Das Hortensien-Grab - Irene Dorfner - E-Book

Das Hortensien-Grab E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

Im oberbayerischen Tüßling gerät das idyllische Leben durcheinander, als bei Grabungen für einen Pool eine Leiche gefunden wird. Wer ist der Mann, der dort seit zwei Jahren liegt? Und was ist mit dem Nachbarn Hiermaier, der ein Geheimnis bewahren muss? Dann gibt es auch noch einen Bewohner in der Parallelstraße, der panisch die Flucht ergreift, als er versteht, um wen es sich bei dem Opfer handelt. Leo Schwartz und die Kollegen der Mühldorfer Polizei geraten mit ihren Ermittlungen mitten in einen lange geplanten BKA-Einsatz…

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Seitenzahl: 276

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Irene Dorfner

Das Hortensien-Grab

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Vorwort

Anmerkung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Liebe Leser!

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

Copyright © Irene Dorfner 2021

All rights reserved

www.irene-dorfner.com

Lektorat: Sabine Thomas, Stralsund

EarL und Marlies Heidmann, Spalt

FTD-Script, Altötting

Vorwort

Fall 38 – der vierte Fall während der Corona-Pandemie…

Vielen, vielen Dank an alle, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben:

Meine Lektoren Marlies und Klaus Heidmann, Sabine Thomas, Rita und Manfred Schönig, und natürlich die Jungs von FTD-Script.

Vielen Dank auch an meinen Sohn Thomas, der wie immer als Probeleser zur Verfügung stand.

Natürlich darf ich meinen Mann nicht vergessen, der mit Leo und seinen spannenden Geschichten mitfiebert und mich bei der Entstehung unterstützt und erträgt.

Vor allem aber danke ich meinen treuen Lesern! Ohne euch würde die Reise mit Leo & Co. nicht so viel Spaß machen – ihr seid die Besten!!

Ich wünsche spannende Unterhaltung mit diesem mitreißenden Fall!!

Grüße aus Altötting – und bleibt’s gsund!!

Irene Dorfner

Anmerkung

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig – bis auf Wolfgang Terpitz, Annette Godau, Sabine Thomas, Dagmar Steinke und die Familie Olschewski (Nadine, Tobias, Luca-Luis und Leo-Max). Schön, dass ihr dabei seid!

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Völlig aufgebracht beobachtete der vierund-siebzigjährige Josef Hiermaier den Einzug der Fremden ins Nachbarhaus, die dabei laut lachten und schwatzten. Also war das alte Gemäuer doch endlich verkauft worden! Wer von den vielen Menschen waren seine neuen Nachbarn? Er sah Kinder und ihm wurde schlecht. Zogen tatsächlich diese lästigen Bälger mit ein? Hiermaier hasste Kinder und wurde zum Glück davon verschont. Die waren laut, frech, machten alles dreckig und kaputt. Außerdem waren sie neugierig, und das konnte er nicht leiden. Darüber hinaus stellten sie Ansprüche, die er für unverschämt hielt. In seinen Augen waren Kinder die Pest, aber noch mehr verabscheute er deren unfähige Eltern, die mit der Erziehung heillos überfordert waren. Früher war alles anders, da herrschte noch Zucht und Ordnung! Hiermaier schnaubte. Noch stand nicht fest, wer ihm nebenan in Zukunft das Leben schwermachen würde. Erst im letzten Jahr zog im Thomas-Haus direkt gegenüber eine Frau mit einem Mädl ein. Auch damals hatte er sich große Sorgen gemacht, die nicht begründet waren. Beide Frauen waren ruhig und ordentlich, auch wenn sie ihm mit ihrer ständigen guten Laune und den Versuchen, mit ihm sprechen zu wollen, wahnsinnig auf die Nerven gingen. Trotzdem war das Zusammenleben angenehmer als gedacht.

Er beobachtete das Treiben nebenan jetzt auch mit dem Fernglas. Noch deutete bei dem, was lautstark ins Haus getragen wurde, nichts auf Kinder hin, aber das könnte sich jeden Moment ändern. Dann sah er einen bunten Stuhl, der nur einem Kind gehören konnte! Also doch! Warum blieb ihm das nicht erspart? Er sah sich die drei Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumliefen, genauer an. Wie alt waren die Gören? Er hatte keine Ahnung.

Hiermaier war wütend und er konnte das Gelächter nicht mehr hören, deshalb verschloss er alle Fenster. Er liebte seine Ruhe, die er ab jetzt nicht mehr haben würde. Seit Jahren stand das Haus leer, warum konnte es nicht so bleiben? Als die damalige Besitzerin verstarb, war nicht klar, wer erben würde. Sicher fiel es in den Schoß des Staates, der das unerwartete Erbe nicht schnell genug in bare Münze verwandeln konnte. Raffgierig und korrupt waren sie alle - die Politiker und deren Handlanger. Der Teufel soll sie holen!

Hiermaier ging in die Küche und rührte in dem Eintopf, den er schon hunderte Male gekocht hatte. Dann nahm er zwei Teller und füllte sie. Einen stellte er auf ein Tablett, zusammen mit einem Becher Wasser und einem Plastiklöffel. Vorsichtig ging er damit in den Keller. Er schloss die Eisentür auf und stellte das Tablett auf den Tisch. Auf dem Stuhl daneben saß eine Frau, die vor sich hinstarrte. Sie war sicher nicht so alt, wie sie aussah, vielleicht fünfundsechzig. Sie sah den Mann nicht an, reagierte noch nicht einmal auf seine Berührung, als er ihren Arm streichelte.

„Eintopf. Er ist warm und macht satt. Wenn es nach mir ginge, würde ich dir gern ein Schnitzel oder einen Braten servieren, aber dir darf man kein Messer und auch keine Gabel geben. Erinnerst du dich, als du mich damit verletzt hast?“

Die Frau nickte leicht. Ja, sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern. Wie viele Jahre war das her? Sie hatte längst aufgehört, die Tage, Wochen, Monate und Jahre zu zählen. Warum sollte sie auch? Der Bastard würde sie niemals mehr aus diesem Loch rauslassen, das hatte sie verstanden. Ja, sie war damals damit einverstanden gewesen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr so schwerfallen würde. Wie sollte sie? Vorher war sie noch nie eingesperrt gewesen. Das Kellerloch war jetzt ihr Schicksal. Sie musste ausharren und einfach nur darauf warten, bis sie starb – und deshalb hatte sie vor einer Woche einfach aufgehört zu essen. Sobald Josef weg war, goss sie das Essen in den Ausguss des kleinen Waschbeckens, das er ihr gnädiger Weise eingebaut hatte. Eine Toilette gab es nicht. Sie musste sich in einen Eimer erleichtern, den er täglich entsorgte.

„Iss, Liebes, du bist sehr dünn geworden“, sagte das Arschloch, als könnte er ihre Gedanken lesen. Wann ging er endlich? Anstatt zu verschwinden, blieb er einfach stehen. „Ich bleibe so lange, bis der Teller leer ist. Du bist sehr bockig, Hildchen. Trotz der vielen Jahre und vielen Gespräche bist du immer noch uneinsichtig. Das ist schade, denn damit verärgerst du mich. Willst du mich ärgern?“ Mit den Händen zog er eine imaginäre Spritze auf und sah seine Frau dabei an. Hilde Hiermaier schüttelte den Kopf. Josef hatte ihr das Medikament schon lange nicht mehr gespritzt und sie war nicht scharf darauf, denn dann verbrachte sie Tage im Delirium. Das allein wäre nicht schlimm, denn Zeit hatte sie genug. Aber sie vertrug das Medikament nicht und bekam davon rasende Kopfschmerzen, die ihr Angst machten. Auch wenn sie am liebsten sofort sterben würde, konnte sie auf diese Schmerzen gerne verzichten. Diesmal hatte der Drecksack gewonnen. Sie nahm den Plastiklöffel und aß den Eintopf, der wie immer nach nichts schmeckte.

„So ist es brav“, sagte Josef und trommelte mit den Fingern auf die verschränkten Arme.

Hilde wollte etwas übriglassen, aber ihr Mann, den sie 1986 geheiratet hatte, ließ das nicht zu. Sie würgte sich den letzten Löffel runter.

„Trink das Glas aus, los!“, drängelte Hiermaier und sah auf die Uhr. Gleich kam eine Dokumentation über Vögel, die er unbedingt sehen wollte. Vögel waren seine Leidenschaft.

Hilde trank - was blieb ihr anderes übrig?

„Warum sprichst du nicht mehr mit mir? Du weißt doch, dass ich dich hier zu deiner eigenen Sicherheit einsperren muss. Das macht mir keine Freude, das kannst du mir glauben. Ich würde auch sehr viel lieber ein normales Leben führen, aber das ist uns beiden leider nicht vergönnt.“ Er strich ihr übers weiße Haar und sie zuckte zusammen. Sie konnte seine Berührungen schon lange nicht mehr ertragen. Hiermaier spürte ihre Reaktion und ärgerte sich darüber. War es seine Schuld, dass er sie im Keller einsperren musste?

„Die ersten Knospen an der Hortensie sind sichtbar. Bald ist es so weit und wir können feiern.“

Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Seitdem sie hier eingesperrt war, gab es zwei Tage im Jahr, die gefeiert wurden und an denen sie nach oben gehen durfte. Dann gab es sogar Essen aus Porzellantellern und richtiges Besteck. Das war zum einen der Hochzeitstag, der ihr völlig gleichgültig war und auf den sie gerne verzichten konnte. Aber der andere Tag, der war ihr heilig. Das war im Juli, wenn die ersten Hortensienblüten im Garten erstrahlten. An diesem besonderen Tag durfte sie am Fenster stehen und den Hortensienstrauch bewundern, den Josef vor über dreißig Jahren gepflanzt hatte und der von Jahr zu Jahr größer wurde. Dann überkam sie die Sehnsucht nach Rosa, die sie nie mehr sehen würde.

Endlich war Josef weg. Sie steckte sich den Finger in den Hals und übergab sich im Waschbecken. Dann ließ sie Wasser nachlaufen, denn nichts durfte darauf hindeuten, dass sie sich ihm widersetzte. Erschöpft legte sie sich auf das Bett. Sie starrte zu dem kleinen Kellerfenster, das verschlossen war und nur morgens für die Zeit des Frühstücks geöffnet wurde, während Josef bei ihr blieb. Das Fenster war mit einem Schloss versehen, dessen Schlüssel ihr Mann ständig bei sich trug. Vor Jahren hatte sie versucht, die Scheibe mit dem Stuhl einzuschlagen. Das war ihr nicht gut bekommen, denn Josef war völlig ausgeflippt. Sie hatte eine ordentliche Dosis des Mittels gespritzt bekommen, die Kopfschmerzen waren kaum zu ertragen. Ihr Mann hatte nicht nur das Fenster repariert und dann auch noch vergittert, sondern den Holzstuhl durch einen billigen Plastikstuhl ausgetauscht. Das Bett befestigte er am Boden, der Lattenrost war fest verschraubt. Die wenigen Kleidungsstücke waren von Josef sorgfältig ausgewählt worden und lagen fein säuberlich zusammengelegt in zwei Plastikkörben, die keiner großen Belastung standhielten. Hilde hatte versucht, sich damit die Pulsadern aufzuschneiden, und war kläglich gescheitert. Die wenigen persönlichen Dinge wie Bürste, Shampoo und Seife waren Miniaturausgaben, die Josef regelmäßig ersetzte. Einen Fernseher gab es nicht, dafür brachte ihr Josef jeden Tag die Tageszeitung. Die war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt – und Josef, den sie inzwischen abgrundtief hasste. Warum hatte sie sich damals für ihn entschieden? Sie war hübsch und lebensfroh, sie hätte jeden Mann haben können. Josef hatte ihr den Himmel auf Erden versprochen und sie hatte ihm jedes einzelne Wort geglaubt. Über kleine Meckereien sah sie hinweg, aber die hätten ihr die Augen öffnen müssen. Als sie ihren Kinderwunsch äußerte, stieß sie auf Granit. Er machte ihr unmissverständlich klar, dass er keine Kinder haben wollte. Noch gab sie nicht auf und war sich sicher, dass sie ihn irgendwie umstimmen konnte. Wenn er erst einmal sein eigenes Kind in den Armen hielt, würde er seine Vorbehalte über Bord werfen. Sie wurde schwanger und verlor das Kind, noch bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte. Für sie war das eine Katastrophe, aber für Josef ein Segen. Sie gab ihm die Schuld. Es gab kaum einen Tag, an dem es keinen Streit gab. Dass es ihr gesundheitlich immer schlechter ging, hatte sie nicht gemerkt. Josef machte sich große Sorgen und hoffte, dass sie sich wieder erholte, aber das geschah nicht - die Krankheit zog sie immer weiter nach unten. Er erfüllte ihr jeden Wunsch. Sie gingen spazieren, ins Theater, es gab sogar kleine Ausflüge. Täglich umschmeichelte Josef seine Frau mit kleinen Aufmerksamkeiten, die sie ignorierte oder sich darüber aufregte. Nichts war ihr recht. Unter Menschen war sie charmant und fröhlich, aber sobald die Tür des kleinen Einfamilienhauses im beschaulichen oberbayerischen Tüßling im Landkreis Altötting schloss, entbrannte regelmäßig ein heftiger Streit. Irgendwann fingen sie an, aufeinander loszugehen. Dann geschah das Unglück, an das sie sich nicht mehr erinnern wollte und das sie völlig aus ihrem Gedächtnis strich. Seitdem saß sie in dem Kellerloch, das seitdem ihr Zuhause war – und das waren jetzt einunddreißig Jahre. In den ersten Monaten hoffte sie noch, dass Josef sie doch noch irgendwann freilassen würde. Aber der blieb hart. Sie unternahm mehrere Fluchtversuche, die aber alle misslangen. Vermisste sie denn niemand? Warum suchte keiner nach ihr? Was war mit ihrer Mutter und den Freunden? Josef antwortete nicht auf ihre Fragen. Sie war allein, ganz auf sich allein gestellt. Sie hatte ihren Mann angefleht, sie hatte gebettelt und ihm alles versprochen, aber er gab nicht nach: Sie war seine Gefangene!

Josef Hiermaier fand einfach keine Ruhe. Die Doku war spannend, aber das Gelächter der neuen Nachbarn nervte ohne Ende. Immer wieder ging er zum Fenster, um zu sehen, was nebenan ablief. Fassungslos musste er mit ansehen, als eine dieser dämlichen Hüpfburgen im Garten aufgebaut wurde.

„Der Alte von drüben spannt schon wieder!“ Dagmar Steinke stand schon lange am Fenster. Dass die neuen Nachbarn einzogen, freute sie zwar, aber das interessierte sie weniger. „Hiermaier ist echt ein Ekel.“ Dann lachte sie. „Der Kinderhasser wird seine Freude mit den Nachbarn haben.“

„Du bist echt schlimm, Dagmar!“, mahnte Sabine Thomas. Die Rektorin der Berufsschule Mühldorf konnte sich nach den vielen Monaten des Lockdowns endlich wieder auf einen Regelbetrieb vorbereiten, was sie echt freute. Dieses Nichtstun hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben. Sabine Thomas lebte seit fast einem Jahr in ihrem Elternhaus in Tüßling, das sehr lange leer stand. Eigentlich sollte das Haus verkauft werden, aber sie entschied sich dagegen, nachdem sie Dagmar bei sich aufgenommen hatte, denn schließlich brauchten sie eine Bleibe. Die beiden führten ein angenehmes Leben, das keiner missen wollte. Nur noch wenige Monate und Dagmar beendete ihre Ausbildung, wobei Sabine sie tatkräftig unterstützte. Dagmar war eine fröhliche junge Frau geworden, an der sich Sabine kaum sattsehen konnte. Die schrecklichen Umstände, unter denen sich die beiden gefunden hatten, waren längst verblasst.

Dagmar dachte nicht daran, ihren Beobachtungsposten aufzugeben.

„Hey super, ein Trampolin! Das bringt den Hiermaier auf die Palme! Mal sehen, wie lange es dauert, bis er die Kinder zurechtweist.“ Dagmar holte sich einen Stuhl, denn jetzt wurde es erst so richtig interessant! „Ich glaube, es sind drei Kinder. Jetzt haben sie einen Ball. Oh, oh, das geht nicht gut aus.“ Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. „Es ist passiert, der Ball ist in Hiermaiers Garten gelandet.“

„Geh doch vom Fenster weg! Du bist echt genauso schlimm wie der Alte!“ Sabine saß am Küchentisch und hatte den Laptop vor sich. Sie musste sich konzentrieren, aber Dagmar blieb unerbittlich. Sie hatte heute frei und somit alle Zeit der Welt. „Warum gehst du nicht in dein Zimmer und lässt mich hier in Ruhe arbeiten?“

„Das geht nicht, Sabine, von hier habe ich eine viel bessere Sicht.“

Sabine Thomas verdrehte die Augen. So sehr sie Dagmar auch liebte, so sehr ging sie ihr aber auch manchmal auf die Nerven. War das normal? Sie hatte nie eigene Kinder gehabt und wunderte sich oft über die Reaktionen von Eltern, wenn es Probleme mit den Kindern gab – jetzt konnte sie einiges besser verstehen! Dagmar war ab morgen für fünf Tage am Chiemsee, um dort ein Praktikum zu absolvieren. Ab morgen konnte sie endlich in Ruhe arbeiten. Während sich Sabine Thomas auf den morgigen Tag freute und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, kommentierte Dagmar das Geschehen auf den Nachbargrundstücken.

„Der alte Hiermaier rastet aus. Er hat den Ball an sich genommen und die Kinder angeschrien. Das musst du sehen, Sabine! Der kleine Kerl verspottet den Alten!“ Dagmar lachte laut, was Sabine zum Schmunzeln brachte. Es war schön, das einst verängstigte Mädchen so glücklich zu sehen.

Dagmar hatte sich am nächsten Tag verabschiedet, aber aus der Ruhe wurde nichts, denn die neuen Nachbarn hatten sich fest vorgenommen, das alte Haus zu renovieren. Ein riesiger Bagger fuhr auf das Grundstück, riss kurzerhand den Zaun ein und bahnte sich den Weg durch den Garten. Stundenlang wurde gearbeitet, was einen Höllenlärm in der sonst so ruhigen Rosenstraße verursachte. Sabine versuchte, irgendwo im Haus ein ruhiges Plätzchen zu finden, aber es war überall viel zu laut. Nicht nur der Lärm drang bis in alle Zimmer, sondern auch die Vibrationen, die der Bagger verursachte. Manchmal hatte sie sogar Sorge, dass Risse in ihrem alten Elternhaus entstehen könnten.

Diese Sorge teilte auch Josef Hiermaier. Mit offenem Mund beobachtete er das Treiben auf dem Nachbargrundstück. Was hatten die Leute vor? Wofür brauchten sie diesen riesigen Bagger? Noch hoffte er, dass diese Arbeiten, die er nicht verhindern konnte, bis zum Nachmittag erledigt wären. Aber das war nicht so, denn nach und nach rückten mehrere Arbeiter mitsamt großer Maschinen an. Dazu wurde Material geliefert, das Hiermaier nicht zuordnen konnte. Irgendwann verstand er: Die Nachbarn bauten einen Pool, der die Hälfte des Gartens einnahm. Als wären die Arbeiten nicht genug, tollten viele Kinder durchs Grundstück, wobei sie vor allem das Trampolin in Beschlag nahmen. Das Geschrei war für Hiermaier fast schlimmer als der Maschinenlärm. Irgendwann hatte er genug. Er ging an den Zaun und schrie: Ruhe, verdammt nochmal!

Die Kinder hatten den Nachbarn gesehen und gehört, aber sie lachten nur. Hiermaier wurde wütend. Was waren das nur für verzogene Bälger? Er zog die Tür hinter sich zu und ging schnurstracks zu den Nachbarn. Dort hielt er Ausschau nach der Frau, die jetzt offenbar hier wohnte. Ob einer dieser vielen Männer zu ihr gehörte, hatte er noch nicht herausgefunden.

„Geht das alles nicht etwas leiser? Vor allem die Kinder machen einen Lärm, der kaum auszuhalten ist!“, schnauzte Hiermaier die Frau an, die gerade im Gespräch mit einem Mann war, den Hiermaier nicht beachtete.

„Grüß Gott, so viel Zeit muss sein. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Hiermaier, ich wohne nebenan. Der Lärm ist…“

„Nadine Olschewski, das ist mein Mann Tobias.“

Hiermaier ignorierte die ihm gereichte Hand. Er war hier, um sich zu beschweren, und nicht, um Freundschaften zu schließen.

„Wenn Sie dafür sorgen würden, dass der Lärm reduziert wird, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Sie wohnen ja schließlich nicht allein hier. Ich möchte meine Ruhe haben. Da Sie sicher Wert auf eine angenehme Nachbarschaft legen, werden Sie meiner Bitte nachkommen.“

„Das tut mir leid, aber leiser geht das nicht“, sagte Nadine Olschewski. „Die Maschinen sind so laut, wie sie eben sind. Wir sehen zu, dass wir morgen mit dem Gröbsten fertig sind, dann wird es ruhiger werden. Allerdings muss ich Sie vorwarnen: Ganz werden wir den Lärm in nächster Zeit nicht einstellen können.“

„Aber die Kinder könnten ruhiger sein!“ Hiermaier schnaubte vor Wut, denn die Frau grinste dämlich und schien sich über ihn zu amüsieren. War sie nicht an einer angenehmen Nachbarschaft interessiert? „Sind das alles Ihre Kinder?“

„Nein. Mein Sohn hat Freunde eingeladen, was er vor den Nachbarn nicht rechtfertigen muss. Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Hiermaier. Ich finde nicht, dass die Kinder übermäßig laut sind. Sie lachen und toben, was völlig normal ist.“

„Nein, das ist nicht normal, die Kinder stören mich!“

„Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Ich habe nicht vor, meinen Kindern vorzuschreiben, wie und mit wem sie spielen dürfen.“

„Kinder? Sie sagten eben, dass nur ein Bub zu Ihnen gehört.“

„Wir haben noch einen siebzehnjährigen, aber der ist in der Schule.“

„Einen Halbwüchsigen haben Sie auch noch?“ Hiermaier stöhnte, das konnte ja lustig werden. Laute Musik, Partys und jede Menge Motorenlärm – mit der Ruhe war es dahin. Aber so leicht wollte er sich noch nicht geschlagen geben, er durfte diese vorlaute Frau nicht bei der ersten Auseinandersetzung gewinnen lassen.

„Sie sind die Mutter und müssen dafür sorgen, dass…“

„Jetzt hören Sie mir mal zu, Herr Hiermaier. Kinder machen nun mal Lärm und der ist in Deutschland zu vernünftigen Zeiten nicht verboten, auch in Tüßling nicht. Kinder toben und lachen, was in dem Alter völlig normal ist. Sie waren doch auch mal jung.“

Wieder dieses überhebliche Grinsen, das Hiermaier auf den Tod nicht ausstehen konnte.

„Jetzt sagen Sie doch auch mal was!“, wandte er sich an den Mann der ätzenden Frau.

„Ich kann meiner Exfrau nur beipflichten“, sagte er und legte demonstrativ seinen Arm um Nadine.

„Exfrau? Das hätte ich mir ja denken können. Geschieden mit zwei Kindern!“

„Unsere Familienverhältnisse gehen Sie überhaupt nichts an“, maulte Tobias.

„Wenn mein Haus durch diese brachialen Gerätschaften Schaden nimmt, werden Sie mich von einer anderen Seite kennenlernen! Ich muss sagen, dass ich mit Ihnen als direkter Nachbar nicht einverstanden bin.“

„Dito, Herr Hiermaier, dito!“

„Ich werde mich über Sie beschweren!“

„Das dürfen Sie gerne machen, viel Spaß dabei! Sollte an Ihrem Haus ein Schaden entstanden sein, melden Sie sich gerne schriftlich, auf einen weiteren Besuch Ihrerseits kann ich gerne verzichten“, sagte Nadine. „Und jetzt möchte ich Sie bitten, das Grundstück zu verlassen, schließlich hat Sie niemand eingeladen. Wenn ich es recht betrachte, ist das Hausfriedensbruch. Was meinst du, Tobias?“

„Ja, das sehe ich auch so. Gehen Sie, und zwar schnell. Wenn meine Frau sauer wird, kann ich für nichts garantieren!“ Tobias lachte.

Hiermaier kochte innerlich. Diese vorlaute, freche Nachbarin war die Pest, aber der Exmann war auch nicht besser. Wenn nicht so viele Menschen hier wären, würde er ganz anders mit den beiden umgehen. Aber sie waren nicht allein.

Dann gab es einen lauten Schrei, der direkt aus der Grube kam. Einer der Arbeiter war auf das Skelett einer Leiche gestoßen!

Hilde Hiermaier hatte kein Wort der Auseinandersetzung verstanden, auch wenn Wortfetzen nicht zu überhören waren. Josef hatte sich sicher beschwert, der Arsch konnte Lärm nicht leiden. Sie lächelte und freute sich darüber. Sie selbst war nicht unglücklich über die Motorengeräusche und das Kinderlachen, das bis zu ihr durchdrang. Endlich etwas, das sie ablenkte. Sie stieg auf den wackligen Stuhl und versuchte, etwas sehen zu können, aber das gelang ihr nicht, dafür hatte Josef gesorgt. Es musste bald Mittagessen geben und dann konnte sie ihren Mann fragen. Es war lange her, dass sie miteinander gesprochen hatten.

Dann gab es einen Schrei und alles war still. Was war da los?

2.

„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“ Leo Schwartz rannte seiner Verlobten Sabine Kofler hinterher. Sie war sauer und ließ sich nicht aufhalten. Wütend stieg die temperamentvolle Journalistin in ihren Wagen, schlug die Fahrertür zu und fuhr davon. Leo konnte ihr nur noch hinterhersehen, denn hinterher laufen war nicht drin, er hatte keine Schuhe an. Er fluchte.

„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“ Tante Gerda saß an diesem milden Frühsommermorgen mit dem Hofhund Felix auf der Bank vor dem umgebauten Bauernhaus. Leos Vermieterin und Ersatzmutter streichelte Felix und fütterte ihn mit kleingeschnittenen Leberwurstbrot-Stückchen.

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas gemacht habe?“

„Weil ich dich kenne. Setz dich. Ich bringe dir einen Kaffee und dann erzählst du mir alles ausführlich.“

Leo setzte sich, auch wenn er keine Lust auf ein Gespräch mit Tante Gerda hatte, die im vorliegenden Fall voreingenommen schien. Wie kam sie nur darauf, dass er Schuld an dem Streit hatte? Gedankenverloren aß er von dem Leberwurstbrot, was Felix mit leichtem Knurren quittierte. Tante Gerda kam mit Kaffee und einem Stück Kuchen zurück. Sie setzte sich Leo gegenüber, zog den Teller mit den letzten Leberwurstbrot-Stückchen zur Seite und fütterte Felix weiter.

„Hör auf, den Hund zu mästen!“, maulte Leo.

„Willst du jetzt auch noch Streit mit mir?“ Tante Gerda zog die Augenbraue nach oben, was kein gutes Zeichen war. „Was ist nun mit Sabine? Was hast du gemacht?“

„Natürlich nichts! Ich hatte ihr lediglich vorgeschlagen, zu mir zu ziehen, damit dieser Hickhack endlich ein Ende hat. Sie lebt in München und ich in Altötting, das ist doch kein Dauerzustand!“

„Wie soll das gehen? Sabine hat einen Job, den sie von München aus sehr viel effektiver ausüben kann.“

„Dasselbe hat sie auch gesagt, nur mit anderen Worten. Sie war weniger diplomatisch. Sie warf mir vor dickköpfig zu sein, was nun wirklich nicht zu mir passt. Dabei will ich doch nur…“

Tante Gerda musste lachen.

„Du bist der Dickkopf in Person, mein lieber Leo. Du musst doch verstehen…“

In dem Moment klingelte Leos Handy. Als kommissarischer Leiter der Mordkommission musste er sofort rangehen. Er mochte diesen Job nicht und hatte sich nur bereiterklärt, diesen zu übernehmen, da Hans sich strikt weigerte. Diana war zu jung dafür und Annette war nur ein Ersatz. Sie war aus Regensburg ausgeliehen worden, um das Team zu komplettieren. Insgeheim hoffte er, dass sie bleiben würde, denn er kam sehr gut mit ihr zurecht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte er sich rasch an sie gewöhnt – und das sollte auch so bleiben.

„Wir haben einen Toten“, sagte er nur und ging, was ihm nicht unangenehm war. Tante Gerda war auf Sabines Seite, da erübrigte sich jedes weitere Wort. Er befand sich im Recht. Was hatte er denn getan? Nichts!

Leo traf zuerst in Tüßling ein. Eine aufgebrachte Gruppe versammelte sich um ihn, als er sich auswies und es schnell die Runde machte, dass er Polizist war. Es war sehr laut und Leo verstand kein Wort.

„Jetzt beruhigen wir uns erst mal alle“, schrie er sehr laut. Da keiner eine Maske trug, zog er seine demonstrativ auf. Da der Chef etwas gegen seine lustige Affenmaske hatte, wählte er ein neutrales und damit langweiliges Exemplar, das er nur während der Arbeitszeit aufzog. Erst jetzt traten alle zurück und setzten ihre Masken auf – verdammtes Corona! Die Zahlen waren seit Wochen zwar gesunken, trotzdem bestand immer noch Maskenpflicht. „Wo ist die Leiche?“, wandte er sich an eine Frau, die völlig aufgelöst war.

„Dort drüben, kommen Sie mit!“ Nadine Olschewski war sehr aufgeregt. Alle anderen zwar auch, aber sie noch sehr viel mehr, denn schließlich ging es um ihr Grundstück. Sie hatte geerbt und das alte Haus günstig erwerben können. Sie hatte schon als kleines Mädchen von einem Eigenheim geträumt, das in ihren Vorstellungen allerdings mehr einem Palast glich. Das alte, renovierungsbedürftige Haus sah zwar ganz anders aus, aber es gehörte nur ihr – zumindest der Teil, der nicht der Bank gehörte. Und jetzt lag auf ihrem Grundstück eine Leiche! In ihren Gedanken malte sie sich die wildesten Geschichten aus, in denen es um Mord und Totschlag ging.

Josef Hiermaier stand starr am Zaun der Nachbarn. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.

Auch Sabine Thomas hatte sich dazugesellt und beobachtete, was hier ablief. Sie hatte Leo Schwartz sofort erkannt. Ob sie ihm zuwinken sollte? Nein, das war dann doch zu viel des Guten.

Leo sah in die Grube und erschrak. Das Skelett war tatsächlich das eines Menschen, ohne jeden Zweifel. Der Schädel schien zu grinsen, was er aber für sich behielt. Er drängte die Menschenmenge zurück und hoffte darauf, dass Fuchs mit den Kollegen der Spurensicherung endlich anrückte und diesmal ganz besonders weiträumig absperrte.

Die Kollegen fuhren vor und Friedrich Fuchs übernahm sofort das Kommando.

„Sparen Sie nicht mit Ihrer Absperrung, Fuchs, es kommen auch immer mehr Kinder dazu“, wies Leo den Kollegen an.

„Sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu machen habe!“ Fuchs hatte heute schlechte Laune. Es war Vollmond und dabei schlief er miserabel. Außerdem war er nicht wirklich ausgelastet, denn seit Wochen gab es keinen interessanten Fall mehr, was sich jetzt hoffentlich änderte. Noch war er skeptisch. Er nahm die Leiter und stieg in die Grube, nachdem er einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen hatte.

Der neunundfünfzigjährige Hans Hiebler war eingetroffen und stand neben Leo an der Baugrube, auch wenn Fuchs das nicht gerne sah. Er hasste es, wenn sich jemand zu nahe an den Tatort begab, wenn er ihn noch nicht freigegeben hatte.

„Erinnert dich das an etwas?“, fragte Hans, der heute wieder viel zu viel Parfum aufgelegt hatte. Außerdem sah er aus, als wäre er in Rimini an der Strandpromenade: Weiße Hose, hellblaues Leinenhemd, Lederslipper und eine moderne Sonnenbrille, die fast das ganze Gesicht bedeckte.

„An die Baugrube in Mühldorf“, nickte Leo.

Die beiden unterhielten sich über den damaligen Fall, in dem eine Leiche nach über dreißig Jahren gefunden wurde. Fuchs verstand jedes Wort und fühlte sich gestört.

„Können Sie sich nicht woanders unterhalten?“, maulte er.

„Das könnten wir, aber wir wollen nicht“, gab Leo zurück. „Was schätzen Sie? Wie lange liegt die Leiche schon dort? Ich tippe auf fünfzig Jahre, Hans meint länger.“

„Das ist ein Tatort und kein Wettbüro!“ Fuchs schüttelte den Kopf und bat einen Kollegen zu sich in die Grube. Während die beiden arbeiteten, hörten die Kollegen Schwartz und Hiebler nicht auf mit ihrem Geschwätz, was Fuchs mehr und mehr zur Weißglut brachte.

„Können Sie nicht endlich den Rand halten?“, herrschte er die beiden schließlich an.

„Nicht in dem Ton, Fuchs!“, maulte Leo zurück. Es war augenscheinlich, dass Fuchs schlechte Laune hatte, aber die hatte er auch.

Fuchs hielt sich zurück. Er kannte den Kollegen Schwartz schon lange und spürte, dass er es heute auf einen Streit ankommen ließ – und darauf wollte er sich nicht einlassen.

Unter den Schaulustigen, die nicht alle Anwohner der Rosenstraße waren, hatte sich auch ein Mann eingefunden, der nicht fassen konnte, was hier gerade geschah: Karl Braun. Sein Haus befand sich in der Parallelstraße, nur der Garten grenzte an die Rosenstraße – und er war nicht scharf auf das Großaufgebot an Polizei. Nicht mehr lange, und die Presse war vor Ort – das konnte er nicht brauchen! Karl Braun war nicht sein richtiger Name, den hatte er sich nicht selbst ausgesucht. Seinen Geburtsnamen hatte er abgelegt und hatte keinen Bezug mehr dazu. Er lebte seit knapp zwei Jahren unbehelligt in dem verschlafenen Tüßling, wo er auch arbeitete. Neben seiner Werkstatt im Keller des bescheidenen Eigenheimes schrieb er an einem Roman, der autobiographische Züge hatte. Ob das jemals auf den Markt kam? Er war skeptisch, denn die Öffentlichkeit war sehr gefährlich für ihn und sein Geheimnis. Auch deshalb ging er nie ohne Schal, Mütze und Sonnenbrille vor die Tür – bei jedem Wetter. Die Maskenpflicht kam ihm sehr entgegen, denn damit konnte er sich in der Öffentlichkeit gut verstecken. Er war noch nie kontaktfreudig gewesen und mochte kein Geschwafel mit langweiligen Menschen, weshalb er keine Probleme mit der Pandemie und deren Verbote und Einschränkungen hatte. Auf die Lockerungen, die seit Wochen galten, hätte er gerne verzichtet. In der Nachbarschaft musterte man ihn argwöhnisch, denn niemand wusste, was er eigentlich tat. Dass Braun sein Geld pünktlich jeden Monat überwiesen bekam und er dafür nicht viel tun musste, durfte niemand wissen. Es gab einige Telefonate, deren Inhalt er direkt nach München weitergab. Von dort bekam er Anweisungen und gab auch diese weiter. Jetzt stand er hier in der Rosenstraße und war neugierig. Noch hatte er nicht verstanden, worum es eigentlich ging. Er hätte fragen können, aber dann müsste er mit jemandem sprechen und das wollte er nicht. Die Anweisung war – keinen Kontakt zu Fremden, und daran hielt er sich. Also stand er einfach nur da und beobachtete. Gerüchte gingen durch die Reihen, die er nicht ernst nahm. Er kannte Menschen und konnte beobachten, wie die erwarteten Mechanismen um sich griffen. Mutmaßungen reihten sich an dumme Geschichten, bis sogar Namen genannt wurden. Eine alte Frau meinte sogar, den Täter des vermeintlichen Mordopfers zu kennen. Sie lebte schon immer in Tüßling und kannte die Vorbesitzer des Grundstückes, das erst in den Nachkriegsjahren zum Baugebiet wurde. Alle hingen an den Lippen der Alten, die das sichtlich genoss.

„Das war der Gröbner-Bauer, ein richtiger Lump. Der hatte es faustdick hinter den Ohren, das könnt ihr mir glauben“, erzählte die Frau, die alle nur Annemirl nannten. „Der Gröbner wusste, wie er zu Geld kommt. Der hat sogar noch aus Scheiße Gold gemacht!“ Gelächter machte sich breit. Da sich von Seiten der Polizei nichts rührte, waren die Anekdoten der Annemirl eine willkommene Abwechslung. Sie schmückte ihre Geschichten aus und kam dann zum Schluss. „Mit dem Gröbner hat es kein gutes Ende genommen. Frau und Kinder hatte er vertrieben, selbst seine Brüder sprachen kein Wort mehr mit ihm. Er hatte einen Schlaganfall und ist hilflos und einsam auf dem Küchenboden verreckt. Als man ihn fand, war seine Leiche schon verwest.“ Dass das nur Gerüchte waren, behielt die Annemirl natürlich für sich, schließlich konnte das heute niemand mehr überprüfen. Die Familie war längst ausgestorben und niemand scherte sich um ihre Geschichten.

„Und dieser Gröbner soll ein Mörder gewesen sein?“ Sabine Thomas hatte zugehört und verstand den Zusammenhang nicht.

„Sicher! Dem Mann war alles zuzutrauen!“

Sabine lächelte, sie glaubte der Alten kein Wort. Sie kannte die Annemirl und machte lieber einen Bogen um die gehässige Frau, die an niemandem ein gutes Haar ließ. Ja, sie war alt und hatte außer dem Pflegedienst niemanden, der sich um sie kümmerte – aber das rechtfertigte noch lange nicht ihre Boshaftigkeit. Auch Sabine war schon Thema bei der Frau, die sich sehr hässlich darüber ausließ, dass sie keinen Mann und keine eigenen Kinder hatte. Die Betitelung alte Jungfer zog seine Kreise - einige zeigten mit dem Finger und tratschten hinter vorgehaltener Hand über sie und Dagmar. Sabine machte das nichts aus, denn ihr Privatleben ging niemanden etwas an. Sie liebte ihr Leben und war mit sich im Reinen. Allerdings konnte Dagmar richtig sauer werden, wenn sie die alte Bissgurn1 Annemirl sah. Zu allem Überfluss erzählte sie nämlich überall herum, dass Sabine sich das Haus unter den Nagel gerissen hätte und der Bruder mit einem Butterbrot abgespeist wurde. Keiner wusste, wie das mit dem Haus wirklich ablief, denn Sabine hatte mit niemandem darüber gesprochen. Das ärgerte Dagmar, ließ Sabine aber völlig kalt. Sollte die Alte doch ihr Gift versprühen, das berührte sie nicht weiter. Die Frau war verbittert und konnte sich und ihr Leben nur ertragen, wenn sie über andere sprach und sie schlecht machte. Sabine hatte Mitleid mit der Annemirl, während Dagmar ihr liebend gerne den Hals umdrehen würde.

Leo und Hans kämpften sich durch die Massen der Schaulustigen, die sogar aus Teising und Altötting angereist waren – der Informationsfluss funktionierte. Als Leo die Personalien derjenigen aufnahm, musste er den Kopf schütteln. Hans lächelte nur. Er kannte die Neugier der Menschen, die durch die Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen noch viel größer geworden war.

„Ätzend“, sagte Leo zu Hans.

„Ich kann die Leute verstehen. Denen ist langweilig. Wer weiß, wie es uns ergehen würde, wenn wir tagtäglich zuhause eingesperrt wären.“