Pitt und Fox Die Liebeswege der Brüder Sintrup - Huch, Friedrich - kostenlos E-Book

Pitt und Fox Die Liebeswege der Brüder Sintrup E-Book

Friedrich, Huch

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gratis E-Book downloaden und überzeugen wie bequem das Lesen mit Legimi ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 569

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



The Project Gutenberg EBook of Pitt und Fox, by Friedrich HuchThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Pitt und Fox       Die Liebeswege der Brüder SintrupAuthor: Friedrich HuchRelease Date: November 22, 2015 [EBook #50528]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PITT UND FOX ***Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the OnlineDistributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

Die Bücher der Rose Achter Band Pitt und Fox

Achtundneunzigstes bis hundertundzwanzigstes Tausend 1919

Pitt und Fox

die Liebeswege der Brüder Sintrup

RomanvonFriedrich Huch

Ebenhausen bei MünchenWilhelm Langewiesche-Brandt

Die gute Ausstattung der früheren Drucke hätte diesem Neudruck bei den gegenwärtigen Herstellungskosten nicht einmal unter Verdreifachung des Verkaufspreises gegeben werden können.

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.

Erstes Kapitel.

Pitt — — so nannte Philipp Sintrup sein Spiegelbild, wie er es als kleines Kind zum erstenmal erblickte und mit dem Finger berührte. Die Familie heftete den Namen an ihn, und mit einer Art von Folgerichtigkeit ward nun sein jüngerer Bruder nur noch Fox gerufen. Pitt war es gleichgültig wie er hieß. Fox dagegen wehrte sich gegen den ihm aufgehängten Namen, ohne daß er ihn vertreiben konnte. So behauptete er denn, als er in das Alter kam, wo man moderne Weltgeschichte lernt, ein Nachkomme des großen, bekannten Fox wäre sein Pate, und seinen gewaltigen Reichtum werde er einmal erben.

Schon früh begann Fox Großes von sich zu erzählen. Er stellte sich als den Helden von selbsterfundenen Geschichten hin, die er Märchen nannte, die aber außer ihrer Unmöglichkeit nichts Märchenhaftes an sich hatten, sondern der allernächsten Umgebung entnommen waren und nur in einem Tone vorgetragen wurden, der Grausen erregen sollte. — Der grauäugige, etwas hochgeschossene Pitt hörte sie mit gelangweilten Augen an, und wenn Fox geendet, erzählte er mit gleichmäßiger Stimme: ihm sei Ähnliches begegnet, nur sei alles umgekehrt gewesen; vor seinen Feinden habe er, anstatt sie anzugreifen, sich versteckt, indem er sich bewegungslos gegen den Zaun drückte, so daß sie ihn für einen Holzpfahl hielten. Während unter seines Bruders Tritten die dicksten Brückenbalken krachten, genügte ihm ein Strohhalm, sich seinen Verfolgern über das Wasser hin zu entziehen. Unter diesen befanden sich ganz unbesehen seine nächsten Verwandten, seine eigenen Eltern. Herr Sintrup zog an ihrer Spitze, und Frau Sintrup, Pitts Mutter, sonnte sich im Eingang einer Höhle, ohne sich zu bewegen, so daß er nicht an ihr vorbei konnte, um sich ein für allemal zurückzuziehen. Wurde Fox am Ende seiner Erzählungen König, so verscholl Pitt am Schlusse ganz und gar, und wußte selbst nicht wo er blieb. — In solchen Augenblicken schwelgte Fox im Gefühle seiner eingebildeten Stärke. Herr Sintrup aber sagte: aus dir wird mal was Großes! Aber du, Pitt kannst dich nur gleich begraben lassen. — Dann zog Pitt unbemerkt ein Taschenbüchlein hervor, suchte eine bestimmte Seite und machte einen Bleistiftstrich. Sein Vater und seine Mutter sagten stets dasselbe und er führte darüber eine Art Statistik.

Herr Sintrup war ein rühriger, geachteter Fabrikant in dem kleinen Städtchen. Pünktlich mit dem Glockenschlag war er zumeist im Bureau und schnauzte seinen Angestellten ein gutmütiges „guten Morgen“ zu. Nur manchmal kam es vor, daß er im Bette länger liegen blieb, denn ab und zu liebte er einen „guten Tropfen“, wie er das nannte. Bekam er einen neuen Lehrling, so stellte er ihn vor sich hin, durchbohrte ihn mit seinen Augen, und sagte in schrecklich drohendem Ton: Bengel, Bengel, ich sage dir ....! Im Grunde aber war er gutmütig und leicht gerührt.

Fox fühlte sich in seiner Haut sehr wohl; den Dienstboten gegenüber tat er, als sei er eigentlich eine Art von Kronprinz; seine Mutter hatte er ganz in der Gewalt, sie verwöhnte ihn und gab ihm in allem seinen Willen, um so mehr, als Pitt ihr nicht im Wege war, der nie um etwas bat und mit einem stereotypen: danke — alles in Empfang nahm, mochte es nun Gutes oder Geringwertiges sein. Pitt erschien wie ein verschlossenes, etwas impertinentes Waisenkind, das trotz aller jahrelangen Gewöhnung niemals recht häuslich wird in dem Kreise seiner Pflegeeltern. Die Namen seiner nächsten Verwandten konnte er nicht auseinanderhalten. Manchmal mußte er sich erst besinnen, wo das Eßzimmer, wo die Wohnstube lag. Genau so fremd lebte er in der Schule. Seinen Kameraden gegenüber hatte er einen leise überlegenen, ironischen Ton, feiner oder plumper, je nachdem er es für angemessen hielt. Wirkliche Freundschaften kannte er nicht. Er litt darunter, konnte es aber nicht ändern. Einmal schloß er sich an eine gleichaltrige Cousine an; aber das Mädchen wurde so gefühlvoll, ihm war, als spielten sie Theater; und als sie ihn eines Tages wie gewöhnlich besuchen wollte, fand sie seine Tür verschlossen, und er rief ihr durchs Schlüsselloch zu, es sei aus zwischen ihnen, er wolle sie nie wiedersehen. Als er dann später einmal ein tragisch auf ihn gerichtetes Gesicht erblickte, mußte er sich erst besinnen, wer das war. — Fox unterhielt Freundschaften mit Mädchen, die viel jünger waren als er selbst; er verlachte Knaben, die mit gleichaltrigen oder älteren gingen: das hat doch gar keinen Sinn! Die kann man ja später doch nicht heiraten! Ein Mann muß doch immer älter sein als die Frau! — Trotz dieser massiven Untergründe wechselte er seine Liebe ziemlich oft. —

Über seinem Bette prangte die gedruckte Gestalt eines Athleten; die Muskeln hatte er mit Tinte nachgezogen und verstärkt. Über der Tür hing ein großes Pappschild, darauf hatte er sein eigenes Monogramm gemalt, mit Blau- und Rotstift, in kolossalen Buchstaben. An der Wand hinter seinem Arbeitstisch aber stand jene von einem autodidaktisch arbeitenden Onkel unternommene, lebensgroße Kreidekopie nach einem kleinen Bilde, das ihn in seinen ersten Jahren darstellte. — Ich wog damals schon fünfzig Pfund! sagte er zu einem Freund, der ihn besuchte. Und die Muskeln! fügte er hinzu und blickte auf das Bild, auf dem man von Armen überhaupt so gut wie gar nichts sah. Mit rascher Fassung aber sagte er: Da oben kannst du sie hundert Jahre suchen und findest sie nicht, aber ich hatte sie schon damals, das ist bombensicher! —

Fox war bei seinen Kameraden tonangebend, er umgab sich mit einem Stab, der auf sein Wort zu hören pflegte. —

Pitt war jeder Lärm ein Gräuel. Er hielt seine Fenster zumeist verschlossen und trug zu Haus fast immer Filzpantoffeln. Ein eigentliches Zimmer für sich besaß er nicht; er wechselte stets. So wie er anfing sich gemütlich zu fühlen, glaubte er irgend einen Mißstand zu entdecken. Frau Sintrup gab dann mit gleichmütiger Stimme dem Mädchen die Anweisung, sein Bett irgendwo anders hinzuschaffen; einen großen Spiegel nahm er jedesmal persönlich mit von einem in das andere Zimmer. Er liebte es, sich vor ihn hinzusetzen, hineinzusehen, alles zu vergessen und gar nichts zu denken. So müßten die Menschen sein! Ganz still und stumm, nur wie Erscheinungen! In Wirklichkeit dagegen waren sie alle so laut und heftig, machten aus jedem Gefühl viele Worte, ganz wie die Schauspieler auf der Bühne. Zuweilen empfand er sich selbst wie einen Schauspieler, namentlich dann, wenn er in Erregung geriet, was nicht oft geschah. Dann hörte er sich auf einmal selber reden, alles erschien ihm plötzlich hohl und albern. Dabei besaß er selbst die Fähigkeit, aus dem Geiste eines andern herauszureden, ihn nachzuahmen in allen seinen Äußerungen. Aber davon wußte niemand, und er empfand geradezu einen Haß gegen sich selbst, wenn er sich manchmal allein in diesen Nachahmungen gehen ließ, denn dann war es, als hafte ein besonderer Nachgeschmack an allem, was er selber tat und sagte.

Fox versäumte keine Schülervorstellung im Theater und versuchte zu Hause alles nachzuahmen, wobei es ihm ganz gleichgültig war, wer etwa zuhörte. —

Alljährlich pflegte die Familie Sintrup für einige Wochen in ein Bad zu gehen. Frau Sintrup litt an einem Übel. Da es ihr aber vorläufig keine großen Unbequemlichkeiten bereitete, pflegte sie zu sagen: Einmal muß der Mensch doch sterben; ob es nun ein bißchen früher oder später kommt, ist doch ganz gleich. — Die Schneiderin kam mehrere Wochen vor der Abreise und huschte maßnehmend um Frau Sintrup herum, bis diese meinte: Nun hören Sie aber auch mal wieder auf; die Dinger werden wohl von selber sitzen. — Der einzige, der es sich gestatten konnte, jederzeit so wie er war zu bleiben, war Herr Sintrup selbst, dessen tadelloser „Habitus“ wie er es nannte, dessen glänzend steifer Hut und funkelnd rote Handschuhe ihn schon von weitem überall signalisierten.

Pitt lebte im Bade genau so wie zu Hause; es kümmerte ihn nicht, ob er zu spät zur Mittagstafel kam: als sei er ganz allein, trabte er durch den Saal und starrte den Menschen in die Gesichter, als wolle er entscheiden, ob es seine Eltern waren oder nicht.

Pitt! du bist nun bald konfirmiert, du verläßt in ein paar Jahren die Schule! sagte Herr Sintrup: So ißt man seine Suppe! Er nahm den Löffel zierlich und hielt die Ellbogen an den Leib gedrückt. Frau Sintrup, deren Busen den Teller fast berührte, fügte mechanisch hinzu: Wozu hat man denn seine Eltern, wenn man sich nicht nach ihnen richten will — und hatte soviel Geistesgegenwart, den Löffel unterwärts nicht abzulecken, wie sie zu Hause gerne tat. Fox saß in solchen Augenblicken stramm auf seinem Stuhl. Die Haare klebten straff an beiden Schläfen, sein roter Schlips aus Halbatlas glänzte wie seine Backen. Er fühlte sich als den Sohn des reichen Fabrikanten, und wußte, was er der Welt schuldig war. — Den einzigen Menschen, welchen Pitt grüßte — den Portier — grüßte er nicht; Fox grüßte niemals Untergebene; gerne hielt er sich in der Nähe solcher Fremden auf, die durch anspruchsvolles Wesen seine Aufmerksamkeit erregten. Er wußte Bekanntschaften einzuleiten, und es machte den Menschen Spaß, den halbwüchsigen, dicken und im Grunde gutmütigen Jungen scheinbar ernst zu nehmen und fast wie einen Erwachsenen zu behandeln. Wenn er von solchen Reisen nach Hause zurückkehrte, erschien er jedesmal ein Stück gefestigter und reifer. Auch schrieb er alsdann viele Briefe, an Mädchen, die er kennen lernte, von denen er die eine oder die andere später zu heiraten gedachte, Mädchen, die Pitt samt und sonders langweilig oder häßlich fand. Pitt selber schloß einmal eine nähere Freundschaft, nachdem er lange geschwankt hatte ob er solle oder nicht. Schon Tage vor der Abreise sprach das Mädchen in geheimnisvoller Weise von einem Andenken. Er war neugierig, und am Tage der Abfahrt überreichte sie ihm einen großen Kranz, den sie gemeinsam mit der Gesellschafterin der Familie geflochten hatte. Pitt schenkte ihn heimlich dem Portier. Später bekam er einen richtigen Liebesbrief, den er vier Seiten lang beantwortete, aber so, daß er von jedem Worte nur den allerersten Buchstaben niederschrieb, so daß das Ganze wie ein regelloses Alphabet aussah. Damit war dies Erlebnis beendet.

Fox arbeitete zu Hause weiter an seiner Entwicklung. Wenn Freunde seines Vaters zu Tisch kamen, merkte er stets auf die Unterhaltung, sein gutes Gedächtnis ließ ihn vieles behalten, und später wiederholte er es andern Leuten gegenüber als sein geistiges Eigentum. So gelang es ihm, bei Menschen den Glauben an Frühreife wirklich zu erwecken, nachdem sie im ersten Augenblick über ihn gelacht hatten. Solchem Lachen pflegte er einen ernsten, bedauernden Blick entgegenzusetzen. Er verdarb es mit niemand, auch nicht mit solchen, die ihm unangenehm waren. Wie oft kam es vor, daß Herr Sintrup über irgend einen Menschen in der lästerlichsten Weise redete; begleitete ihn Fox noch am selben Nachmittag auf der Straße, so konnte es geschehen, daß Herr Sintrup denselben Herrn auf die kordialste Weise ansprach, ihm derb die Hand schüttelte und sich bedauernd wieder von ihm trennte. — Weltgewandtheit, mein lieber Fox, Weltgewandtheit muß man haben; ohne die kommt man nicht aus im Leben! Der Kerl da weiß ganz genau was ich von ihm denke; und ich weiß ganz genau was der Kerl von mir denkt. Mit der einen Hand hält man sein Portemonnaie fest, mit der andern winkt man sich zu, das ist einmal nicht anders! — Fox eiferte seinem Vater nach; und wenn der öfter gezwungen war größere Reisen zu unternehmen, — was Fox jetzt noch nicht konnte, so stellte er sich dafür manchmal auf den Bahnhof, wartete, bis der große Eilzug kam, der für wenige Minuten verweilte, kletterte hinein, sah für ein paar Augenblicke ernst und interessant aus dem Fenster einer ersten Klasse, stieg dann wieder heraus, und ging, die Hände in den Hosentaschen, mit einem erschöpft-bedeutenden Gesichte auf dem Bahnsteig auf und ab.

Fox war faul. Aber er hatte die größte Meinung von sich und seiner Zukunft, und oft redete er davon, er werde Pitt sogar noch auf der Schule überflügeln. Sein außerordentliches Selbstvertrauen aber ließ ihn auf persönliche Anstrengungen verzichten, indem er dachte, alles würde schon von selber getan; und so kam es, daß Pitt, der sich ebenfalls keine Mühe gab, doch immer voran blieb. Pitt machte seinen Weg genau so, wie er auf der Straße, wie er zu Hause ging: leise, ohne sichtbaren Rhythmus. In kein Ding vertiefte er sich wirklich, er hatte keine Zu- und keine Abneigungen, er erledigte seine Schularbeiten ohne Hast, ohne Leidenschaft, nicht spielerisch, auch nicht zerstreut, aber so, daß seine Lehrer sagten: Es fehlt ihm das Mark und die Kraft! Es kam vor, daß man ihn ungerecht bestrafte. Trat dann durch Zufall seine Unschuld an den Tag, und fragte man ihn verwundert, weshalb er sie denn nicht von vornherein beteuert habe, so sagte er wohl: Es ist ja alles doch ganz gleich! — War aber ein Verdacht gegen ihn begründet, und ging er nur nach einer falschen Richtung, so klärte er alles auf, mit belehrender Offenheit, die an Unverfrorenheit grenzte, gleichsam als Dritter, Unbeteiligter, Darüberstehender, und es hätte nur gefehlt, daß er, wie einmal ein Lehrer sagte, von sich selbst als „er“ gesprochen hätte. Man hielt ihn für kalt und hochmütig. Er selbst hielt sich weder für das eine noch für das andere. Ihm war, als führe er hier zu Hause und auf der Schule ein Traumleben, und als müsse das anders werden, sowie er draußen wäre. Daß er seinen Eltern nicht nahe stand, lag an seinen Eltern; daß er keine Freunde hatte, lag an denen, die zur Auswahl standen; mit geläufiger Zunge setzte er alle ihre Nachteile und Schwächen auseinander, und sprach über sie wie über die einzelnen Objekte einer Sammlung.

Sein Examen rückte nun heran, und damit auch die Frage nach einem Beruf. Diese war ihm vollständig gleichgültig und sehr langweilig. Er fühlte sich jedem Beruf gewachsen, und was einer wurde war ja doch nur Zufall. Nur zur Universität im allgemeinen entschloß er sich, da er dann am schnellsten herauskam aus diesem öden, freudlosen Leben zu Hause.

Möchtest du Mediziner werden? sagte Herr Sintrup. — O ja, warum nicht? — Aber ich glaube, du hast nicht das mindeste Talent zum Mediziner. — Dann kann ich ja auch was anderes werden. — Solche Antworten brachten seinen Vater zur Verzweiflung: wie ist dieser Geist in dich gefahren! Hast du denn keine Spur von Ehrgeiz? — Pitt schüttelte den Kopf. — Ich lasse dich einfach ein Handwerk lernen! — Gut, ich bin mit allem einverstanden! — Nirgends, von keiner Seite war dieser Mensch zu fassen.

Erbittert machte Herr Sintrup eine Faust hinter ihm drein, wie er ihn am ersten Examentag, ein wenig gekrümmt, zur Schule gehen sah. Pitt blieb stehen, sah aufmerksam auf seinen Vater, der hinter der Scheibe stand, und rief irgend etwas. Herr Sintrup glaubte eine unerhörte, grenzenlose Unverschämtheit zu vernehmen und öffnete energisch das Fenster. — Ach du bist es, sagte Pitt trocken und schlich weiter. Die nächsten Tage ging jener dumpfe Geist im Hause um, wie ihn die Aussicht auf ein reifendes trübes Geschick zeitigt; denn Pitt machte keinen besonders freudigen Eindruck. Nur Frau Sintrup sprach sehr gemütlich von dem Unglück: Es sei doch ganz egal, ob Pitt noch ein Jahr länger auf der Schule sei oder nicht, sie liebe überhaupt keine Veränderungen, und wenn er jetzt fort müsse, so käme das doch eigentlich recht plötzlich. — Alle waren überrascht, als die Nachricht kam, Pitt habe das Examen als einer der Besten bestanden. Tanten erschienen zur Besichtigung und zur Gratulation, und Frau Sintrup litt alsbald an einer Magenverstimmung. — Fox war recht enttäuscht. Nun blieb ihm nur die Hoffnung, er werde Pitt bald einholen und dann auf der Universität überflügeln. Fox wußte schon längst, was er werden wollte: Regierungsbeamter, welcher Art, war noch nicht sicher. —

Nach der ersten großen Freude begann Herr Sintrup wieder mit seinen Fragen. Und Pitt, der sich sagte, etwas müsse nun getan werden, erklärte: er wolle Jurist werden, es sei dies der einzige Beruf, für den er sich eigne. Und da er dies mit lauter Stimme mehrere Male sagte, so glaubte ihm Herr Sintrup, der anfänglich etwas mißtrauisch war. Fox dagegen meinte: Er macht mir das nur nach.

Nun war der Zeitpunkt wirklich eingetreten, nach dem Pitt sich so gesehnt hatte, und doch empfand er eigentlich keine Freude. Als er das Gymnasium verließ, mit dem Bewußtsein, es nie wieder betreten zu müssen, sagte er sich: dies wird mir nach vielen Jahren vielleicht noch als einer der allerglücklichsten Momente meines Lebens erscheinen. Fühle ich mich jetzt glücklich? Ich fühle mich genau wie vorher. Aber die Freude wird schon hinterher kommen, wenn ich erst einmal ganz fort bin. — Ein Familiensouper wurde ihm zu Ehren gegeben. Er hatte keine Lust es mitzumachen, sagte, er habe Kopfweh, und legte sich zu Bett. So ruhte das Gewicht, die herangewachsene Generation in der Familie zu vertreten, auf Fox, und seine breiten Schultern schienen um die Last, aber auch um den Stolz einer solchen Bürde zu wissen. Er hielt eine Rede, und es gewann schließlich fast den Anschein, als sei dieses Fest eine Vorwegnahme eines späteren, und in seinen Augen lag es wie eine Garantie der Hoffnungen, die man auf ihn setzte. Frau Sintrup aber sagte, Pitt sei nun genau so alt, wie ihr Mann damals gewesen war, als sie ihn zum ersten Male sah. Nur habe der damals bereits einen Vollbart gehabt; — ach Gott, ich weiß es noch wie heute; er steckte mir immer Bonbons zu, und ich lauerte ihm auf, nur um die Bonbons zu kriegen. Na, dann wurde es ja anders, aber wieviel Jahre gingen hin bis wir uns heiraten durften, bis er Prokurist wurde! Und das pompöse Hochzeitsessen später! Ich glaube, ich kann die Speisekarte noch heute auswendig. Natürlich sagten die Leute, er habe mich des Geldes wegen geheiratet. Lieber Gott, und wenn nun ein ganz bißchen Wahrheit daran gewesen wäre — Aber Mausi! rief Herr Sintrup, aber Mausi, was fällt dir ein! Alle lachten, aber Frau Sintrup übertönte den Lärm mit ihrer Stimme: Ich hätte dich doch auch niemals genommen, wenn Vater nicht ganz genauen Einblick in die Verhältnisse gehabt hätte! Solidität muß sein. Andere waren ja noch begeisterter für mich, wenigstens in ihren Redensarten; aber die taugen für eine Ehe nicht, die verfliegen mit den Flitterwochen. Ich verzichte gerne auf den Kram! —

Sie lehnte sich mit Behaglichkeit zurück und gedachte ihres ganzen Lebens, das ihr auch nicht eine einzige Enttäuschung gebracht hatte. Daß ihr Mann ihr zuweilen etwas untreu war, das rechnete sie nicht; das war nur auf Geschäftsreisen und ging sie also gar nichts an. Hier zu Hause liebte er nur sie, bereits seit fünfundzwanzig Jahren; — in der ersten Zeit war ihre Ehe kinderlos. Voll Zufriedenheit saß sie im Sofa und ließ den Blick auf ihrem Bilde ruhen, das, von Schiller links, von Goethe rechts flankiert, ihr gegenüber an der Wand hing.

Bald nach diesem Abend verließ Pitt seine Vaterstadt. Mit einer Riesengeschwindigkeit, wie zu einer ungeheuren Aufgabe jagend, durchschmetterte er das deutsche Land — und in Wahrheit war ihm alles, was mit Beruf und Aufgaben zusammenhing, nebensächlich und nicht der Rede wert. Nur seine Einsamkeit empfand er, und die Sehnsucht, daß es besser werden möchte.

Zweites Kapitel.

Pitt stand eines Tages im Vorsaal eines vornehmen Hauses: Er wolle das Fräulein sprechen. Der Diener bat um seine Karte, er gab sie zögernd. Dann wartete er in dem großen, stillen Salon. — Ein junges Mädchen trat herein, mit stumpfem, blondem Haar und ganz hellem Gesichte. Sie hielt Pitts Karte in der Hand, und gespannt, wer sie da wohl besuche, warf sie einen neugierigen Blick ins Zimmer, aus ihren graublauen Augen, die wie zwei lichte, besondere Kämmerchen für sich allein erschienen. Sofort aber nahmen sie einen halb überraschten, halb beunruhigten Ausdruck an: was fällt Ihnen denn ein! sagte sie schnell und halblaut, das geht doch nicht! Sie kennen uns doch nicht! Meine Mutter und meine Schwester wissen doch gar nichts von Ihnen! — Die will ich ja auch gar nicht besuchen; sagte Pitt. — Sie sah beunruhigt auf die Tür: Wenn meine Mutter jetzt hereinkäme — ich kann ihr doch nicht gleich die ganze Geschichte erzählen — so gehen Sie doch, hören Sie denn nicht — meinetwegen warten Sie draußen, ich muß sowieso in die Stadt. — Er war noch einen Augenblick wie unschlüssig, aber da schien es, als wollte sie ihn in ihrer Unruhe vor sich herschieben; er lachte und ging eilig und lautlos durch die teppichbelegte Vorhalle, an dem Diener vorbei, wie ein Dieb, der einiges Silber in die Tasche gesteckt hat und sich bemüht, nun möglichst harmlos dreinzuschauen. Fast wäre er gegen eine äußerst elegante, schlanke junge Dame geprallt, die ins Haus schritt und ihn jetzt mit einem etwas erstaunten Blicke maß. Es war Hedwig van Loo, Elfriedes ältere Schwester. — Wer war dieser junge Mensch? fragte sie als sie zu ihr ins Zimmer trat. — Ein Freund von mir! sagte Elfriede gleichgültig und kurz; Hedwig zog ein wenig pikiert die Augenbrauen hoch; die Unterhaltung war abgeschlossen. Elfriede nahm einige Noten vom Flügel und verließ das Haus. Wie sie draußen an der Ecke Pitt erblickte, lachte sie, als sei es ein lebendig gewordener Witz, der da vor ihr stände. Er begriff noch immer nicht, daß sie ihn fortgeschickt habe. — Wenn ich nur vorher genau gewußt hätte, daß Sie das wären! sagte sie, aber in dem Augenblick war ich ganz verwirrt. Eigentlich, fuhr sie nach einer Pause fort, ist doch unsere Bekanntschaft auch recht sonderbar. — Das finde ich gar nicht! Ich finde sie im Gegenteil höchst natürlich. Ich habe noch nie im Leben einen Menschen auf so natürliche Weise kennen gelernt wie Sie. — Ich auch nicht! fiel sie schnell ein, aber gerade deshalb finde ich es so komisch. — Und eigentlich kenne ich Sie ja auch jetzt noch so gut wie gar nicht! fuhr er fort. — Ja das ist wahr! sagte sie sehr ernsthaft und ging unwillkürlich etwas gemessener. — Wenn Sie wirklich in unser Haus kämen, fuhr sie nach einer Pause fort, so müßte ich meiner Mutter doch irgend etwas vorher sagen, das geht gar nicht anders. — Gut, dann tun Sie das, und dann komme ich morgen wieder. — Bitte — sagte sie stolz, das hängt doch von mir ab, ich muß mir das sehr überlegen. Sie schwiegen eine Zeitlang, dann sagte Pitt: Weshalb tragen Sie eigentlich täglich diese Mappe? — Weil ich täglich in die Stunde gehe! Sie haben mich schon zweimal danach gefragt und jedesmal dieselbe Antwort bekommen. Und als er bestätigend nickte, fragte sie: Sind Sie öfter so zerstreut? — Er erfuhr jetzt, daß sie sich ganz im Klavierspiel ausbilde, viel habe sie schon gelernt, aber noch lange nicht genug. Die Lehrer seien hier nicht besonders gut, sie wolle später nach Paris gehen. Darauf teilte er ihr mit, er mache niemals Pläne, alles käme ja doch immer so, wie es kommen müsse. Sie fand das dumm; er bewies es ihr an seinen letzten Erfahrungen: Eigentlich, wenn es nach dem Plan gegangen wäre, säße er jetzt ganz wo anders. Er habe sich irgendeine Universitätstadt ausgesucht, aber mitten auf dem Bahnhofplatz habe er dem Gepäckträger gesagt, er wolle umdrehen, er wolle weiterfahren. — Weshalb? — Pitt zuckte die Achseln. — Und dann sind Sie weitergefahren? — Jawohl, bis ich hier war, und da dachte ich: Nun ist es richtig. — Elfriede machte einen etwas spitzen Mund und sagte in kleinen Tönen: Sie scheinen die Originalität zu lieben. — Über diese Worte ärgerte er sich, da sie ihn gar nicht trafen. — Jetzt werde ich nur noch in einem kleinen Kreis von Möglichkeiten herumgetrieben, sagte er nach einer Pause, denn ich ziehe fortwährend von einer Wohnung in die andere. Sie fand dies toll und direktionslos — ein Ausdruck, den Hedwig gern gebrauchte. Er sah halb von der Seite auf ihr Gesicht, und nach einem kleinen Nachdenken sagte er: Ihnen geht es ja gerade so wie mir! Sonst würden Sie doch hierbleiben und nicht durchaus nach Paris wollen! — Das ist doch etwas ganz anderes! Gerade das Gegenteil davon! Ich folge doch dabei einem ganz festen Plane! Er bestritt dieses, sagte, das rede sie sich nur ein, und berief sich auf seine Menschenkenntnis. — Dann ist Ihre Menschenkenntnis keinen Pfennig wert! rief sie rasch und ärgerlich. Er lachte und sah sie aufmerksam an. Ich meinte das auch gar nicht so! Ich wollte nur gerne einmal sehen was Sie für ein Gesicht bekommen wenn Sie böse sind! — Nun war sie wirklich böse, hob den Kopf, antwortete nichts und schritt schneller. Ein wenig unsicher blickte er ab und zu auf ihr Profil, auf ihre feine, ein ganz wenig stumpfe Nase, die so fest und eigensinnig in die Luft sah. — Seien Sie doch nun wieder anders! sagte er endlich. Da lachte sie und meinte, er sei ein komischer Mensch. — Sie hatten jetzt ein großes Haus erreicht, Elfriedens Ziel, und verlangsamten ihren Schritt; Pitt, der es nicht gewohnt war, eine gleichmäßig schnelle Gangart einzuschlagen, hatte in den Beinen ein Gefühl, wie wenn ein Räderwerk im Ablaufen sei. — Wenn Sie nun wirklich nichts zu Hause sagen, dann sind Sie in Zukunft nie mehr vor mir sicher. Ich erkenne Sie auf hundert Schritte. — Das ist nicht wahr! sagte sie blindlings, nur um zu widersprechen. — Wollen wir wetten? — Sie schwieg wie im Nachdenken, dann sagte sie auf einmal: Wollen Sie morgen mit mir spazierengehen? Bis dahin sage ich dann alles meiner Mutter. — Er war sehr überrascht über diese plötzliche Wendung und sagte zu. Sie verabredeten die Stelle wo sie sich treffen wollten, dann verschwand sie im Gebäude, nachdem sie noch einen kleinen spitzbübischen Blick auf ihn zurückgeworfen hatte, als wisse sie etwas ganz Besonderes. Er hatte wieder Gelegenheit, ihren rhythmischen Gang zu bewundern, das erste was ihm an ihr aufgefallen war, damals, in der ersten Zeit, als er immer, wenn er sie sah, den Mantelkragen hochklappte und wie ein Krüppel tat, aus Furcht, sie möchte ihn sonst für einen Don Juan halten. — — Am nächsten Tag war er pünktlich um die angegebene Zeit auf der Allee. Lange wartete er vergebens, endlich setzte er sich auf eine Bank. Guten Tag, sagte da ein halbwüchsiger Knabe neben ihm, und sah pfiffig in die Luft hinaus. Im selben Moment erkannte er Elfriedes stumpfes, feines Profil. Die Haare hatte sie unter einer weichen Mütze verborgen, der dunkelblaue, nur oben leicht geöffnete elegante Tuchmantel mit den breiten Aufschlägen und den Metallknöpfen reichte ihr genau bis an die Waden; sie trug schwarze Strümpfe und Schnallenschuhe, ihr Hals war frei unter dem Matrosenkragen. — Sehen Sie, sagte sie stillvergnügt, ohne sich zu rühren, nun haben Sie mich doch nicht erkannt! Ihr Scharfblick ist etwas mäßig. — Sie sprang auf, und wie sie nun dastand, konnte man sie für einen Knaben oder für ein Mädchen halten. — Wir nehmen einen Wagen! sagte sie; ich möchte schnell heraus ins Freie; draußen kann er umkehren und wiederkommen, wenn wir ihn brauchen. — Pitt war etwas befangen durch diese neue Wandlung, und wie sie nun nebeneinander herfuhren, konnte er nicht gleich den rechten Ton wiederfinden. Zudem sah er sie zum erstenmal im hellsten Tageslichte, unter einem klaren Himmel. — Sie lehnte sich zufrieden in die Ecke zurück. Vorne an der Stirne schauten ein paar blonde Härchen durch; die Lider hatte sie vor Vergnügen halb geschlossen; mit Genugtuung lugte sie auf die Menschen, und ihre Lippen spitzten sich unmerklich, wenn eine ihr bekannte Dame den Blick gleichgültig über sie hingehen ließ. — Endlich hielt der Wagen; sie waren im Freien. — Wo gehen wir nun hin? fragte sie. Es stellte sich heraus, daß Pitt auch nicht eine Ahnung von der ganzen Gegend hatte, obgleich er nun schon seit ein paar Wochen hier war. Er fand solche Frage überflüssig: Man geht einfach los, wohin die Beine gehen. Irgendwo wird man schon ankommen. Ein Baum ist ja doch genau so wie der andere! — Sie wollte aber ein festes Ziel vor Augen haben: Man geht mit einem ganz anderen Vergnügen, wenn man weiß, wohin es geht, und mit einem viel gesicherteren Gefühl; und dann hat man doch auch eine Vorfreude! — Vorfreude? fragte er, was ist das? — Ihr fiel etwas Schönes ein und sie nahmen eine feste Richtung. Sie griff das Gespräch wieder auf: Wenn ich kein festes Ziel vor Augen sähe, so wäre mir das Leben überhaupt nichts wert; ich weiß ja nicht ob ich etwas Großes erreichen werde, aber ich versuche es doch wenigstens, habe den guten Glauben daran und arbeite so fest los darauf wie ich kann. — Und wenn Sie es nicht erreichen? — Sie sah ihn ganz erschrocken an. — Daran darf man nicht denken; wenn man gleich so denken will, braucht man überhaupt nicht anzufangen. — Das soll man auch nicht. — Aber Sie haben doch auch einen Lebensplan? — Er zuckte die Achseln: irgend etwas muß man doch tun. — Das fand sie schwächlich und verächtlich und wollte nichts mehr davon hören; es verderbe ihr die schöne Stimmung. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels und trat vergnügt einen Stein vor sich her. — Wissen Sie, fragte sie nach einer Weile, warum ich mich so verkleidet habe? Erstens wollte ich Sie anführen, und dann hatte ich die Idee hier draußen mit Ihnen einen Wettlauf zu machen, um Sie einmal etwas in Gang zu bringen. Aber ich ahne schon, daraus wird nichts; ich halte Sie für ungeheuer faul. — Sie war stehengeblieben und sah ihn wettkampflustig an. — Erst später! sagte er; nicht alles gleich auf einmal. — Sie verließen nun den Wald und kamen in das offene Feld, zur Landstraße. Und nach einer Weile fragte sie: Wollen Sie nun erst wettlaufen und dann etwas essen, oder erst essen und dann wettlaufen? — Erst wettlaufen! sagte Pitt, der schon gehofft hatte, sie würde das Ganze vergessen. Sofort zog sie ihren Mantel aus und warf ihn auf die Erde, merkte einen Baum als Ziel an, kommandierte: los, und Pitt hatte noch ehe er sich in Bewegung setzte, gerade Zeit genug zu denken: was ist dies für ein Blödsinn! Hätte ich sie doch niemals kennen gelernt! Aber dann drohte sie ihn zu überholen; er mußte seine ganze Kraft anstrengen, an ihrer Seite zu bleiben; sie erreichten das Ziel gleichzeitig, aber Elfriede rief: weiter, bis zum weißen Stein; und nun überholte sie ihn, prallte an einen Baum, umarmte ihn und rief: ich bin die erste! Die Haare hingen ihr zerzaust vom Wind um den Kopf, die Mütze hatte sie hinter sich geworfen als sie sich löste. Sie sah Pitt erschöpft und vergnügt an und sagte ohne jeden Zusammenhang: Wissen Sie, daß ich gestern in Gedanken „Schaf“ zu Ihnen gesagt habe?

Eine halbe Stunde später saßen sie zusammen in einer kleinen Bauernwirtschaft, unter niedrigen Bäumen. Elfriede hatte das Laufen gut getan, sie war mitteilsam und vergnügt geworden, hatte ihren früheren Ernst ganz aufgegeben und antwortete nicht mehr so sachlich und gründlich auf seine Meinungen und Ansichten, worüber er sich innerlich vorher geärgert hatte. Dafür erzählte sie jetzt eine Menge Geschichten, wie sie ihr gerade einfielen, aus ihrer Kindheit, von ihren Geschwistern, und schließlich von ihren verschiedenen Stunden. Sie hatte noch immer Unterricht in einigen Fächern, besonders in der Mathematik, die ihr viel Freude mache. Ihr Mathematiklehrer heiße Herr Könnecke, den müsse Pitt unbedingt einmal kennen lernen, denn er sei sehr komisch: Früher war er noch mein Rechenlehrer und kam stets nachmittags; ich hatte ihn immer gern, aber ich mußte ihn ärgern, das ging gar nicht anders. Und Harald, mein Bruder, der jetzt fort ist, in Pension, und dem der Anzug hier gehört, war mit im Bunde: Er stellte sich unten ins Vestibül und durchweichte Herrn Könneckes Hut und Mantel mit der Blumenspritze. Nach der Stunde ging ich dann mit hinab, Herr Könnecke zog sich an, fühlte die Nässe und sagte: das ist ja mal wunderbar! Ich wußte gar nicht, daß es geregnet hatte. Und dann fand er seinen Schirm, der aus Versehen trocken geblieben war, und forderte mich auf zu äußern, was ich meine. Ich stand da ganz verlegen, währenddessen war ihm die Sache selber klar geworden und er belehrte mich: Der Schirm, so sagte er, muß noch vom letztenmal her stehengeblieben sein, eine andere Erklärung ist unmöglich! — Sie lachte selbstvergessen hell auf in der Erinnerung, ein leises kindliches Jauchzen, und Pitt sah sie voll innerer Freude an. Und wie sie nun weiter erzählte, achtete er kaum auf ihre Worte, sondern sah nur immer auf ihren Mund, auf ihre Nasenflügel, die sich leise mitbewegten, und in ihre hellen Augen, deren Winkel sich manchmal lustig zusammenzogen, und dann wartete er darauf, ob auch ihre Hände, ihre schlanken Finger, die so fest und wohlgebildet waren, mitsprechen würden, und er versetzte sich so sehr in die ganze Art ihrer Bewegungen, daß er einmal aus Versehen den Arm leise miterhob. — Nun erzählen Sie aber auch einmal etwas von sich selbst! sagte sie endlich, indem sie ihm den Teller mit dem letzten Stück Kuchen hinschob. Ich habe Ihnen doch auch soviel von mir erzählt. — Von mir? fragte er und setzte nach einer Pause hinzu: das würde nicht auf all das Schöne passen, was Sie mir gesagt haben; meine Erinnerungen sind wie eine farblose Masse in einem Eimer, und wenn ich da hineingreife, finde ich nichts Festes und es ekelt mich nur. — Aber das muß ja furchtbar sein! sagte sie und sah ihn ganz erschrocken an. Haben Sie denn nie einen Menschen lieb gehabt? — Er besann sich, was er hierauf antworten solle, denn alles was er hätte sagen können erschien ihm dumm. Sie empfand plötzlich, daß ihre Frage zu nah gewesen sei. — Sie haben einen Bruder? fragte Pitt, der das Gespräch von sich ablenken wollte; sieht er Ihnen ähnlich? — Sie nickte voll Stolz für sich selber, da sie Harald so sehr lieb hatte: Früher war er immer voll toller Streiche; er wurde zu wild bei uns. Anfangs hatte er noch Angst vor Hedwig, aber dann kam es einmal zu einem schrecklichen Auftritt zwischen ihnen. Nun ist er fort, und wenn er nach Hause kommt ist alles wunderschön. — Pitt blickte auf den Anzug, und die Vorstellung, den Knaben, ihren Bruder, darin zu sehen, wurde so stark in ihm, daß er auf einmal schnell den Kopf hob und fragte: Hat er nicht ganz spitze Eckzähne? So sehe ich ihn vor mir! — Sie sah ihn überrascht an, indem sie es bestätigte: Niemand weiter von uns hat solche Zähne! — Hören Sie! unterbrach sie sich selbst, indem sie den Finger hob. Dicht über ihnen schmetterte ein kleiner Vogel seinen Ruf. — Ist das eine Drossel? fragte Pitt; eigentlich kannte er nur Sperlinge, und glaubte durch diese Namensnennung schon Naturkenntnisse zu zeigen. Sie schüttelte den Kopf: Ein Fink ist es, sehen Sie, da oben sitzt er! Sie beugte sich etwas vor und sah vorsichtig hinauf. Das kleine Tier hatte seine Tonkaskade noch einmal in die Luft geschleudert, daß sich die feinen Federn an seiner Kehle sträubten, jetzt senkte es den Kopf neugierig, mißtrauisch nach unten, stemmte sich einen Moment halb unschlüssig mit den Füßen gegen den Zweig und flog davon. Pitt sah ihm gutwillig nach.

Die Sonne warf jetzt schräge Strahlen durch die Baumstämme. Wir müssen fort! sagte Elfriede, sonst kommen wir zu spät. — Auf dem Wege fiel ihr wieder ein, wovon sie zuletzt geredet hatten, und sie fragte ihn noch einmal, woher er das mit den Eckzähnen wisse. — Er lachte: das dachte ich mir bloß, es hätte ja ebensogut nicht stimmen können. — Sie fand das sehr sonderbar. — Ebenso, sagte er nach einer Weile, bilde ich mir eben, wo ich darüber nachdenke, ein, daß Sie nur im Februar Geburtstag haben können, ich weiß selber nicht weshalb. — Sie blieb stehen: Das hat Ihnen aber jemand gesagt! Von selber können Sie das nicht wissen! — Er lachte belustigt über ihre Sicherheit, schüttelte den Kopf, und so mußte sie ihm endlich glauben. Und nun fühlte sie etwas wie Respekt vor ihm. — Sie erreichten den Wagen, der an der Waldecke hielt, und fuhren zur Stadt zurück. — Sie kommen doch mit zum Abendessen? — Als er mit der Antwort zauderte, fuhr sie bekräftigend fort: Sie müssen mit! Sie werden doch erwartet! — Erwartet? fragte er; das klingt ja gräßlich. Sie verstand das nicht und sagte, es sei doch ein ganz gebräuchliches Wort. — Ich finde, beharrte er, es klingt furchtbar; nach Vorbereitungen, Händedrücken und Verbeugungen. — Übrigens entsprachen seine Befürchtungen nicht der Wirklichkeit. Frau van Loo hatte keine Ahnung, daß Elfriede mit Pitt spazieren ging, erwartete ihn also auch nicht zum Essen. Elfriede hatte ihr am Morgen von ihrer Bekanntschaft mit Pitt erzählt, sie hatte schweigend zugehört und dann gesagt: Er soll einmal zum Tee kommen, da werden wir ihn dann besichtigen. — Auf diesen Worten fußend, dachte Elfriede, sie dürfe sich wohl auch erlauben, ihn gleich zum Abendessen mitzubringen. — Ich bin im Augenblick wieder da! sagte sie leise zu Pitt, als sie nun zu Hause in der Halle standen; ich will nur schnell hinauf und mich umziehen. Meine Mutter soll nicht wissen, daß ich in Haralds Anzug mit Ihnen spazieren ging, und Hedwig, wenn die es erführe — sie würde acht Tage lang darüber reden. Gehen Sie ins Flügelzimmer, dort sind Sie allein! Und ehe er sich besinnen konnte zu fragen, wo das Flügelzimmer sei, war sie schon die Treppe emporgelaufen. Da stand er nun, sah sich die verschiedenen Türen an und dachte endlich: Ich gehe hier hinein. —

Unter einer breiten, mit schwarzrotem Stoff verhängten Lampe, die ihr Licht voll nach unten warf, saß eine stattliche Dame mit jugendlichen, schönen Gesichtszügen und schimmernd silbernem, vollem Haar. Langsam wandte sie den Kopf zu ihm von ihrem Buche.

Pitt konnte nicht mehr zurück. — Wenigstens, so dachte er in aller Schnelle, ist kein Vater da. Er hatte im Adreßbuch gelesen, daß sie die Witwe eines Großkaufmanns war. Langsam näherte er sich ihr und blieb endlich stehen, indem er eine etwas linkische Verbeugung machte. Sie zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe, ohne ihre Stellung zu verändern und sagte mit gemäßigtem Erstaunen und einer Stimme, die merkwürdig gesichert klang: Wer sind Sie denn und wie kommen Sie so plötzlich hier herein? Pitt nannte seinen Namen; Frau van Loo schien einen Augenblick nachzudenken, dann führte sie den Blick auf ihn zurück und sagte: Ach Sie sind der, mit dem meine Tochter gestern spazieren gegangen ist. Und sah ihn mit einem Blick an, als wolle sie sagen: Eigentlich finden Sie’s auch wohl ein wenig komisch. — Heute auch, sagte Pitt. — Heute auch? — Davon hat mir Elfriede nichts gesagt, dachte sie. Sie hieß ihn Platz nehmen, sagte mit fast naiver Freundlichkeit: Was für ein Mensch sind Sie eigentlich? und sah dabei ohne allzu große Besorgnis auf sein Gesicht, das ihr wie das eines frühreifen, etwas melancholischen Kindes erschien. Aber ehe er irgend etwas antworten konnte, ging die Tür auf und Elfriede trat herein, noch immer in ihrem Knabenkostüm. — Ich wollte mich eigentlich umziehen, aber ich finde es dumm, dir nicht zu sagen, daß ich in Haralds Anzug ging. Ich hatte ja außerdem den langen Mantel darüber! Frau van Loo verschwieg etwas, musterte sie und sagte: Sollte dieser Offenheit nicht etwas Eitelkeit zugrunde liegen? Dann entließ sie sie mit einem nachlässigen, zärtlichen kleinen Schlage ihrer Fingerspitzen. — Elfriede zog sich wieder zurück, und gerade, als Frau van Loo ihr Gespräch mit Pitt wieder aufnehmen wollte, ward draußen eine Damenstimme laut, die äußerst gelenk klang und so, als sei sie gewohnt zu reden und gehört zu werden. Hedwig trat ein, dieselbe Hedwig, die Pitt am ersten Tage flüchtig sah, und von der Elfriede erzählte, sie habe jenen schrecklichen Auftritt mit Harald gehabt. Pitt ward vorgestellt, sie erkannte ihn augenblicklich, schien überrascht, nickte kühl mit dem Kopfe und sagte: Also mit Ihnen ist meine Schwester in diesem Aufzuge gegangen? Und dann redete sie mit ihrem schnellen Tonfall Sachen, die sämtlich unangreiflich waren. — Die stille Stimmung des Zimmers war mit ihrem Eintritt verändert, so wie wenn man ein Fenster geöffnet hätte. Jetzt drehte sie nebenbei noch an einem kleinen Knopf auf der Tapete, daß der Raum plötzlich im hellen Lichte des Kristallkronleuchters lag, und sagte, dieses Dämmerlicht habe etwas Totenhaftes.

Alle Farben erschienen nun viel wirklicher, und Pitt kam es vor, als sei sie selber plötzlich die Seele dieses Raumes geworden. — Kommen Sie eigentlich gerade von einem Ritt? fragte er nach einer Weile. — Wieso? fragte sie zurück, etwas erstaunt über die Direktheit der Frage, denn sie kannten sich ja gar nicht; haben Sie mich schon einmal reiten sehen? — Er schüttelte den Kopf. — Morgen besorge ich eine Leine! wandte sie sich an ihre Mutter; Lili hat nicht die Spur von Anhänglichkeit; sie läuft wohin sie will und ist wie besessen. Da kommt es, dies Geschöpf! — Die Tür öffnete sich, und mit Elfriede trat ein glatthaariges, weißes Hündchen ein, indem es sich ungeduldig zwischen ihr und der Tür hindurchzwängte. Es lief auf den Teppich zu, vollführte einige rasende Bewegungen um sich selbst, prustete und nieste, bohrte den Kopf in den Boden, strich sich die Schnauze nach links und rechts ab, sprang auf Frau van Loo zu, legte ihr die Pfoten aufs Kleid und sah sie, als sei nichts geschehen, aus seinen blanken, rötlich-schwarzen Augen klug und blinzelnd unbeweglich an. Aber Hedwig sagte, es gehöre hinaus, schritt zur Tür und rief es. Es hob aufmerksam die Ohren, ließ die Pfoten niedergleiten und raste durch den Raum. Im nächsten Augenblick war es ausgesperrt, und das Gerassel seiner Klauen an der Tür verstummte erst, als der Diener es fortführte. — Das ist unser Haus- und Plagegeist! sagte Frau van Loo; und wenn es einmal zu einer Trennung zwischen uns kommt, so ist es seinetwegen. Ich und Elfriede lieben es, aber Hedwig kann es nicht leiden. Doch es ist einmal da und wird sich zu behaupten wissen! Hedwig verteidigte ihre Abneigung: Sie könne nur Tiere leiden, die Nutzen hätten, Foxterrier seien überdies abscheulich. Und da Elfriede leise mit Frau van Loo redete, so wandte sie den Rest ihrer Auseinandersetzungen wohl oder übel an Pitt, und unterbrach sich nur ein einziges Mal, als sein Gesicht für einen Augenblick vollkommen vor ihr verschwand, da ihre Mutter das elektrische Licht wieder abdrehte: Mama, was sollen diese Späße? Aber Frau van Loo sagte mit ihrer sicheren, freundlichen Stimme: Mein süßes Kind, ich bin die Herrin im Hause. — Elfriede hatte ihr inzwischen heimlich mitgeteilt, sie habe noch ein Gedeck für Pitt zur Abendtafel auflegen lassen, da sie ihn aus Versehen zum Essen eingeladen habe. Frau van Loo schwieg, dann sagte sie: Elfriede, dein Sündenkonto steigt immer mehr; wir werden noch abrechnen! — Friedrich, der Diener, meldete, das Essen sei bereit. Hedwig wartete vergeblich, daß Pitt sich nun endlich entfernen würde. Ein schneller Blick auf den Tisch nebenan überzeugte sie jetzt, daß er zum Abend eingeladen war. Niemand hatte ihr dies mitgeteilt; sie empfand das als rücksichtslos. Wer war überhaupt dieser Mensch, der so plötzlich bei ihnen auftauchte, dessen Namen sie nicht einmal richtig wußte? Wie hatte Elfriede ihn kennen gelernt? Hedwig war erfahren genug, zu wissen, daß sie nichts aus ihr herausfragen würde. — In früheren Jahren war ihr Elfriede vollständig unterworfen gewesen, mit der Zeit aber war sie in eine bewußte Opposition zu ihr getreten, hatte sie ihren Einfluß abgeschüttelt. Hedwig wurde es schwer, auf die gewohnte Macht zu verzichten, in der Übergangszeit gab es unerquickliche Kämpfe, jetzt hatte sie allmählich resigniert, und nur gelegentliche kleine Bitterkeiten und vor allem Bloßstellungen vor andern waren die einzige Genugtuung für das Verlorene.

Jetzt kam sie sich unwürdig behandelt vor, sie hatte Verantwortung vor dem Hause im allgemeinen, sie saß pikiert und kühl auf dem Stuhle und tat als sei Pitt überhaupt nicht da. Dabei brannte ihr die Frage auf der Lippe, und endlich konnte sie sich nicht länger beherrschen: Woher kennen Sie eigentlich meine Schwester? fragte sie über den Tisch hinüber. Der Ton klang für alle unerwartet, so gereizt war er. — Pitt fühlte sich augenblicklich in einem altgewohnten Fahrwasser, es machte ihm Freude, diese junge Dame zu ärgern, und er sagte: Von der Straße! Es folgte eine kurze Pause. — Mit andern Worten: Sie haben sie auf der Straße gesehen und sind dann einfach in unser Haus gekommen? — Ganz richtig! entgegnete er in einem Tone, wie etwa ein Lehrer die Antwort eines Schülers begrüßt, den er auf den rechten Weg geleitet hat. — Was für ein kindlicher Grobian! dachte Frau van Loo und sah ihn halb mit Sympathie, halb mißbilligend an. — Das ist ja höchst eigentümlich! sagte Hedwig. — Eigentümlich? fragte Elfriede, mit einem aggressiven Blick von ihrem Teller her, ich möchte wissen, was dabei eigentümlich ist! — Sagen wir einfach, bemerkte Frau van Loo, und warf einen stillen Blick zu Hedwig hinüber, Herr Sintrup ist ein Findelkind, das wir in unserm Hause entdeckt haben. Aber Hedwig reizte dieser Blick, den sie als eine stumme Zurechtweisung empfand; sie überhörte die einlenkenden Worte ihrer Mutter, die ihr abgeschmackt erschienen, und fragte mit plötzlicher Taktlosigkeit, wie sie zuweilen aus ihrem gesellschaftlich sicheren Benehmen hervorsprang: Woher stammen Sie? Was ist Ihr Vater? Elfriede legte mit einem Ruck die Gabel auf den Tisch. In diesem Augenblick trat der Diener wieder ein, Frau van Loo half mit gesellschaftlichem Geschick über die Situation hinweg. Aber die Stimmung war einmal gestört, und Elfriede war froh, als das Essen beendet war.

Sie stand einen Augenblick mit Pitt allein im Wohnzimmer, während Frau van Loo mit Hedwig zurückblieb. — In Elfriedens Gesicht waren immer noch Spuren von dem harten, besonderen Ausdruck von vorhin. Wie heftig sie für ihn Partei genommen hatte! Er betrachtete sie mit Wärme und wartete, daß sie zuerst sprechen solle. Und doch schoß — er wußte selbst nicht wie das kam — in seinem Gefühl der Dankbarkeit zwischendurch der wunderliche Gedanke auf: Ob ihr erster Satz wohl mit Sie oder mit ich anfängt? — Aber Elfriede schwieg. So redete keines, bis Frau van Loo eintrat. Jetzt erzählen Sie mir von Ihrem Spaziergang! sagte sie und trat zu ihm heran, als er sich langsam in den besten Sessel niederließ. — Gerade wollte ich mich da auch niederlassen! meinte sie in einem freundlich resignierten Ton. Er stand gleich wieder auf und sagte: Ja, es ist der bequemste Stuhl im ganzen Zimmer. Eigentlich hatte Pitt keine rechte Lust zu erzählen, aber undeutlich empfand er sein Benehmen als einen Mißklang zu diesem Raum und zu Frau van Loo selbst; so überwand er sich und geriet schließlich in ein fließendes Sprechen; und plötzlich interessierte es ihn selber, zu erfahren, wieviel von allem in ihm haften geblieben war, und er nannte so viel kleine Einzelheiten, daß Elfriede ganz erstaunt fragte: Ich dachte, das hätten Sie alles überhaupt nicht wirklich gesehen und bemerkt. — Habe ich auch nicht, aber hier — er deutete auf seine Stirne — hat sich trotzdem alles aufgespeichert. — Dies erinnerte Elfriede irgendwie an die Geschichte mit den Eckzähnen und dem Geburtstag, sie erzählte beides; Frau van Loo hörte etwas skeptisch lächelnd zu. Wollen Sie den Jungen einmal sehen? fragte sie, und bat Elfriede den Kasten mit den Photographien zu bringen. — Hier haben Sie Harald als Faun verkleidet, von einer Aufführung her. Pitt sah das Bild einen Augenblick an, fand sein eigenes inneres ziemlich bestätigt und damit war seinem Interesse Genüge getan; denn er entdeckte Bilder von Elfriede, die ihn weitaus mehr anzogen, und fragte, ob keine Lupe da sei. Die übrigen Verwandten, über die sein Blick flüchtig hinging, beurteilte er nur nach der Ähnlichkeit mit ihr selber, so daß Elfriede sagte, er täte so, als ob sie die Stammutter des ganzen Geschlechtes sei. — Waren Sie einmal so sentimental? fragte er erstaunt, indem er von einem kleinen Bilde zu ihr aufsah, auf dem ihre Augen groß und schwärmerisch blickten, unter einer breiten, weichen Haarfrisur. — Sie nahm es ihm wortlos aus den Händen, riß es mitten durch und warf es ins Kaminfeuer. — Aber Elfriede! sagte Frau van Loo, das wonnige Bild; — und verlangte, daß sie es wieder heraushole aus den Flammen, die es schon verzehrt hatten, während Elfriede etwas unruhig auf Pitts Hände sah, welches Bild von ihr sie nun gefaßt halten würden; das ist Hedwig! sagte sie; ich würde mich nie im Trauerkostüm haben photographieren lassen! — Dies Bild war bald nach dem Tode ihres Vaters gemacht worden, und Hedwig hatte es Frau van Loo zu Weihnachten geschenkt. Elfriede war froh, daß sie nicht zugegen war. Gewiß hätte sie jetzt gesagt: Mein Vater ist im indischen Meer gescheitert, — mit einem Tone, als wenn sie sagte: Nelson fiel in der Schlacht bei Trafalgar. — Mit einem Male klappte sie den Kasten zu: Sie haben nun genug gesehen! sagte sie in einem plötzlichen instinktiven Impulse. —

Bald darauf erhob er sich und meinte, er müsse nun nach Hause. Frau van Loo hielt ihm vergeblich die Fingerspitzen zum Handkuß hin, und als Pitt begann, das ganze Zimmer nach seinem Hut, der draußen im Vorplatz hing, abzusuchen, bis es ihm endlich einfiel, und er wieder in Stillstand geriet, sagte sie: Sollten Sie öfter in unser Haus kommen, Herr Sintrup, so will ich Sie etwas erziehen; Sie scheinen die Mühe wert zu sein! —

Es kamen jetzt schöne, stille Wochen für ihn. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich glücklich. Das was er gesucht hatte, schien er gefunden zu haben: einen Menschen, mit dem ihn eine wachsende Zuneigung verband. Stillschweigend nahm er sich vor, in dieser Stadt so lange zu studieren, wie Elfriede bleiben werde, und wenn sie nach Paris ging, würde er ihr nachfolgen. Er ging jetzt regelmäßiger zur Universität, und mußte lächeln, wenn er daran dachte, wie er sich dort in den ersten Wochen beschäftigt hatte; da hatte er sich auf die hinterste Bank gesetzt, die Rückenansichten aller vor ihm Sitzenden studiert und kurze Bemerkungen darüber in sein Notizbuch eingetragen, und in den Pausen war er herumgegangen und hatte eingehend ihre Gesichter gemustert, immer in der Hoffnung, irgend einen Menschen zu finden, der anders wäre als die andern. Dies war nun vorbei, sie interessierten ihn nicht mehr in Beziehung auf sich selbst, er fühlte sich im Verkehr mit Elfriede ausgefüllt. —

Daneben las er viel. Eines Tages bekam er im Lesesaal der Bibliothek ganz zufällig ein philosophisches Werk in die Hände; lange Zeit las er stehend darin, schob es endlich achtungsvoll auf seinen Platz zurück, merkte sich ihn, kam von diesem Werk auf andere, und so vertiefte er sich allmählich in eine Welt, die ihm der seinigen irgendwie verwandt erschien. So kam es, daß er auch philosophische Vorlesungen hörte und die juristischen allmählich ganz vernachlässigte, ohne jedoch seinen Plan, Jurist zu werden, aufzugeben.

Hedwig fand sich mit seinem Dasein ab, zumal die Spuren von Frau van Loos Erziehung sich angenehm an ihm zeigten: Seine Kleidung wurde gewählter und unter ihrer Anleitung sogar geschmackvoll, und sein Benehmen glättete seine etwas ungehobelte Oberfläche; allerdings gab es darin immer noch einige Aststellen, die niemals ganz mit dem übrigen zusammengehen wollten, aber das lag an Hedwig selbst, die nicht die geeigneten feinen Messer besaß, gerade über diese Stellen hinzugehen.

Das Haus der van Loos wurde ihm zu einer stillen Insel. In seinem eigenen Zimmer fühlte er sich niemals wohl; dort erfaßte ihn stets die alte Unruhe, und wie früher zu Haus von Stube zu Stube, zog er von Wohnung zu Wohnung, ohne je wirklich angeben zu können, welche Schäden und Mängel ihn dazu veranlaßten. — Ihnen fehlt die Häuslichkeit! sagte Frau van Loo; Sie müßten Menschen um sich haben, die wirklich für Sie sorgen, Sie sind zu jung, um wie ein alter Junggeselle zu hausen! — Auch Elfriede empfand das ewig Wechselnde seiner äußeren Existenz. Zuweilen brach in seinem Wesen eine Zerstreutheit, eine völlige Abwesenheit aller Gedanken durch, die sie auf seine immer wechselnde, ungewisse Lebenslage schob. Der Gedanke schoß ihr durch den Kopf, ob er nicht bei ihnen selbst wohnen könne, aber sie sagte sich sogleich, daß weder ihre Mutter noch Hedwig damit einverstanden sein würden. Da leitete sie etwas ganz Besonderes ein.

In seinem bescheidenen Heime saß Herr Könnecke. Die Abendsuppe war gegessen, die Kartoffeln in der Schale — so recht locker, aufgebrochen wie er sie liebte — dufteten vorzüglich, das Bier schien auch noch frischer, schäumender als sonst, und es drängte Herrn Könnecke, zu seiner Cousine, die ihm den Haushalt führte, zu sagen: Selma, meinst du wohl, daß reichere Leute glücklicher sind als wir? Aber er vermochte das nicht; es nagte ihm am Herzen, daß er durch ein gutmütig gegebenes halbes Versprechen im Begriff war, diese Häuslichkeit zu zweit zu stören. Aber es mußte heraus. Er sog nachdenklich an seiner Zigarre, und endlich sagte er: Selma, wie wäre es wohl, wenn wir ein Zimmer vermieteten? — Fehlt dir etwas an Bequemlichkeit? fragte sie dagegen; — meinst du, durch ein bißchen Nebenverdienst könntest du sie bekommen? Genügt dir dein Gehalt nicht? Und das, was ich durch meiner Hände Arbeit verdiene? O Wilhelm, ich will mich ja gerne noch mehr abarbeiten als ich tue — das heißt — was tue ich denn eigentlich? Ich lebe ja wie eine Prinzessin! Wie viele Menschen gibt es, die überhaupt nichts haben! Und ich, ich habe doch dich, du Einziger, Geliebter! — Herr Könnecke errötete: Selma, wenn dich jemand so reden hörte, könnte er wirklich auf unreine Gedanken kommen; ich weiß ja, daß du dir nichts Schlimmes dabei denkst, aber du bist manchmal so übertrieben in deinen Ausdrücken! — Sofort schoß die dunkle, von ihm so gefürchtete Röte auf ihre Stirn: Wenn ich dir nahestände — sagte sie leidenschaftlich, und ihre Augen wurden feucht — dann könntest du nicht so reden; jedes warme Wort von mir würde dir wohltun. Auf Liebe habe ich ja verzichtet — du weißt, daß ich verlobt war und daß er starb — aber wenn einen nun noch unsere nächsten Angehörigen verwunden, kaltherzig sind, wenn man um ein ganz klein wenig Wärme bittet — sie preßte ihre Lippen zusammen und aus ihren Augen liefen Tränen. Er erhob sich und wollte den Arm um ihre Schulter legen, sie wehrte ab: Mitleid will ich nicht! Wenn die Liebe nicht von Herzen kommt, wenn man einander nicht begegnet in demselben Gefühl — Sie riß an ihrem Taschentuch und murmelte heftig: Lieber in die Grube fahren, Sargdeckel zu, Erde drauf, fest gestampft, gut daß sie tot ist, fertig!! — Es war nicht das erstemal, daß Fräulein Nippe so redete. Herr Könnecke geriet dann jedesmal in eine hilflose Verlegenheit, da er auch nicht das geringste darauf zu sagen wußte. Es kam bei ihr plötzlich und fast immer dann, wenn er am wenigsten darauf gefaßt war. — Jetzt hustete er leise, tief und unglücklich. — Wenn ich nur wüßte, sagte sie nach einer Weile ruhiger, was ich noch für dich tun kann, um dich glücklich zu machen! Ich würde ja, um andere zu beglücken, mir das Hemd vom Leibe reißen; — direkt vom Leibe reißen, wiederholte sie, indem sie in eine Ecke starrte und sich selbst in dieser Tätigkeit beschäftigt sah, aber ich frage: Was nützt das alles, wenn man nicht einmal anerkannt wird, wenn man dafür mit Steinen beworfen wird? Und Steine auf den nackten Körper — setzte sie hinzu, schmerzen noch mehr als auf den bekleideten! — Jetzt ergriff Herr Könnecke das Wort: Er gab zu, daß sie vom Leben hart mitgenommen wäre, er wisse, daß sie engelsgut sei, er hege die tiefste Dankbarkeit gegen sie, aber — und er erhob unglücklich seine Stimme: Ich kann dir das doch nicht Tag für Tag mit Worten wiederholen! Ich bin nun mal nicht so! Habe ich je in meinem Leben etwas Böses zu dir gesagt? —

Sie ging auf ihn zu, glitt an ihm nieder und drückte seine Knie, daß er ganz verlegen erst das eine, dann das andere Bein in die Höhe zog. Auf einmal sprang sie auf, setzte sich auf einen Stuhl am Tisch, faltete die Hände und sah ihn strahlend an: Nun sage mir, du Wonniger, wie meinst du das mit der Stube? — Er wollte zunächst das „du Wonniger“ beanstanden, unterließ es aber, erzählte dann sein Zusammentreffen mit Elfriede van Loo, und fügte hinzu, daß der Herr Sintrup morgen kommen wolle, um sich alles anzusehen. — Und mit dieser einfachen Geschichte hast du solange gezögert? Komischer Mann! Schweifst ab anstatt bei der Sache zu bleiben, redest von hundert andern Dingen und quälst mich, und dabei ist doch alles so klar, — ich wüßte gar nichts was klarer sein könnte! Aber die gute Stube bleibt wie sie ist; er bekommt mein Zimmer, und ich ziehe in die Kammer. Mir schadet das gar nicht. Junge Leute müssen Bequemlichkeit haben; ach wie ich sie liebe, diese goldene Jugend! — Sie lief auf den Vorplatz und kam gleich darauf zurück, den Kopf mit einem billigen rosa Theaterschal umhüllt: Sitzt er recht? fragte sie und lächelte. — Sie wollte noch heute abend schnell zu einer Tante rennen, in deren Besitz einige ihrer Möbel waren; er versuchte ihr das auszureden, aber sie sah ihn grimmig von der Seite an. — So blieb er allein zurück, setzte sich in den Lehnstuhl, rückte ihn so, daß er nicht wackelte, seufzte tief und sagte: Ach Gott! — Und dann dachte er: Es ist gut, daß sie noch an die frische Luft kommt, die Arme! Immer plagt sie sich für andere Menschen, und sie hat ganz recht: ich zeige es ihr nicht genug, daß ich sie lieb habe. — Er dachte sich aus, wenn sie nach Hause komme, solle der Kaffeetopf dampfend auf dem Feuer stehen. Zu diesem Behuf erhob er sich, schnitzte Holz zum Herdfeuer, und dann klemmte er die Kaffeemühle zwischen die Knie.

Am nächsten Tage begegneten sich die zwei in demselben Ziele: Jeder wollte auf sein eigenes Zimmer verzichten und in die Kammer übersiedeln, jeder wollte dem andern wohltun. Aber Fräulein Nippe siegte: Sie preßte die Zähne aufeinander und riß die Augen weit auf, indem sie ihn zur Schwelle drängte mit all ihren Kräften. Er mußte in sein eigenes Zimmer, sie verriegelte ihn von außen. — Licht! Luft! Und Liebe! hörte er sie jammern, auf Liebe habe ich ja verzichtet, aber Licht und Luft verliere ich nun auch noch! Dieses elende dunkle Loch! — sie stürzte zum Fenster und riß die Flügel auf — und dann jammerte sie weiter, daß gerade sie vom Schicksal ausersehen sei alle Marter der Welt zu tragen.

Als Pitt erschien, war das Zimmer fertig eingerichtet, obgleich sie ja nicht einmal wußte, ob sie es nun auch vermieten würde. Herr Könnecke hatte ihr erzählt, Fräulein van Loo habe zu ihm gesagt, der Herr Sintrup müsse es gemütlich und heimisch haben. So sagte sie denn, um es ihm recht warm ums Herz herum zu machen, sogleich: ihr eigenes Lebensgebäude sei ein luftig durchbrochener Bau, in den überall die Sonne hineinscheine; ihre eigene Wärme strahle über auf ihre Umgebung: Wo ich erscheine, verbreite ich Behaglichkeit und Vergnügen. — Vergnügen schon — sagte Pitt ernsthaft. — Nun sehen Sie! Und die Behaglichkeit wird sich auch noch einstellen! — Pitt machte dieses Fräulein Spaß. Herr Könnecke erschien neben ihr wie die menschgewordene epische Breite, und er dachte: Für ein paar Wochen wenigstens kann ich es immerhin versuchen. Er mietete. — Am Nachmittage zog er ein: Fräulein Nippe hatte in aller Eile einen Kuchen gebacken, und das Willkommschild nagelte sie gerade an die Tür, mit viel zu langen Stiften, die klaffend ins Holz fuhren, als er die Treppe heraufkam. —

Zu Anfang war es ihm, als befinde er sich in einem Lustspiel; nach und nach erfuhr er ihre ganze Lebensgeschichte, an die sie Sentenzen mit verfehlten Bildern knüpfte, und zu solchen Sentenzen reizte er sie immer wieder. Aber allmählich fing sie an sich zu wiederholen, und nun begann sie ihn zu langweilen. Sie ihrerseits begriff nicht, warum seine Tür immer verschlossen war, wenn sie zu ihm herein wollte. Alles war doch so gut gegangen, zu Anfang! Ach! immer drängte ihre stürmische Seele vor, die Frucht zu pflücken, ehe noch die Blume voll entfaltet war; die Menschen waren einmal so sonderbar: langsam wollten sie erwärmt werden, anstatt sich direkt ans Herz schließen zu lassen, wie es doch das Natürlichste war. Sie beschloß still zuzuwarten und es der Zeit zu überlassen, seine rauhe Schale „aufzutauen“. Herr Könnecke hielt sich von Anfang an in angemessener Entfernung, nachdem er zuerst gehofft hatte, abends ab und zu mit ihm und seiner