Der Heinrich-Plan - Irene Dorfner - E-Book

Der Heinrich-Plan E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

2. Auflage 2016 Leo Schwartz, Leiter der Mordkommission Ulm, stößt bei einer Wanderung über die Schwäbische Alb auf die Leiche eines jungen Mannes, die nur Badeshorts trägt. Wie kam die Leiche hierher? Bei den Ermittlungen steht Leo der Kölner Kollege Georg Obermaier zur Seite. Georg ist schwarz und stößt beinahe überall auf Ablehnung. Schnell wird beiden klar, dass es bei diesem Mordfall um sehr viel mehr geht. Die Regierung der Bundesrepublik ist in Gefahr...

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Seitenzahl: 632

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Irene Dorfner

Der Heinrich-Plan

Leo Schwartz ... und der Tote auf der Alb

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

VORWORT

ANMERKUNG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

Liebe Leser!

1.

2.

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

Copyright © 2014 Irene Dorfner

4. überarbeitete Auflage Copyright © 2021

Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

All rights reserved

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Lektorat: Felicitas Bernhart, Engelsberg,

EarL und Marlies Heidmann, Spalt

VORWORT

Es gibt kein „Besser“ oder „Schlechter“ sondern nur Unterschiede. Diese müssen respektiert werden, egal ob es sich um die Hautfarbe, die Lebensweise oder eine Idee handelt.

Kote Kotah (Cumash-Stamm, ein Indianerstamm aus der Hoka-Sprachfamilie)

Liebe Leser!!

Dies ist der erste Teil der spannenden Leo-Schwartz-Reihe, von der es noch viele weitere Fälle gibt. Ich wünsche ganz viel Spaß mit Leo & Co.!!

Liebe Grüße aus Altötting,

Irene Dorfner

ANMERKUNG

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Die Sonne brannte sehr heiß und Leo Schwartz, Leiter der Mordkommission Ulm, wischte sich den Schweiß von der Stirn. In den frühen Morgenstunden dieses Samstages war er aufgebrochen, um die geliebte Schwäbische Alb zu durchstreifen. Er brauchte die Ruhe in der Natur und die körperliche Anstrengung, um abschalten zu können.

Vor vier Jahren hatte er sich nach seiner Scheidung von Karlsruhe nach Ulm versetzen lassen. Er kannte die Schwäbische Alb von einem Urlaub vor vielen Jahren. Als er von der freien Stelle in Ulm hörte, griff er sofort zu. Auch, weil er so schnell wie möglich weit weg von seiner geschiedenen Frau wollte, die inzwischen wieder einen neuen Partner hatte und er diese Tatsache nicht ertragen konnte. Er befürchtete, dem glücklichen Paar zu begegnen, worauf er nicht scharf war. Und er hatte genug von den vielen mitleidigen und oft auch schadenfrohen Blicken von Freunden, Nachbarn und Kollegen.

Er hatte sich in der Zwischenzeit in Ulm sehr gut eingelebt. Er liebte seinen Job, seine Kollegen und die Natur. Eine neue Liebe hatte er hier noch nicht gefunden. Er war auch nicht scharf darauf, noch einmal so verletzt zu werden.

Das Wetter war dieses Jahr im September besonders schön und er freute sich schon die ganze Woche auf diesen Ausflug, denn jedes Mal nahm er sich eine andere Ecke der Schwäbischen Alb vor und entdeckte immer wieder etwas Neues.

Leo genoss nicht nur die Ruhe in der Natur, sondern vor allem den Umstand, dass er sehr wenigen Personen begegnete. Hier konnte er seinen Gedanken nachhängen und so richtig abschalten. Er mochte es, wenn sich der Schweiß überall breitmachte und seine Lunge und die Muskeln brannten. Angesichts der Hitze beschloss er, eine Pause einzulegen. Es war inzwischen Mittag geworden und er hatte bereits eine beachtliche Strecke hinter sich gebracht. Leo war völlig außer Atem und sein Hemd war komplett durchgeschwitzt. Auf einer Anhöhe, unter einem ausladenden Baum, fand er einen schönen, schattigen Platz. Nach einem großen Schluck Wasser musste er sich eingestehen, dass ihm vor wenigen Jahren die Hitze und ein ordentlicher Fußmarsch nicht so zu schaffen gemacht hatten. Gut in Form war er zwar, aber mit seinen 46 Jahren war er auch nicht mehr der Jüngste. Im Alltag trug er bei seiner stattlichen Körpergröße von 1,90 Meter immer Jeans, eine alte Lederjacke und Cowboystiefel. Mit Vorliebe trug er T-Shirts mit dem Aufdruck einer Rockband, die nicht viele in seiner Umgebung kannten. Banausen! Seine T-Shirts waren legendär und er bezahlte sehr hohe Summen für besonders ausgefallene Stücke. Mit seinem Kleidungsstil war er modisch in den 80er-Jahren hängen geblieben, was ihn aber nicht interessierte. Die dummen Bemerkungen hörte er schon lange nicht mehr, andere Meinungen hatten ihn noch nie interessiert. Er machte schon immer nur das, was er für richtig hielt und was ihm Spaß machte. Nur für seine Ausflüge hatte er sich in einem Second-Hand-Shop eine Wanderhose und karierte Hemden gekauft. Und dazu leistete er sich sündhaft teure Wanderschuhe und einen High-Tech-Rucksack.

Leo Schwartz genoss die wunderschöne Aussicht, nachdem er die heutige Marschroute in die Landkarte eingetragen hatte. Sein Puls beruhigte sich. Er war stolz auf sich und die heutige Leistung. Die Vögel pfiffen und er schloss die Augen, um den Gesang besser genießen zu können.

Plötzlich durchdrang ein markerschütternder Schrei die Stille. Leo wurde sofort hellhörig, es handelte sich eindeutig um einen menschlichen Schrei. Er war aufgestanden und lauschte angestrengt. Da! Wieder ein Schrei. Er versuchte zu lokalisieren, woher der Schrei kam. Von seinem Platz aus hatte er eine gute Aussicht, nahm sein Fernglas aus dem Rucksack und spähte die Gegend aus. Wieder ein Schrei und endlich konnte Leo die Stelle genauer ausmachen. Durch das Fernglas konnte er in dem unwegsamen Gelände eine Person mit Wanderausrüstung erkennen, die mit dem Rücken zu ihm stand. Das war eindeutig eine Frau, denn die Person hatte ein rosafarbenes T-Shirt und ein rosafarbenes Tuch um den Kopf gebunden. Der Rucksack auf ihrem Rücken war in der gleichen Farbe. Das musste eine Frau sein. Kein Mann, zumindest keiner, den er kannte, würde freiwillig so rumlaufen.

Es waren zu viele Sträucher und Gebüsch um die Person herum, um erkennen zu können, warum sie so schrie. War sie verletzt? Hatte sie sich erschreckt? Wovor? Vielleicht ein Tier? Egal, er musste ihr auf jeden Fall helfen. Er nahm seinen Rucksack und rannte los. Wenn er sich ranhielt, könnte er die Stelle in ungefähr fünfzehn Minuten erreichen. Leo kam schnell voran. Immer wieder hörte er die Person schreien. Völlig außer Atem und schweißnass erreichte er endlich den Platz.

Leo ging langsam auf die Person zu und erkannte eine junge Frau Anfang 30, die mit weit aufgerissenen Augen vor sich auf den Boden starrte. Sie war sichtlich geschockt, denn sie zitterte am ganzen Körper und schien die Hitze und auch ihn nicht wahrzunehmen. Er machte sich bemerkbar, rief ihr schon von weitem zu, um sie nicht zu erschrecken. Sie reagierte nicht und starrte nur auf einen Punkt vor sich auf den Boden. Als er die Frau endlich erreicht hatte, begriff Leo die Panik der Frau. Auf dem Boden lag die Leiche eines jungen Mannes, die nur mit Badeshorts bekleidet war. Mitten auf der Schwäbischen Alb! Bevor sich Leo um die Frau kümmerte, nahm er sein Handy aus der Tasche und rief seine Kollegin Anna Ravelli an.

„Hallo Anna, hier Leo. Ich bin auf der Schwäbischen Alb auf eine männliche Leiche gestoßen. Bitte informiere die anderen. Die Leiche liegt in unwegsamem Gelände und ich schlage vor, dass wir uns treffen und ich euch herführe.“ Leo dachte angestrengt nach, wo sie sich treffen konnten. Das war ein riesiges Gebiet und Anna kannte sich hier nicht aus. „Kannst du dich erinnern, wo wir letztes Jahr parkten, als wir mit Christine und Stefan hier waren?“ Inständig betete er, dass sie sich daran erinnerte, welchen Parkplatz er meinte.

„Mach dir keine Sorgen, den Parkplatz finde ich schon,“ sagte Anna.

„Gut. Wenn du doch Probleme hast, frag Stefan oder Christine, die beiden waren schon oft hier. Ich gehe jetzt los und wir treffen uns dort. Wir brauchen einen Krankenwagen. Eine junge Frau hat die Leiche gefunden und ist ziemlich geschockt. Ich werde versuchen, sie zu beruhigen. Vielleicht kann ich sie dazu überreden, mich zu begleiten. Bis gleich.“ Leo hatte aufgelegt und keine Antwort abgewartet. Anna wusste, was zu tun war.

Die junge Frau stand immer noch reglos da und starrte auf die Leiche.

„Mein Name ist Leo Schwartz,“ begann er mit ruhiger Stimme, „ich bin Polizist. Hier ist mein Ausweis.“ Er hielt ihr seinen Ausweis direkt vors Gesicht. Jetzt drehte sie leicht den Kopf und nickte kaum merklich.

„Wie ist ihr Name?“, fragte Leo ruhig weiter.

Die junge Frau musste sich konzentrieren. Sie war so geschockt, dass ihr auf Anhieb nicht einmal ihr Name einfiel. Leo wiederholte geduldig mehrmals seine Frage.

„Mandy,“ flüsterte sie endlich und Leo musste sich anstrengen, sie zu verstehen. „Mandy Singer.“ Ihr sächsischer Dialekt war deutlich zu hören.

„Hallo Mandy. Ich schlage vor, wir gehen in den Schatten. Sie setzen sich erst einmal und trinken einen Schluck Wasser.“

Mandy Singer folgte ihm langsam. Sie schüttelte den Kopf, als sie die Wasserflasche wahrnahm, die Leo ihr an dem schattigen Platz reichte. „Danke,“ sagte sie nur und entnahm ihrem Rucksack eine Dose Bier. Sie trank den Inhalt in einem Zug, wobei sie die Dose mit beiden Händen halten musste.

Leo war erleichtert. Sie reagierte und wenn er es schaffte, sie weiter abzulenken, hatte er gute Chancen, dass er sie mitnehmen konnte. Er wollte sie nur ungern hier lassen. Sie saßen auf einem Stein im Schatten und Mandy beruhigte sich langsam, denn ihr Atem war nun ruhiger und gleichmäßiger und ihr leichenblasses Gesicht bekam wieder Farbe. Leo hatte darauf geachtet, dass sie sich mit dem Rücken zur Leiche setzte.

„Geht es Ihnen besser?“ Leo beobachtete sie genau, da er einschätzen musste, ob sie einen Fußmarsch durchhalten würde. Körperlich war sie zumindest in sehr guter Form.

„Es geht wieder,“ sagte Mandy jetzt etwas gefasster. „Ich weiß, ich benehme mich wie ein Kleinkind, aber ich habe noch nie eine echte Leiche gesehen.“

„Nein, nein, reden Sie sich nichts ein, diese Reaktion ist völlig okay. Ich habe schon riesige Kerle gesehen, die bei einem solchen Anblick sofort aus den Latschen gekippt sind. Nein, Sie verhalten sich sehr tapfer, das können Sie mir glauben.“

Jetzt lächelte sie sogar ein wenig und Leo fiel ein Stein vom Herzen. Er war sich sicher, dass sie es schaffen würde, mit ihm zu kommen. Vor allem, nachdem sie eine weitere Dose Bier aus dem Rucksack fischte und auch diese fast in einem Zug leerte.

„Ich habe meine Kollegen angerufen, die ich auf einem Parkplatz treffe, um sie herzuführen“, sagte Leo. „Ich möchte gerne, dass Sie mit mir gehen. Wir haben eine anstrengende Strecke vor uns. Meinen Sie, Sie schaffen das?“

Mandy überlegte nicht lange.

„Keine Sorge, das schaffe ich schon. Ich gehe auf jeden Fall mit Ihnen, ich bleibe nicht hier bei dem da,“ sagte sie bestimmt, drehte sich um und zeigte auf die Leiche.

„Sehr schön Mandy. Möchten Sie sich noch ausruhen oder können wir los?“

„Je eher, desto besser.“ Mandy war bereits aufgestanden.

Die beiden gingen schweigend nebeneinander her. Leo dachte über die Leiche nach. Warum hatte der Mann inmitten der Schwäbischen Alb nur Badeshorts an? Er wusste genau, dass hier weit und breit keinerlei Gewässer waren. Weder ein See, noch ein Fluss oder dergleichen. Der Mann passte hier absolut nicht in die Gegend. Was sollte das? Seine Neugier war geweckt und er musste unbedingt herausfinden, was dahintersteckte. Vor allem wollte er sich die Leiche genauer ansehen, was aber mit Mandy an seiner Seite nicht ging. Er musste warten, bis er mit seinen Kollegen zurück war.

Leo bemühte sich, eine belanglose Unterhaltung mit Mandy zu führen. Sie sprachen übers Wetter, die Natur, über Kinofilme. Und Leo war sehr zufrieden, wie sich Mandy verhielt. Sie kamen zügig voran und nach einer guten halben Stunde hatten die beiden den Parkplatz erreicht, wo die Kollegen bereits warteten.

Die Kollegin Anna Ravelli sah sie zuerst und kam auf sie zu. Sie drückte beiden ein kaltes Getränk in die Hand, was Mandy und Leo gerne annahmen. Leo arbeitete seit fast zwei Jahren mit Anna zusammen und schätzte sie sehr. Mit ihren 28 Jahren machte sie ihren Job sehr gut und war bei den Kollegen sehr beliebt. Außerdem sah sie dazu auch noch blendend aus. Sie war 1,75 m groß und trug wegen der Hitze ihre langen, schwarzen, lockigen Haare hochgesteckt, was ihren Nacken mit dem kleinen Tattoo freilegte.

„Du ruhst dich aus, Leo. Wir beide gehen zum Krankenwagen,“ sagte Anna bestimmt und zog Mandy Singer mit sich. Sie sprach kurz mit ihr und dem Sanitäter und kam gleich darauf wieder zurück.

„Was ist das für eine wilde Geschichte, die mir Frau Singer eben erzählt hat? Der Tote trägt nur Badehosen? Hier auf der Schwäbischen Alb?“

„Ich habe auch gedacht, dass ich spinne. Ich bin gespannt, was das soll.“ Leo trank noch eine Flasche Wasser und wechselte das Hemd mit einem T-Shirt, das ihm ein Kollege reichte. Er war völlig durchgeschwitzt und inzwischen roch er bestimmt auch nicht mehr sehr gut. Aber für Eitelkeiten war jetzt keine Zeit.

„Ich war mir nicht sicher, ob das hier noch unser Zuständigkeitsbereich ist und habe mit unserem neuen Chef gesprochen,“ sagte Anna. Wie würde Leo reagieren? Sie hätte ihn vorher fragen müssen und hatte eigenmächtig gehandelt.

„Jetzt bin ich aber gespannt. Was hat er gesagt?“ Leo war nicht sauer und Anna entspannte sich.

Leo war sich bezüglich der Zuständigkeit auch nicht ganz sicher und hatte die Leiche und die damit verbundenen Ermittlungen einfach zu seinem Fall erklärt. Egal, was Anna nun sagte, die Leiche hier würde er sich nur ungern vor der Nase wegschnappen lassen. Er wollte unbedingt herausfinden, was es mit diesem Toten auf sich hatte, denn dass etwas hier nicht ganz koscher war, konnte er förmlich riechen. Seit einer Mordserie vor zwei Jahren war nicht viel passiert und er wollte diesen Fall hier unbedingt. Er konnte den neuen Vorgesetzten Michael Zeitler noch nicht einschätzen. Er hatte erst einige Male mit ihm gesprochen, wobei es nur um banale Dinge ging. Wie würde Zeitler reagieren, wenn es Probleme gab?

„Zeitler klärt die Sache noch ab, hat uns aber vorerst grünes Licht gegeben,“ antwortete Anna. Leo war beeindruckt und auch erleichtert, denn das Okay vom Chef vereinfachte die Sache enorm.

Leo hatte die Polizisten um sich versammelt. Die Pathologin Christine Künstle, Leos beste Freundin, war nun ebenfalls vor Ort. Sie hatte sich verspätet und war als Letzte eingetroffen, was sie sehr ärgerte. Sie fluchte und schimpfte, seit sie aus ihrem Wagen ausgestiegen war. Die Kollegen hielten sich zurück, denn wenn Christine sauer war, war sie unberechenbar. Alle hatten Angst vor ihr, außer Leo, der ihre weiche Seite kannte.

Leo erklärte auf seiner Wanderkarte den Weg zur Leiche und wählte nur die fittesten und kräftigsten Kollegen aus. Dann sah Leo die stämmige, nur 1,60 Meter große, 61-jährige Christine Künstle an, zog sie zur Seite und schüttelte den Kopf.

„Du bleibst hier, Christine, das wird zu anstrengend für dich. Selbst für einen trainierten Menschen ist die Strecke sehr schwierig. Außerdem ist es heute wahnsinnig heiß. Bitte bleib hier. Einer deiner Kollegen kann uns begleiten und den Job übernehmen.“

Christine wurde rot vor Wut.

„Was erlaubst du dir eigentlich? Meinst du, nur weil ich ein paar Jahre älter und ein paar Kilo schwerer bin, schaffe ich das nicht? Ich bin nicht zu alt für einen lächerlichen Spaziergang. Lass uns endlich gehen.“

Leo hatte seinen guten Ratschlag schon bereut. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass Christine sehr empfindlich reagieren würde. Sie setzte sich mit ihrem Koffer in Bewegung und war sichtlich beleidigt. Er rannte ihr hinterher.

„Also gut, wie du willst. Du bist ein selten stures Weib! Dann gib mir wenigstens deinen Koffer.“

Christine hielt kurz inne. Sie war zwar stolz, aber nicht dumm. Sie wusste, dass er es nur gut mit ihr meinte und dass sie einen anstrengenden Weg vor sich hatten. Sie hatte mitbekommen, dass es mit dieser Leiche etwas Besonderes auf sich hatte. Die Leiche wollte sie sich unter keinen Umständen entgehen lassen. Sie übergab Leo den Koffer und trabte mit hocherhobenem Kopf davon.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Sie bestand aus Leo, Anna, Christine und vier weiteren Polizisten sowie Stefan Feldmann, Leiter der Spurensicherung und drei seiner Mitarbeiter. Nach 45 Minuten hatten sie endlich den Fundort der Leiche erreicht. Allen war die Anstrengung anzusehen, besonders Christine, die aber nicht ein einziges Mal jammerte. Sie biss die Zähne zusammen und sah zu, dass sie mit den anderen Schritt halten konnte. Christine und ihr Dickschädel! Sie hatten für die Strecke nur 15 Minuten länger gebraucht. Leo war sehr zufrieden, denn ihnen saß die Zeit im Nacken. Sie hatten nur noch wenige Stunden, bis es dunkel wurde.

Alle starrten auf die Leiche und sahen sich irritiert an.

„Ja Leute, meine Reaktion war ähnlich, als ich die Leiche sah. Der Junge hat lediglich Shorts an, und zwar Badeshorts. Schuhe habe ich nicht gesehen, auch einen Rucksack, eine Tasche oder etwas Ähnliches nicht. Suchen wir das Areal ab, vielleicht finden wir etwas.“

Nachdem sie sich einige Minuten ausgeruht hatten, konnte die Suche losgehen. Christine untersuchte mit hochrotem Kopf die Leiche. Leo setzte sich nach zwanzig Minuten neben sie auf seinen Rucksack und sah sie fragend an.

„Männliche Leiche, ca. 22 Jahre alt,“ sagte sie schließlich. Und nach einer kurzen Pause schüttelte sie den Kopf. „Das gefällt mir nicht, Leo. Der Junge ist bestimmt schon länger tot. Wie lange, kann ich dir nicht sagen. Er hat keine äußeren Verletzungen und er liegt bestimmt noch nicht lange hier. Nein, das gefällt mir überhaupt nicht.“

Leo verstand seine Freundin, denn auf der Leiche war kein Blatt, kein Gras, einfach nichts zu finden.

„Ich verstehe nicht, wie er hierhergekommen ist,“ fuhr Christine fort. „Sieh dir seine Fußsohlen an, er ist hier keinen Schritt gegangen. Zwischen seinen Zehen ist Sand. Wo kommt der her?“

Leo stand auf und sah sich die Fußsohlen des Toten an. Christine hatte Recht. Die Füße waren gepflegt und hatten nicht einen Kratzer. Und zwischen den Zehen konnte er mit bloßem Auge den Sand erkennen. Er winkte seine Kollegin Anna zu sich, die sich an der Spurensuche beteiligt hatte.

Anna Ravelli schwitzte stark. Sie hatte Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt angezogen, das inzwischen an ihrem Körper klebte. Sie machte eine gute Figur und ein paar Kollegen sahen sie verstohlen an. Aber keiner von ihnen würde sich mehr getrauen, denn sie war mit Stefan Feldmann zusammen, und vor dem Leiter der Spurensicherung hatten sie jede Menge Respekt.

„Habt ihr irgendwelche Kleidungsstücke gefunden?“

„Nein, absolut nichts. Wir werden die Suche ausdehnen. Hier etwas zu finden ist nicht so einfach. Sehr viel Gestrüpp und jede Menge Gebüsch. Wie sieht es bei euch aus?“

„Nicht gut, Anna,“ sagte Leo und starrte auf die Leiche. „Christine meint, er ist schon eine Weile tot und liegt noch nicht lange hier. Äußerlich hat er keine Verletzungen, auch an den Fußsohlen hat er keinen einzigen Kratzer. Zwischen seinen Zehen ist Sand. Wo kommt der her? Ich weiß ganz sicher, dass es hier weit und breit weder ein Gewässer, noch Sand gibt. Die Leiche muss hergebracht worden sein. Aber wie? Auch wir mussten zu Fuß gehen. Stell dir mal vor, welche Anstrengung das ist, eine Leiche bis hierher zu tragen.“

Anna sah sich die Fußsohlen des Toten an und zog die Schultern nach oben. Auch ihr kam das merkwürdig vor, aber jetzt war die Suche nach Beweisstücken wichtiger. Sie ging wieder zu den anderen. Sie hoffte darauf, etwas zu finden, was die ganze Sache erklären würde. Sie mussten sich beeilen, bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb nicht mehr viel Zeit.

„Wir bringen den Jungen in die Pathologie, dort werde ich ihn mir genauer vornehmen. Hier vor Ort kann ich nicht mehr tun,“ sagte Christine bestimmt und stand auf. Sie winkte einigen Kollegen zu und sprach mit ihnen.

„Wenn du mich nicht mehr brauchst, mache ich mich mit meinem Kunden auf den Weg,“ sagte Christine und Leo nickte zustimmend. Er war froh, dass seine Freundin aus der Sonne kam, denn die kurzen, braunen Haare klebten an ihrem Kopf, der immer noch krebsrot war. Das hier war für sie viel zu anstrengend.

„Du setzt dich erst noch ein paar Minuten in den Schatten, trinkst eine Flasche Wasser und ruhst dich aus. – Keine Widerrede!“, fügte er sofort hinzu, da Christine bereits Luft holte, um etwas zu erwidern. Zu seinem Erstaunen ging sie ohne ein weiteres Wort tatsächlich in den Schatten und setzte sich.

„Braves Mädchen,“ sagte Leo. „Du gehst erst, wenn du dich mindestens 20 Minuten ausgeruht hast. Deine Leiche läuft dir nicht davon. Es ist keinem von uns geholfen, wenn du vor übertriebenem Ehrgeiz aus den Latschen kippst. Wenn wir hier fertig sind, schau ich bei dir in der Pathologie vorbei. Hast du mir zugehört und mich auch verstanden?“

„Ja, schon gut,“ keuchte Christine. Sie konnte tatsächlich eine Pause gut gebrauchen. Längst hatte sie es bereut, darauf bestanden zu haben, mitzugehen. Sie hätte auf Leo hören sollen, denn das war für sie die reinste Tortur und sie hatte noch den ganzen Rückweg vor sich. Ihr grauste davor. Andererseits war sie aber auch froh, mitgegangen zu sein, denn der Fall war überaus interessant. Sie konnte es kaum erwarten, die Leiche genauer zu untersuchen.

Die Polizisten suchten noch einige Stunden, jedoch ohne Ergebnis. Sie hatten absolut nichts gefunden. Sie gingen zurück zum Parkplatz, um nicht doch noch in die Dunkelheit zu geraten, was auf der Schwäbischen Alb ein Desaster wäre. Es gab jedes Jahr immer wieder Menschen, die die Natur und ihre eigenen Kräfte maßlos unterschätzten und gerettet werden mussten.

Am Parkplatz angekommen, fuhren sie sofort los. Leo brauchte sich nicht vorher mit seinen Kollegen absprechen, wann und wo sie sich treffen würden. Es war klar, dass jeder ins Präsidium fuhr und seine Arbeit machte, auch wenn es Samstagabend war.

Anna und Leo gingen in ihr gemeinsames Büro, das sie sich seit dem Weggang eines Kollegen teilten. Man konnte genau erkennen, welcher Schreibtisch zu wem gehörte. Annas Schreibtisch war ordentlich und hatte diesen typisch weiblichen Touch: Hier eine Pflanze in einem farbigen Übertopf, dort eine kleine rosafarbene Figur, die wohl einen Elefanten darstellen sollte. Ein weißes Schreibset lag ordentlich an der oberen Kante der sauberen Schreibtischunterlage, eine gespülte Kaffeetasse stand neben dem Telefon.

Leos Schreibtisch dagegen war übersät mit Papieren und Ordnern. Kreuz und quer lagen Kugelschreiber mit verschiedenen Werbeaufdrucken, von denen er selbst nicht wusste, woher er sie hatte. Die Schnur seines Telefons war ein einziger Klumpen und der fleckige Kaffeebecher klebte auf dem Tisch. Beim besten Willen hätte hier kein Deko-Artikel seinen Platz gefunden. Anna hatte ihm zu ihrem Einzug ins Büro die gleiche Topfpflanze geschenkt, wie die ihre, aber sie war ihm ein paar Mal runtergefallen. Er hatte auch vergessen, sie zu gießen. Wenn er ehrlich war, gefiel ihm so ein Schnickschnack auch nicht. Er war froh, als er sie wieder vom Hals hatte und sein Schreibtisch für seine Begriffe wieder übersichtlich war.

„Bei den Vermisstenmeldungen ist niemand dabei, auf den die Beschreibung des Toten passt. Ich gebe sofort ein Foto des Toten an die Medien raus. Eine Beschreibung habe ich auch verfasst. Sieh mal, ob die so okay ist oder ob dir noch etwas einfällt,“ sagte Anna und reichte ihm ein Blatt Papier. Leo sah sich das Foto und die Beschreibung genau an und nickte zustimmend.

„Männlich, weiß, ca. 22 Jahre alt, 1,85 Meter groß, sportliche Figur, dunkelblonde, kurze Haare, braune Augen, keine besonderen Merkmale. Ja, das ist gut so, gib es weiter. Vielleicht hat der Junge hier Urlaub gemacht, wir sind hier schließlich in einem beliebten Urlaubsgebiet. Gib bitte die Suchmeldung auch an alle Polizeidienststellen raus, und zwar überregional. Und natürlich an alle Zeitungen, Radio- und Fernsehsender.“ Leo war immer sehr betroffen, wenn er es mit einem jungen Opfer zu tun hatte.

Anna machte sich umgehend an die Arbeit. Sie scannte die Suchmeldung in ihren Computer und schickte sie an alle Dienststellen der Polizei, sowie an die Medien. Mit dem neuen Computerprogramm war das ein Kinderspiel. Leo hatte sich mit dem Programm noch nicht befasst, er stand mit Computern im Allgemeinen auf Kriegsfuß. Er war froh, wenn er damit nichts zu tun hatte. Zum Glück hatte er Anna, die in solchen Dingen perfekt war.

Das Telefon klingelte. Es war Michael Zeitler, der neue Leiter der Polizei Ulm.

„Ich möchte Sie darüber informieren, dass der Todesfall auf der Schwäbischen Alb in unserem Zuständigkeitsbereich liegt. Der Fall gehört Ihnen,“ brummte Zeitler.

„Vielen Dank,“ sagte Leo knapp.

„Wissen wir schon etwas?“

„Wir stehen noch ganz am Anfang. Bei dem Opfer handelt es sich um einen jungen Mann Anfang 20. Die Todesursache steht noch nicht fest. Bezüglich der Identität des Toten gibt es keinen Hinweis, eine überregionale Suchmeldung ist raus.“

Zeitler legte ohne ein weiteres Wort auf. Ganz schön unfreundlich, der neue Chef!

Anna sah ihn fragend an.

„Das war Zeitler, der Fall gehört uns.“

Leo sah auf die Uhr, es war inzwischen 23.30 Uhr. Zeitler arbeitete um diese Uhrzeit? Und das an einem Samstag? Er war überrascht und auch beeindruckt. Trotzdem hätte Zeitler etwas freundlicher sein können!

„Ich gehe zu Christine, vielleicht hat sie in der Zwischenzeit etwas Brauchbares für uns. Du gehst nach Hause und ruhst dich aus. Es reicht, wenn sich einer von uns die Nacht um die Ohren schlägt. Wir treffen uns morgen um 8.00 Uhr.“

Leo ging in die Pathologie, die sich im Keller des Polizeigebäudes befand. Für ihn war klar, dass Christine um diese Uhrzeit noch bei der Arbeit war. Er hatte heute auf der Schwäbischen Alb deutlich das Funkeln in ihren Augen gesehen. Bei so einem Fall dachte sie gar nicht daran, nach Hause zu gehen.

„Treibt dich die Neugier, Leo?“, fragte Christine, ohne von der Leiche aufzublicken. Sie schien bei sehr guter Laune zu sein, was Leo nach dem heutigen Nachmittag überraschte. Sie müsste von der Anstrengung ziemlich kaputt sein.

„Natürlich treibt mich die Neugier. Hast du irgendetwas für mich?“

„Das ist ein sehr interessanter Fall,“ strahlte Christine ihn an. Man konnte spüren, dass sie sichtlich Spaß an ihrer Arbeit und an diesem speziellen Fall hatte. Von Müdigkeit oder Erschöpfung war überhaupt keine Spur.

„Spann mich nicht auf die Folter,“ sagte Leo ungeduldig. Erst jetzt bemerkte er, dass Christine im Gesicht und auf den Unterarmen einen satten Sonnenbrand hatte. Der Kopf war knallrot und glühte geradezu.

„Du wirst es nicht glauben: Unser junger Freund ist ertrunken. Ich habe Wasser in der Lunge gefunden, und zwar Salzwasser.“

Leo war baff. Hatte er eben richtig verstanden?

„Ertrunken? In Salzwasser? Das kann nicht sein! Auf der ganzen Alb gibt es kein Salzwasser! Du musst dich irren!“

„Willst du mich schon wieder beleidigen? Nein, ich irre mich natürlich nicht, er ist definitiv in Salzwasser ertrunken. Und halt mich nicht für dumm: Ich weiß sehr wohl, dass es bei uns kein Salzwasser gibt. Den Sand, den ich zwischen seinen Zehen und unter den Zehennägeln gefunden habe, ist bei der Analyse. Morgen müsste das Ergebnis vorliegen. Aber das ist noch nicht alles, was ich herausgefunden habe. Aufgrund der Körpertemperatur und des Grads der Verwesung und des Mageninhalts …“ Christine zeigte von der Leiche auf einen Behälter, in dem sich augenscheinlich der Mageninhalt des Toten befand.

„Christine, ich bitte dich! Verschone mich mit deinen makabren Details,“ flehte Leo.

„Du bringst mich um meinen ganzen Spaß. Aber gut, wenn du es so willst, kommt jetzt die Kurzfassung. Es hat sich bestätigt, dass der junge Mann schon länger tot ist. Wie lange, muss ich erst noch abklären. Morgen kommen zwei Kollegen aus Berlin, die sich meinen Kunden ansehen wollen.“

„Was soll das heißen? Seit wann brauchst du den Rat von Kollegen?“

„Ganz einfach, Schätzchen. Ich habe eine Vermutung, die ich aber erst noch abklären muss. Hierzu brauche ich die Meinung meiner Kollegen, um mich in meiner Annahme abzusichern. Die Kollegen habe ich im Internet aufgespürt. Sie hatten mit einem ähnlichen Fall bereits zu tun. Ich habe zwar einschlägige Fachliteratur, aber die Angaben darin sind mir zu schwammig.“ Christine strahlte über das ganze Gesicht und freute sich sehr, dass sie Leo auf die Folter spannen konnte.

„Jetzt mach es doch nicht so spannend,“ sagte Leo ungeduldig. „Was vermutest du?“

„Also gut. Das sage ich jetzt aber nur, wenn du mir versprichst, mich dann in Ruhe zu lassen.“

„Versprochen.“

„Ich denke, dass unser Freund eingefroren wurde. Zu dem Zeitpunkt war er ganz sicher noch nicht lange tot. Er wurde vor kurzem erst am Fundort abgelegt und ist dort aufgetaut. Und wenn du mich fragst, wurde er mit Absicht weit ab mitten in die Prärie gebracht, damit die Leiche dort schnell und ungestört verwesen kann.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: “Oder derjenige, der ihn hergebracht hatte, war Tierfreund und wollte den Wildtieren, den Vögeln und den Kleintieren etwas Futter zukommen lassen.“

„Christine! Du bist unmöglich, du sprichst von einem Toten!“

„Das weiß ich, aber ich habe doch Recht. Wenn du einen Toten in die Natur legst und das auch noch um diese Jahreszeit, dann geht das mit der Verwesung sehr schnell. Viele Tiere sind Aasfresser und ganz wild auf eine Leiche, glaub mir. In ein paar Wochen wäre von dem Jungen nicht mehr viel übrig geblieben. Wir hatten Glück, dass er so schnell gefunden wurde. Wer weiß, was die Wildtiere von ihm weggeschleppt hätten, komplett wäre er mit Sicherheit nicht mehr gewesen.“

Leo wusste, dass Christine Recht hatte. Er reichte ihr das Fahndungsbild mit der Beschreibung.

„Weil wir in unserer Region keine vermisste Person haben, die auf den Mann zutrifft, haben wir diese Beschreibung heute rausgegeben. Sieh sie dir an, ob sie komplett ist.“

Christine las ausführlich und nickte dabei.

„Ca. 22 Jahre alt, weiß, 1,85 Meter groß, dunkelblondes, kurzes Haar, sportliche Figur, braune Augen, keine besonderen Merkmale. Ja, stimmt genau, mehr habe ich auch nicht feststellen können. Der Junge hat keinTattoo, keine Narbe und auch kein auffälliges Muttermal. Und seine Zähne sind in tadellosem Zustand. Wenn ihr mit der Suchmeldung keinen Erfolg habt, könnten wir ihn vielleicht anhand der Zähne identifizieren. Dazu bin ich noch nicht gekommen, das dauert noch. Aber morgen hast du die entsprechenden Unterlagen auf dem Tisch.“ Christine reichte ihm das Blatt zurück und machte sich wieder an die Arbeit.

„Eins muss ich noch wissen: Ist der Junge ermordet worden?“

„Wenn du mich fragst: Ja. Sieh dir die Flecken hier an.“ Sie zeigte auf einige dunkle Flecken an Hals, Gesicht und Oberkörper. „Die Spuren weisen darauf hin, dass er unter Wasser gedrückt wurde. Aber auch hier sind meine Untersuchungen noch nicht vollständig abgeschlossen. Und jetzt denk an dein Versprechen und mach, dass du wegkommst. Vor allem sieh zu, dass du endlich unter die Dusche kommst, du stinkst erbärmlich.“

„Ist schon gut, ich geh ja schon,“ sagte er amüsiert. Wegen ihrer offenen, ehrlichen Art liebte er Christine besonders, sie nahm kein Blatt vor den Mund. Er würde am liebsten hier bleiben und auf neue Ergebnisse warten, aber er war auch froh, hier wegzukommen. Er mochte zwar seine Freundin Christine sehr gerne, aber er hasste die Pathologie. Noch immer drehte es ihm den Magen um, wenn er eine Leiche auf dem Seziertisch sah oder diesen widerlichen Geruch wahrnahm. Aber er konnte auch Menschen wie Christine verstehen, die diesen Job mit Leib und Seele ausübten und kein Problem damit hatten.

Leo musste lächeln, als er sich vor der Tür zu Christine umdrehte. Sie hatte sich schon wieder an die Arbeit gemacht und war völlig in ihrem Element. Sie kannte jetzt keine Müdigkeit und wollte unbedingt an diesem für sie hochinteressanten Fall weiterarbeiten. Von nichts und niemandem würde sie sich davon abhalten lassen.

Zuhause angekommen, stellte Leo seinen Rucksack wieder an den für ihn angestammten Platz im Flur, nachdem er frische Getränke nachgefüllt hatte. Er duschte ausgiebig, er roch nach diesem anstrengenden Tag wirklich nicht mehr gut. Seine Wanderkleidung steckte er in die Waschmaschine und nahm sich vor, morgen früh gleich das Programm zu starten, was er aus Rücksicht auf seine Nachbarn heute Nacht nicht mehr tun wollte, es war schließlich 3.00 Uhr. Leos Magen knurrte. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Zum Frühstück! Wegen der ganzen Arbeit hatte er schon wieder das Essen vergessen. Er öffnete den Gefrierschrank mit seinen Fertiggerichten und wählte einen Hackbraten mit Karottengemüse und Nudeln. Eigentlich war es egal, welches Menü er wählte, es schmeckte sowieso alles gleich. Er aß mit großem Appetit und nahm sich aus der Obstschale noch einen Apfel. Das hatte er sich angewöhnt, um wenigstens etwas Frisches am Tag zu essen und um damit sein Gewissen zu beruhigen. Dass diese Fertiggerichte in dieser Menge, wie er sie zu sich nahm, nicht gesund waren, wusste er. Aber er hasste kochen und für eine Person war ihm der Aufwand einfach zu groß, vor allem das Abspülen danach. Ein ganzer Industriezweig lebte von einem faulen Single, wie er einer war: Folie abreißen, ab in die Mikrowelle und fertig! Es ist so einfach. Einkaufen war ihm lästig. Einmal im Monat ging er immer in den gleichen Supermarkt und kaufte gleich einen Wagen voll unterschiedlicher Fertiggerichte, einen großen Sack Äpfel, einige Steigen Dosenbier und Wasserflaschen, eine Flasche Whiskey und außerdem seine geliebte Marzipan-Schokolade, wovon er ebenfalls gleich einen ganzen Karton kaufte. Mit zwei vollen Einkaufswagen war sein Monatsbedarf abgedeckt. Die Kassiererinnen wunderten sich nicht mehr, sie kannten ihn zwischenzeitlich.

2.

Nach einer kurzen Nacht trafen sich Leo und Anna am nächsten Morgen um 8.00 Uhr im Büro. Leo informierte seine Kollegin über die Neuigkeiten aus der Pathologie.

„Das gibt es doch nicht! Wer macht sich denn solche Mühe? Stell dir das mal vor. Man bringt jemanden um, friert ihn ein und trägt ihn dann mitten in die Natur. Das ist doch verrückt. Warum dieser Aufwand? Wo wurde die Leiche inzwischen gelagert? Schon allein die Vorstellung, dass irgendein Idiot über einen längeren Zeitraum eine Leiche in seiner Gefriertruhe lagert, ist doch krank! Nicht zu vergessen das viel zu große Risiko, dass jemand darüber stolpert. Ich verstehe das nicht. Warum das alles?“ Anna hatte zuvor noch nie etwas davon gehört.

„Ich habe keine Ahnung. Warten wir ab, was die Suche nach dem Mann ergibt. Wenn wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, kommen wir vielleicht dahinter, was das Ganze soll. Auf jeden Fall wird der Fundort der Leiche auf der Schwäbischen Alb abgesperrt und nochmals gründlich durchsucht. Da muss doch etwas zu finden sein. Ich habe bereits mit Stefan gesprochen. Er müsste eigentlich schon dort sein.“

Nach ein paar Stunden ging die Tür auf und eine junge Kollegin wedelte mit einem Stück Papier und legte es Leo auf den Schreibtisch. „Das Fax ist eben reingekommen,“ rief sie. Und bevor die beiden etwas erwidern konnten, war sie auch schon wieder aus der Tür.

Leo las das Papier und Anna sah ihn erwartungsvoll an.

„Der Name des Toten ist Maximilian von Kellberg, 24 Jahre, Student aus Passau. Das Foto ist eindeutig. Die dortigen Behörden haben eine Vermisstenmeldung für von Kellberg vorliegen, und zwar wird er seit dem 14. Juni vermisst.“

Ungläubig sahen sie sich an.

„Wir haben heute den 20. September, er wird schon seit Juni vermisst? Ist das kein Schreibfehler?“, wollte Anna wissen.

„Nein, ich glaube nicht, dass das ein Schreibfehler ist. Das deckt sich mit Christines Vermutung, dass der Tote eingefroren wurde. Ich brauche mehr Informationen über den Toten. Ich rufe den zuständigen Beamten in Passau an, vielleicht habe ich Glück und er arbeitet auch am heutigen Sonntag. Ich möchte ungern bis morgen warten.“

Kaum hatte er ausgesprochen, wählte er die Telefonnummer, die auf dem Fax als Absender der Passauer Polizei ersichtlich war. Gleich darauf meldete sich die Vermittlung und Leo ließ sich mit dem zuständigen Beamten Albert Steinberger verbinden, der heute am Sonntag glücklicherweise Dienst hatte.

„Guten Morgen, Herr Steinberger, hier ist Leo Schwartz, Kripo Ulm. Sie haben uns auf unsere gestrige Anfrage bezüglich einer aufgefundenen Leiche ein Fax mit einer Vermisstenmeldung von Maximilian von Kellberg geschickt. Dazu habe ich ein paar Fragen.“

„Guten Morgen, Kollege. Ich selbst habe Ihnen das Fax geschickt. Was wollen Sie wissen?“

„Zunächst möchte ich bestätigen, dass es sich bei der von uns aufgefundenen Leiche um den von Ihnen vermissten Maximilian von Kellberg handelt, wir konnten ihn einwandfrei identifizieren.“ Leo wartete einen Moment, denn er hörte ein Stöhnen am anderen Ende. „Ist alles in Ordnung?“

„Das trifft mich sehr, weil ich nicht nur den Jungen, sondern auch die Eltern persönlich sehr gut kenne. Bis jetzt hatten wir immer noch die Hoffnung, dass sich Maximilian nur eine Auszeit genommen hat und irgendwann wieder auftaucht, was bei jungen Menschen bekanntlich öfter vorkommt,“ sagte Albert Steinberger betroffen. „Fahren Sie fort, Kollege Schwartz, wie kann ich helfen?“

„Ich möchte zunächst Genaueres über das Verschwinden erfahren.“

Leo hörte Albert Steinberger in seinen Unterlagen blättern.

„Maximilian von Kellberg ist mit drei Studienkollegen am 10. Juni in den Urlaub nach Sylt geflogen. Nach einer großen Strandparty am 14. Juni wurde er nicht mehr gesehen. Die Freunde hatten die dortigen Behörden und die Eltern benachrichtigt, die daraufhin eine Vermisstenanzeige aufgaben.“

„Was hatte Maximilian von Kellberg an, als er zuletzt gesehen wurde?“

„Seine Kollegen hatten angegeben, er trug blaue Badeshorts mit kleinen grünen und orangefarbenen Palmen drauf.“

Leo wurde schlecht. Das war die exakte Beschreibung der Badeshorts, die der Tote auf der Schwäbischen Alb trug.

„Sie können mir bestätigen, dass Maximilian von Kellberg am 14. Juni verschwunden ist? Irrtum ausgeschlossen?“, bohrte Leo nochmals nach.

„Ja sicher, es war der 14. Juni. Warum fragen Sie?“, wollte nun Albert Steinberger wissen.

„Weil die Leiche von Maximilian von Kellberg gestern gefunden wurde. Man fand ihn auf der Schwäbische Alb in sehr unwegsamem Gelände. Er war nur mit Shorts bekleidet. Die Shorts ist blau mit kleinen grünen und orangefarbenen Palmen.“

„Das ist doch nicht möglich. Ich verstehe nicht, was Sie mir da erzählen, das gibt doch keinen Sinn. Die Schwäbische Alb ist weit weg von Sylt. Sind Sie sicher, dass es sich um Maximilian von Kellberg handelt? Bitte haben Sie Verständnis für meinen Zweifel, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das in so kurzer Zeit einwandfrei feststellen konnten. Sie haben keinen DNA-Vergleich angefordert. Wenn Maximilian noch die gleichen Shorts trug, muss die Leiche nach so langer Zeit dementsprechend aussehen.“

„Ich bin mir absolut sicher, Herr Steinberger. Wir brauchen keinen DNA-Vergleich. Die Leiche ist in einwandfreiem Zustand. Wir konnten Maximilian von Kellberg nach dem Foto der Vermisstenmeldung eindeutig identifizieren.“

„Wie kann das sein? Was erzählen Sie mir da? Er hat die gleichen Badeshorts an wie zum Zeitpunkt seines Verschwindens und ist quasi unversehrt? Maximilian ist vor über drei Monaten verschwunden. Nein, das kann nicht sein!“

„Wir haben die Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen. Es kommen heute noch Spezialisten, die sich die Leiche ansehen. Sicher ist nur, dass Maximilian von Kellberg ermordet wurde. Ich würde gerne mit Ihnen, den Hinterbliebenen und natürlich mit den Freunden des Toten sprechen. Dafür würde ich gerne nach Passau fahren.“

„Selbstverständlich, das kann ich verstehen. Melden Sie sich direkt bei mir. Wann möchten Sie kommen?“

„Am besten gleich morgen. Den Eltern muss die Nachricht über den Tod des Sohnes mitgeteilt werden. Sie sagten, dass Sie die Eltern kennen. Wollen Sie mit ihnen sprechen?“

„Ich denke, dass es besser ist, wenn wir das gemeinsam machen. Es gibt bestimmt einige Fragen von Seiten der Eltern, die nur Sie beantworten können.“

„Einverstanden. Könnten Sie die Studienkollegen des Toten bitten, in Ihr Büro zu einer Befragung zu kommen? Günstig wäre morgen Nachmittag.“

„Selbstverständlich, Kollege Schwartz, wird gemacht. Ich muss jetzt erst einmal verdauen, was sie mir eben erzählt haben, das ist einfach unglaublich. Und dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob ich auch wirklich alles verstanden habe. Wir können uns morgen nochmals ausführlich darüber unterhalten.“

Albert Steinberger war geschockt und durcheinander. Verständlich, wenn er den Toten persönlich kannte.

Am späten Nachmittag klopfte Christine an Leos Tür und trat ein. Leo und Anna waren sehr gespannt, was sie zu sagen hatte.

„Ich mache es kurz. Meine Kollegen aus Berlin haben meine Theorie bestätigt. Es handelt sich eindeutig um Mord. Der Junge ist in Salzwasser ertrunken, wurde eingefroren und auf der Schwäbischen Alb vor kurzem erst abgelegt. Die Sandanalyse liegt ebenfalls vor. Es handelt sich um Sand der Ost- oder Nordsee, hierin sind sich die Experten nicht sicher. Hier ist der ausführliche Bericht.“

3.

Am nächsten Morgen machten sich Leo und Anna auf den Weg nach Passau. Nach knapp 3 ½ Stunden Fahrt trafen sie sich am Vormittag mit dem Kollegen Albert Steinberger in dessen Büro. Der Endfünfziger sah genau so aus, wie Leo vermutet hatte. Korpulent, 1,65 Meter groß und unscheinbar. Mit seinen hektischen, kleinen Augen hatte Steinberger seine Umgebung im Blick. Nach einer kurzen Begrüßung übergab Leo den Bericht der Pathologie an den Passauer Kollegen, der diesen ausführlich studierte.

„O mein Gott,“ sagte er schließlich, als er geendet hatte. „Das ist doch der blanke Wahnsinn! Wie soll ich das den Eltern beibringen? Wir kennen uns seit der Studienzeit, ich habe den Jungen aufwachsen sehen.“

„Welche Ermittlungsergebnisse haben Sie bisher in dem Fall Maximilian von Kellberg?“

„Bitte sehr, Sie können selbstverständlich Einsicht in die Akte nehmen.“ Steinberger nahm eine dünne Mappe aus der obersten Schublade seines Schreibtisches und übergab sie Leo. Außer wenigen Zeugenaussagen beinhaltete die Akte keine weiteren Informationen. Schade.

Nachdem sich Steinberger nochmals den Pathologiebericht durchgesehen hatte und er sich ausführlich berichten ließ, wie man Maximilian von Kellberg gefunden hatte, fuhren sie gemeinsam zu den Eltern, was keinem leicht fiel. Das Überbringen von Todesnachrichten an Angehörige war die schlimmste und unbeliebteste Polizeiarbeit. Vor allem, wenn es sich um einen so komplizierten Fall wie diesen hier handelt. Wie würden die Eltern reagieren? Welche Fragen kamen auf sie zu?

Die Stimmung in Leos Wagen war sehr gedrückt, keiner sprach ein Wort. Leo legte sich in Gedanken die Worte zurecht, die er den Eheleuten von Kellberg wohl sagen würde, und ging davon aus, dass es seinen Kollegen genauso ging. Um sich abzulenken, dachte Leo an den Inhalt der Unterlagen, die ihm Steinberger vorhin gegeben hatte. Die Zeugenaussagen sagten alle dasselbe aus: Keiner wusste etwas und keiner hatte etwas gesehen. Maximilians Hotelzimmer war durchsucht worden und brachte keinen Hinweis über den Verbleib des Vermissten. Die Verbindungsdaten des Handys wurden überprüft und stellten keinerlei Auffälligkeiten dar. Maximilians Handy war verschwunden und man versuchte, das Handy über mehrere Wochen zu orten, was aber zu keinem Ergebnis führte.

Leo, Anna und Steinberger fuhren durch eine sehr schöne Wohngegend mit riesigen, teuren Häusern, die vor vielen Jahren errichtet wurden. Leo liebte diese Häuser, die mehr und mehr modernen Häusern weichen mussten. Damals hatte man sich noch mit den Fassaden sehr viel Mühe gegeben. Heute baute man in Leos Augen einfach Betonklötze ohne jeglichen Charme.

Sie schienen an ihrem Ziel angekommen. Sie passierten ein schmiedeeisernes Tor, das offen stand. Auf einer von Tannen gesäumten, gekiesten Auffahrt fuhren sie bis zu einem riesigen, prunkvollen Haus, vor dem zwei sehr edle Autos standen. Die riesige Garage stand offen und gab den Blick auf weitere Fahrzeuge frei, von denen Leo viele nur aus dem Katalog kannte.

„Donnerwetter,“ sagte Anna, „schau dir diesen schwarzen Sportwagen an. Ein Traum.“

„Die von Kellbergs sind eine alt eingesessene Passauer Familie. Sie besitzen hier sehr viele Immobilien und noch mehr Grund. Johannes von Kellberg ist Arzt mit einer eigenen Praxis.“

„Was für ein Arzt?“, wollte Anna wissen.

„Schönheitschirurg,“ sagte Steinberger knapp. Anna und Leo sahen sich an und nickten. Ihnen war klar, dass man damit ein Vermögen verdienen konnte.

Sie klingelten und ein älterer Herr öffnete die Tür. „Guten Tag. Treten Sie ein, die Herrschaften erwarten Sie.“

„Danke Willi,“ sagte Steinberger.

Sie traten in ein großzügiges, sehr gemütlich eingerichtetes Zimmer, in dem die Eheleute von Kellberg auf einer cremefarbenen Couch vor einem riesigen Kamin saßen.

„Das sind Herr und Frau von Kellberg und das sind Herr Schwartz und seine Kollegin Frau Ravelli von der Kriminalpolizei Ulm,“ stellte Steinberger vor. Sie gaben sich die Hand und alle setzten sich in die großzügige Sitzgruppe.

Johannes von Kellberg war 52 Jahre alt, groß und sehr schlank. Er hatte kurze, braune Haare, einen energischen Mund und schöne blaue Augen, die alles und jeden unaufhörlich musterten. Er strahlte schon allein durch sein Äußeres eine gewisse Überheblichkeit aus, die Leo als sehr arrogant empfand. Frau von Kellberg dagegen war sehr anmutig und man konnte schon dadurch erkennen, wie sie auf dem Sofa saß, dass sie eine sehr gute Erziehung genossen haben musste. Leo hatte noch nie jemanden gesehen, der so aufrecht saß wie sie. Mit ihren 47 Jahren und den schulterlangen blonden Haaren, in denen Leo einige graue Haare entdeckte, war sie zwar keine Schönheit. Aber sie strahlte etwas aus, das er sehr mochte und ihm auf Anhieb sympathisch war. Im Laufe der Jahre hatte er eine Menschenkenntnis entwickelt, auf die er sich fast immer verlassen konnte. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er Menschen abschätzte und sofort beurteilte, ob sie ihm sympathisch waren oder nicht, was eine dumme Angewohnheit von ihm war.

Die Eheleute von Kellberg sahen Leo fragend an. Er musste sich mehrmals räuspern, da es ihm auch nach all den Jahren immer noch sehr schwerfiel, Todesnachrichten zu überbringen. Auch das war außer der Pathologie etwas, an das er sich niemals gewöhnen würde.

„Herr und Frau von Kellberg. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Sohn Maximilian tot aufgefunden haben. Mein aufrichtiges Beileid.“

Die von Kellbergs fassten sich an den Händen.

„Das wissen wir bereits,“ sagte Johannes von Kellberg ungeduldig. „Unser Freund Albert teilte uns den Tod Maximilians bereits mit. Wir wurden auch schon in Kenntnis gesetzt, dass unser Sohn ermordet wurde. Was wir nicht wissen, sind die Details des Mordes an unserem Sohn.“ Leo war sauer. Albert Steinberger hatte ihm verschwiegen, dass die Eheleute von Kellberg bereits über den Tod ihres Sohnes informiert wurden. Hatten sie nicht vereinbart, dass sie das gemeinsam machen wollten? Leo warf Steinberger einen wütenden Blick zu, der diesem auswich. Diesen Steinberger würde er sich später zur Brust nehmen!

„Wir fanden Ihren Sohn am Samstag auf der Schwäbischen Alb. Ich habe Fotos mitgebracht. Wenn Sie sich die bitte ansehen würden?“

Mit zittrigen Händen nahm Frau von Kellberg die Fotos und sie und ihr Mann sahen sich eins nach dem anderen an. Frau von Kellberg liefen Tränen übers Gesicht und sie strich mit einem Finger sanft über jedes einzelne Foto. „Ja, das ist mein Junge.“ Auch Herr von Kellberg nickte.

„Was um Himmels Willen ist passiert?“

„Das wissen wir noch nicht. Wir stehen mit unseren Ermittlungen noch ganz am Anfang.“

„Wer hat ihn gefunden?“

„Das war ich quasi selbst. Während einer Wanderung auf der Schwäbischen Alb wurde Maximilian gefunden. Er wurde mitten im Gelände abgelegt.“

„Was hatte Maximilian auf der Schwäbischen Alb verloren? Wie ist er umgekommen? Warum hat er sterben müssen? Wir vermissen unseren Jungen seit Juni, das ist über drei Monate her. Was hat er in der Zwischenzeit gemacht? Wieso trägt er nur Shorts?“ Die Fragen sprudelten nur so aus Frau von Kellberg heraus. Jetzt wurde es für Leo wirklich unangenehm, denn er musste die beiden mit den Details konfrontieren. Er konnte sich dem nicht entziehen, er war dazu verpflichtet, den Eltern die Wahrheit zu sagen. Er atmete tief durch, räusperte sich und war bemüht, so ruhig wie möglich die Fakten vorzutragen:

„Die Autopsie hat ergeben, dass Ihr Sohn in Salzwasser ertrunken ist.“

„Ein Badeunfall auf der Schwäbischen Alb? Erzählen Sie keinen Blödsinn! Dort gibt es kein Salzwasser!“, rief Herr von Kellberg.

„Das ist richtig. Es wurde Salzwasser nachgewiesen, daran besteht kein Zweifel. Es handelt sich nicht um einen Badeunfall. Die Spuren am Körper Ihres Sohnes weisen darauf hin, dass er ertränkt wurde.“ Leo entschied, jetzt mit der ganzen Wahrheit rauszurücken. „Wir konnten Sand an den Zehen und unter den Zehennägeln sicherstellen, die der Nord- oder Ostsee zugewiesen werden konnten. Darüber hinaus wurde eindeutig festgestellt, dass Ihr Sohn eingefroren wurde und kürzlich erst auf der Schwäbischen Alb abgelegt wurde. Er trägt dieselben Badeshorts wie am Tag seines Verschwindens. Deshalb liegt es nahe, dass Ihr Sohn noch am Tag seines Verschwindens auf Sylt getötet wurde.“

Ungläubig starrten ihn die Eheleute von Kellberg an. Für einen Moment war es still in dem riesigen Wohnzimmer, man hörte nur das Ticken der uralten Wanduhr.

„Was erzählen Sie denn da? Das gibt doch keinen Sinn. Mein Junge wurde eingefroren, nachdem er in Salzwasser ertränkt wurde? Dann, nach drei Monaten, hat ihn jemand auf die Schwäbische Alb gebracht? Ich kann das alles nicht verstehen. Wer tut denn so etwas?“ Frau von Kellberg sah Leo mit flehendem Blick an. Sie erwartete von ihm eine Erklärung, die er ihr nicht geben konnte; zumindest noch nicht.

„Die Fakten sind leider so. Bitte glauben Sie mir, dass es mir sehr schwer fällt, Ihnen die Details zu nennen. Für uns ist das auch alles merkwürdig und ergibt keinen Sinn. Fest steht, dass Maximilian ermordet wurde. Sind Sie beide in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“

„Selbstverständlich. Wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen, darauf können Sie sich verlassen. Entschuldigen Sie bitte meinen Gefühlsausbruch. Bitte, fragen Sie.“

„Vielen Dank, Frau von Kellberg. Ich weiß, dass ich Ihnen sehr viel abverlange, aber ich bin auf jede Hilfe angewiesen. Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“

„Als er abreiste, also am Morgen des 10. Juni, habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Er hat mich angerufen, als er auf Sylt landete, das war am späten Abend des gleichen Tages. Das war das letzte Mal, dass ich mit meinem Sohn gesprochen habe.“ Sie weinte leise in ihr Taschentuch.

„Und Sie, Herr von Kellberg?“

„Als Maximilian in Urlaub fuhr, war ich nicht zu Hause. Ich war bei einem Seminar in London und wusste nicht einmal, dass Maximilian nach Sylt wollte. Ich habe ihn zuletzt vor meiner Abreise nach London gesprochen, das war am 9. Juni.“

„Es tut mir leid, dass ich das fragen muss: Können Sie Ihre London-Reise belegen? Verstehen Sie das nicht falsch, aber wir müssen alle Angaben überprüfen.“ Leo war das sehr unangenehm.

„Natürlich kann ich das belegen.“ Herr von Kellberg ging aus dem Zimmer und kam nach wenigen Minuten wieder zurück. „Hier ist mein Flugticket und die Hotelreservierung. Ich hoffe, damit können Sie mich aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen.“ Er war spürbar verärgert.

„Ich war zuhause,“ sagte Frau von Kellberg leise. „Ich hatte, da mein Mann und mein Sohn nicht zuhause waren, eine Freundin eingeladen. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf, damit Sie meine Angaben überprüfen können.“ Sie stand auf und ging zu dem alten Sekretär, der am Fenster stand. Sie notierte mit feiner Handschrift auf sehr teurem Papier die Adresse ihrer Freundin. „Bitte,“ sagte sie, als sie Leo das Papier mit zitternder Hand übergab und sich wieder setzte. Herr von Kellberg nahm keine Notiz von ihrem Zustand und hatte beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt. Leo war eigentlich versucht, diese Frau in den Arm zu nehmen und sie zu trösten. Äußerlich war sie zwar bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihr vorging. Aber Leo spürte, wie sehr sie litt. Und dieser Trottel von Ehemann ignorierte das.

„Führte Ihr Sohn ein Tagebuch, oder hatte er einen Terminkalender?“

„Nein, meines Wissens nach nicht, mein Sohn war sehr schreibfaul. Alles, was er sich merken musste, tippte er in sein modernes Handy, das er auf Schritt und Tritt überall mitnahm. Sie wissen schon, so eins, das man mit den Fingern auf dem Bildschirm bedient.“

„Das Handy hatte er auch in Sylt dabei?“

„Auf jeden Fall, ohne sein Handy ging er nirgends hin.“

Anna war davon überzeugt, dass Maximilian, wie alle jungen Leute heute, ein Smartphone besaß. Die Handynummer des Toten hatten sie bereits, die Ortung lief damals ins Leere.

„Wir würden uns später gerne das Zimmer von Maximilian ansehen. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben,“ durchbrach Leo die eingetretene Stille.

„Muss denn das sein?“, fragte Johannes von Kellberg ungeduldig mit schroffem Ton.

„Natürlich muss das sein,“ sprach seine Frau beruhigend auf ihn ein. „Die Polizisten machen nur ihre Arbeit, Johannes, versteh das bitte.“

Herr von Kellberg setzte sich mit einem Seufzer neben seine Frau.

„Wofür soll das gut sein?“, schrie von Kellberg Leo an. „Sie haben gesehen, dass wir unseren Sohn nicht umgebracht haben können. Machen Sie sich auf die Suche nach dem Mörder und vergeuden Sie nicht ihre Zeit. Was gedenken Sie denn, in Maximilians Zimmer zu finden? Die Adresse des Mörders? Oder gar die Lösung des Falles?“

Johannes von Kellberg war sichtlich genervt und aufgebracht. Leo schob das zwar auf das eben gehörte und daraufhin, dass er schlecht mit der Nachricht umgehen konnte. Aber insgeheim musste er sich eingestehen, dass er diesen von Kellberg nicht leiden konnte. Frau von Kellberg sprach trotz ihres eigenen Gemütszustandes beruhigend auf ihren Mann ein und nach einigen Minuten konnte man sich wieder einigermaßen normal mit ihm unterhalten. Sie erzählten beide aus dem Leben ihres Sohnes und von dessen Freundeskreis. Anna machte sich eifrig Notizen. Die Befragung hatte nichts Neues ergeben: Maximilian von Kellberg war mit drei Studienkollegen am 10. Juni nach Sylt in Urlaub geflogen und seit der Party am 14. Juni wurde er vermisst. Anna notierte sich die Adresse des Hotels auf Sylt und machte sich mit Leo und dem Hausdiener Willi auf den Weg in Maximilians Zimmer.

Leo und Anna sahen sich erstaunt an, als sie das Zimmer betraten. Das war kein Zimmer, sondern ein Palast. Maximilian war das einzige Kind der von Kellbergs und somit genoss er allein den ganzen Luxus seiner Eltern. Maximilian bewohnte insgesamt sechs Zimmer. Er hatte ein eigenes Badezimmer und ein Gästebadezimmer, das allein schon größer war als Leos gesamte Wohnung. Die Zimmer waren nicht nur sehr groß, sondern auch sehr hoch, was sie noch größer erscheinen ließ. Systematisch durchsuchten sie die geschmackvoll eingerichteten, ordentlichen und sehr sauberen Zimmer. Der Hausdiener Willi stand die ganze Zeit an der Tür und ließ die beiden nicht eine Sekunde aus den Augen.

„Was können Sie mir über Maximilian sagen?“, wandte sich Leo an den Hausdiener, während er weiter Schubläden und Schränke durchsuchte.

„Wie meinen Sie das?“

„Was war er für ein Mensch? Wie lange kannten Sie ihn? Erzählen Sie einfach drauflos, damit wir uns ein Bild machen können, das würde uns sehr helfen.“

„Ich arbeite in diesem Hause schon sehr lange, lange vor der Hochzeit von Frau von Kellberg. Maximilian kenne ich seit seiner Geburt. Er war ein toller Kerl. Er war zu allen immer freundlich und war stets zu Späßen aufgelegt, denen auch ich zum Opfer fiel. Dass er jetzt nicht mehr hier ist, bricht Frau von Kellberg das Herz.“ Willi hatte Tränen in den Augen. Es war klar, dass er Maximilian gemocht hatte und dass auch er sehr unter dem Verlust litt.

„Und was ist mit Herrn von Kellberg?“, bohrte Leo nach.

„Ich bin bei Frau von Kellberg angestellt. Mehr sage ich dazu nicht.“

Anna steckte einige persönliche Unterlagen von Maximilian ein und musste Willi versprechen, alles wieder zurückzubringen. Gemeinsam gingen sie in den Salon zurück, wo Steinberger mit den Eheleuten von Kellberg warteten. Es herrschte beklemmendes Schweigen.

„Wir sind soweit fertig und möchten uns verabschieden.“

Alle standen auf und Frau von Kellberg sagte zu Leo:

„Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, melden Sie sich bitte. Scheuen Sie sich nicht, sich an uns zu wenden, egal um was es geht und um welche Uhrzeit es sich handelt. Mein Sohn war ein sehr liebenswerter Mensch, der zu allen freundlich und überaus hilfsbereit war. Trotz seiner Herkunft war er niemals überheblich oder arrogant. Ich möchte unbedingt wissen, wer das meinem Jungen angetan hat und vor allem, warum ihm das angetan wurde. Hier ist meine Karte. Auf die Rückseite habe ich Ihnen meine Handynummer notiert.“

„Vielen Dank, Frau von Kellberg, ich werde bestimmt darauf zurückkommen.“

Er nahm die Karte. Demonstrativ verschränkte Johannes von Kellberg die Arme vor der Brust. Von ihm würde Leo keine Karte mit persönlichen Daten bekommen.

Leo fand Frau von Kellberg sehr sympathisch, das gleiche galt auch für den Hausdiener Willi. Johannes von Kellberg hingegen konnte er nicht leiden. Auch seinen Passauer Kollegen Albert Steinberger mochte er nicht besonders. Er wusste nicht genau warum. Vielleicht waren es die kleinen, stechenden Augen oder einfach nur die Tatsache, dass dieser Steinberger nach Achselschweiß stank und dazu auch noch einen ekelhaften Mundgeruch hatte.

Schweigend fuhren die drei wieder zurück ins Polizeipräsidium Passau. Eigentlich wollte Leo Steinberger darauf ansprechen, warum er die Eheleute von Kellberg entgegen ihrer Absprache bereits über den Tod des Sohnes unterrichtet hatte, aber er entschied sich dagegen. Zu sehr beschäftigte ihn das Gespräch mit den von Kellbergs. Auch Anna war sauer auf Steinberger und konnte ihn genauso wenig leiden wie Leo. Sie hatte den Passauer Kollegen beobachtet, während Leo mit den Eltern des Toten sprach. Steinberger schien nicht so betroffen zu sein, wie er vorgab. Was spielte der Typ für ein Spiel? Sie beschloss, ihn im Auge zu behalten.

Als Nächstes mussten sich Leo und Anna mit den drei Studienkollegen unterhalten, die sich auf Albert Steinbergers Initiative hin um 16.00 Uhr in dessen Büro trafen. Sie hatten sich darauf verständigt, die drei gemeinsam zu vernehmen. Leo und Anna hätten gerne auf Steinbergers Anwesenheit verzichtet, aber der wollte unbedingt bei der Befragung dabei sein.

„Gut. Wir werden die drei lediglich über Maximilians Tod informieren, mit Einzelheiten halten wir uns vorerst noch zurück. Können wir uns darauf einigen?“ Leo sah vor allem Steinberger an, der keine Einwände hatte. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie sich diesmal an die Absprache halten,“ fügten Leo hinzu. Steinberger war sauer. Was fiel diesem Schwaben eigentlich ein, so mit ihm zu sprechen?

Es war 16.00 Uhr und die Freunde waren anwesend. Sie saßen gemeinsam in Steinbergers Büro und Leo informierte sie über Maximilians Tod. Anna hielt sich im Hintergrund, um die drei aufmerksam zu beobachten. Maximilians Freunde waren sichtlich geschockt.

Julius Bernrieder war 1,72 Meter groß, 24 Jahre, untersetzt und hatte langes, braunes Haar, das er bestimmt schon einige Tage weder gewaschen, noch gekämmt hatte. Er trug eine kleine Nickelbrille und man konnte aufgrund der Glasstärke der Brille erkennen, dass er sehr schlechte Augen hatte. Seine Kleidung war leger: Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt. Julius war Sohn eines Bankers, seine Mutter war Hausfrau. Er studierte entgegen den Erwartungen seiner Eltern Naturwissenschaften. Leo befragte ihn zu seinem Verhältnis zu Maximilian und zu dem Tag des Verschwindens.

„Ich war mit Maximilian noch nicht lange befreundet, wir kannten uns eigentlich nicht näher. Wir haben uns in einer Passauer Kneipe kennengelernt, als ich meine Eltern zuhause besuchte. Sie müssen wissen, dass ich in Bayreuth studiere. Sie haben Glück, dass ich noch in Passau bin, in einer Woche enden die Semesterferien. Maximilian und ich trafen uns also in der Kneipe und verstanden uns auf Anhieb. Eines Tages beim Bier hat mir Maximilian erzählt, dass er nach Sylt in Urlaub möchte und hat mich dazu überredet, mich anzuschließen. Ich hatte nichts Besseres vor, also bin ich mit.“

„Es geht um die Party am 14. Juni, als Maximilian verschwand. Woran können Sie sich erinnern?“

„Bei der Party war ich nur kurz, es hat mir nicht gefallen. Ich bin nicht der geborene Party-Typ. Ich lass mich nicht gerne volllaufen, ich ziehe interessante Gespräche vor und lese lieber.“

„Wann haben Sie die Party verlassen?“

„So gegen 22.00 Uhr schätze ich.“

„Wann haben Sie Maximilian von Kellberg zum letzten Mal gesehen?“

„Auf der Party. Als ich ging, war er gerade am Tanzen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.“ In Julius Augen standen Tränen, deren er sich nicht schämte.

Leo wandte sich an den nächsten Freund, an Benjamin Aschenbrenner. Er war der Sohn eines Zahnarztes und einer Psychotherapeutin, und wie Julius ebenfalls 24 Jahre alt. Er saß mit seiner sichtlich teuren Kleidung aufrecht auf dem Stuhl. Er war 1,83 Meter groß und hatte eine sehr sportliche Figur. Seine Frisur war kurz und sehr modern mit Haargel in Form gebracht. Seine wachen, blauen Augen sahen Leo erwartungsvoll an.

„Auch an Sie habe ich die gleichen Fragen, Herr Aschenbrenner. Wie war Ihr Verhältnis zu Maximilian und wie haben Sie den Abend des 14. Junis erlebt?“

Leo überraschte die tiefe, klare Stimme.