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Caren Benedikt

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Beschreibung

Eine Verschwörung, ein Mord und eine einzige Zeugin Hattingen, 1225: Das Leben der Novizin Ellin gerät völlig aus den Fugen, als sie zufällig ein Gespräch zwischen zwei Männern belauscht, die eine Verschwörung gegen den Erzbischof von Köln planen. Ellin muss fliehen: Sie legt ihr Novizinnengewand ab und schafft es, sich in Bremen als Kerzenzieherin ein neues Leben aufzubauen. Doch schon bald holt sie ihre Vergangenheit wieder ein, und Ellin begreift, dass ihr Wissen sehr gefährlich und der Alptraum noch lange nicht vorbei ist.

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Seitenzahl: 740

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Caren Benedikt

Die Kerzenzieherin

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Hattingen, November 1225

Die Novizinnen Jonatha und Ellin erhalten den Auftrag, Waren zur nahe gelegenen Burg zu bringen. Auf der Burg belauscht Ellin unfreiwillig ein Gespräch zwischen dem Burgherrn Friedrich von Isenberg und einem anderen Mann, offenbar einem Mitverschwörer: Sie planen einen Überfall auf den Erzbischof von Köln! Schnell wird den Männern klar, dass sie belauscht worden sind. Die beiden Novizinnen müssen die Flucht ergreifen. Während Jonatha ihren Verfolgern in die Hände fällt und getötet wird, kann Ellin um Haaresbreite entkommen …

Inhaltsübersicht

WidmungEinleitung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelZum historischen HintergrundQuellenverzeichnisDanksagung
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Für Iny und Elmar,

zwei gute Freunde, die mir halfen, meinen Weg zu finden

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Es war ein einziges Schlachtfeld. Das viele Blut konnte in dem eisigen Boden nicht versickern und fügte sich zu einer breiigen Masse zusammen. Das Bild, das sich ihm bot, glich einem Kriegsschauplatz. Das hätte nicht geschehen dürfen. Einer seiner Männer hatte während des Überfalls einen Arm eingebüßt. Das Blut strömte ihm unaufhörlich aus dem Rumpf direkt unterhalb des Schultergelenks, wo ihm der Arm in ganzer Länge abgetrennt worden war.

Er sah den Verwundeten und wusste, dass auch er sterben würde. Nicht irgendwann, sondern heute. Es gab kein Entkommen, kein Entrinnen, kein Verhandeln oder Feilschen. Schon am Morgen beim Aufstehen hatte er gemeint, etwas Eigenartiges, Fremdes zu spüren. Eine Unruhe und doch gleichzeitig die Gewissheit, nichts an dem, was folgen würde, ändern zu können.

Nun lag er hier, mitten im Dreck und ohne jede Würde, die er sich zeitlebens zu eigen gemacht hatte. Die wilden Rufe um ihn herum wurden leiser, und er hörte die Stimmen nur noch, als hätte sich eine dicke wollene Decke um seinen Kopf gelegt. Sein Herz pochte heftig, schien sich der Endlichkeit widersetzen zu wollen.

Lateinische Worte gingen ihm durch den Kopf. Krampfhaft versuchte er, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Nicht mehr lange, dann würde er seinem Schöpfer gegenübertreten. Die richtigen Worte. Die richtigen Worte. Er musste sie finden. Ein kurzer, heftiger Schmerz fuhr durch seine Brust. Es würde nicht mehr lange dauern, er spürte es. War sein Weg immer richtig gewesen? Würde der Herr ihn empfangen und ihm einen Platz in seinem himmlischen Reich gewähren?

Und am Ende ist man doch allein und liegt, gleichgültig ob Bauer oder König, still in der Erde. Er erinnerte diese Zeilen, wusste aber nicht mehr, wo er sie einst vernommen hatte. Die richtigen Worte, er wollte sie sprechen. Seine Lippen formten ein Gebet, doch keiner außer Gott konnte ihn jetzt noch hören. Er hatte seine irdene Hülle längst verlassen.

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1. Kapitel

Drei Tage zuvor, Burg Isenberg am 4. November 1225

Der Anstieg war steil, und bei jedem Ausatmen entstiegen Ellins Mund kleine Atemwölkchen. Ihr machte die Anstrengung nichts aus, obwohl der nahende Winter schon jetzt sein eisiges Tuch über das Land gebreitet hatte. Jonatha hingegen, die beleibte Novizin, mit der sie gemeinsam den geflochtenen Korb zur Burg hinauftrug, war die Mühe deutlich anzusehen. Sie schnaufte und keuchte, bat Ellin ein ums andere Mal, eine kurze Rast zum Durchatmen einzulegen, und musste manch gotteslästerlichen Fluch hinunterschlucken, wenn sie auf dem glatten Untergrund den Halt zu verlieren drohte.

»Ich kann den Korb das letzte Stück allein tragen, Jonatha. Lass gut sein.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff Ellin nach dem anderen Henkel und zog das Behältnis ganz zu sich herüber.

»Danke.« Jonatha keuchte noch immer. »Aber sag, wenn es dir zu viel wird.«

»Es ist ja nicht mehr weit.«

Obwohl sie den Korb nun ganz allein trug, schien es Ellin, als hätte sich ihre Last insgesamt dennoch verringert, da sie Jonatha, die mehr am Korb gehangen, als dass sie ihn getragen hatte, nun nicht mehr hinter sich her den Berg hinaufziehen musste. Einzig störte sie sich an ihrem Kleid, dessen Saum beim Überqueren der flachen Furt gierig das Eiswasser in sich aufgesogen hatte. Kühl und nass klebte der Stoff nun an ihren Waden, und langsam kroch die Kälte bis zu ihren Schenkeln hinauf.

Ein dumpfes Grollen über ihnen ließ Jonatha ängstlich zum Himmel hinaufsehen.

»Dass jetzt nur nicht noch ein Unwetter aufzieht.«

Ellin folgte ihrem Blick. Die Wolken hatten sich zu einer quellenden, dunkelgrauen Masse zusammengezogen. »Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir die Burg gewiss nicht mehr erreichen, bevor der Regen auf uns niederprasselt.«

Sie beschleunigte ihren Schritt und kam trotz des schweren Korbes schneller voran als Jonatha, die ihr mit immer größer werdendem Abstand folgte.

Kurz bevor Ellin das Burgtor erreichte, setzte ein gewaltiger Schauer mit Hagelkörnern ein, die teilweise hühnereigroß waren. Heftig trommelte sie gegen das Tor.

»Öffnet! Wir bringen die georderten Waren aus dem Kloster!«

Sofort wurde der Riegel beiseitegeschoben, und ein Wachmann ließ sie eintreten.

»Nun komm schon, Jonatha!« Es klang harscher, als sie es beabsichtigt hatte, doch verfehlte die Aufforderung ihre Wirkung nicht. Die Angesprochene hob den Rock und rannte das letzte Stück.

Sofort schloss die Wache hinter ihnen wieder das Tor und brachte den Riegel an. Das Gesinde, das im inneren Burghof seinen Arbeiten nachkam, versuchte, sich vor den niederprasselnden Eisklumpen in Sicherheit zu bringen, und die beiden Novizinnen stießen ein ums andere Mal mit jemandem zusammen, während sie sich mühten, zum Eingang des Küchengebäudes zu gelangen. Fast hätte Ellin nach einem Stoß in den Rücken den Korb fallen lassen, konnte jedoch im letzten Moment noch nachfassen. Atemlos erreichten die Novizinnen den Schutz spendenden Torbogen des Wirtschaftsgebäudes.

»Hast du so etwas schon einmal gesehen?« Vorsichtig streckte Ellin den Kopf vor und spähte hinaus. Das Unwetter schien noch mehr an Kraft zu gewinnen, und die Eiskugeln bildeten schon eine fast geschlossene weiße Fläche im Innenhof.

»Mir ist das unheimlich«, brachte Jonatha hervor und rieb ihre Arme.

Ellin sah sich um. Aus sämtlichen Burgöffnungen lugten Gesichter hervor, um das launige Wetterschauspiel zu beobachten, das sich ihren Augen bot. Die einen ängstlich, die anderen erstaunt, sahen sie zu, wie der Himmel wütend seine Schleusen öffnete und seine eisigen Geschosse gen Erde schleuderte.

»Komm.« Ellin drehte sich um und ging auf dem langen Gang in Richtung Küche. Jonatha löste ihren Blick von dem Geschehen und folgte ihr.

Aus der Gesindeküche drangen Stimmen. Ellin bedeutete Jonatha mit einer Kopfbewegung, ihr die Tür zu öffnen. Doch die wurde just in diesem Moment aufgerissen, als einer der Knechte herauskam. Rasch machte er einen Schritt zur Seite und ließ die Frauen eintreten. Sie dankten es ihm mit einem stummen Kopfnicken.

»Ah, da seid ihr ja!« Agnes, die Haushälterin der Burg, kam ihnen entgegen und nahm Ellin den Korb ab. »Und das bei diesem Unwetter. Wärmt euch erst einmal am Feuer.«

»Danke.« Ellin rieb sich die Hände, deren Finger von den Tragegriffen des schweren Korbes tiefe Einkerbungen aufwiesen und vor Kälte blau angelaufen waren. Sie ging zur Feuerstelle und streckte die Arme in Richtung der Flammen aus, während Jonatha an ihre Seite trat.

»Wir warten aber doch den Hagel ab und gehen nicht sogleich wieder zurück, oder?« Obwohl Jonatha die Ältere von ihnen beiden war, fügte sie sich wie selbstverständlich Ellins Entscheidungen. Da meldete sich Agnes zu Wort.

»Gleich wird nach und nach das Gesinde eintreffen, um zu essen. Dann wird es hier sehr voll. Wenn ich euch einen Rat geben darf: Gönnt euch jetzt eine Kelle Suppe, und danach überlasse ich euch eine kleine Kammer, in der ihr warten könnt, bis sich das Wetter wieder beruhigt hat.«

»Das wäre wirklich sehr freundlich, Agnes. Aber wir wollen dir keine Mühe machen.«

»Das ist doch keine Mühe.« Die Haushälterin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Kammer wird sowieso nie benutzt. In ihr stehen nur eine Truhe mit Decken und ein Bett. Geheizt wird dort nicht.«

»Dann nehmen wir deinen Vorschlag gern an und danken dir.« Ellin lächelte Agnes zu, die sich schon wieder umdrehte und in dem großen Topf über dem Feuer rührte.

»Ich füll jetzt die Suppe ein. Die wird euch guttun.«

Die Novizinnen setzten sich auf eine lange Bank neben dem Tisch. Zusammen mit der Haushälterin waren sie die Einzigen im Raum, und wieder einmal fiel Ellin auf, wie angenehm sie es empfand, dem Klosterleben eine Zeitlang entflohen zu sein. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, ob sie das Ordensgelübde tatsächlich ablegen sollte. Doch hatte sie überhaupt eine Wahl? Solange sie zurückdenken konnte, lebte sie im Kloster. Wer sie einst dort abgegeben hatte, wussten nicht einmal die älteren Schwestern zu sagen. Eines Tages war sie einfach da gewesen, allerdings nicht mehr im Wickelalter, wie es immer wieder einmal geschah, wenn eine verzweifelte Frau ihr Neugeborenes vor dem Klostertor ablegte. Ellin hatte schon laufen können. Offenbar hatte ihre Mutter sie bis zur Klosterpforte gebracht, dort angeklopft und war danach einfach gegangen. Seitdem, und sie mochte bereits an die siebzehn Jahre alt sein, war nicht ein einziger Tag vergangen, an dem sie sich nicht fragte, was sie in ihren jungen Jahren nur so Schreckliches getan haben konnte, dass ihre eigene Mutter ihrer überdrüssig geworden war. Sie seufzte und fuhr zusammen, als sie bemerkte, wie tief sie in Gedanken versunken war.

»Ist dir nicht wohl?« Jonatha sah sie besorgt an, und es rührte Ellin, als ihr bewusst wurde, dass die Novizin ein Mitglied der einzigen Familie war, die sie je gehabt hatte.

Kurz griff sie nach der Hand der Älteren. »Es ist alles gut. Danke.«

Jonatha schien verdutzt angesichts der plötzlichen Geste, sagte aber nichts.

In diesem Moment stellte Agnes die Suppenschalen auf den Tisch. »So, nun lasst es euch schmecken.«

»Danke.« Jonatha nahm rasch den Löffel auf und genoss sichtlich die warme Mahlzeit.

»So etwas Gutes hätten wir im Kloster nicht bekommen. Danke, Agnes. Du bist eine wunderbare Köchin.«

»Ich freu mich immer, wenn es allen schmeckt«, gab diese lächelnd zurück.

Vor der Tür wurden Stimmen laut, und im nächsten Augenblick traten zwei Mägde ein. Kurz zögerten sie beim Anblick der Ordensschwestern, nahmen auf einen Wink von Agnes dann aber ebenfalls am Tisch Platz.

Unsicher sahen die vier Frauen einander an. Keine sagte ein Wort, und eine drückende Stille machte sich breit.

»So, hier!« Agnes gab auch den Mägden je eine Suppenschale.

»Danke, Agnes!« Die jüngere der beiden sah auf und warf einen raschen Blick auf Ellin. Kurz überlegte sie, ein Gespräch zu beginnen, doch schien ihr der Gedanke schon im nächsten Augenblick unpassend. Sie war eine einfache Magd, nicht so gebildet wie die Ordensschwestern. Wahrscheinlich würden diese es als aufdringlich empfinden, wenn sie als Erste das Wort an sie richtete.

Noch einmal blickte sie verstohlen zu Ellin hinüber und fuhr zusammen, als diese es bemerkte.

»Arbeitet ihr immer in der Burg oder nur während der Wintermonate?«, durchbrach Ellin die beklemmende Stille.

Die junge Magd ging dankbar auf das Gesprächsangebot ein. »Erst ab dem Herbst, wenn die Felder abgeerntet sind«, teilte sie mit. »Wir haben nicht so viel Glück wie Agnes, die das ganze Jahr hier verbringen kann.«

»Dass es immer ein Glück ist, würde ich nicht sagen«, mischte Agnes sich ein. »Aber es stimmt schon, dass ich froh bin, hier stets gebraucht zu werden.«

Daraufhin erstarb das Gespräch, und die junge Magd überlegte fieberhaft, mit welcher Frage sie die Stille erneut durchbrechen könnte. »Gefällt Euch das Leben im Kloster?«

Ellin und Jonatha warfen sich einen Blick zu, den die Magd nicht zu deuten vermochte.

Jonatha zuckte mit den Schultern. »Es ist wohl das beste Leben, das man sich als Weib erwarten darf.«

»Unsinn!«, widersprach Ellin heftig und erschrak selbst darüber, wie schroff ihre Erwiderung ausgefallen war. Jonatha blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Unsinn?«

Versöhnlich griff Ellin nach ihrer Hand. »Nicht deine Worte, meine Liebe.« Ellin seufzte. »Doch ich glaube einfach, dass Gott uns Frauen etwas mehr zugesteht, als nur demütig die Anordnungen der Männer zu befolgen.«

»Eine waghalsige Ansicht für eine Novizin!« Sorge schwang in Agnes’ Stimme mit.

»Ich weiß.« Ellin senkte den Blick. »Verzeih bitte.«

Die junge Magd räusperte sich, unsicher, ob sie noch weiter in die Novizin dringen sollte. Ihre Neugierde siegte schließlich. »Hier hört uns niemand, und wir können schweigen. Würdet Ihr daher genauer erklären, was Ihr damit meintet?« Sie lächelte aufmunternd.

Ellin sah auf. Sie ärgerte sich über ihren Gefühlsausbruch.

Jonatha drückte kurz ihre Hand. »Obwohl wir nun schon so lange zusammen im Kloster leben, habe ich dich noch nie zuvor so etwas sagen hören.«

»Glaubst du denn, der Mutter Oberin würde das gefallen?«

Jonathas Lächeln verriet, dass sie Ellins Zweifel gut verstehen konnte.

»Wisst Ihr«, sagte die junge Magd, »ich dachte immer, dass Nonnen ganz und gar zufriedene und glückliche Menschen wären. Ich selbst hingegen fühle mich oft wie ein gehetztes Tier, das kein Entkommen aus seiner täglichen Mühsal von Arbeit und Schweiß zu finden vermag. Und es gibt niemanden, der dort draußen auf mich wartet, um mir mit Liebe einen Ausweg zu zeigen.« Kurz sah sie die Novizinnen an, als wöge sie ab, ob sie noch weitersprechen oder lieber schweigen sollte. »Ihr Ordensschwestern hingegen tragt stets so ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, dass ich mich schon manches Mal gefragt habe, ob ein Leben im Kloster nicht auch für mich das Richtige wäre.«

»Hör auf die Stimme in dir. Sie wird dir den richtigen Weg weisen.« Ellin nickte der Magd zu.

Doch die schüttelte darauf nur traurig den Kopf. »Ach, selbst wenn ich es mir wünschte, ich hätte gar nicht die Mittel, um dem Kloster beitreten zu können.« Kurz überlegte sie. »Aber Ihr sagtet eben, dass Ihr glaubt, Gott würde auch den Frauen ein gewisses Maß an Glück zugestehen.«

»Davon bin ich überzeugt«, bekräftigte Ellin.

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Magd. »Auch einer ganz einfachen Frau wie mir?«

»Gerade den einfachen, deren Seelen nicht von Habgier zerfressen, sondern die reinen Herzens sind, schenkt der Herr sein Wohlwollen.«

Die Magd strahlte über das ganze Gesicht. »Dann werde ich also mein Glück finden?«

Ellin nickte ihr zufrieden zu. »Agnes, wärst du wohl so nett, uns nun die Kammer zu zeigen?« Sie stand von der Bank auf, was Jonatha als Aufforderung verstand, sich ebenfalls zu erheben.

Agnes legte die Kelle beiseite. »Ich bin gleich zurück. Verteilt ihr rasch die Suppe für mich, wenn die anderen kommen?«

Die junge Magd versprach es. »Und habt vielen Dank, Schwester!«

Ellin lächelte ihr beim Hinausgehen noch einmal zu. Sie war froh, der Situation auf diese Weise entkommen zu können. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, andere Menschen in einem unbedachten Moment so tief in ihre Seele blicken zu lassen? Ihr Herz pochte heftig, und ein beklemmendes Gefühl der Verunsicherung ergriff von ihrem Körper Besitz.

Agnes schien ihre Gedanken zu erahnen. »Das war sehr mutig von dir, Ellin. Mach dir keine Sorgen. Niemand wird etwas von unserer Unterredung erfahren.«

Ellin, die nicht wusste, was sie darauf sagen sollte, nickte nur.

»Du hast unserer kleinen Magda mit deinen Worten sehr geholfen. Sie wird nicht verstehen, welche Zweifel du hast. Nur, dass sie ihr Glück finden wird.«

Doch die Unruhe, die von Ellin Besitz ergriffen hatte, wurde durch die mitfühlenden Worte der Haushälterin nur noch verstärkt. Wie gern hätte sie etwas mehr von Agnes gehabt, die eine hübsche Frau war, tatkräftig mitten im Leben stand und mit großem Geschick und Können eine ganze Burg zu versorgen wusste.

»Ich wollte keinesfalls ausdrücken, dass das Leben im Kloster …« Sie brach ab.

Agnes blieb abrupt stehen. »Hier in der Burg, liebe Ellin, gelten die Klosterregeln nicht. Nicht die Novizin, sondern die Frau hat aus dir gesprochen. Genau, wie es diesem Ort angemessen ist. Eure Mutter Oberin kann froh sein, eine Ordensschwester wie dich, die nicht den Blick auf das normale Leben verloren hat, in ihren Reihen zu wissen.« Sie ging weiter und führte die Novizinnen über endlose Gänge einige Stufen hinauf und wieder hinab, bis sie eine kleine Kammer erreichten.

Agnes öffnete die Tür, die ihnen quietschend Eintritt gewährte. »So, hier ist es.«

»Hoffentlich finden wir von hier allein auch wieder zurück.« Ellins Stimme klang freundlich, wenngleich ihre Zweifel durchaus ernst gemeint waren.

»Wenn nicht, dann fragt einfach. Hier läuft immer jemand vorbei.« Agnes wies auf die Truhe, die neben einem Bett die einzige Möblierung des Raumes darstellte. »Dort drin sind die Decken.«

»Ich werde kurz verschwinden«, sagte Jonatha. »Gewiss finde ich die Kammer wieder. Wartest du hier?«

Ellin nickte. »Aber bleib nicht so lang fort. Wir haben nicht viel Zeit, um uns aufzuwärmen. Sonst kommen wir nicht vor der Dunkelheit ins Kloster zurück.«

Jonatha nickte und verließ gemeinsam mit Agnes die Kammer. Ellin sah sich um. Außer dem Bett und der Truhe gab es nur noch eine dicke samtene Stoffbahn, die an einer Stange oberhalb des Fensters hing und einen Teil des einfallenden Lichtes abhielt. Sie ging hinüber und zog den Stoff beiseite, so dass es zumindest etwas heller im Raum wurde. Ein kurzer Blick durch die vor Dreck strotzenden Butzenscheiben verriet ihr, dass der Hagel noch immer auf den Burghof niederging. Nicht dass sie es nicht ohnehin gewusst hätte, denn das Auftreffen der Eiskörner auf dem Erdboden verursachte ein durchgängig donnerndes Geräusch. Sie fröstelte. Rasch ging sie hinüber zur Truhe, entnahm ihr zwei Decken und legte eine davon für Jonatha auf das Bett. Sie rochen muffig, doch feucht waren sie nicht. Schnell entfaltete sie die ihre und wickelte sich in sie ein. Sogleich wurde ihr wärmer, und sie stellte erleichtert fest, dass damit auch eine gewisse Ruhe zu ihr zurückkehrte. Sie ging zum Fenster und sah erneut hinaus. Laut schlug der Hagel gegen Scheiben und Mauerwerk und ging krachend auf den Dächern der Stallgebäude nieder. Trotzdem empfand Ellin den tosenden Lärm als beruhigend.

Plötzlich spannte sich ihr Körper wie von selbst. Sie hörte Stimmen, direkt vor der Tür. Ohne zu wissen, weshalb, verbarg sie sich hinter der schweren Stoffbahn.

»Komm hier herein. Es muss ja nicht noch der Letzte mitbekommen, dass du auf der Burg bist.«

Ellin wagte kaum zu atmen. Mit einem Poltern hatten mindestens zwei Männer den Raum betreten.

»Wozu die Heimlichtuerei? Und warum musste ich die Burg durch die kleine Pforte betreten? Ich kam mir vor wie ein räudiger Dieb!«

»Und genau durch diese Pforte wirst du nach unserem Gespräch auch wieder verschwinden und erst danach für jedermann sichtbar mit deinen Männern durch das Burgtor einreiten. Ich wollte einfach nicht riskieren, dass dich zuvor schon jemand sieht. Und auch dir kann nur daran gelegen sein, wenn später alle bezeugen werden, dass wir in großer Runde zusammengesessen haben, wo nichts von dem besprochen wurde, was uns jetzt umtreibt.«

Einer der Männer trat an das Fenster. Ellin meinte, die Wärme seines Körpers spüren zu können, so nah war er. »In welchem Teil deiner verdammten Burg sind wir hier überhaupt? Hier gibt’s ja nicht mal was zu saufen.«

»Das können wir später noch, im großen Saal. Aber hier haben die Wände keine Ohren«, antwortete die Stimme des anderen Mannes.

Ellin schloss kurz die Augen, um sich zur Ruhe zu zwingen. Wie töricht war es doch von ihr gewesen, sich hinter diesem Stoff zu verstecken. Gleich würde man sie entdecken, und der Herr allein wusste, was dann mir ihr geschehen würde. Einen Wimpernschlag lang war sie in Versuchung, hervorzutreten und sich der Situation zu stellen. Denn noch konnte sie sagen, dass sie aus einer plötzlichen Angst heraus hinter dem Vorhang Schutz gesucht hätte. Doch würde dies den Männern als Erklärung reichen? Ihr Atem ging rasch und flach. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg.

»Also, was hast du dir für diesen Hundsfott von Engelbert überlegt?«, fragte der Mann am Fenster, in dessen Stimme etwas Kaltes, Gefährliches lag. Ellin hielt den Atem an.

»Wir müssen ihn zum Einlenken zwingen!« Die Antwort des zweiten Mannes wurde wütend durch die Zähne gepresst.

»Pah«, spie der erste darauf aus. »Und wie willst du das anstellen? Er ist der Erzbischof von Köln. Ob er nun dein Onkel ist oder nicht. Nach allem, was in Soest geschehen ist, wirst du nicht einmal zu ihm vorgelassen werden.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Dann müssen wir ihn eben auf andere Art und Weise überreden.« Die Stimme des zweiten Mannes war lauter geworden. Ellin hatte Mühe, sich zu beruhigen. Ihr Körper schien nicht weiter in der starren Position verharren zu können. Ein Krampf breitete sich in ihrem Bein aus, und sie glaubte schon, keinen Augenblick länger stillhalten zu können.

»Und an was denkst du dabei?«, fragte der Mann, der vor kurzem auf der Burg eingetroffen war und noch immer so nah neben Ellin am Fenster verharrte, dass er sie bei der kleinsten Bewegung bemerken würde. Sie schloss die Augen, presste ihren Körper noch enger an die Wand und sprach ein stilles, flehendes Gebet.

»Wir werden ihn abfangen. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er in drei Tagen eine Kirche in Schwelm einweihen will. Wir treffen uns im Gevelsberger Wald und suchen uns einen Hohlweg als geeignete Überfallstelle aus.«

»Das ist doch Irrsinn!«, polterte der Mann am Fenster. »Selbst wenn du dich mit ein paar Mann auf die Lauer legst und ihn dir greifst, wird er dir wohl kaum freiwillig folgen.«

»Das habe ich auch nicht angenommen.«

»Friedrich, komm zur Vernunft! Er ist der Erzbischof! Selbst wenn du ihn bei Wasser und Brot einsperrst, hat er doch gar keine andere Wahl, als sich dem Willen des Papstes zu beugen.«

»Er ist einer von uns, also soll er sich, verdammt noch mal, auch so verhalten. Ist mir doch egal, wir er’s dem Pfaff in seinem heiligen Rom beibringt. Ich lasse mir die Pfründe aus den mir übertragenen Vogteien jedenfalls nicht wegnehmen.«

»Wenn der Papst von Engelberts Entführung erfährt, wird es für uns noch ungemütlicher werden, als es jetzt schon ist.«

»Ach ja, glaubst du? Verdammt, Giselher, wenn wir jetzt nicht reagieren, werden sie uns die Einkünfte nach und nach schmälern. Ich bin der Graf von Isenberg. Ich kann und will mir das nicht bieten lassen.« Friedrich schnaubte vor Wut.

»Unterschätze Engelbert nicht. Seine Macht ist in den letzten Jahren noch gewachsen.«

»Ich bin nicht allein mit meinem Vorhaben, das kann ich dir versichern.«

»Wer noch?«

»Das musst du nicht wissen. Sag mir lieber, ob ich auf dich und deine Gefolgsleute zählen kann.«

Der andere machte ein paar Schritte ins Zimmer hinein. »Verdammt! Weißt du, was du da von mir verlangst?«

Ellin hörte, wie nun auch der Mann mit dem Namen Friedrich und damit kein Geringerer als der Burgherr höchstpersönlich, wie Ellin wusste, einige Schritte machte. Die Männer mussten jetzt dicht voreinander stehen. Obwohl sie keinen der beiden sehen konnte, war die Spannung, die den Raum erfüllte, fast mit Händen greifbar. Sie schloss die Augen, schluckte schwer. Oh, lieber Herr Jesus, steh mir bei, dachte sie. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust. Sie öffnete die Augen. Wenn sie jetzt den Überraschungsmoment nutzte, hinter dem Vorhang hervortrat und an den Männern vorbei zur Tür preschte, könnte sie es womöglich schaffen, aus dem Zimmer zu entkommen. Doch was wäre dann? Sie wusste nicht einmal genau, in welchem Teil der Burg sie sich befand. Während die Männer zu zweit waren und sich hier auskannten. Vermutlich würden sie sie rasch einholen. Vorausgesetzt, sie würde es überhaupt an ihnen vorbei bis zur Tür schaffen. Ihr Mut schwand. Was sollte sie nur tun?

»Ich verlange nicht mehr, als ich von einem treuen Freund erwarten kann.«

»Wir werden am Galgen landen!« Die Stimme des Mannes überschlug sich. »Selbst wenn es gelingt und wir Engelberts Gefolgschaft überrumpeln. Was willst du dann mit ihm machen?«

»Ich werde ihn zum Einlenken zwingen!«

»Und wie willst du das anstellen? Er ist sturer als ein Maulesel. Wie er über die Sache denkt, hat er in Soest deutlich gemacht.«

»Wenn er erst mal eine Zeitlang hier im Kerker schmort, wird er seinen Standpunkt vielleicht überdenken, meinst du nicht?« Friedrich lachte kehlig auf.

»Wer ist noch mit dabei?«

Ellin lauschte gespannt. Oh, lieber Herr Jesus, sie hatte schon viel zu viel gehört, und doch wartete sie nun gespannt darauf, die Namen derer zu erfahren, die Erzbischof Engelbert I. von Köln, ihrem Erzbischof, an den Kragen wollten. Rasch presste sie die Lippen fest aufeinander, um nur ja keinen Laut von sich zu geben.

»Ich werde dir die Namen nicht nennen, solange ich nicht weiß, dass ich auf dich zählen kann.«

»Friedrich«, erwiderte der andere barsch. »Wenn du mir nicht vertraust, hättest du mir gar nicht erst von der Sache erzählen sollen. Immerhin könnte ich dich schon mit dem Wissen, das ich jetzt habe, an den Galgen bringen.«

»Vielleicht lebst du ja nicht mehr lang genug, um jemandem davon zu berichten.«

Ellin wagte nicht mehr zu atmen.

Plötzlich begann Friedrich zu lachen, erst leise, dann immer lauter. »Du hättest eben dein Gesicht sehen sollen. Dachtest du wirklich, ich würde dir den Garaus machen?«

»Wenn du schon planst, den Erzbischof gefangen zu nehmen, trau ich dir auch das zu.« Erleichterung schwang in Giselhers Stimme mit.

»Ach weißt du, die Sache wird so oder so stattfinden. Ob nun mit mir oder ohne mich.«

Ellin war eiskalt. Ihr war, als würde sie selbst zu einem jener Hagelkörner gefrieren, die draußen gegen die Scheiben schlugen. Ihre Kehle war trocken, sie musste sich räuspern, husten gar. Es schien ihr, als schreie ihr Körper in einer eigenen, für sie unkontrollierbaren Art danach, entdeckt zu werden. Sie erstarrte, als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde und Jonathas Stimme den Raum erfüllte.

»Diese Burg ist wirklich ein Labyrinth. Du hättest …« Sie brach ab. »Oh, verzeiht! Ich muss mich verirrt haben. Ich dachte … bitte verzeiht, Ihr edlen Herren.«

»Wer bist du und was willst du hier?«

Ohne hinter dem Stoff hervorzublicken, sah Ellin bildlich vor sich, wie Jonatha verängstigt und hilflos das Knie beugte. »Ich bin die Novizin Jonatha aus dem Kloster ›Zum Heiligen Kreuze‹. Wir haben Waren zur Burg gebracht, und ich suche meine Mitschwester.«

»Sie hat uns hier zusammen gesehen«, zischte Friedrich. »Pack sie!«

Jonatha schrie kurz auf. In diesem Augenblick ließ Ellin die Decke fallen, sprang aus ihrem Versteck, stieß einen der Männer, der verblüfft durch den plötzlichen, rückseitigen Angriff das Gleichgewicht verlor, zu Boden, rempelte gegen den anderen und packte Jonathas Hand und zerrte sie mit sich.

Diese stolperte mehr, als dass sie lief, hinter Ellin her. Ohne zu wissen, in welche Richtung sie laufen mussten, um aus der Burg zu gelangen, zerrte Ellin sie durch die Gänge. Es dauerte nicht lange, bis schnelle, schwere Schritte hinter ihnen laut wurden.

»Komm! Oder wir sind des Todes!« Die Frauen rannten, so schnell sie konnten, doch die Verfolger holten immer mehr auf. Sie mussten sich verstecken, doch wo? Während sie um ihr Leben liefen, versuchte Ellin, Orientierungspunkte zu finden, um feststellen zu können, in welchem Teil der Burg sie sich ungefähr befanden. Doch gab es hier keine Fenster und auch sonst keine Besonderheiten, an denen sie auch nur die Himmelsrichtung hätte ausmachen können. Nur Gänge, gemauerte Wände und wieder Gänge, die sich ineinander verschachtelten und keinen Ausgang besaßen. Plötzlich gelangten sie an Stufen, die nach oben führten.

»Komm! Schnell!« Ellin hob ihr Gewand an und rannte hinauf. Da ertönte ein Schrei. Jonatha war soeben von einem der Männer eingeholt, gepackt und von der Treppe zurückgerissen worden. Ellin verharrte kurz und überlegte, ob sie umkehren und ihrer Mitschwester helfen sollte. Da hörte sie einen weiteren Schrei, dann ein Röcheln. Ihre Kehle schnürte sich zu, obwohl ihr niemand nach oben folgte. Sie meinte, vor Angst sterben zu müssen, ging aber dennoch vorsichtig wieder ein paar Stufen hinab. Vorsichtig spähte sie nach unten, um sofort von einem gewaltigen Zittern erfasst zu werden. Jonatha lag am Fuß der Treppe auf dem Boden, ein kleines Rinnsal Blut lief ihr aus dem Mund. Die toten Augen der Novizin schienen Ellin anzustarren, während neben ihr ein Mann stand und ungerührt auf sie hinabblickte. In diesem Augenblick kam auch schon der zweite Mann angerannt und blieb neben seinem Kumpan stehen.

»Lebt sie noch?«

Der andere stupste Jonathas Körper mit dem Fuß an und schüttelte den Kopf. »Sie ist mit dem Kopf auf dem Steinboden aufgeschlagen, als ich sie erwischt habe. Die wird unsere Gesichter niemandem mehr beschreiben.«

»Und die andere?«

»Ist da hochgerannt.«

Ein tiefes Lachen drang zu Ellin hinauf, die schon dabei war, die Stufen weiter hinaufzuschleichen, vorsichtig, um nur nicht den geringsten Laut von sich zu geben.

»Dann werden wir sie gleich haben. Da oben ist nicht viel, wo sich das Miststück verstecken kann. Aber zuerst müssen wir die Leiche wegschaffen. Danach werden wir sie uns holen.«

Ellin streifte sich lautlos die Schuhe von den Füßen, nahm sie in die Hand und tapste weiter hinauf. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken nur so umher. Jonatha war tot. Einfach so, von einem Moment auf den anderen. Und es war ihre Schuld. Nur weil sie so dumm gewesen war, sich hinter dem Vorhang zu verstecken, und nicht gleich vor die Männer getreten war, hatte Jonatha sterben müssen. Und sie wäre die Nächste, wenn die Kerle ihrer habhaft werden würden. Lautlos erreichte sie das Ende der Stufen und damit einen weiteren Gang. Sie lief ihn entlang, ohne zu wissen, wohin er führte. Nur ein paar Schritte weiter rechts von ihr ging eine Tür ab. Ellin drückte ihren Griff hinunter, um zu prüfen, ob sie sich öffnen ließ. Tatsächlich gab er nach, und Ellin trat ein. Der Raum war nur wenig größer als die Kammer, die Agnes ihnen zum Aufwärmen zugewiesen und in der das Unglück begonnen hatte. Rasch schloss sie die Tür hinter sich. Die Möblierung bestand aus zwei großen Truhen. Weder ein Bett noch ein Tisch oder ein Stuhl, nur ein mannshoher Kamin und eine Wendeltreppe, die in einen weiteren Raum führen musste. Der Kamin war kalt, kein Feuerholz war darin aufgeschichtet. Ellin ging zu den Stufen hinüber. Kurz war sie versucht, die Treppen hinaufzurufen, ob sich jemand dort oben befand, der ihr zu helfen vermochte. Doch rasch verwarf sie den Gedanken wieder. Entweder würde sie ihre Verfolger damit auf sich aufmerksam machen oder womöglich jemandem in die Arme laufen, der sie sicherheitshalber seinem Herrn übergeben und damit ihr Schicksal besiegeln würde. Tränen liefen ihr über die Wangen. Doch ihre Tränen waren weit weniger der Verzweiflung geschuldet, womöglich schon bald und damit weit vor ihrer Zeit ihrem Schöpfer gegenüberzustehen, als vielmehr der Scham, dass sie in diesem Moment nur an sich selbst dachte und nicht an Jonatha, die wegen ihrer Dummheit hatte sterben müssen. Mit hängenden Schultern ging sie zum Kamin hinüber, in dem schon lange kein Feuer mehr gebrannt haben konnte. Seine Steine waren ebenso kalt wie der Rest des Raumes. Erschöpft ließ sie sich zu Boden sinken. Ihre Flucht endete hier. Es gab keinen Ausweg, außer noch weiter nach oben zu klettern oder vielleicht weitere Gänge entlangzulaufen, die doch nicht in die Freiheit führten. Oder umzukehren und den Männern direkt in die Arme zu rennen. Nein, es hatte keinen Sinn. Sie hörte Geräusche und meinte, ihr Herz würde augenblicklich aufhören zu schlagen. Ihr war eiskalt, sie starrte auf die Tür und erwartete, dass ihre Verfolger jeden Moment den Raum betreten würden. Deutlich hörte sie nun ihre Stimmen. Doch weiter tat sich nichts. Standen die Männer im Gang und wussten nicht, in welcher Kammer sie zuerst nach ihr suchen sollten? Verwirrt drehte Ellin den Kopf, als ihr klarwurde, dass die Stimmen von unten her durch den Kamin zu ihr nach oben drangen und nicht von draußen vor der Tür. Vorsichtig steckte sie den Kopf in ihn hinein und lauschte. Tatsächlich, jetzt konnte sie die Männer noch deutlicher hören.

»Später, wenn die anderen die Burg wieder verlassen haben, werde ich die Leiche selbst in den Wald tragen und verscharren. Noch mehr Wisser können wir nicht gebrauchen.«

»Wo kam die andere überhaupt so plötzlich her? Ich hab sie kaum gesehen, so schnell war sie an mir vorbei.«

»Ich hab ihr Gesicht genau gesehen, als sie mich angerempelt hat. Dieses Miststück hat alles mit angehört. Wir müssen ihr auf jeden Fall den Garaus machen. Jemand, der bezeugen kann, was wir mit dem Erzbischof vorhaben, bringt uns unweigerlich an den Galgen.«

»Ein verfluchter Dreck ist das.« Man hörte die Anstrengung in der Stimme des Mannes, dann wurde ein Truhendeckel niedergeschlagen. »So. Bis alle gegangen sind, kann sie hier drin liegen bleiben. Und jetzt holen wir uns die andere.«

Ellin schlug kurz die Augen nieder. Es war also so weit. Nicht mehr lange, und sie würde dem Herrn gegenübertreten. Sie lauschte weiter in den Kamin hinein. Sie hatte schon einmal gehört, dass es in den prachtvollen Burgen, die jüngst allenthalben von den Edlen des Landes zum Zeichen ihrer Macht und ihres Reichtums gebaut worden waren, Kamine gab, die über einen Schacht miteinander verbunden waren. Doch einen solchen gesehen hatte sie bisher nicht. Ob innerhalb dieser Schächte wohl ein Mensch hinabklettern konnte? Sie hob ihre Röcke an und bückte sich. Einmal unter dem Kaminsims hindurch, konnte sie wieder aufrecht stehen. Doch nachdem sie sich einmal um ihre eigene Achse gedreht hatte, wusste sie, dass ihr dieser Kamin niemals als Versteck dienen konnte. Die Männer würden sie sofort entdecken, sobald sie den Raum betraten. Und wenn sie sich ganz eng an eine der Kaminwände presste? Die Stimmen waren von unten zu ihr hochgedrungen, da war sie sich ganz sicher. Doch ein Loch oder einen Schacht, wie sie ihn ursprünglich erwartet hatte, war nirgendwo zu entdecken. Sie tastete die Wand ab. Irgendwo musste es doch einen Durchlass geben. Überrascht stellte sie fest, dass sich keinerlei Ruß an den Wänden befand. Konnte es denn sein, dass dieser Kamin noch nie benutzt worden war? Sie spürte einen Luftzug, der direkt durch eine Ritze der hinteren Kaminwand zu kommen schien. Sie stellte ihre Schuhe ab, die sie noch immer in der Hand hielt. Vorsichtig tastete sie sich an dem Spalt entlang. Jetzt spürte sie ganz deutlich, dass zwischen dem Mauerwerk eine schnurgerade Einkerbung verlief. Sie zwängte ihre Finger hindurch und drückte mit aller Kraft gegen den Stein – jedoch ohne die geringste Wirkung. Aber woher waren die Stimmen dann gekommen, wenn es keinen Schacht gab, der die Räume miteinander verband? Ihr Herz schlug schneller, als sie wie von selbst eine Parallele zwischen dem Kamin, in dem sie steckte, und den einzelnen Geschossen im Kloster herstellte, die dort ebenfalls durch verborgene Gänge miteinander verbunden waren. Und solch eine Mauerspalte wie die, in der ihre klammen Finger gerade steckten, wies dort vom Kellergewölbe bis zum Dach auf einen der zahllosen Geheimgänge hin, die die Klosterräume wie die Waben eines Bienenstocks miteinander verbanden. Ellin zog ihre Hände heraus und tastete sich an der Einkerbung entlang. In diesem Augenblick hörte sie, wie Schritte die Treppenstufen heraufpolterten. Sie kamen. Ellin schloss die Augen und tastete sich weiter an der Mauerspalte entlang. Hier musste etwas sein. Ein Hebel, ein Griff, irgendetwas, das den Mechanismus in Gang bringen und ihr den Weg freigeben würde.

»Du nimmst dir die nächste Kammer vor, gleich hinter der Ecke. Ich sehe hier nach.«

Das Blut rauschte ihr in den Ohren, da spürten ihre Fingerspitzen plötzlich eine kleine Erhebung. Beherzt griff sie zu, und sofort glitt ein Stück der Mauer beiseite. Die Öffnung war gerade breit genug, um ihren schmalen Körper hindurchzuzwängen. Ein letzter Griff nach ihren Schuhen, dann presste sie sich mit all ihrer Kraft gegen die Wand, bis diese sich langsam wieder schloss.

»Und Friedrich …«, hörte sie noch, bevor die Wand wieder in ihre ursprüngliche Position einrastete.

»Ja?«

»Was machen wir mit ihr, wenn wir sie haben?«

»Was fragst du groß? Kannst du dir einen Zeugen leisten?«

Die Mauer hatte sich wieder geschlossen. Das leichte Klicken, das damit verbunden war, kam Ellin unendlich laut vor. Gerade noch rechtzeitig, denn nun hörte sie, dass einer der Männer die Tür zu der Kammer öffnete.

Sie lauschte, hörte Schritte. Er ging im Raum hin und her. Er suchte sie. Jetzt musste er die Wendeltreppe erreicht haben. Ganz deutlich hörte sie, wie er nun die Stufen hinaufging. Einen kurzen Moment war nichts, kein Geräusch, keine Bewegung. Hatte er die Kammer etwa wieder verlassen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Nein, denn jetzt nahm sie wahr, dass er die Stufen wieder herabstieg. Offenbar hatte er sich gründlich oben umgesehen, um ganz sicher zu sein. Sie hörte keine weiteren Schritte. Wusste er von dem Versteck hinter dem Kamin? Sollte sie versuchen, zu fliehen und so weit wie möglich fortzukommen? Aber wohin? Es war vollkommen dunkel hier, sie konnte nicht einmal erkennen, ob sie nur in einer größeren Nische saß, die im Falle eines Überfalls als Unterschlupf diente, oder in einem Gang. Die Schritte des Mannes näherten sich der Tür. Sie wurde geöffnet und fiel anschließend krachend zurück ins Schloss. Im Laufschritt entfernte er sich. Ellin atmete aus. Sie war erleichtert, für einen kurzen Moment. Doch was sollte sie als Nächstes tun? Noch etwas abwarten, um dann doch noch – hoffentlich unbemerkt – den Weg aus der Burg zu finden? Aber sie hatte sich schon vorhin verlaufen, und außer dass sie sich nun noch weiter oben befand, hätte sie nicht zu sagen vermocht, wie sie von hier wieder nach unten gelangen konnte. Also würde sie ihr Glück zunächst einmal an Ort und Stelle versuchen und sehen, ob sie es hier nicht doch mit einem Gang zu tun hatte. Sie streifte sich die Schuhe über ihre Füße. Was blieb ihr schon anderes übrig, als sich zumindest so weit voranzutasten, wie sie eben kam. Womöglich würde Friedrich, der Burgherr, schon bald darauf kommen, dass sie den geheimen Platz hinter dem Kamin entdeckt hatte. So viele andere Möglichkeiten, sich hier oben zu verstecken, gab es schließlich nicht. Und dass die Männer auf der Suche nach ihr alles auf den Kopf stellen würden, davon musste sie ausgehen. Hätte sie doch nur eine Fackel oder eine der Kerzen bei sich gehabt, die sie vor wenigen Stunden zusammen mit Jonatha auf die Burg gebracht hatte. Ellin hatte Angst im Dunkeln, und das schon, seitdem sie denken konnte. Deshalb und auch wegen des wunderbaren Dufts liebte sie ihre Aufgabe, aus Bienenwachs Kerzen für das Kloster zu ziehen. Sie spendeten Licht und Wärme, und allein schon der Gedanke an ihren Geruch beruhigte Ellin, so dass sie für einen Moment die Kälte um sich herum vergaß. Sie schloss die Augen, atmete mehrmals tief ein und aus und stellte sich vor, eine der duftenden Kerzen in der Hand zu halten. Sie spürte, wie ein Gefühl von Sicherheit ihren Körper flutete. Ein stilles Gebet kam über ihre Lippen, und sie begann, sich vorsichtig voranzutasten. Schritt für Schritt entfernte sie sich weiter vom Kamin, indem sie zuerst vorsichtig mit einem Fuß den Boden vor sich ertastete, während sich ihre Finger gleichzeitig an der Wand entlangbewegten. Bis ihre Zehen auf einmal ins Leere gingen. Furcht erfasste sie. Stand sie etwa vor einem Abgrund, einem Höllenschlund? Sachte machte sie wieder einen Schritt rückwärts, kniete sich nieder und kroch ein kleines Stück vorwärts. Dann stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Leere vor ihr war nichts anderes als eine schmale Treppe. Fast hätte sie lächeln müssen über ihre Dummheit. Rückwärts kroch sie Stufe für Stufe hinab, bis sie zu einem kleinen Absatz gelangte und weiter voranrutschte. Es war nur ein kurzes Stück, schon erreichte sie die nächsten Stufen, sechs, wie sie zählte, die schmal und in einem engen Kreis nach unten führten. Danach stand sie erneut auf einem Absatz. Ein weiterer Gang? Sie griff nach oben und nach links und rechts, um festzustellen, wie viel Platz um sie herum war. In jedem Fall genug, um nirgendwo anzuschlagen. Außerdem, so ertastete sie, befand sie sich tatsächlich in einem Gang und hatte damit die Möglichkeit, in zwei unterschiedliche Richtungen weiterzugehen. Rasch entschied sie sich, den Weg zu verfolgen, den der Rundlauf der Treppe ihr vorgegeben hatte. Das Herz schlug ihr jetzt wieder heftiger in der Brust. Hätte sie doch nur ein Licht gehabt, um etwas sehen zu können! Sie musste an Adelheid, eine der Nonnen in ihrem Kloster, denken. Adelheid war blind und bewegte sich doch mit solch einer Leichtigkeit und Zielsicherheit, dass jeder, der nichts von ihre Blindheit wusste, sie auch nicht bemerkte. Ellin bewunderte sie dafür – gerade jetzt, da ihr jegliche Orientierung fehlte und sie sich in völliger Dunkelheit vorantastete, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die geduldige Adelheid an ihrer Seite oder zumindest etwas von deren Zuversicht und Fähigkeiten zu haben. Schritt für Schritt und immer eng mit dem Rücken an die rechte Wand des Ganges gepresst, ging sie weiter. Plötzlich stockte sie. War dort nicht gerade etwas am Boden gewesen? Ellin wurde übel. Sie mochte nicht daran denken, was es gewesen sein konnte. Vermutlich nur eine Ratte oder anderes Getier, versuchte sie, sich zu beruhigen. Vorsichtig setzte sie ihre nächsten Schritte. Wenn sie weiterhin in diesem Tempo vorankam, würde sie vermutlich noch Tage hier zubringen. Vielleicht war das soeben am Boden auch gar kein Tier gewesen, sondern das Skelett eines Menschen, der sich in die gleiche Situation wie sie begeben hatte. Sie hatte eine Zeichnung vor Augen, die sie einst auf einer Pergamentrolle der Klosterbibliothek gesehen hatte. Auf der Rolle war ein Berg von Menschenknochen abgebildet gewesen, auf dessen Spitze ein Schädel mit großen, leeren Augenhöhlen thronte. Ellin schauderte. Sie wollte jetzt nicht daran denken. Schon damals, nachdem sie den Knochenberg in der Bibliothek gesehen hatte, hatte sie nächtelang davon geträumt. Zwar war sie damals noch jünger gewesen, doch die Zeichnung stand ihr immer noch so klar vor Augen, als hätte sie sie erst gestern erblickt.

Fast wäre sie gestürzt, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass es erneut einige Stufen abwärtsging. Wieder begab sie sich auf die Knie und kroch vorsichtig die Treppe hinab, die um einiges steiler war als die vorangegangene. Wohin nur führte dieser Gang? Sie müsste doch schon längst das Erdgeschoss erreicht haben? War sie etwa dabei, immer tiefer und tiefer hinab in ihr eigenes Grab zu steigen? Dann schalt sie sich jedoch eine Närrin. Denn warum hätte der Burgherr einen Geheimgang anlegen lassen sollen, der nirgendwohin führte? Tief atmete sie die feuchte, modrige Luft ein und versuchte, sich zu beruhigen. Nein. Dieser Weg würde sie schon irgendwohin führen. Allerdings machte ihr der Gedanke Angst, dass ihre Verfolger womöglich längst durchschaut hatten, wo sie sich befand, und sie am Ende des Ganges erwarteten. Sie musste an Jonatha denken. Jonatha, die vom Gespräch der beiden Männer kein Wort gehört hatte. Ihr Tod war völlig sinnlos gewesen. Ellin hingegen konnten Friedrich und sein Freund Giselher nicht am Leben lassen. Sie planten die Entführung des Erzbischofs. Und sie war eine Mitwisserin. Sogar den Tag und den Ort, an dem Friedrich versuchen würde, den Erzbischof zu überfallen, hatte sie mit angehört. Am 7. November sollte es geschehen, in gerade einmal drei Tagen. Wenn sie lebend wieder aus der Burg käme, das versprach sie sich selbst, würde sie alles tun, um den Überfall zu verhindern. Sie würde im Kloster Meldung machen, die Mutter Oberin ins Vertrauen ziehen. Diese würde wissen, was zu tun war. Ellin bekam innerhalb des Klosters gewiss nur einen Bruchteil von dem mit, was die Menschen im Lande umtrieb. Dennoch wusste sie aus den Erzählungen vieler Reisenden, die immer wieder für eine oder mehrere Nächte im Kloster Unterschlupf suchten, dass es Streit zwischen dem Papst und Erzbischof Engelbert gegeben hatte, weil Letzterer die adeligen Lehnsherren nach Ansicht des Kirchenoberhauptes zu sehr schonte, obgleich diese ihre Untergebenen knechteten und immer mehr Abgaben von ihnen forderten. Selbst vor den Vogteien, die sie im Namen der Kirche innehatten, hatten die Grafen nicht haltgemacht und diese so lange ausgepresst, bis Adelheid, die Äbtissin des Reichsstifts Essen, sich schließlich direkt an den Heiligen Vater in Rom gewandt und ihn zum Handeln aufgefordert hatte. Erzbischof Engelbert hatte daraufhin die Zügel etwas straffer angezogen, was einen Aufschrei unter den Grafen zur Folge gehabt hatte. Und nun war Ellin soeben unfreiwillig Zeugin des teuflischen Plans geworden, der aus ebenjenem Konflikt heraus entstanden war. Ein Schauer überlief sie bei dem Gedanken, was dies womöglich für sie selbst bedeuten konnte. Doch keinesfalls würde sie sich in aller Ruhe wieder dem Gebet widmen und den Klosterregeln unterwerfen, bevor sie ihr Wissen nicht an oberster Stelle vorgetragen hatte. Doch zuerst musste sie aus diesem ewigen Dunkel heraus.

Endlich erreichte sie das Ende der Treppe, doch hier unten stand knöchelhoch Wasser im Gang. Schneller als zuvor ertastete sie sich mit ihren Füßen und Händen den Weg. Jeder Schritt erschien ihr wie eine kleine Ewigkeit, dann kam sie plötzlich nicht mehr weiter. Ihr Herz setzte vor Schreck einen Schlag lang aus. Sie stand direkt vor einer Wand. Eine Mauer, fest und stabil, die den Gang anscheinend blind enden ließ. Hier gab es kein Durchkommen. Hätte sie vorher nach der ersten Treppe etwa doch in die andere Richtung abbiegen sollen? Dann aber dachte sie erneut, dass dieser Friedrich sicher keinen Tunnel hatte graben lassen, der nirgendwohin führte. Sie tastete die Mauer ab und suchte nach einem Spalt, wie sie ihn auch im Kamin vorgefunden hatte, der die Wand vor ihr aufspringen lassen würde. Stück für Stück befühlte sie die Steine, konnte aber keinerlei gerade verlaufende Vertiefung finden. Aber irgendwie musste sie hier doch wieder herauskommen! Verzweiflung breitete sich in ihr aus. Es kostete sie Überwindung, in das eiskalte Wasser zu fassen, um auch dort unten noch nach einem Öffnungsmechanismus zu suchen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, da war einfach nichts. Schließlich war sie an der anderen, linken Seitenwand des Ganges angekommen. Der Gang war breiter, als sie gedacht hatte. Man musste gut fünf Schritte machen, um sie zu erreichen. Sie hatte es zuvor nur nicht bemerkt, weil sie sich die ganze Zeit über immer nur an der rechten entlanggetastet hatte. Doch auch hier war nichts Ungewöhnliches zu ertasten. Sie machte einen Schritt zurück, stolperte und fiel rücklings der Länge nach ins Wasser. Ellin brauchte einen Moment, um sich wieder zu orientieren. Sie hatte sich beim Sturz den Kopf gestoßen, der sie nun höllisch schmerzte, doch dann keimte neue Hoffnung in ihr auf. War das nicht eine Stufe gewesen, über die sie gestürzt war? Sie tastete auf allen vieren durch das Wasser ein Stück die linke Seitenwand des Ganges zurück, bis sie mit der rechten Hand tatsächlich auf eine Stufe stieß. Sie ließ die Finger weiter nach oben gleiten. Da! Die nächste Stufe. Es war also eine weitere Treppe auf dieser Seite des Ganges gebaut worden, die nun nach oben führte. Deshalb auch die Mauer mitten im Weg. Sie musste hier hoch. Vielleicht war das der Ausgang. Ihr Gewand war nach ihrem Sturz nun klatschnass. Stufe für Stufe krabbelte Ellin die Treppe hinauf. Vier, fünf, sechs, sieben, danach war Schluss. Wieder nur Felsen. Sie streckte den Arm direkt über ihren Kopf in die Höhe. Dort war kein Stein, sondern Holz. Vielleicht eine Klappe. Kurz lauschte sie, ob sie irgendwelche Geräusche hören konnte. Vielleicht wartete Graf Friedrich dort oben ja schon auf sie und feixte mit seinen Kumpanen bei einem Becher Würzwein, wann sie wohl herauskäme? Sie ließ die Schultern sinken und seufzte. Aber hatte sie denn eine Wahl? Hier unten würde sie auf jeden Fall den Tod finden. Also könnte sie auch genauso gut hinausklettern. Womöglich würde sie sogar noch jemandem von der geplanten Entführung des Erzbischofs berichten können, bevor man ihr den Garaus machte. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das Holz. Es ging leichter als gedacht, denn die Luke gab sofort nach und öffnete sich einen Spalt weit. Sie schob sie zur Seite und zog sich dann mit beiden Händen am Rand der freigegebenen viereckigen Öffnung ein Stück nach oben. Dort herrschte ebenfalls Dunkelheit, und doch war es weitaus lichter als bei ihr hier unten. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie sich außerhalb der Burgmauern im Wald befand und Mondlicht die Umgebung sanft erhellte. Rasch hievte sie sich ganz nach draußen und blickte sich um. Die Burg lag als dunkler Schatten ein gutes Stück entfernt, und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Schnell legte sie die Klappe wieder über den Ausstieg. Ebenso die Äste, die sie beim Öffnen derselben beiseitegeschoben hatte. Ein kurzes Glücksgefühl durchlief sie. Sie hatte es geschafft. Sie war in Freiheit, und vermutlich hatte Friedrich noch nicht einmal daran gedacht, dass sie den Gang gefunden und die Burg bereits verlassen haben könnte. Ellin versuchte, sich zu orientieren. Der Hagel hatte aufgehört, lediglich Griesel fielen noch zu Boden. In diesem Wald war sie noch nie gewesen. Was nichts anderes hieß, als dass der Weg zum Kloster auf der anderen Seite der Burg auf freiem Feld lag. Wenn sie ihn benutzte, würde man sie in dieser hellen Mondnacht von den Wehrmauern aus sehen können. Zweifelsohne würde eine der Burgwachen sie entdecken und seinem Herrn Meldung machen, sobald er sie erblickte. Aber könnte Friedrich denn überhaupt riskieren, die Wachen nach ihr Ausschau halten zu lassen? Ja, er konnte, denn immerhin plante er das Verbrechen am Erzbischof. Ellin schüttelte den Kopf. Keiner seiner Leute würde ihr zuhören, was auch immer sie behauptete. Und das wusste Friedrich nur zu gut. Natürlich würde er seine Männer nach ihr ausschicken, womöglich mit der Begründung, sie hätte ihn bestohlen oder sonst etwas Verbotenes getan. Sie seufzte. Nein, sie war auf sich allein gestellt und musste irgendwie anders zurück zum Kloster gelangen. Wenn sie nur einen Bogen machte, der groß genug war, könnte es ihr gelingen, im Schutze des Waldes bis zur Emsche zu kommen. Entschlossen setzte sie sich in Bewegung und versuchte, die Eiseskälte zu ignorieren, die von ihren nassen Kleidern herrührte und sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Besorgt sah sie zum Sternenhimmel empor, es war eine klare Nacht. Doch ein Gefühl sagte ihr, dass die Dämmerung nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Sie hatte noch nie eine Nacht im Freien verbracht und fröstelte heftig. Die Furcht, in der Dunkelheit vielleicht wildem Getier und Räubergesindel zu begegnen, erfasste sie. Andererseits bot ihr die dunkle Nacht auch Schutz. »Reiß dich zusammen«, zischte sie daher und stapfte entschieden los.

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2. Kapitel

Ihre Glieder waren schon fast steif gefroren. Sie kauerte unter einem kleinen Vorsprung, dicht an die Felswand gedrückt, die Arme fest um ihre angezogenen Beine geschlungen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Kälte. Würde sie die Nacht überleben? Um das sichere Kloster zu erreichen, müsste sie noch mehrere Stunden strammen Fußmarsches überstehen. In der Dunkelheit die Burg weiträumig zu umrunden und danach wieder auf den ihr bekannten Weg zu stoßen war ausgeschlossen. Dazu kannte sie die Gegend einfach nicht gut genug. Diesseits der Burg sah alles ganz anders aus, nie hatte sie einen anderen Weg genommen, als den vom Kloster und wieder zurück. Und das kleine am Weg liegende Dorf Hattingen hatten ihre jeweilige Begleitung und sie stets rasch durchschritten. Weshalb sie dort auch niemanden kannte, an den sie sich nun hätte wenden können. Ob Graf Friedrichs Männer sie wohl verfolgten? Oder gingen diese noch immer davon aus, dass sie auf der Burg war? Wieder schauderte sie, ob aus Furcht oder Kälte, hätte sie nicht sagen können. Ein Geräusch im Unterholz ließ sie aufschrecken. Was war das? Ein Tier, das ihre Witterung aufgenommen hatte? Ein Mensch, der ihr nach dem Leben trachtete? Sie starrte in die Dunkelheit, konnte jedoch nicht das Geringste erkennen. Lautlos sprach sie ein Gebet, nur einige wenige Sätze. Doch ihre Gedanken schienen ebenso eingefroren zu sein wie ihr Körper. Alles an ihr war wie gelähmt. Das nächste Knacken des brüchigen Holzes nahm sie kaum noch wahr. Erschöpft kippte sie zur Seite und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Als sie die Augen wieder aufschlug, dämmerte bereits der Morgen. Nur schwach drang das Licht durch die dicht stehenden Tannen. Ellin versuchte sich aufzusetzen. Ihr Kleid gab bei jeder Bewegung ein knackendes Geräusch von sich. Der Stoff war tatsächlich gefroren. Nur unter Schmerzen gelang es ihr, ihre Beine zu bewegen. Ein Blick verriet Ellin, dass ihre Haut eine bläuliche Färbung angenommen hatte. Sie bezweifelte, weit laufen zu können. Vorsichtig winkelte sie das rechte Bein an. Es tat so weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie presste die Lippen aufeinander, setzte sich seitlich auf und versuchte auf diese Weise, in den Stand zu kommen. Doch sofort gaben ihre Beine nach, und sie fiel vornüber. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich mit den Armen abfangen, so dass ihr Sturz zu keiner größeren Verletzung führte. Trotzig wischte sie die Tränen fort, stemmte sich mit aller Kraft auf ihre Hände und zog erst ein Bein, dann das andere an, bis sie in der Hocke saß. Aus dieser Stellung richtete sie sich langsam auf und versuchte vorsichtig, die Knie durchzudrücken. Der Schmerz war unbeschreiblich. Nie zuvor, nicht einmal wenn die Äbtissin sie wegen einer ihrer zahlreichen Verfehlungen gezüchtigt hatte, hatte sie solch eine Qual gespürt. Ihr schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie sich endlich vollständig aufgerichtet hatte. Und selbst als sie stand und ihr ihre Glieder wieder zu gehorchen schienen, musste sie sich mit der Hand an einem kleinen Felsvorsprung abstützen, um nicht abermals den Halt zu verlieren.

Zaghaft machte sie einen Schritt. Ihr Novizinnengewand knisterte, als würde es jeden Augenblick in tausend Stücke zerspringen. Ellin befahl sich, die Eiseskälte zu ignorieren, während sie sich in ruckartiger Gangart durch den Wald bewegte. Sie musste weitergehen, durfte sich keine Rast mehr erlauben, bevor sie nicht das rettende Kloster erreicht hatte. Endlich trat sie aus dem Wald heraus und blickte zum Horizont in Richtung der aufgehenden Sonne. Selbst von hier aus konnte sie noch gut Burg Isenberg erkennen, Graf Friedrichs Burg. Rasch sah sie wieder nach vorn. Sie war richtig. Immer weiter, dann würde sie an die Emsche kommen. Bei dem Gedanken, diese durchwaten zu müssen und erneut mit eiskaltem Wasser in Berührung zu kommen, fröstelte sie abermals.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie die Emsche an der Furt durchquerte, von der aus sie bereits das Dorf Hattingen und erste Menschen sehen konnte, die dort ihrer Arbeit nachgingen. Ihr Anblick musste erbärmlich sein, halb erfroren und strotzend vor Dreck. Eine kräftig gebaute Frau, wahrscheinlich eine von denen, die ihren Männern dabei halfen, die Felder zu bestellen, wurde auf sie aufmerksam. Erschrocken ließ sie ihren Weidenkorb zu Boden sinken, raffte ihren Rock und lief Ellin entgegen.

»Herr im Himmel!« Kaum dass die Bäuerin Ellin erreicht hatte, umfasste sie beherzt deren Schultern und stützte die junge Novizin. »Was ist denn mit Euch geschehen?«

Ellin wollte etwas sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Eine lähmende Müdigkeit überkam sie, ihre Zähne schlugen heftig aufeinander. Am liebsten hätte sie augenblicklich der Schwere ihrer Beine nachgegeben und wäre in sich zusammengesunken.

»Gerald!«, brüllte die Frau. »Komm und hilf mir!«

Ein Mann trat aus einer der Dorfhütten, sah sich um und beeilte sich, als er sein Weib mit der fast ohnmächtigen Novizin im Arm erblickte. Das letzte Stück rannte er und erreichte die Frauen gerade noch rechtzeitig, bevor Ellin endgültig die Kräfte verließen und sie zusammenbrach.

 

»Wo bin ich?« Ängstlich zog Ellin die wollene Decke, die sie umhüllte, weiter nach oben und an ihr Gesicht heran. Die Frau, die ihr eben noch den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um.

»Na endlich. Ich dachte schon, Ihr würdet im Schlaf direkt in Gottes Reich eingehen.« Mit einem gütigen Lächeln kam sie zu der Kranken herüber und fühlte deren Stirn. »Ihr seid tatsächlich auf dem Weg der Besserung. Dem Herrn sei Dank.«

»Wo bin ich hier?«

»Wo Ihr seid?«, echote die Bäuerin. »In unserer Kate. Wir haben fast nicht mehr zu hoffen gewagt, dass Ihr je wieder die Augen aufschlagen werdet. Halb erfroren wart Ihr.«

Ellin stützte sich auf den Ellbogen auf und schob die Decke beiseite. Als sie an sich hinabblickte, sah sie das fremde Wollkleid, das ihren Körper verhüllte. Die Bäuerin bemerkte, wie sich die Augen der jungen Novizin erschrocken weiteten.

»Hätte ich Euch nicht das schon gefrorene Gewand ausgezogen, gäbe es Euch nicht mehr. Meinen Mann hab ich dabei rausgeschickt. Es ist alles in Ordnung.«

Kurz machte sich Erleichterung in Ellin breit. Doch der Umstand, dass sie von alldem nichts mitbekommen hatte, behagte ihr gar nicht.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Einen ganzen Tag. Gestern noch wart Ihr gepeinigt von Schüttelkrämpfen. Erst seit heute früh habt Ihr gleichmäßig geatmet.«

»Einen vollen Tag?« Ellins Stimme klang ungläubig. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und schwang die Beine von der Pritsche.

»He, he. Seid Ihr denn wahnsinnig? Ihr dürft noch nicht aufstehen.«

»Aber ich muss«, brachte Ellin gehetzt hervor. »Ich muss ins Kloster und dort eine wichtige Meldung machen. Es muss rasch geschehen, womöglich ist es gar schon zu spät.«

Beherzt drückte die Bäuerin sie an den Schultern zurück auf das Lager.

»Wenn Ihr es wünscht, schicke ich unseren Burschen los. Er soll im Kloster Bescheid geben, wo Ihr seid, und darum bitten, dass jemand hierherkommt und Eure Nachricht entgegennimmt. Doch Ihr verlasst mir nicht diese Hütte.«

»Aber es ist wirklich dringend!«, beschwor Ellin die Frau. »Es geht um …«, sie brach ab.

»Worum geht es?«

Ellin presste ihre Lippen aufeinander. »Verzeiht! Ich weiß, Ihr wart sehr gütig zu mir, und ich danke Euch von Herzen.« Sie schüttelte den Kopf. »Doch was ich zu sagen habe, ist nur für die Ohren unserer Mutter Oberin bestimmt.« Sie griff nach der Hand der Frau. »Bitte glaubt mir. Es geht um Leben und Tod.«

Die Bäuerin musterte sie nachdenklich. »Na, dann werde ich auch nicht weiter in Euch dringen.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich schicke gleich den Burschen los.«

»Und bitte«, sagte Ellin und wartete, bis die Frau sich noch einmal umsah. »Bitte lasst ausrichten, dass die Zeit drängt.«

»Aber ja doch.« Mit diesen Worten ging sie hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Ellin wartete und spielte nervös mit ihren Fingern. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis die Bäuerin endlich zurückkehrte.

»Und?«

Die Ältere zuckte mit den Schultern. »Eure Mutter Oberin war nicht zu sprechen. Mein Bursche musste unverrichteter Dinge wieder umkehren.«

Entschlossen stand Ellin von der Pritsche auf. »Bitte, helft mir«, forderte sie, bevor die Bäuerin ihren Widerstand bekunden konnte. »Ihr wart so gütig, und ich danke Euch. Aber es ist von höchster Wichtigkeit, dass ich sofort ins Kloster zurückkehre. Dort wird man mir helfen können.«

»Aber Ihr seid zu schwach«, brachte die andere hilflos hervor.

»Es wird schon gehen.« Ellin deutete auf das Kleid an ihrem Körper. »Kann ich Euch dies zurückschicken lassen, sobald ich wieder im Kloster bin?«

»Ja, gewiss. Doch was ich Euch schon vorhin fragen wollte: Was ist Euch eigentlich geschehen? Ihr werdet gewiss nicht freiwillig oder durch Unachtsamkeit völlig durchnässt und erfroren in der Gegend herumgelaufen sein.«

»Es würde zu lange dauern, das zu erklären.« Ellin sah sich um. »Wo sind meine Schuhe?«

»Die waren nicht mehr zu retten«, erwiderte die Bäuerin etwas zu schnell.

Ellin war sich sicher, dass es eine Lüge war. Wahrscheinlich steckten sie längst an den Füßen eines Familienmitgliedes der Frau. Einen kurzen empörten Augenblick wollte Ellin sich mit der Antwort nicht zufriedengeben, doch dann rief sie sich zur Ordnung. Die Frau hatte ihr geholfen. Womöglich wäre sie ohne die Bäuerin nicht einmal mehr am Leben.

»Habt Ihr alten Stoff, den ich um meine Füße wickeln kann?«

Die Bäuerin nickte. »Dort in der Truhe sind ein paar Fetzen. Den kurzen Weg werden sie’s schon tun.«

Erschrocken fasste Ellin sich plötzlich an den Hals. Sofort wurde sie ruhiger, als sie das kleine Kreuz an der Kette ertastete, das schon seit Jahren ihr steter Begleiter war. Kurz hatte sie befürchtet, die Bäuerin könnte ihr dies ebenfalls gestohlen haben.

Diese hatte die Geste beobachtet und schien zu ahnen, was Ellin gedacht hatte.

»Wir tun denen Gutes, die unsere Hilfe brauchen«, gab die Bäuerin von sich. »Und wir versorgen unsere Kinder und Alten. Ein Symbol des Herrn zu nehmen wäre jedoch eine Sünde, ganz gleich, wie viele Schuhe oder Kanten Brot man hierfür kaufen könnte.«