augen glänzten nicht nur wegen der vielen Fackeln und Kerzen, die an den Ruhestätten der Märtyrerinnen brannten. Viele Bittsuchende hatten mit ihren Opfergaben für dieses heilige Lichtermeer gesorgt.

Jan schreckte Francesco aus seinen Gedanken: »Dort an der Wand, seht Ihr den kleinen Sarkophag auf den vier Säulen?« Francesco sah sich um und nickte.

»Das ist das Grab der kleinen Viventia«, fuhr Jan ehrfürchtig fort und schlug ein Kreuz vor seiner schmächtigen Brust. »Auch Viventias Geschichte kenne ich, Schwester Magdalena hat sie mir erzählt. Pippin wollte hier sein verstorbenes Töchterchen Viventia begraben, doch zwei Mal schleuderte die Erde den kleinen Leichnam wieder heraus. So bestätigte sich die Drohung der Inschrift, die Ihr vorhin auf der Chormauer gelesen habt. Hier durften nur die heiligen Jungfrauen begraben werden! Schließlich beugte sich Pippin diesem Gebot mit einer List. Er setzte den kleinen Sarkophag auf Säulen und umging damit die Bestattung in der heiligen Erde.«

Francesco war so überwältigt von den vielen Eindrücken, die ihn umgaben, dass er für den Moment gar nicht an den Sarg des heiligen Hippolytus dachte. Er ließ sich von der mystischen Atmosphäre des Kirchenschiffs einfangen und folgte dem Knaben wie in Trance auf dem Rundgang. Dabei fiel sein Auge auf die Involucra-Futterale der heiligen Häupter. In dunklen Samt mit prächtiger Reliefstickerei aus Gold- und Silberfäden, mit Pailletten und Perlen besetzt, waren die Cranea-Schädel eingehüllt, wobei Schädeldecke und Augenhöhlen bloß lagen. Dazwischen standen einige goldfarbene Reliquienbüsten. Je näher Francesco ihnen kam, umso mehr vermeinte er ihren lieblichen Duft zu erriechen und atmete ihn in vollen Zügen ein.

Sie gingen am Kreuzaltar vorbei, und Francesco neigte sein Knie vor dem Bildnis des leidenden Heilands. Sie näherten sich dem Lettner, derSchranke zwischen Chor und Langhaus. »Ab hier ist uns der Durchgang verwehrt«, erklärte Jan. »Hochaltar und Chor sind den Stiftsdamen und Geistlichen vorbehalten. Dort fanden auch unsere wichtigsten Heiligen die letzte Ruhe.«

Jan wagte nicht, auf diesen heiligen Ort mit dem Finger zu zeigen. Aber der Kaufmann wusste Jans Blick auch so zu folgen.

»Seht Ihr dort hinter dem Altartisch auf den vier Schiefersäulen die Steinplatte und das Holzgehäuse mit den drei Spitzgiebeln, von denen der mittlere die beiden anderen überragt? In dem höchsten Häuschen liegt der Schrein der heiligen Ursula, links und rechts davon liegen die Schreine der beiden Heiligen Aetherius und Hippolytus. Das Gehäuse ist vorne mit einer goldenen Gittertür verschlossen und hinten mit schweren Eisenketten gesichert. Nur während der Schauprozession werden die Schreine den Gläubigen gezeigt.« Das Gold der Schreine schimmerte nur matt durch die schützenden Gitter und konnte von den beiden nur erahnt werden.

Ebenfalls nur schwach sah man die auf Goldgrund gemalten Altartafeln. Die waren mit mehreren Heiligenbildern in zarter Farbigkeit geziert. In der Mitte der Heiligen thronte die Mutter Maria mit dem Welterlöser auf dem Schoß.

Die Schilderungen des Knaben enttäuschten den Römer. Es war ihm also verboten, in die Nähe des Heiligen zu kommen. Wie sollte er ihn da berühren und etwas von ihm mitnehmen zu seinem kranken Weib? Mit dem Verbot wollte er sich nicht zufriedengeben!

Der Knabe zeigte ihm noch das ein oder andere. Am Ende der Führung bedankte sich Francesco herzlich und drückte dem Jungen eine kleine Münze in die Hand.

Allein verließ er das Haus. In seinem Kopf wälzte er Gedanken, wie sein Vorhaben doch zu bewerkstelligen war. Er ging mehrere Stunden in den Straßen auf und ab, aber es kam ihm keine Idee in den Sinn, seiner Frau zu helfen. Einmal unterbrach er kurz sein Sinnieren und nahm etwas Flüssigkeit zu sich. Appetit hatte er keinen.

Endlich reifte doch ein Plan in ihm. Aber der war sehr waghalsig. Aus seiner fernen Heimatstadt kannte er die Gastfreundschaft der Kirchen gegenüber Pilgern. Während der Wallfahrtszeit durften diese in den Kirchenschiffen nächtigen. Erst am frühen Morgen, vor Laudes, wurden sie wieder aus den Gotteshäusern vertrieben. Um sechs Uhr musste der Frühgottesdienst begangen werden. Francesco beschloss nun ebenfalls, im Inneren von Sankt Ursula über die Nacht hin Obdach zu suchen. Er wollte sich im Schutze der Nacht dem Heiligen nähern. Ich bin voll guter Absicht und voll des Glaubens! Gott wird mich für mein Vorhaben nicht bestrafen, auch wenn mein Tun augenscheinlich verboten ist, war er sich sicher. Etwas Angst machte ihm allerdings, wie streng Gott andere Reliquienräuber bestraft hatte. Zum Beispiel mit Wunden, die nicht zuheilten, oder Lähmungen an Händen und Beinen sowie mit Blindheit. All diese Krankheiten hatten, nach dem Hörensagen, erst mit der Rückgabe des Diebesgutes wieder aufgehört zu schwären.