Lasset die Kindlein zu mir kommen - Volker Himmelseher - E-Book

Lasset die Kindlein zu mir kommen E-Book

Volker Himmelseher

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Beschreibung

Im mittelalterlichen Köln herrscht Jahrmarkttreiben. Der Kaufmann Heriman Odenthal gewinnt den Schießwettbewerb seiner Kaufmannsvereinigung, Gaffel Schwarzhaus. Auf dem Heimweg von der Siegesfeier stößt er auf die Leiche seines Dienstjungen Hannes. Der liegt engelsgleich in einer dunklen Gasse, im weißen Büßergewand, mit gefalteten Händen und einem Holzkreuz auf der Brust. Die Kölner Obrigkeit setzt alles daran, den Mörder schnellstens zu fassen, damit unter den Bürgern nur ja keine Unruhe entsteht. Einem Verdächtigen – ein Gaukler aus dem fahrenden Volk – wird unter der Folter ein Geständnis erpresst. Er wird zu Tode gerädert. Doch zum nächsten Vollmond geschieht ein weiterer Knabenmord. Nun ist offensichtlich: Ein Unschuldiger wurde hingerichtet. Der Mörder aber ist in Freiheit! Entschlossene Bürger fahnden weiter nach dem Mörder. Aber es fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter, bis den Schuldigen seine Strafe ereilt.

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»Das Letzte, was man findet, wenn man etwas schreibt, ist, zu wissen, was man an den Anfang stellen soll.«

(Blaise Pascal)

Köln war im Mittelalter eine der mächtigsten Städte Deutschlands. Dort fügten sich spannende Geschehnisse aneinander wie Perlen auf einer Schnur.

Diese spannende Geschichte wurde in wahre Gegebenheiten eingebettet. Personen der Zeitgeschichte treten neben erfundenen Figuren auf. Lokale Gebräuche und Eigenarten sorgen für ein realistisches Umfeld. Alles gemeinsam soll einige vergnügliche Lesestunden bereiten …

Nicht alle können von Renten leben,

drum muss es Ständ’ im Staate geben.

Unter all den Ständen dieser Welt,

keiner mir wie der Kaufmann gefällt;

der sitzt ruhig an seinem Tisch,

lässt die andern angeln und ackern frisch.

(Friedrich Schlegel, Scherzgedichte)

Wohlstand macht mächtig. Heriman Odenthal sah dies im wahrsten Sinn des Wortes im großen Standspiegel seines Schlafzimmers bestätigt. Wohlgefällig streichelte er über seinen mächtigen Leib. Er war mit seinem Schicksal zufrieden. Mit dreiundvierzig Jahren zählte er zu den reichsten und erfolgreichsten Fernkaufleuten Kölns. Als Bannerherr der Gaffel Schwarzhaus, seiner Kaufmannsvereinigung, hatte er einen hohen gesellschaftlichen Rang und war gleichzeitig einer von Kölns neunundvierzig Ratsherren. Geld war nicht der einzige Garant für seinen raschen gesellschaftlichen Aufstieg gewesen. Nein, er konnte durch sein angenehmes Wesen ohne viel Mühen das Vertrauen seiner Mitbürger gewinnen und war beliebt.

Der Kaufmann kleidete sich gerade an. Er stand im Unterkleid vor dem Spiegel. Das Hemd reichte ihm bis zur Hüfte. Er hatte seine Festtagskleidung schon aus dem Schrank geholt und auf das Bett gelegt. Dort lagen nun seine Füßlinge und Beinlinge, enge dunkle Strumpfhosen, die er als Nächstes mit Strumpfbändern an seinem Wams befestigen musste. Der Tabbart, sein Überrock aus schwerem dunklem Wollstoff, hatte tiefe Falten und lange Seitenschlitze. Die Ärmelkanten waren mit glänzendem Pelz verbrämt. Sein Ledergürtel hatte eine güldene Metallschließe. Neben dem Gürtel lagen eine mächtige Goldkette und ein prachtvolles Barett bereit. Gute Kleidung steht für ein ansehnliches Mannsbild, dachte er stolz.

Odenthal war Witwer und bei den ledigen Frauen der Stadt eine heiß begehrte Partie. Er wusste das, und es gab ihm eine Selbstsicherheit, die manchmal ein wenig in Arroganz überging.

Er schritt über die schwarzweißen Fliesen, vorbei am Kamin, zu den schweren Brokatvorhängen des Erkerfensters, zog sie beiseite und schaute hinaus, so weit es die kleinen runden, in Blei gefassten Butzenscheiben zuließen. Sie waren bemalt und in der Mitte leuchtete Odenthals Wappenschild.

Es war inzwischen hell draußen und Sonnenstrahlen fingen sich in den Scheiben.

Das Wetter ist gut, stellte er fest und entschloss sich, seine Wege zu Fuß zu machen. Heute fand ein Jahrmarkt mit Schießwettbewerb auf dem Neumarkt statt. Er wollte es sich dort gut gehen lassen. Er kleidete sich sorgfältig zu Ende an. Als ein prüfender Blick in den Spiegel sein Abbild so zeigte, wie er sich das wünschte, verließ er seine Schlafkammer und ging über die Treppe hinab in den Wohnraum …

Ach, spricht er, die größte Freude ist doch die Zufriedenheit.

(Wilhelm Busch, Max und Moritz)

Freudig dachte Heriman Odenthal an das Frühstück. Seine Schwester Mechthild würde alles für ihn bereitet haben. Mechthild führte dem Witwer den Haushalt und tat dies mit großer Liebe. Sie war einige Jahre älter als er, unverheiratet geblieben und hatte bei ihrem Bruder dankbar ein gutes Auskommen gefunden. Sie war weltlichen Dingen zugetan und lebensfroh. Die Stellung im Hause des Bruders war ihr bei weitem lieber als das Leben einer Begine in einem der zahlreichen frommen Häuser Kölns. Das wäre ansonsten das Schicksal einer älteren, alleinstehenden Bürgersfrau gewesen.

Mechthild stand in der Tür zur Küche, strahlte Heriman mit ihren blauen Augen an und fand liebevolle Worte für ihn: »Na, mein Lieber, ich hoffe, du hast gut geschlafen und bist bereit, dich für den langen Tag zu stärken.«

Heriman mochte seine ältere Schwester sehr. Schmunzelnd dachte er: Ich bin ihr zugetan wie das Eisen dem Magneten. Er ging auf sie zu und drückte sie zum Gruß fest an sich.

Aus der Küche wehten ihm verführerische Düfte entgegen. Neugierig blickte er in Mechthilds Reich. Auf dem Herd simmerte ein großer Kochkessel aus Kupfer. Feigenkaffee, sagte ihm seine feine Nase. Aber es sind auch echte Kaffeebohnen darin. Dieses schwarze Gold war teuer, aber er konnte es sich leisten.

Auf der Herdplatte brutzelte in einer mächtigen Bratpfanne ein Pfannkuchen mit Speck, und auf einem Zinnteller lagen ein knuspriger Kanten Brot und ein kaltes Stück Schweinebraten.

Heriman lief das Wasser im Mund zusammen, und seine sanften braunen Augen streiften zärtlich die Schwester. Die war bereits wieder in voller Aktion und wies die kleine Köchin an, schnell aufzutragen. Sie selbst hakte sich bei ihrem Bruder ein und ging mit ihm in den Wohnraum.

Der war das Schmuckstück des gesamten Hauses. Die Zimmerdecke, reichlich geschnitzt, glänzte, trotz der nur kleinen Fenster, im Morgenlicht. Sie lagen in tiefen Nischen und hatten ebenfalls bunt bemalte Butzenscheiben. Auf der größten Scheibe prangte wiederum das Wappenschild der Odenthals: Die drei Kronen der Heiligen Drei Könige, das Wahrzeichen Kölns, waren zuoberst zu sehen, in den zwei Feldern darunter waren ein Weinkrug und zwei Weinfässer abgebildet. Heriman war schließlich Spross einer Weinhändlerfamilie. Mit Weinzapfen und Weinhandel hatten seine Vorfahren in Köln die Grundlagen ihres Wohlstands gelegt.

Ein großer grüner Kachelofen strahlte gemütliche Wärme ab. Um den Ofen herum zog sich eine Bank, die einladend mit Kissen und Decken belegt war. Das Geschwisterpaar ging aber daran vorbei auf den Tisch zu.

Für den Hausherrn standen schon ein Zinnteller und ein irdener Krug bereit. Als einziges Besteckteil lag ein großes Messer neben dem Teller. Schon das Morgenmahl war »Hände Arbeit« …

Heriman schnitt sich ein Stück Brot ab, eine dicke Scheibe Schweinefleisch und ein großes Stück Speckpfannkuchen kamen hinzu. Nachdem er ein Tischgebet gesprochen hatte, machte er sich mit Lust über das Frühstück her.

»Es schmeckt herrlich, Mechthild. Wie du das nur immer wieder schaffst!«, lobte er seine Schwester, und das Lob kam von Herzen.

Mechthild dankte ihm mit einem Lächeln und fragte: »Wie sieht dein Tag heute aus?«

Zwischen zwei Bissen und einem großen Schluck Kaffee beantwortete er ihre Frage: »Unsere Gaffel trifft sich auf dem Neumarkt. Wir nehmen am Schießwettbewerb teil und wollen uns auf dem Jahrmarkt verlustieren.«

»Es wird bestimmt ein fröhlicher Tag«, meinte seine Schwester dazu. »Das muss bei all der Arbeit auch einmal sein.«

»Mechthild, ich bitte dich, schick einen Burschen hinter mir her. Er soll mir das Banner und die Armbrust nachtragen. Sag es Hannes, der weiß, was er zu tun hat. Für ihn ist es nicht das erste Mal.«

Mechthild nickte. »Auch ich habe vor, mit Anna und Maria auf den Markt zu gehen, doch erst um die Mittagszeit, wenn der Haushalt gemacht ist. Ich will nach Gewürzen und Spezereien gucken, aber auch neues Stickgarn brauche ich. Natürlich wollen wir uns auch ein bisschen vergnügen«, fügte sie mit einem schelmischen Augenzwinkern hinzu.

So plätscherte das Gespräch noch einige Zeit vor sich hin, bis Heriman fertig war. Er wusch seine Hände, die so reichlich zugelangt hatten, in einer Schüssel mit Wasser. Dann trocknete er die Finger sorgfältig mit einem Tuch. Nun war er bereit zum Aufbruch.

Er ging Richtung Ausgang. Hier und da ächzte eine Bohle unter seinem schweren Schritt.

Der Flur hatte kein Fenster. Es brannte nur ein schwaches Talglicht, und es war dämmerig und kühl. Herimans Faust umschloss den schweren Messingknauf der Haustür, drückte ihn hinunter und ging mit einem freundlichen Abschiedsgruß auf den Lippen nach draußen.

Nutze den Tag!

(Horaz)

Er trat hinaus und stand auf einem gewölbten Brücklein, das über den Bach führte. Der Steg war so breit wie die Pforte. Das Wasser ist heute wieder so blau wie der Himmel, dachte er nach einem Blick in den Bach.

Mit dem Färben von Blauleinen war eben immer noch gut Geld zu verdienen! Das Haus Odenthal stand »Uff d’r Bach«, am Blaubach. Hier gingen mehr als zwanzig Blaufärber von der Hohen Pforte bis zu den Weißfrauen ihrem Gewerbe nach. Schnell umfing ihn der Gestank. Wo viele Menschen sind, stinkt’s, dachte er, und in seiner Heimatstadt hatten über dreißigtausend Einwohner ihr Zuhause.

Auf der Straße herrschte Betrieb. Ein Adeliger versuchte, hoch zu Ross an einem langsamen Holzkarren vorbeizukommen, aber auch viel Fußvolk war unterwegs. Alle strebten Richtung Neumarkt. Der Jahrmarkt war heute allgemeiner Anziehungspunkt.

Besorgt besah Heriman den matschigen Zustand der Straße. Ich werde doch noch einmal ins Haus zurückgehen und hölzerne Überschuhe über meine feinen Schuhe ziehen. Selbst wenn ich mit diesen Holztrippen von Springstein zu Springstein hüpfe, kann ich kaum sauberen Fußes den Neumarkt erreichen.

Gesagt, getan. Dann schloss er die Haustür zum zweiten Mal, und der Trubel der Straße umfing ihn wieder. Er warf einen stolzen Blick zurück auf sein Haus. Es war bis zum ersten Stock Stein auf Stein gebaut. Das erste Stockwerk, in Fachwerk errichtet, hing mehrere Fußbreit über die Straße. In ihm befanden sich ein größerer Saal und die zwei Schlafkammern, seine und die von Mechthild. Der zweite Stock war wieder zurückgesetzt; dort lagen die Kammern des Gesindes. Die dritte Etage war ganz aus Holz und lief in einem Stufengiebel aus. Zwei hölzerne Fenster darin waren blau bemalt, hinter ihnen lagen die Speicher. An dem Giebel hingen Schwalbennester. Bei gutem Wetter herrschte ein lustiges Rein-und-raus- Fliegen dieser possierlichen Vögel. So lässt es sich leben, dachte Heriman.

Zweimal musste er abbiegen, zunächst »Uff die hoen Porzen«, die Hohe Pforte, und dann in die Cäcilienstraße, die ihn direkt zum Neumarkt führte.

Je näher er dem Neumarkt kam, umso ausgelassener wurde die Stimmung auf der Straße. In den Wirtshäusern lockte der Weinzapf mit billigem Wein. Der »nasse Lodewig« floss in Strömen und auch dem bitterherben Keutebier wurde am frühen Vormittag schon reichlich zugesprochen. So mancher Gast würde den Neumarkt nur noch weinselig und schwankend erreichen.

Mensch, wirst du nicht ein Kind, so gehst du nimmer ein, wo Gottes Kinder sind: Die Tür ist gar zu klein.

(Angelus Silesius, aus: Cherubinischer Wandersmann)

Vor einer der zahlreichen Brauereien auf der Cäcilienstraße lief Heriman in einen Menschenauflauf. Neugierig versuchte er, den Grund dafür zu erkennen. Inmitten der vielen Menschen stand ein kleiner buckeliger Dominikanermönch und beschimpfte seine Zuhörer.

»Der Herr sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Merkt gut auf, ihnen, nur ihnen, nicht euch, ihr Saufköpfe und Hurenböcke. Ihr werdet am Jüngsten Tag in der Hölle schmoren, wenn ihr euch nicht bald besinnt und wieder wie die Kindlein werdet. Nur dann könnt ihr auf Gottes Gnade hoffen.«

Die meisten der Umstehenden nahmen in ihrer beschwipsten Laune die drohenden Worte des Bettelmönchs nicht gar zu ernst. Normalerweise hatte man Angst vor den Dominikanern. Hinter der Hand nannte man sie die Spürhunde des Herrn. Sie fanden jede Hexe und jeden Ketzer. Schon allzu viele ihrer Opfer hatten brennen müssen, auch in Köln! Aber der kleine Mönch Fordolf war etwas anderes. Er war zwar auch An den Dominikanern, direkt hinter Sankt André, zu Hause, doch er las den Menschen nur laut die Leviten, war ansonsten harmlos und hatte noch keinem wirklich nach Leib und Leben getrachtet.

Heriman Odenthal hörte ihm einen Moment zu, dann entschloss er sich, weiterzugehen. Nochmals wie ein Kind sein wollte er nicht. Dazu habe ich zu viel erreicht, dachte er mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen.

Bald schweifte sein Blick über den Neumarkt, soweit dies das viele Volk um ihn her zuließ. Auf dem großen Mühlenturm in der Mitte des Platzes hatte man als Ziel für die Schießübungen eine Vogelstange angebracht. Einige der Schützen waren schon vor ihm eingetroffen, hatten ihre Waffen bei der Hand und fachsimpelten miteinander. Die Kölner Gaffelbrüder waren stolz auf die Schießspiele. Seit vielen Jahrzehnten oblag ihnen unter anderen die militärische Verteidigung der Stadt, und der Rat förderte solche Wettstreite, damit die Schützen in der Übung blieben. Er hatte dafür eigens Häuser am Neumarkt aufgekauft und einen Schützenhof eingerichtet.

Heute hatte Kölns Stadtvertretung einen stattlichen friesischen Ochsen als Siegespreis für die Gaffel ausgesetzt, die den besten Schützen stellen würde. Heriman hatte sich viel vorgenommen. Er hatte eine ruhige Hand, war sicher mit der Armbrust, und ein Sieg am heutigen Tage würde seinen Plänen für die Zukunft förderlich sein. Ich weiß sehr wohl, warum ich zum Frühstück keinen Tropfen warmen Ingwerwein genossen habe. Den Preis verdient nur der, der mit Disziplin sein Letztes gibt, dachte er für sich.

Die Schützen waren heute zwar das Wichtigste, aber nur ein Teil des großen Volksfestes. Der Neumarkt sah an anderen Tagen entvölkert aus, nur einige Bäume und feste Buden standen ständig herum. Heute aber flanierte viel Volk auf ihm, und die Buden hatten sich mächtig vermehrt. Der Geruch von gewürztem Glühwein mischte sich mit dem von altem Öl, in dem Marktfrauen Zuckerkrapfen ausbuken und mit lauten Stimmen anpriesen. Aus einem Zelt ertönten lustige Weisen. Mit Zinken, Schalmeien, Querpfeifen und Trommeln, Dudelsäcken und Posaunen lockten Spielleute Paare zum Tanz hinein. Besonders die Jungen sangen die lustigen Weisen schon draußen mit und jauchzten vor Lebensfreude. Wettkämpfe im Laufen, Springen und Steinewerfen wurden für Frauen und Kinder durchgeführt.

Heriman Odenthal ging an Glückstöpfen vorbei. Der Kaufmann leistete die geforderte Einzahlung und zog einen Zettel aus einem der Töpfe, aber er hatte kein Glück und verlor seinen Einsatz.

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Man muss stets abwägen, wo man wirklich Erfolg haben will, das Schießen steht ja noch bevor«, sagte er leise vor sich hin. Zuversichtlich setzte er seinen Weg zwischen den Ständen fort.

Die Bude der Puppenspieler erinnerte ihn an seine Kindheit. In ihr hatte er sich auf den Märkten immer am liebsten aufgehalten. Die Spielleute bewegten ihre Puppen an Fäden und legten ihnen manch lustige, aber auch weise Reden in den Mund. »Alle Kinder kommen in den Himmel und werden Engelein«, sagte gerade eine Puppe im lustigen Narrenkostüm.

Schon wieder nur die Kinder, dachte Heriman. Haben wir Alten denn überhaupt keine Chance?

Ein Blick auf die vielen glänzenden Kinderaugen versöhnte ihn. »Freut euch darauf, in den Himmel zu kommen. Dort ist es viel schöner als hier«, fuhr die Puppe altklug fort.

Heriman schüttelte den Kopf und schritt weiter vorbei an Spezereien, Gewürzen, Stoffen und Garnen. Dort sah er Mechthild. Sie begutachtete gerade mit ihren zwei Freundinnen die Ware und war so in das Feilschen mit dem Krämer vertieft, dass sie Heriman gar nicht bemerkte. Er ging an ihr vorbei, ohne sich bemerkbar zu machen, registrierte aber mit Stolz, was für eine stattliche Person sie doch war. In ihrem schwarzen Wollgewand mit den weiten Ärmeln, die mit Pelz gefüttert waren, machte sie richtig was her. Sie trug eine weiße Schleierhaube und einen breiten Goldgürtel. Goldene Ringe zierten ihre kräftigen Hände. Mit denen gestikulierte sie heftig. Auf ihrer Brust trug sie den mit Perlen eingefassten großen Amethysten, den er ihr geschenkt hatte.

Auch ein Tanzbär ist wieder da, bemerkte er. Ein kräftiger Tierbändiger, der sicher auch noch als Kraftmeier auftrat, führte das Tier am Ring hinter sich her. In seinen Hut ließ sich der Mann von den vielen belustigten Gaffern kleine Münzen zustecken.

Vor einem größeren Zelt lockte eine Zwergin zum Eintreten. Sie versprach Riesen, Krüppel und andere Monster zur Ansicht. Selbst ein Krokodil und ein Leopard sollten zu sehen sein. Für einen kleinen Obolus garantierte sie den Himmel auf Erden.

Zu viel Himmel heute, dachte Heriman und machte sich auf den Weg zum Schießstand. Dort wurde er mit lautem Hallo begrüßt.

»Der Herr ist nicht so schnell wie sein Gesinde!«, rief ihm sein guter Freund Walther Eck mit tiefem Bass zu.

»Dann war Hannes also schon hier? Unser Banner und meine Armbrust sind schon da?«, fragte Heriman wohlgelaunt zurück.

»Zweimal ja auf zwei dumme Fragen«, blieb ihm Walther die Antwort nicht schuldig.

Einen dargebotenen Willkommenstrunk wies Heriman lachend zurück. »Ich lass mir doch von euch Kerlen die ruhige Hand nicht verderben!« Seine Antwort erntete frohes Gelächter.

Es war schon früher Nachmittag, als zwei Fanfarenstöße endlich den Beginn der Schießspiele ankündigten. Viele Zuschauer hatten sich um die Schießbahn versammelt. Nun trafen auch die ein, die sich bis zuletzt zwischen den Ständen vergnügt hatten. Der Pritschenmeister in seinem bunten Narrenkleid musste sein breites Holzschwert auf manchen Rücken klatschen lassen, um Ordnung zu halten. Die Reihenfolge der Schützen wurde ausgelost. Heriman zog die Nummer fünfundvierzig. Bis dahin kann viel passieren, dachte er betrübt. Vielleicht war der Vogel schon heruntergeholt, bevor er überhaupt eine Chance bekam.

Die Armbrustschützen begannen. Schuss auf Schuss wurde abgegeben und von den Zuschauern mit launigen Versen begleitet.

»Der Pfeil traf ins Blau, aber nicht genau«, verspottete ein dicker, rotgesichtiger Mann einen ungeschickten Schützen.

»Du hast nur fast getroffen, wohl schon zu viel gesoffen!«, rief ein zweiter Spötter unter Beifallsstürmen dazwischen.

Endlich schlug Herimans Stunde. Von einem Schlag auf den anderen wurde er ganz ruhig. Die Aufregung der letzten Stunde war verflogen. So war es immer bei ihm, wenn es zur Sache ging, konnte er sich konzentrieren. Er prüfte den Bolzen, befand ihn für gut, legte ihn ein und spannte die Armbrust. Ruhig legte er an, zielte nur kurz und schoss. Für einen Moment wurde es still, dann ertönte lautes Beifallsrufen. Er hatte einen Meisterschuss getan. Die Mitte der Scheibe war getroffen und der Vogel von der Stange heruntergepurzelt.

Heriman konnte sein Glück nicht fassen. Er fühlte sich im siebten Himmel. Also kommen doch nicht nur Kinder in den Himmel, dachte er lächelnd. Für ihn war ein Traum wahr geworden. Nun war der nächste Aufstieg auf seiner Karriereleiter sicher.

Die Reaktionen seiner Gaffelbrüder zeigten ihm, dass er mit dieser Einschätzung richtig lag. Als Erster kam Walther auf ihn zu, schlug ihm mit dröhnendem Lachen auf die Schulter und drückte ihn an seine breite Brust. Heriman glaubte zu ersticken. Auch die anderen Gaffelbrüder ließen ihn hochleben. Selbst in dieser Situation verlor er nicht den kritischen Blick für sein Umfeld. Den brauchte ein Kaufmann, um Erfolg zu haben; er musste im Bauch fühlen, was die anderen denken. Er stellte mit Genugtuung fest, dass die Mitglieder der Gaffeln ihm den Erfolg vergönnten. Er war beliebt und geachtet und konnte bisher immer auf gesicherte Mehrheiten bauen.

Ein riesiger Pokal wurde ihm gereicht, der war randvoll gefüllt mit Keutebier. Jetzt konnte er sich leichten Herzens einen tiefen Schluck erlauben. Er nahm einen langen Zug aus dem Gefäß. Dann gab er den Pokal an Walther Eck weiter, damit er die Runde machen konnte.

Dem Sieger wurde die goldene Ehrenkette umgehängt und der präsentierte sich stolz mit ihr der Menge.

Und die Trommel wird gerühret

und der König eingeführet,

unser Hauptmann zieht voran

und wir folgen Mann für Mann.

Heißassa jucheißa!

(August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Kinderlieder)

Bald ordneten sich die Schützen zu einem Umzug; Musikanten mit Fiedeln, Trompeten, Pauken und Flöten begleiteten sie. Die Fahne der Gaffel Schwarzhaus wurde vorangetragen und der Zug setzte sich, wie ein vielbeiniger, behäbiger Käfer, unter lauten Beifallsrufen über die Cäcilienstraße Richtung Rathaus in Bewegung. Im großen Ratssaal wollte man den gestifteten Ochsen verspeisen und das Fest mit einem munteren Gelage beschließen. Alles zu meinem Wohle, dachte Heriman stolz. Heute würde er fünf gerade sein lassen und tief in den Geldbeutel greifen, um alles dazu beizutragen, dass von dem Fest noch lange erzählt würde.

Gemächlich schlängelte sich der Festzug durch die Cäcilienstraße und bog an deren Ende links ab. Off der Sandkaulen in die Kleine Sandkaul marschierte er an der Rückseite des Gürzenichs vorbei stracks auf das Rathaus zu. Der Gürzenich war Kölns feinste Adresse mit dem größten Festsaal des Deutschen Reichs.

»Das wäre auch für dich der richtige Platz, um mit uns zu feiern!«, rief Walther Heriman fröhlich zu.

»Ich habe nichts dagegen, nehme deine Einladung gerne an!«, tönte Heriman zurück und hatte die Lacher auf seiner Seite.

Auch das Rathaus mit seinem langen Saal war ein würdiger Platz für die Festivität. Kölns Bürger hatten es mitten im Judenviertel erbaut, damit es für den ungeliebten Erzbischof unzugänglich war.

Kölns Juden hatte man allerdings inzwischen aus der Stadt vertrieben, sodass es nun, für ihn erreichbar, in christlichem Umfeld stand.

Im Rathaus wurden Bürgerentscheidungen getroffen, das städtische Vermögen verwaltet, und dort befand sich die Waffenkammer der Bürgerwehr. Besonders stolz waren die Gaffeln auf den einundsechzig Meter hohen Turm, mit dem sie sich selbst anno 1396 nach ihrem Sieg über die Patrizier ein Denkmal gesetzt hatten. Die Auseinandersetzung damals war kein leichtes Spiel gewesen.

Der »Siegesturm« überragte das restliche Gebäude. In seinem Keller lagerte der Ratswein, den die Ratsherren gegen den Ratsheller eintauschen konnten, der ihr Sitzungsgeld war. Auf der Münze war der lateinische Spruch eingeprägt: Bibite cum laetitia – Trinket mit Freude, und das wollte man heute wieder einmal tun. Fünf Tische waren eingedeckt und Heriman saß am Ehrentisch. Schon bald herrschte ausgelassene Stimmung, und das noch lange, nachdem die Turmbläser erstmals zur Nachtruhe geblasen hatten.

Es wurde nicht nur gealbert, sondern auch ernsthaft parliert. Berauscht vom Erfolg ihrer Gaffel überlegten die Männer, wie sie dem Tag des Triumphes ein Denkmal setzen konnten.

»Lasst uns heute nicht so ernstes Zeug reden«, beschwichtigte Walther Eck die Gemüter. »Gebt das Thema in einen Ausschuss. Der wird’s schon richten.«

»Ein Ausschuss sollte klein sein«, warf Heriman Odenthal verschmitzt ein, »damit er sich nicht zerredet. Er muss eine ungerade Zahl haben, damit man eine Mehrheit findet. Eine ungerade Zahl, möglichst kleiner als drei, dann ist die Entscheidung alsbald getroffen. Ich will’s euch vormachen: Ich werde ein Gemälde anfertigen lassen mit dem friesischen Ochsen auf dem Neumarkt drauf. Aus dem Kunstwerk sollen echt vergoldete Hörner herausragen als Erinnerung an meinen goldenen Tag.«

Zustimmendes Gelächter und Klatschen zeigten, dass sein Versprechen Anklang fand.

»Wir sollten von nun an Jahr für Jahr das Wettschießen um den Ochsenschmaus pflegen«, schlug Walther vor und fand auch hierfür Zustimmung. Als der Turmbläser um Mitternacht erneut blies, beschlossen Walther und Heriman, das Fest zu verlassen.

Jeder Augenblick im Leben ist ein Schritt zum Tode hin.

(Corneille, Titus und Berenice)

Herimans Glieder und Beine waren schwer. Er war vom vielen Bier und Wein berauscht und freute sich auf sein Bett. Aufmunternd schlug er Walther auf den Rücken, auch der döste leicht erschöpft vor sich hin.

»Zu Hause schläft es sich besser, mein Alter. Komm, wir nehmen uns einen Leuchtemann, und dann ab in die dunkle Nacht.«

Walther folgte ihm ohne Widerspruch, und schon bald wankten die beiden Freunde Arm in Arm Richtung Hoen Porzen. Es war mittlerweile recht still in den Gassen. Ein frischer Wind sorgte für ungewohnt gute Luft und trug zu einem erfreulichen Ausklang des schönen Tages bei.

Der Himmel war klar und der Mond stand als goldene Scheibe über der Stadt. Es war Vollmond und alles in fahles Licht getaucht.

Plötzlich weckte ein Schreckensschrei des Leuchtemanns die beiden Freunde aus ihrem friedlichen Dämmerzustand.

Das Licht der Laterne schien auf zwei zarte Kinderbeine, die eingehüllt in eine grüne Strumpfhose hinter einem Sandhaufen hervorguckten. Der Leuchtemann trat näher und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Vor ihm lag ein Knabe, die Augen geschlossen, als ob er schliefe. Sein Gesichtsausdruck wirkte friedlich, fast glücklich. Sein blondes Haar ringelte sich engelhaft um das zarte Gesicht. Über seinen Leib war ein weißes Leinenhemd drapiert. Ein kleines Holzkreuz lag auf dem Hemd, und die Hände des Knaben waren über der Brust wie zum Gebet gefaltet. Als der Leuchtemann den Jungen berührte, blieb der still und gab keinen Mucks von sich. Ein Horchen an seiner Brust bestätigte, dass das Herz des Knaben stillstand. Er war tot.

Der Schreck wich purem Entsetzen. Der Dienstmann sprang auf und schrie Zeter und Mordio. Dann stieß er in sein Horn und gab Alarm.

Spätestens mit dem Ruf des Horns war der Rausch der beiden Freunde wie weggeblasen.

Walther fand als Erster wieder Worte: »Eine schöne Leich, wie ein Engel«, murmelte er.

»Nicht schon wieder ein Engelskind«, flüsterte Heriman und sein Gesicht verfärbte sich fahl. »Es ist kein Engel, das ist Hannes, mein Bursche«, sagte er nach genauerem Hinsehen. »Er hat mir heute doch noch Banner und Armbrust auf den Schießstand getragen!«

Erst jetzt bemerkten die Männer, dass sie nicht mehr allein waren. Türen und Fenster hatten sich geöffnet, und aus den Nebengassen war ebenfalls Volk herbeigeströmt. Schnell bildete sich ein Menschenknäuel.

Das Geschrei des Leuchtemannes und der Ruf seines Horns hatten Wirkung gezeigt. Schon bald sicherten zwei Gewaltdiener, Kölns Stadtpolizisten, den Tatort und begutachteten den kleinen Leichnam.

»Man kann nicht mehr sicher sein in unserer Stadt«, dröhnte ein dicker Glatzkopf mit weinroter Knollennase. Er war mit einem Umhang bekleidet aus seinem Haus getreten, darunter trug er nur sein Nachtgewand, denn das Geschrei hatte ihn aus tiefem Schlaf geholt.

»Zu viel Pack ist in der Stadt. Gerade an Festtagen. Das fahrende Volk ist für nichts gut in Colonia«, pflichtete ihm ein langer Dürrer bei.

Sein Weib stand von Furcht und Schrecken beseelt neben ihm. »Kannst du dich an den Puppenspieler von heute erinnern? Der hat doch immer von Engeln und Kindern geschwätzt. Der war’s bestimmt!«, geiferte sie.

Auch sie war über dem Nachthemd nur in einen Umhang gehüllt, hatte allerdings ein Tuch über den Kopf geschlagen, sodass man ihr ungekämmtes Haar nicht sehen konnte.

Heriman wollte die Umstehenden beruhigen, schüttete aber in seinem angeheiterten Zustand noch mehr Öl ins Feuer: »Sachte, sachte. Das kann jeder gewesen sein. Auf der Cäcilienstraße hat selbst Fordolf, der Bettelmönch, davon gepredigt, dass nur die Kindlein als Engel in den Himmel kommen.«

»Er ist bestimmt kein Mörder«, widersprach ihm die Alte.

Inzwischen war auch Arndt von Arnheim, einer der beiden Gewaltrichter, eingetroffen und spitzte seine Ohren, um ja allen Tratsch und Klatsch mitzubekommen. Er wusste genau, wie wichtig es war, schnell einen Täter zu finden. Nur so konnte man die Volksseele beruhigen und ein abschreckendes Exempel statuieren. Darum ging er gern auf die Rednerin ein: »Was sagst du, ein Puppenspieler? Das ist interessant. Was weißt du noch darüber?«

Die Alte erschrak, weil sie so viel Aufmerksamkeit erzielt hatte. Ihr Redefluss stockte, und sie stotterte vor Aufregung nur noch einige zusammenhanglose Worte.

Erst ein Zuruf aus der Runde brachte das Gespräch wieder ins Rollen: »Das Pack ist am späten Abend auf den Berlich gezogen. Die werden dort saufen und huren. Ich hab’s gesehen.«

»Warst du dabei?«, fragte ein Neunmalkluger spöttisch.

Trotz der schrecklichen Situation konnten einige ein leises Lachen nicht unterdrücken.

Der Gewaltrichter hörte über die Spötteleien geflissentlich hinweg, griff aber begierig den Hinweis zum Verbleib der Spielleute auf. Er befahl mit fester Stimme einem der beiden Gewaltdiener: »Zieh ein paar Leute zusammen und geht auf den Berlich. Findet den Puppenspieler und setzt ihn fest. Wir wollen ihn morgen verhören. Und du«, wandte er sich an den zweiten Schergen, »sorge dafür, dass die Leiche zum Medikus geschafft wird. Er soll sehen, was er zum Tod des Knaben sagen kann.«

Vorher untersuchte er jedoch noch selbst die Taschen des Jungen und fand einen Groschen darin. »Unter die Räuber ist er also nicht gefallen«, folgerte er mit wichtiger Miene. »Und ihr, liebe Leute, geht nun zurück in eure Häuser und schlaft den Schlaf der Gerechten!« Mit ausschweifenden Handbewegungen scheuchte er die Menge vom Tatort davon und trat selbst den Heimweg an. Er hatte seiner Pflicht Genüge getan und wollte sich noch einige Stunden aufs Ohr legen.

Auch die beiden Freunde setzten ihren Heimweg fort. Jede Freude war aus ihren Herzen gewichen. Sie gingen stumm vor sich hin, nur Heriman murmelte immer wieder erschüttert: »Hannes, warum nur Hannes? Ich bin schuld daran, ich habe ihn zum Neumarkt bestellt. Die arme Mecht hild, wie wird sie diese böse Kunde nur ertragen?«

»Das Bürschlein wurde nicht bei Tageslicht ermordet. Er hat sich sicher später nochmals auf den Weg gemacht«, versuchte ihn Walther zu trösten.

Als Heriman die Pforte seines Hauses erreichte, schloss er die Tür leise auf und bemühte sich, genauso leise seine Schlafkammer zu erreichen. Er wollte sich hinlegen, nachdenken und alles Weitere auf den nächsten Tag verschieben.

Nicht weit davon steht das gemeine Haus,

schöne Fräulein gehen da ein und aus.

Sobald ein Mannsbild kommt herein,

kostet es ihn eine Flasche Wein …

(Johann Haselberg)

Schon bald waren die Büttel auf dem Weg zum Berlich. Die Fackeln und Laternen leuchteten gespenstisch in den dunklen Straßen. Der Anführer trieb seine Leute immer wieder zur Eile an. Er sah endlich eine Möglichkeit, sich zu beweisen, und konnte gar nicht früh genug des Puppenspielers habhaft werden. Der Gewaltrichter hatte ihm eingebläut, den Übeltäter noch in der Nacht im Frankenturm abzuliefern. Die Volksseele musste beruhigt werden, bevor sie überkochte. Das geschah allzu leicht, wenn jemand ermordet wurde, und nun war es noch dazu ein Kind! Da musste die Strafe auf dem Fuße folgen!

Schon nach einer Viertelstunde erreichten die Gewaltdiener ihr Ziel. Der Name auf dem Berlich stand für Schmutz. Die Gegend war früher als Schweinetrift benutzt worden. Ber hieß altkölsch Zuchtschwein und Leich Fläche. Die Gegend war also immer unrein gewesen. Heute beherbergte sie Kölns bekanntestes Bordell, in dem sich, ganz wie auf der Schweinetrift, schweinisch und in Sünde herumgewälzt wurde.

Das trostlose Fachwerkhaus auf steinernen Fundamenten war kaum beleuchtet. Der Stadtwimpel auf dem Schieferdach war nur in Umrissen zu erkennen. Der Hof und der abgesonderte Friedhof für die gemeinen Dirnen hinter dem Haus lagen total im Dunkeln. Das spärliche Licht machte gerade mal die Vorderfront des Bordells sichtbar. Das sündige Treiben geschah im Verborgenen.

Forsch drückte der Anführer der Gewaltboten die Eingangstür auf und trat in den düsteren Schankraum. Der Hurenwirt guckte überrascht auf und kam mürrisch hinter dem groben Ausschanktisch hervor.

Vor dem Tresen saßen drei Hübschlerinnen und blickten erwartungsfroh zur Tür. Nachdem sie die Gesetzeshüter erkannt hatten, waren sie sichtlich enttäuscht und widmeten sich wieder ihren Gläsern mit dem billigen sauren Wein.

Der Anführer ließ seinen Blick angeekelt durch den Raum schweifen und meinte: »Wie kann man sich in einem solchen Saustall nur wohlfühlen? Wer Ehre und Tugend im Leib hat, scheut so ein Haus!«

Alles war dreckig, das Bodenstroh wimmelte von Ungeziefer und faulte vor sich hin. Verschütteter Wein und altes Bier, Schleim, Rotz und andere menschliche Exkremente stanken.

»Hier kann man sich nur die Franzosenpocken holen oder die hispanische Krankheit«, pflichtete einer der niederen Büttel seinem Vorgesetzten bei. Als er den rot bemalten Schemel sah, der für den Henker und seine Gesellen reserviert war, heute Abend aber leer stand, fuhr er fort: »Die wird hier irgendwann alle mal der Henker holen.« Ein hämisches Grinsen ging über seine schiefe, pockennarbige Visage.

Der Anführer ließ sich nicht ablenken, er wandte sich an den Wirt: »Wo sind die Schausteller? Wo ist der Puppenspieler? Wir wissen, dass er hier ist.« Wie zur Bestätigung schlug er mit der Faust auf einen der groben Holztische, doch das beeindruckte keinen.

Der Wirt überhörte die Frage und fuhr stumm, aber mit wachsender Unruhe damit fort, ausgewaschene Krüge zu trocknen.

»Du kannst heute Nacht im Frankenturm schlafen, wenn du deine Mithilfe verweigerst«, schlug der Büttel eine härtere Gangart ein, und die zeigte Wirkung. Der Wirt gönnte ihm zwar kein Wort, aber er zeigte verächtlich mit dem Daumen über seine Schulter auf eine Tür, die in die hinteren Räume führte. Der Häscher fackelte nicht lang, stieß die Tür auf und drang in eine düstere Diele vor. Von der gingen links und rechts weitere Türen ab. Er zögerte einen Moment, dann wählte er die vordere rechts und hatte Glück. Mit zwei Schritten stand er mitten in einem richtigen Stillleben: Eine junge Dirne mit roten Haaren saß nackt auf einem Wännchen und spülte ihre Scheide. Ihre Haare hatten ihr den Spottnamen Roedkop eingebracht. Roedkop hatte dem Freier zwar befohlen: »Dresch innen und streu außen«, doch wusste sie, ob sich der Buhler daran gehalten hatte? Sie wollte keinen Bankert haben, vertraute lieber auf die reinigende Kraft des Wassers.

Der Mann im Raum hatte das Glück schon hinter sich und lag verschwitzt und zufrieden auf dem schmalen Lager und schaute der Gunstgewerblerin mit lüsternem Interesse bei der Reinigung zu. Vor dem Bett auf einem Schemel lag sein Gewand, das bunte Gewand eines Schaustellers.

Das kann nur der Puppenspieler sein, dachte der Gewaltdiener zufrieden. Nachdem er sich an der Hübschlerin sattgesehen hatte, ging er auf den Mann zu und fragte ihn: »Bist du der Puppenspieler vom Neumarkt?«

Der Mann war sich keiner Schuld bewusst und antwortete verdattert: »Ja, ich habe dort den ganzen Tag Freude bereitet und nun selbst ein bisschen Freude gesucht.« Er schaute den Büttel mit fragenden Augen an.