Und immer das Kreuz - Volker Himmelseher - E-Book

Und immer das Kreuz E-Book

Volker Himmelseher

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Beschreibung

Kann Gotteswahn zum Mörder machen? Findet der Mörder im Mord Erleichterung und Zugang zu Gott? Was erleiden seine Opfer? Die Antworten auf diese Fragen findet die Leserschaft, da sie sowohl die Gedanken des Mörders erfährt als auch die letzten Stunden der Opfer miterlebt. Wie es sich für eine Kriminalgeschichte gehört, kann sie auch noch entschlossene Kriminalisten dabei beobachten, wie sie nichts unversucht lassen, den Mörder zu fassen. Die Personen, Ereignisse und Orte sind frei erfunden. Aber das spannende Geschehen könnte durchaus Wirklichkeit sein!

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Seitenzahl: 251

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Inhalt

Vorspann

Wolfgang Zeller

Wolfgang Zeller in der vorösterlichen Zeit

Renate Eilers

Markus Litzenrath

Kriminalkommissarin Vera Bühne

Ergebnis der forensischen Untersuchung

Reaktionen während der Karwoche

Kriminalhauptkommissar Jochen Kleefuß

Wolfgang Zeller auf der Suche

Die Suche der Ermittler

Wolfgang Zeller empfängt einen weiteren Heilauftrag

Jenny Kühlborn

Erneute Suche der Ermittler

Wer suchet, der findet?

Wolfgang Zellers Einkehrtage im Kloster

Der nächste Tatort

Ella Lang

Wolfgang Zeller

Tatortuntersuchung und erneute Ermittlung der Mordkommission

Zwischenzeiten

Mariä Himmelfahrt

Maren Barmer

Maren Barmer und ihr ungewisser Leidensweg im Sankt-Katharinen-Hospital

Die Ermittlungen gehen weiter

Ein Ende mit Schrecken

Epilog

Nachspann

Personenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorspann

Vor den Toren von Köln geschah ein Mord.

Eine junge Frau wurde erdrosselt.

Laut Spurensicherung war der Fundort der Tatort.

Hauptkommissar Jochen Kleefuß und Kommissarin Vera Bühne ermitteln.

Erdrosseln ist in der Regel eine männliche Mordart.

Sie suchen also nach einem Mörder.

Der vollführt ein ihnen unverständliches Ritual:

Die tote Renate Eilers wurde in einer eigenartigen Pose abgelegt!

Ein zweiter Mord weist markante Überschneidungen mit dem Ablauf des ersten Verbrechens auf.

Die Ablage der Leiche ist ebenfalls speziell, aber anders als beim ersten Mal.

Nun haben es die Kommissare mit einem Serienmörder zu tun.

Eile ist geboten, denn nun ermitteln die beiden Beamten gegen die Zeit. Der Täter wird bald wieder zuschlagen!

Eine Mordkommission wird zusammengestellt und ein Profiler hinzugezogen.

Der Leser erlebt die unheimliche Geschichte aus drei Blickwinkeln: Er erfährt die verqueren Gedanken des Täters, er erlebt die Opfer in ihren letzten Stunden und steht mitten im spannenden Ermittlungsgeschehen.

Die Geschichte ist frei erfunden, könnte sich aber ohne Weiteres so begeben haben.

Wolfgang Zeller

Bis zum 23. Lebensjahr lebte Wolfgang Zeller im Haus seiner Eltern. Es war ein unkompliziertes Miteinander.

Wolfgang war freundlich, rücksichtsvoll und fleißig.

Der junge Mann war allseits beliebt und hatte viele Freunde. Sein Äußeres war ansehnlich. Er war mittelgroß, sportlich trainiert, hatte blondes Haar und blaue Augen, die neugierig in die Welt schauten.

Seine Eltern waren dankbar für seine Gesellschaft.

Er war sich nicht zu schade, ihnen bei dem einen oder anderen im Haushalt behilflich zu sein, besonders wenn es ihm als jungem Mann leichter fiel als ihnen.

Alle drei schätzten auch die gemeinsamen Abende bei einem Glas Wein und beim Kartenspiel. Die Welt war völlig in Ordnung.

Am 23. Oktober änderte sich alles. Es war ein kühler und nasser Sonntag. Niemand ging bei solchem Wetter gern vor die Tür. Auch Wolfgang Zeller hatte sein Zimmer nicht verlassen. Er las und hörte Musik. Etwa um 16:45 Uhr geschah etwas Schreckliches: Der junge Mann erlitt einen Schlaganfall. Eine größere Schädigung des Frontalhirns trat dabei ein. Die Folgen waren nicht vorauszusehen.

Aber Wolfgang Zeller hatte Glück im Unglück. Seine Mutter war im Haus, und er konnte sich wenigstens noch bei ihr bemerkbar machen.

Frau Zeller reagierte sofort. Sie rief den Notarzt an, der nach wenigen Minuten aus dem nahegelegenen Krankenhaus kam und Erste Hilfe leistete. Die Umsicht der Mutter und das schnelle Kommen des Arztes retteten Wolfgang Zellers Leben. Zu welchem Preis, wurde erst nach und nach sichtbar.

Die rasche Einweisung ins Krankenhaus und die richtige Diagnose führten nämlich nicht dazu, dass sich bei Wolfgang Zeller ein befriedigender Heilverlauf ergab.

Seine Eltern und Freunde erlebten bei Krankenbesuchen einen völlig veränderten Menschen. Auch die Krankenschwestern und Pfleger beklagten sich über Störrischkeit, Reizbarkeit und Wutausbrüche. Eine Änderung seiner bis dahin eher schwachen Impulsivität war unverkennbar eingetreten.

In den meisten Augenblicken war er völlig introvertiert, wies Kontaktversuche zurück und widmete sich fast ausschließlich einem Thema, wie seiner Umwelt erst langsam deutlich wurde: Wolfgang Zeller beschäftigte sich exzessiv mit dem Thema Religion, was ihn nie besonders interessiert hatte.

Er sprach von Jesus Christus und Gott, er stammelte dabei wirres Zeug und betete laut und oft. Wolfgang Zeller gewöhnte sich an, auf dem Sender Arte Dokus über Märtyrer anzuschauen, die für ihren Glauben alles gaben, selbst ihr Leben. Bald war er bereit, diese Grenzerfahrung selbst zu machen. Versuche, bei Rehamaßnahmen, diese krankhaften Veränderungen zu kurieren, blockte er ab. Er verweigerte sich jedem Therapieversuch. Selbst auf vorsichtige Ermahnungen reagierte er wütend. Wolfgang vertrug nach seinem schweren Schädel-Hirn-Trauma keinerlei Kritik mehr. Der freundliche junge Mann zeigte sich nunmehr störrisch und selbstgerecht.

Nach drei Wochen war er ohne positives Ergebnis austherapiert. So stand es im ärztlichen Bericht:

»Schädigungen am Frontalhirn führen oftmals zu erheblichen unveränderbaren Wesensveränderungen eines Patienten. Aufkommende Wahnhaftigkeit mit religiösen Inhalten ist eine bekannte Ausprägungsform. Der therapierte Patient glaubt, auserwählt zu sein und Heilaufträge von göttlichen Kräften zu erhalten.«

Wolfgang Zeller war nicht arbeitsfähig, durfte aber nach Hause. Dort war er seinen Eltern, die ihn immer geliebt hatten, ein Fremder. Er wies ihre Fürsorge zurück, drohte ihnen stattdessen mit Gottes Zorn, wenn sie keine Ruhe gäben. Sich selbst nannte er einen Gesandten Jesu, der genau wisse, was zu tun sei. Seine Eltern reagierten darauf ratlos. Religion hatte in ihrer Familie, auch in der Erziehung des Sohnes, nie eine größere Rolle gespielt. Nun war sie für Wolfgang zum Hauptthema geworden. Er betete, führte Selbstgespräche oder solche mit Gott und hörte viel Kirchenmusik. Anstelle von Romanen, wie früher, lag nun die Bibel auf seinem Nachtisch. Nach und nach kaufte er weitere religiöse Schriften hinzu.

Wenn Eltern, Freunde und Bekannte versuchten, ihn auf andere Gleise zu führen, schrie und wütete er. Letztlich verließ er im Groll sein Elternhaus. Dafür fand er den Befehl in der Bibel, deren Worte er inzwischen bestens kannte. Jesus sagte laut Matthäus 10,37:

– Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.

Wolfgang Zeller wollte nur noch für den Gottessohn da sein. Vater und Mutter waren entbehrlich!

Aus einer privaten Versicherung erhielt er neben der Arbeitslosenunterstützung ein auf zwei Jahre begrenztes, bescheidenes Krankengeld. Das Geld insgesamt reichte, um eine möblierte Einzimmerwohnung unterm Dach anzumieten. Sie lag in Brauweiler in einem unscheinbaren, weiß getünchten Haus mit zwei Stockwerken und Satteldach. Sie war günstiger als eine vergleichbare Wohnung in Köln-Mitte.

Den alten Pkw, den ihm seine Eltern geschenkt hatten, nahm er mit. Er war damit mobil genug, um in einem Getränkeshop in Köln-Bickendorf zu arbeiten. Dadurch hatte Wolfgang Zeller ein laufendes kleines Einkommen, ausreichend für seine bescheidenen Bedürfnisse. Luxus und Wohlergehen waren ihm nicht wichtig.

Wolfgang Zeller wurde zum Kirchgänger, hielt aber Abstand zu anderen Gläubigen. Alles, was den Sohn Gottes betraf, erregte ihn und zog ihn in Bann. Für seine Umwelt machte er sich möglichst unsichtbar. Er trug unauffällige Kleidung, verdeckte seine Augen hinter einer Brille, möglichst einer Sonnenbrille, und das Gesicht gern unter dem Schirm einer Baseballkappe. Wenn ihm niemand zu nahe kam, war er zufrieden. Seine Eltern, Freunde und Bekannte brachen den Kontakt zu ihm bald ab. Schnell stand Wolfgang Zeller allein da, allein mit Jesus. So empfand er sein neues Dasein.

Er verspürte keine Probleme. Er hatte, was er wollte: allein sein mit Gott und Jesus Christus. Deren Nähe genügte ihm zum Glück. Er spürte sie körperlich und suchte sie, wenn dieses Gefühl einmal abriss. Daran gab er sich dann selbst die Schuld, tat Abbitte und flehte um Abhilfe. Immer mehr schwand der Bedarf, mit seinem Umfeld zu kommunizieren. Er sinnierte stundenlang allein, wie er Gottes und des Heilands Diener sein könne. Er suchte in der Stille und Einsamkeit göttliche Hinweise, suchte sie aber auch in der Bibel und im Gottesdienst. Er betete mehrmals am Tag um Gottes Beistand. Seine Wesensveränderung spiegelte sich auch in einem veränderten Äußeren wider.

Wolfgang Zeller in der vorösterlichen Zeit

Der April zeigte sich nicht so wetterwendisch wie sonst. Schon seit Längerem war es sonnig, der blaue Himmel höchstens mit Schäfchenwolken befleckt, und es war warm.

Osterglocken blühten in den Beeten der Vorgärten, Gärten und um die Teiche. Die gelben Glocken wiegten sich im Wind und schienen einladend zu läuten. Die Stimmung erinnerte an ein Gedicht von William Wordsworth:

Der Wolke gleich, zog ich einher,

die einsam zieht hoch übers Land,

als unverhofft vor mir ein Meer

von goldenen Narzissen stand.

Am See, dort wo die Bäume sind,

flatterten, tanzten sie im Wind. …

In der Nacht leuchtete der Vollmond am Himmel. Das bescherte vielen Menschen nächtliche Unruhe. Sie schliefen schlecht. Bei manchen stellten sich sogar körperliche Beschwerden ein. Wolfgang Zeller war ebenfalls davon betroffen. Doch er war sich nicht sicher, ob dies dem Mond geschuldet war. Ihn quälten wahrscheinlich wichtigere Dinge. In seiner Rolle als Gesandter Jesu, von der er fest überzeugt war, lauschte er ständig, aber bisher vergeblich, auf den göttlichen Ruf, der ihm einen Heilauftrag geben würde.

Der Ruf stand jetzt kurz bevor, das spürte er in jeder Faser seines Körpers. Alle Anzeichen deuteten darauf hin. Deshalb war er selbst nachtsüber aufmerksam und meist wach.

Ängste und Bedenken schossen wie Giftpfeile durch seinen Kopf. Würde er die Worte richtig verstehen, oder würde er am Ende versagen? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein!

Seine Zuversicht kam bald wieder zurück, und plötzlich explodierten Gedanken in seinem Hirn, und er näherte sich dem, was zu tun war: Das Kreuz Jesu trat vor sein inneres Auge. In der bevorstehenden Osterzeit als Hinweis auf dessen Tod. Zu Lebzeiten des Gottessohns war es üblich gewesen, dass zum Tode Verurteilte ihr Holzkreuz zur Richtstätte trugen und dort hingerichtet wurden.

Unter Schmerzen trug Christus das Kreuz auf den Hügel Golgatha. …

Wie ein Weckruf hallte ihm die Aussage Jesu entgegen, die er in Matthäus 10,38 beim abendlichen Studium der Bibel gefunden hatte:

Wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig.

Eine strenge Stimme ergänzte: »Setz Zeichen und zeig, wie unser Herr Jesus Christus für uns das Kreuz aufgenommen hat.«

Seine Aufgabe wurde ihm immer klarer. Nach Palmsonntag wollte er sie angehen. Das war der letzte Freudentag des Heilands gewesen, er war unter Jubel in die Stadt Jerusalem eingeritten. Danach war er mit Schmach und Spott überhäuft worden und hatte das Kreuz nehmen müssen.

Doch die Nacht zog sich wie ein zäher Kaugummi dahin. Erst am Morgen konnte er sich ans Werk machen. Zunächst wollte er sich in die richtige Stimmung bringen.

Schnell ging er zu seiner Musikanlage und legte, zur Unterstützung des erhaltenen Heilauftrags, eine CD auf: Das Orgelkonzert Da Jesus an dem Kreuze stund, aus dem Orgelbüchlein von Johann Sebastian Bach. Sein Heilauftrag wurde ihm dabei völlig klar: Christus ersuchte ihn, Menschen zu bewegen, das Kreuz aufzunehmen und, wie er, in den Tod zu gehen, und das, um das ewige Leben an der Seite Gottes zu erlangen. Er hatte verstanden: Er sollte für Jesus richten!

Wolfgang Zeller war sich sicher, dass er keine dämonischen Einflüsterungen gehört hatte. Er folgte vielmehr dem Ruf des Messias und war als williges Werkzeug dazu bereit.

Er würde im Auftrage des Heilands in das Weltgeschehen eingreifen! Großes hatte Jesus mit ihm vor! Diese Erkenntnis ließ in ihm eine wunderbare Ruhe und Selbstsicherheit aufkommen. »Ich bin der Vollstrecker des Herrn«, dachte er voller Stolz und überlegte, wie er die Aufgabe meistern wollte.

Er wollte in gewohnter Ordnungsliebe vorgehen.

Wen sollte er auswählen? Die Antwort wuchs in ihm wie von selbst: Es musste eine Frau sein. Schließlich war Eva, die Urmutter der Menschheit, verantwortlich für die Vertreibung aus dem Paradies. Das Weibliche musste von dieser Ursünde gereinigt werden! Erneut trat ein Satz vor sein inneres Auge: Dunkel sind die Wege, Gott, die du uns führst!

Der Satz machte ihm keine Angst. Der Ruf Gottes war Beweggrund genug, den richtigen Weg zu finden. Seine Lippen formten die Worte: »Warte nur, Vater, ich mache mich für dich auf den Weg.« Er würde in die richtige Richtung gehen.

Vielleicht konnte ihm der Besuch der Kirche dabei Hilfe und Rat beisteuern. Wolfgang Zeller machte sich auf den Weg in die Abteikirche Sankt Nikolaus. Sie war in der Passionszeit geöffnet und lud zum Dialog über den bevorstehenden Tod des Gottessohns ein. Zu seiner Freude war er im Kirchenschiff allein. Er ging niemals in das geweihte Gemäuer, um Gläubige zu treffen. Das Alleinsein mit Gott war alles, was er brauchte und deshalb suchte.

Erst kürzlich hatte sich der Pfarrer des Gotteshauses einen Herzenswunsch erfüllt. Nach seiner festen Überzeugung gehörte ein Kreuzweg zur liturgischen Ausstattung einer Kirche. St. Nikolaus war zwar reichlich mit Kunstwerken bestückt gewesen, doch ein Kreuzweg fehlte darunter.

Mithilfe der Zuwendung einer anonymen Stifterin und auf Vermittlung einer Ungarin, die schon viele Jahre Gemeindemitglied war, fand der Priester Kontakt zu dem ungarischen Künstler namens András Szabo. Der war nach mehreren Treffen mit ihm bereit, einen würdigen Kreuzweg zu erschaffen. Die Arbeit sollte mehr als zwei Jahre benötigen.

Im Vorfeld war Übereinstimmung erzielt worden, dass sein Werk das Gotteshaus nicht überfrachten dürfe.

Deshalb schilderte der Künstler das Leiden Christi in einem bescheidenen Format: Er malte die vierzehn Stationen des Kreuzwegs auf kleine Press-Spanplatten. Sie fielen dadurch nicht minder eindrücklich aus. Sehr naturalistisch führte András Szabo Schmerz und Elend des seiner Würde beraubten Gottessohns auf den kleinen Platten vor Augen. Beim Anblick des Nagels, der sich in die Hand Christi bohrte, fühlte Wolfgang Zeller selbst psychisch den Schmerz. So deutlich war das Leiden in den Bildnissen herausgearbeitet worden. Auch das Gewicht des Kreuzes, unter dem Jesus Christus mehrmals zusammenbrach, wurde in all seiner Wucht erspürbar. Einen direkten Blick auf das geschundene Gesicht des Gottessohns gewährte der Künstler jedoch nicht. Auch Wolfgang Zeller versteckte seines, wann immer möglich.

Für die richtige Installation des Werkes hatten Pfarrer und Künstler einen geeigneten Ort gefunden: Die Tafeln schwebten nun vor der Rückseite der Chorschranke.

Die Bilder trafen Wolfgang Zeller mit all ihrer Wucht. Aus ihnen zog er die erhoffte Hilfe und den göttlichen Rat:

Sein Opfer würde er wie den gefallenen Christus positionieren, damit ein jeder den Sinn seiner Tat erkenne.

Als er dies für sich beschloss, zeigte er sich bibelfest:

Matthäus 27,27–31:

Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern,

kam ihm in den Sinn und ließ diesen Moment vor seinem inneren Auge erstehen:

Jesus wurde den Soldaten übergeben. Sie zogen ihm die Kleider aus und legten ihm einen purpurroten Mantel an. Dann setzten sie ihm, dem König der Juden, eine Dornenkrone auf, schlugen, verhöhnten und bespuckten ihn.

Sie zogen ihm die Kleidung wieder an. Christus wurde hinausgeführt und musste das schwere Holz den Hügel Golgatha hinauftragen.

Unter der Last des Kreuzes sollten die Menschen auch sein Opfer sehen! Wolfgang Zeller wusste bereits, wo er das Opfer suchen würde. Er kannte einen Ort, an dem er sich gefahrlos auf die Lauer legen konnte. …

Renate Eilers

Renate Eilers hatte sich einen halben Tag frei genommen.

Sie wollte zum Anfang der Karwoche ihre Mutter im Altersheim besuchen. Die Gute war dort sehr allein. Ihr Mann Otto, Renates Vater, war schon vor zwei Jahren verstorben, und Renate war ihr einziges Kind geblieben.

Ihre Mutter hatte sie erst sehr spät im Alter von fünfunddreißig Jahren bekommen. Das war in dieser Generation eine Besonderheit gewesen. Renate hatte nun selbst schon dieses Alter erreicht. Ihre Mutter war mit siebzig Jahren früh alt geworden und bedurfte besonderer Zuwendung.

Über die Ostertage wollte Renate gemeinsam mit ihrem Mann zum Wandern in die Eifel fahren. Sie hatten dort ihr kleines Lieblingshotel gebucht. Es lag idyllisch im Grünen an einem einsamen See. Deshalb musste ihre Mutter also schon früher die gebotenen Streicheleinheiten bekommen.

Renate Eilers freute sich schon auf das wundervolle Frühstücksbuffet des Hotels, das gemütliche Zimmer, welches sie immer buchten, das weiche Bett und den perfekten Wellnessbereich. Die Wetterprognose war gut, und so würde das Wandern richtig Freude machen.

Die Ostergaben für ihre Mutter hatte sie schon am gestrigen Palmsonntag zurechtgemacht. Nun trug sie in einer Papiertüte einen kleinen geflochtenen Korb, der mit grüner Holzwolle zum Nest ausgepolstert war. Sie hatte Eier eingefärbt und mit Speckschwarte glänzend gerieben, so wie ihre Mutter es gern mochte und selbst für sie als Kind immer getan hatte.

Für den Osterkaffee hatte sie Kekse gebacken und mit bunter Konditorfarbe österlich verziert. In einer Zellophantüte lagen sie ebenfalls im Nest. Renate freute sich schon auf die glücklichen Augen ihrer Mutter.

Sie näherte sich dem Heim mit leichten Schuldgefühlen.

Sie hatte ihre Mutter schon länger nicht mehr besucht.

Ich bin keine gute Tochter, dachte sie und beschloss, sich heute für Mutter Zeit zu lassen. »Gemeinsame Zeit ist für Mami mehr wert als Gold«, war sie sich gewiss.

Als sie an der Zimmertür anklopfte, hörte sie von innen ein fröhliches »Herein«. Ihre Mutter freute sich mächtig auf sie.

Da war kein Vorwurf wegen ihres langen Fernbleibens in der Stimme. Ihr Osternest ließ bei Mami die erhoffte Freude aufkommen. Als sie die glänzenden Eier sah, traten Tränen der Rührung in ihre Augen. »So blank hat nur dein Vater seine Schuhe geputzt«, meinte sie. Ihr seliges Lächeln zeigte, wie sehr sie dabei in Erinnerungen schwelgte. Die kamen nun auch bei ihrer Tochter auf: Wie oft war sie als Kind über das Gitter ihres Bettchens gestiegen und bei Mama unter die Decke gekrochen. Ihr sonst eher gestrenger Vater hatte das schmunzelnd geduldet.

Mutter wollte alles wissen. Wie es Renates Mann Egon ging, wie es bei der Arbeit lief, wie sie das Osterfest planten und vieles mehr. Sie schwatzten und schwatzten, auch über die verrückten Beschlüsse der großen Politik. Ihre Mutter war noch höchst interessiert und konnte sich über deren Unsinn wunderbar aufregen. Auch dabei ging es nicht ohne Erinnerungen ab, besonders solche an ihren Mann, an Renates Vater: »Dein Vater hätte gesagt:

Zunächst hatten wir einen Kaiser von Gottes Gnaden, dann hatten wir ein Arschloch aus Berchtesgaden.

Wie soll es da besser weitergehen? So viel zur Politik!«

Ihr Vater hatte gerne mit Schlagwörtern um sich geworfen, auch mit diesem, obwohl er in der Kaiserzeit noch gar nicht gelebt hatte. Er fand es einfach gut und nutzte es deshalb gern, immer wenn es seiner Meinung nach passte.

Sie lachten viel. Auch Reminiszenzen an Renates Kindheit dienten dazu. Mutter erzählte von einem Urlaub auf dem Bauernhof. Dort hatte Renate zum ersten Mal Hühner Eier legen sehen und wusste auf einmal nicht mehr, was sie vom Osterhasen halten sollte.

»Ist der Osterhase ein Huhn im Kostüm?, hast du mich gefragt.« Beide lachten.

Die Augen ihrer Mutter strahlten, und Renate streichelte liebevoll ihre Hand. Sie nahm sich heimlich vor, wieder öfter vorbeizukommen. Diese Mutter-Tochter-Gespräche waren auch für sie ein Freudenborn.

Zwischendrin ging Renate Eilers hinab ins Kasino und holte zwei Stücke Käse-Sahne-Torte und ein Kännchen Kaffee für jeden, natürlich mit Milch und Zucker. In so schönen Stunden wurde nicht auf die Figur geachtet.

Die Zeit verging unbemerkt schnell. Als Renate auf die Uhr sah, war es schon 18 Uhr geworden. Es wurde bereits dämmerig. Sie musste langsam ans Nachhausegehen denken.

Egon kam bald von der Arbeit zurück. Er war pünktliches Abendessen gewohnt. Mit zärtlichen Gefühlen dachte sie an ihn. Man sagte, dass Männer mit bei Weitem weniger Worten auskämen als Frauen. Nach dem siebten Hochzeitstag läge deren täglicher Gesprächsbedarf statistisch gesehen unter sieben Minuten. Aber in ihrer Ehe war das anders. Sie nutzten die gemeinsamen Stunden am Abend ständig, um sich im Zwiegespräch auszutauschen.

Eine letzte Umarmung, ein herzhafter Kuss und ein vorgezogenes: »Frohe Ostern«, dann machte sie sich auf den Weg. …

Auf den Bus musste sie nicht lange warten. Er kam nach Plan.

Sie bekam sogar einen Sitzplatz. Während der Fahrt schritt die Dämmerung weiter fort. Als sie aus der Stadt hinausgefahren waren, wurden die Räume freier, Felder und Wiesen flogen vorbei. Einfamilienhäuser ersetzten die mehrstöckigen Wohnhäuser der Großstadt. An diese Gegend hatte sie sich gewöhnt. Der Stadtrand von Köln hatte dörflichen Charakter, doch er wurde anerkennend »der Speckgürtel von Mutter Colonia« genannt. Hier speiste und trank man gut. Die Bewohner mussten sich keine Sorgen um ihr Auskommen machen. Das galt auch für Egon und sie.

An ihrer Ausstiegsstation hatte sie zwei Optionen, nach Hause zu gehen: über den Bürgersteig die Hauptstraße entlang oder über den Weg durch den Park, der war kürzer. Normalerweise vermied sie den Parkweg im Dunkeln, doch heute beschloss sie, ihn zu nehmen, denn sie war spät dran. Außerdem schienen ihr beide Wege gleich menschenleer. »Es wird schon nichts passieren«, dachte sie. »Ich bin ein mutiges Mädchen«. Mama hatte immer gesagt: »Nur wer eine schwarze Seele hat, muss Angst vor der Dunkelheit haben.« Also machte sie sich auf den Weg.

Der gesandete Weg des Parks knirschte unter ihren Füßen.

Die Gebüsche links und rechts von ihm waren blickdicht und ließen die Dämmerung noch dunkler erscheinen. Renate Eilers wurde es nun doch ein wenig mulmig. Die schwachen Bewegungen der Büsche und Bäume im abnehmenden Licht wirkten auf sie ziemlich unheimlich. Sie legte einen Schritt zu, um schneller zu Hause zu sein. Blätter raschelten und Zweige wogen hin und her. Es war ihr, als hielte sich jemand dahinter verborgen. Eine innere Alarmglocke begann leise zu läuten. Sie verharrte einen Moment und lauschte in die Dunkelheit. Es brachte ihr keine Gewissheit, dass sich nichts Bedrohliches hinter dem Buschwerk verbarg. …

Wolfgang Zeller war bisher unentdeckt geblieben, und er hatte nicht lange auf der Lauer liegen müssen, bis er jemand kommen hörte. Renate Eilers hingegen sah und hörte noch immer keine Menschenseele, doch sie glaubte etwas zu verspüren. Schließlich entschloss sie sich, weiterzugehen.

Kaum hatte sie sich abgewendet, kam der Schattenriss einer männlichen Gestalt lautlos, aber zügig aus den Büschen hervor. Der Mann hielt ein Drahtseil zwischen seinen Fäusten.

Er warf es von hinten über ihren Kopf und drosselte brutal ihre Halsweichteile.

Ihrem ersten Instinkt folgend, versuchte Renate Eilers davonzulaufen. Das Würgeinstrument umschloss dadurch ihren Hals nun noch fester. Ihr Gehirn wurde schnell von deutlich weniger Sauerstoff gespeist. Auch die Venen im Hals, die in entgegengesetzter Richtung zu den Arterien sauerstoffarmes Blut vom Gehirn wegtragen sollten, wurden durch die Drosselung verschlossen und ließen das verbrauchte Blut nicht mehr durch. Der zunehmende Sauerstoffmangel führte zu Renate Eilers Tod. Es war nicht die Behinderung des Einatmens durch das Zudrücken der oberen Luftwege. Die Luftröhre war nämlich viel stabiler, als man dachte, und konnte dem Druck des Seils länger standhalten. Das Gleiche galt für den Kehlkopf.

Die Halsschlagadern, die etwas tiefer in den Halsweichteilen verliefen und dickere Gefäßwände hatten als die Venen, ließen noch etwas Blut in Kopf und Gesicht fließen. Weil die direkt unter der Halshaut gelegenen Halsvenen mit ihren dünnen Gefäßwänden vollständig abgedrückt worden waren, konnte das in Kopf und Gesicht geströmte Blut nicht mehr abfließen. Die Stauung wurde sichtbar. Renate Eilers’ Gesicht schwoll an und die Gesichts- und Halshaut verfärbte sich dunkelrot bis ins Violette. Ihre Augenlider und Lippen waren bald aufgedunsen. Die Drosselung dauerte weniger als zwanzig Sekunden, bis sie letal endete. Die erste Opferung war vollbracht. Wolfgang Zeller konnte zufrieden sein. Sie war wie am Schnürchen verlaufen. Vertrackte Komplikationen waren ihm zutiefst zuwider.

Wolfgang Zeller war in seinem Wahn stark und konsequent vorgegangen. Das Seil hatte sofort festgesessen, und Renate Eilers war nicht dazu gekommen, sich zu wehren. Ihre Arme hatten nur noch kurz wie Flügel zur Seite geflattert, dann fielen sie herab. Ihre Hände hatten sich nicht einmal in ihn verkrallen können.

Das Letzte, was sie hörte, war eine männliche Stimme, die ihr in das linke Ohr flüsterte:

»Der Tod ist nicht unser Ende.«

Früher hätte er gesagt: »Der Tod ist einfach das Ende dessen, was war. Danach gibt es nichts mehr!« Wie hatte sich Wolfgang Zeller verändert. …

Die Tat war völlig geräuschlos vonstattengegangen. Wolfgang Zeller sah sich um, er sah nichts und niemanden.

Renate Eilers war mitten auf dem Weg zusammengesunken. Er zog das Seil langsam unter ihrem Hals hervor und steckte es weg. Ihr Gesicht war inzwischen von Rot in Lila übergegangen. Nun kam noch das für ihn so wichtige Ritual. Er wollte Renate wie Jesus auf seinem Leidensweg drapieren.

»Setz ein Zeichen und zeig, wie unser Herr Jesus Christ für uns das Kreuz aufgenommen hat!«

Dieser Satz war in seinem Kopf wie ein Insekt in Bernstein eingeschlossen. Er richtete die Tote vorsichtig an einem Baum auf und stützte sie mit einem starken Ast, dessen Hauptarm über ihre Schulter ging, während ein abzweigendes, dünneres Gabelholz unter die Armkehle passte und einen Großteil des Gewichts der Toten trug. Dieses Holzgebilde wurde für ihn zum Zeichen des aufgenommenen Kreuzes.

Den Ast hatte er vorher im Buschwerk gesucht und bereitgelegt. Einen mit zwei Armen, einem Kreuz noch ähnlicher, hatte er nicht gefunden.

Um den Arm der Toten hängte er ein gülden schimmerndes Messingkettchen mit einem Kreuz daran. Das kleine Kreuz war neben der Stellung der Leiche für ihn ein weiteres Zeugnis seiner Absicht. Von den Kettchen hatte er ein Dutzend von einer Wallfahrt nach Frankreich mitgebracht.

Er stellte sich mit gefalteten Händen vor die Tote und verweilte einen Moment in Stille. Innerlich sprach er:

Er ist Sieger, – Auferstanden!

Unser Herr und Heiland lebt!

Freiheit ist uns nun geworden,

jedem, der zu Jesus geht.

Sündenschuld wird dem vergeben,

der sich Jesus anvertraut,

der mit ehrlichem Verlangen

auf den Seelenretter schaut.

Ein gutes Gefühl durchfuhr seinen Körper. Er hatte der Frau zu diesem Glück verholfen. Das Schicksal war mit ihr großmütig gewesen. Er war dabei seinem Herrn zu Diensten gewesen. Er verspürte physisch dessen Lob in einem Schauder, der ihn durchlief.

Das Osterfest konnte kommen. Er würde Hosianna singen, ihm kam in seinem Glücksrausch ein Lied von Bob Dylan in den Sinn, das er auf seine Weise interpretierte. Er sah sein Opfer auf dem besten Wege:

Knockin’ On Heaven’s Door,

Knock, knock, knockin’ on heaven’s door …

Sein Opfer klopfte an die Himmelstür.

Nun wurde es Zeit für ihn, zu verschwinden.

In seiner Einsamkeit und der selbst verordneten Entfremdung gegenüber anderen Menschen gab er sich dem Phänomen des Selbstgesprächs hin und sagte Verse auf, die sich ihm eingebrannt hatten:

Wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig. (Matthäus 10,38)

Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden. (Jesaja 1,18)

In hoc signo vinces.

In diesem Zeichen wirst du siegen.

Die Aufnahme des Kreuzes rechtfertigte, was er dem Opfer angetan hatte. Seine Tat strahlte schneeweiß. Er hatte schlussendlich den Heilauftrag von Gottes Sohn erhalten und erfüllt. Im Kreuz hatte die Frau nun das Zeichen des Obsiegens gefunden. All das machte ihn zufrieden. Diese Erkenntnisse wiederholte er als Monolog in Dauerschleife.

Er erreichte seine kleine Wohnung und blieb auf dem Weg zu ihr hin ungesehen. Dort setzte er sich in seinen Sessel und verweilte einen Moment still in Gedanken. Dann beschloss er, er habe es verdient, ein Glas Wein zu trinken. Es stand noch eine angebrochene Flasche im Kühlschrank. Die holte er und auch ein Glas. Der erste Schluck lief fruchtig und kühl in seinen Mund. Er lächelte: Der Pastor hätte dazu eine Zigarre geraucht. So einen Geschmack mochte er gar nicht. Der intensive Tabakgeruch hätte nur die Luft im Zimmer verdorben. Wolfgang Zeller war seit jeher Nichtraucher.

Ganz beiläufig machte er den Fernseher an. Er wollte kurz in die Nachrichten schauen. Er hörte nur oberflächlich hin und konzentrierte sich auch nicht auf das Bild.

Erst als er aus Bruchstücken des Berichts der Sprecherin mitbekam, dass eine Tankstellenkassiererin überfallen, beraubt, missbraucht und anschließend mit einem Gürtel erwürgt worden war, schreckte er auf.

War dieser Hinweis auf eine gleichartige Tat ein Wink, und wenn ja, wozu? Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, bis er zu Bett ging. Er kam zu dem Schluss, dass die Taten nicht gleichartig gewesen waren.

Wie immer sammelte er sich zum Gebet. Wie ein naives Kind sprach er die Worte eines Jesus-Lieds:

Ach mein Herr Jesu, dein Nahesein

bringt großen Frieden ins Herz hinein,

und dein Gnadenanblick macht uns so selig,

dass Leib und Seele darüber fröhlich

und dankbar werden.

Er benötigte noch länger, bis Ruhe in ihm einkehrte, er verspürte, die würde nicht von Dauer sein. Er hatte eine Mission. Christus würde ihn wieder rufen.

Markus Litzenrath

Der Wecker klingelte. Markus Litzenrath räkelte sich unwillig in seinem Bett. Er verspürte keine Lust, aufzustehen. Doch das Gerassel der Uhr nervte ihn. Blind fuhr seine Hand Richtung Beistelltisch und suchte den Abstellknopf. Und schon begann der Tag mit einem Unglück: Markus Litzenrath wischte den Wecker mit der Hand von der Platte, und der schlug mit Getöse auf den Dielen des Fußbodens auf. Die Glasscheibe zersprang. Wenigstens hatte er danach aufgehört, zu läuten. Der Schüler schob seinen Kopf über die Bettkante und sah hinab. Die Scheibe der Uhr war völlig zu Bruch gegangen. Jetzt musste er sich auch noch in Acht nehmen und beim Aufstehen nicht in Glassplitter treten.

Das gelang ihm zwar, aber verbesserte seine Laune nicht. Obwohl Osterferien waren, hatte er nicht ausschlafen können. Seinen Eltern, dem Pastor und dem Musiklehrer verdankte er, dass er in die Schule zur Chorprobe musste. Er hasste sie dafür. Besonders, weil seine Kameraden heute noch zum Campen nach Bad Münstereifel fuhren. Sie wollten über die Ostertage dableiben. Dort hatten sie einen Stammplatz für ihre Zelte, direkt an der Erft, an der auch fast nebenan das alte Fachwerkhaus mit der Disco lag. Dort war an solchen Tagen immer Party angesagt, kein Eintritt wurde erhoben, und die Getränkepreise waren ziemlich günstig. Am meisten ärgerte Markus Litzenrath, dass seine Freundin Helga Nacken mit den anderen fahren würde und nicht, wie er, zu Hause blieb. Immer wieder beunruhigte ihn ein hässlicher Gedanke: Neben der Burg von Münstereifel ging durch das alte Stadttor ein Sträßchen steil nach oben. Es mündete neben einer Villa in einen schmalen Pfad, der verwunschen zugewachsen war. Er war wie eine Höhle, und am Abend verschluckte die Dunkelheit alles. Hier hatte er Helga Nacken das erste Mal geküsst. Dieser Weg war für ihre Gruppe Teil des Programms geworden. Würde Helga dorthin auch ohne ihn gehen, und wenn ja, mit wem? Er fühlte, wie ihn Eifersucht ergriff. Er war in Helga Nacken ziemlich verschossen. Sie war hübsch mit ihren vielen Sommersprossen über der Stupsnase. Sie hatte ein sonniges Gemüt. Für die Fahrt hatte sie ihm fest versprochen, treu zu bleiben. Das wollte er ihr glauben, was konnte er schon machen? Doch er hätte, anstatt diesem Versprechen Glauben zu schenken, lieber die Tage für ein kuscheliges Zusammensein mit ihr im Zelt genutzt und für eine Nachtwanderung auf dem Kusspfad.

Markus sah auf seine Armbanduhr. Es war bereits kurz nach acht. Er hatte verpennt. Die Probe begann um 9:30 Uhr.

Da war keine Zeit mehr für ein gemütliches Frühstück. Duschen, anziehen und losgehen bedeutete das vielmehr.