111 Tugenden, 111 Laster - Martin Seel - E-Book

111 Tugenden, 111 Laster E-Book

Martin Seel

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Beschreibung

Jeder Tugend wohnt ihr Gegenteil, jedem Laster der Keim einer Tugend inne. Martin Seel lässt in seiner philosophischen Revue 111 Tugenden und Laster in kurzen Skizzen auftreten und zielt auf ein genaues Verständnis ihrer Unterschiede. Er versalzt den großen Vereinfachern in Moraltheorie und Lebensberatung die Suppe, indem er unterhaltsam und kunstvoll die feinen Verästelungen menschlicher Sitten und Unsitten freilegt. Sein Ziel: dass Menschen ihr endliches Dasein mit einem wachen Gespür für ihr Bestes verbringen.

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Martin Seel

111 Tugenden, 111 Laster

Eine philosophische Revue

Fischer e-books

Prolog

Man stelle sich dieses Buch als eine Art Musical vor. In raschem Wechsel tritt eine Schar von Tugenden und Lastern auf, die sich ständig einander annähern und voneinander entfernen. Die 111 Akte der Inszenierung bringen insgesamt 555 Revuegirls und -guys auf die Bühne, die den schillernden Glanz ihrer düsteren wie ihrer strahlenden Rollen verkörpern. Mit dem Reigen seiner Figuren bietet das vielköpfige Ensemble ein bewegtes Kaleidoskop menschlicher Möglichkeiten dar. Die frivole Choreographie dieses Stücks führt das Drama einer Lebensführung vor Augen, die der Tugend die Treue hält, ohne sich gegenüber den Avancen des Lasters taub zu stellen.

Tugenden und Laster sind menschliche Vorzüge oder Nachteile, für die man wenigstens teilweise etwas kann. Sie sind charaktergebundene Eigenschaften von Personen, die sich im Guten wie im Schlechten in ihren Handlungen und Haltungen manifestieren. Manche unter ihnen – wie Anmut oder Arroganz – mögen eher harmlos erscheinen, andere – wie Großzügigkeit oder Grausamkeit – gelten als kardinale Gaben oder Sünden. Doch es gibt hier nichts Harmloses. Tugenden und Laster sind auch da miteinander verstrickt, wo sie in der Bewertung unseres Tuns und Lassens einen eindeutigen Unterschied machen. Allein untereinander können sie sich voneinander unterscheiden: Tugenden von Tugenden, Laster von Lastern, Laster von Tugenden, Tugenden von Lastern. An vielen dieser Eigenschaften muss man teilhaben, um nur eine zu haben; viele muss man kennen, um nur eine zu erkennen. Mit bloß einer Handvoll Arten des Anstands und seiner Verfehlung ist es weder in der Praxis noch in der Theorie getan. Die Szenenfolge und erst recht die Besetzungsliste der hier aufgeführten Morality-Show geben eine Anschauung davon, wie dicht gewoben das Netzwerk des Lasters und erst recht der Tugend ist – und wie schwankend der Boden, auf dem sich noch die gelassenste Lebensführung bewegt. Nicht nur in der Kunst, auch in der Moral kommt es auf die feinen Unterschiede an.

Seit jeher hat die Philosophie zwei Aufgaben: die Menschen in Verwirrung zu stürzen und ihnen zur Klarheit zu verhelfen. Obwohl die philosophische Tätigkeit ihren Ursprung im Staunen hat, wird die erste dieser Aufgaben heute – anders als in den Tagen des Sokrates – allzu leicht und allzu schnell übergangen. Dem Staunen über die Weite der Welt folgt die Verwirrung: eine Verwunderung darüber, wie es zu verstehen ist, dass wir überhaupt etwas begreifen. Aus dieser Verwunderung entsteht das Verlangen nach Klarheit: nach einer Erkundung der miteinander verschränkten Wirklichkeiten, in denen sich uns Wege des Verstehens eröffnen. »Denk nicht, sondern schau«, fordert Ludwig Wittgenstein an einer Stelle seiner Philosophischen Untersuchungen sich selbst und seine Leser auf. Damit meint er natürlich nicht, dass man in der Philosophie nicht denken soll. Er empfiehlt lediglich, die eingefahrenen Bahnen des Denkens zugunsten einer unbefangenen Betrachtung seiner Gegenstände zu verlassen. So soll es auch hier geschehen. Nur eine gelegentlich surreale Darstellung des Widerspiels menschlicher Sitten und Unsitten kann ein realistisches Bild der Verwicklungen eines aufrechten Daseins geben.

Zu manchen Tugenden – allen voran der Gerechtigkeit – sowie zu den Facetten ihres historischen Verständnisses gibt es ganze Bibliotheken. Mit solcher Gelehrsamkeit will dieses Buch nicht konkurrieren. Es begnügt sich mit einer Sammlung von Skizzen, die geeignet ist, den großen Vereinfachern in der Moraltheorie wie in der Lebensberatung die Suppe zu versalzen. Vor dem Hintergrund einer langen Geschichte zielen die kurzen Kapitel auf ein heutiges Verständnis der Beziehungen zwischen Tugenden und Lastern: darauf, wie sie uns in der Gegenwart zu leiten und zu verleiten vermögen.

In der Abfolge der 111 Nummern der Revue herrscht eine teils fröhliche, teils bittere, teils gleichmütige Anarchie. Ihre Anordnung folgt einer weitgehend assoziativen Ordnung. Ihre Schnapszahl macht kenntlich, dass es nirgends um Vollständigkeit geht (was immer das wäre). Einer Regel aber folgt die Vorstellung doch. Jede vermeintliche Tugend und fast jede vermeintliche Untugend wird so lange vorgeführt, bis ihre Zweideutigkeit sichtbar wird. Kinder und selbst Erwachsene vergnügen sich gern mit Schneekugeln, in denen meist eine kitschige Landschaft zu sehen ist. Schüttelt man die Kugel, so verschwindet die Szene in einem Gewirr von Flocken, bis nach und nach, wenn der Sturm sich legt, die Sicht wieder klar wird. So ein Gestöber soll auch hier entfacht werden. Nur wird die Landschaft der menschlichen Lebensführung am Ende anders daliegen als zuvor – nämlich so, dass sie ohne Tugendkitsch gemalt werden kann.

Einen Umriss dieser Landschaft zeichnet das abschließende Programmheft. Es versucht, wieder etwas Ordnung in das mutwillig erzeugte Chaos zu bringen. In einer zugespitzten Form werden alte und neue Antworten auf klassische Fragen der Ethik und Moraltheorie gegeben. Sie betreffen den Begriff und die Einheit der Tugend, die Ambivalenz von Tugenden und Lastern, die Rolle ihrer kardinalen Figuren sowie das Verhältnis von allgemeinem Wohlwollen und individuellem Wohlergehen. Mit diesem Programmheft darf man es halten wie bei normalen Theaterbesuchen auch. Man kann sich vor oder nach der Aufführung darin vertiefen oder es ganz beiseitelegen, um sich einfach vom Gang der Dinge vergnügen und verstören zu lassen. Auch hier gibt es mehr als einen Pfad der Tugend. Welchen Gebrauch die Leserinnen und Leser aber von diesem Buch auch machen, es lädt zu einer Besichtigung des Besten ein, das den Menschen aufgegeben ist: ihr endliches Dasein mit einem wachen Gespür für ihr Bestes zu verbringen.

Die Revue

1.Leichtsinn

Manch eine Unternehmung fängt man aus purem Leichtsinn an. Hat man Glück, geht es gut, hat man Pech, geht es daneben. Soll es nicht – oder nicht ganz – danebengehen, darf es beim puren Leichtsinn nicht bleiben. Ernsthaftigkeit, Überlegung und Ausdauer müssen hinzukommen, wenn die Leichtigkeit des Anfangs nicht verlorengehen soll. Wer alles auf die leichte Schulter nimmt, wird früher oder später schwer daran zu tragen haben. Trotzdem hat der Leichtsinn seine Meriten. Er hält uns davon ab, allzu zaghaft, zögernd oder zaudernd zu sein. Er lässt uns Hürden überwinden, über die wir uns ohne seinen Anschub nicht trauen würden, eingeschüchtert durch die Kunde, aller Anfang sei schwer. Dabei ist es gar nicht überall so. Man muss ja nicht am kniffligsten Ende beginnen. Um eine Aufgabe, und sei es auch eine Lebensaufgabe, in Angriff zu nehmen, genügt es oft schon, einen Zipfel der mit ihr verknüpften Schwierigkeiten zu erwischen, diesen dann aber mit festem Griff zu packen. Zwar könnte man den gordischen Knoten auch einfach durchschlagen, anstatt ihn aufzulösen, aber in den meisten Fällen wäre das denn doch zu viel des Guten. Ohne die Bereitschaft zu scheitern kann nichts Gescheites gelingen.

Leichtsinn ist aber nicht nur in eigener Sache heikel, sondern auch im Blick auf andere. Leichtsinnige Menschen gelten im sozialen Leben als fahrlässig oder frivol; häufig sind sie es auch. Im Kleinen wie im Großen machen sie es sich im Umgang mit anderen zu einfach. Wie schnell treten sie anderen mit einer unbedachten Äußerung auf den Schlips, legen sich mit ihnen an oder bringen sie in Gefahr und bemerken gar nicht, welche Missachtung darin liegt. Gutgläubig vertrauen sie dem Hörensagen, gehen politischen oder privaten Versprechen unbesehen auf den Leim und laufen jedem ökonomischen Trend bis zum eigenen oder allgemeinen Ruin hinterher. Leichtsinn kann sich in vielerlei Hinsicht rächen. Unter vielfach schwerblütigen Zeitgenossen bleibt er dennoch eine erfrischende Erscheinung. Zumal seine jugendlichen Spielarten möchte keine zivilisierte Gesellschaft ganz missen, und auch nicht die Unbekümmertheit derer, die sich bis in ihre späteren Tage etwas davon erhalten haben. Denen nämlich, die es vermögen, trotz allen Versagens, aller Verluste und Gebrechen leichten Sinns zu bleiben, wird am Ende ein besonderes Geschenk zuteil: das der Nonchalance.

2.Freundlichkeit

Freundlichkeit kann man nicht überall erwarten, auch dort nicht, wo es einigermaßen gesittet unter den Menschen zugeht. Die Griesgrämigen und Mürrischen, die Zugeknöpften und Pampigen nehmen wir beim Einkaufen, bei Behördengängen und unter Berufskollegen mit relativem Gleichmut hin, solange uns daraus kein besonderer Nachteil entsteht. Die Stimmung trüben sie trotzdem – wie uns vor allem dann auffällt, wenn sich ein garstiger Geselle plötzlich von einer freundlichen Seite zeigt oder wir an fremden Orten mit unverhoffter Herzlichkeit empfangen werden. Dann bemerken wir, wie unwahrscheinlich der Gestus der Freundlichkeit zwischen Leuten, die sich nicht kennen oder nicht besonders mögen, eigentlich ist. Er stellt einen Luxus dar, den sich immerhin nicht wenige leisten. Ganz billig ist das nicht. Denn zum Wesenszug der Freundlichen gehört es, nicht allzu berechnend zu sein. Sie geben ihren Mitmenschen einen Kredit, der sich keineswegs immer auszahlt. Freundlichkeit ist eine Form der Freigebigkeit, und nicht ihre geringste. Sie muss sich vor allem dann beweisen, wenn die anderen von liebenswürdiger Hinwendung gar nichts wissen wollen. Manche Menschen bringen es über sich – und manchen bereitet es ein diebisches Vergnügen – auch rüpelhaften Zeitgenossen mit »eiserner« Freundlichkeit zu begegnen. Mit purem Altruismus hat das wenig zu tun. Die Freundlichen versuchen nur, sich selbst von der Verdrießlichkeit freizuhalten, die ihnen immer wieder entgegenschlägt. Sie wollen nicht in einer Welt des um sich greifenden Missmuts leben.

Freundlich-Sein allerdings ist nicht dasselbe wie Freundlich-Tun. Dieser Unterschied macht die eigentliche Klippe der Freundlichkeit aus – sowohl der, die wir ausüben, als auch der, die wir empfangen. Diese Differenz ist aber gar nicht so leicht auszumachen, da nicht einmal sicher ist, inwiefern Sein und Schein hier überhaupt einen Gegensatz bilden. Zum Freundlich-Sein nämlich gehört im sozialen Verkehr durchaus das Freundlich-Tun – etwa gegenüber Menschen, denen man aus bloßer Nachsicht aufgeschlossen begegnet, oder solchen, die man sich aus taktischen Gründen gewogen machen will. Auch eine routinierte Freundlichkeit ist nicht zu verachten. Die professionelle Munterkeit von Krankenpflegern oder Schaffnerinnen, sofern vorhanden, kann dabei wiederum gekonnt oder gequält ausfallen. Sein und Schein der Freundlichkeit hängen überall von den Nuancen ihrer Darbietung ab. Da alle dies wissen, sind es alle gewohnt, ihren Fassaden zu misstrauen. Im Verkehr zwischen Menschen steht die Freundlichkeit darum unter dem Verdacht, nur ein Deckmantel der Unverbindlichkeit zu sein. Und dies nicht selten mit Recht, da diejenigen, die immer freundlich tun, es kaum jemals sind, und diejenigen, die es immer sind, es nicht immer von Herzen sein können. Oft bewegt sich die Freundlichkeit nahe am Fahrwasser der Heuchelei. Wer in dieses nicht geraten möchte, ist gut beraten, es mit der Nettigkeit nicht zu übertreiben. Man muss selbst denen, die man nicht vor den Kopf stoßen will, gelegentlich etwas zumuten dürfen. Erst eine Prise Anzüglichkeit, Frechheit und sogar Fiesheit macht die Freundlichkeit unter Menschen glaubhaft.

3.Unverschämtheit

Unverschämt kommt daher, wer den Anstand in Worten und Gesten offensiv vermissen lässt. Unverschämtheit ist eine Form der Kommunikation. Sie liegt in der Art, wie man anderen in bestimmten Situationen begegnet – sei es von Angesicht zu Angesicht, in schriftlicher Mitteilung, am Telefon oder in der öffentlichen Rede. Im Abstand zu anderen Fällen der Unhöflichkeit ist hier eine Dreistigkeit im Spiel, die von den Adressaten als herausfordernd, beleidigend oder verletzend empfunden wird. Der Unverschämte führt sich nicht bloß unmöglich auf, er benimmt sich in den Augen seines Gegenübers absichtsvoll daneben. Anders als bei der Arroganz äußert sich in seinem Benehmen keine Herablassung aus tatsächlicher oder eingebildeter Überlegenheit; er trumpft auf oder zeigt sich verstockt, wie es ihm gerade passt. Der Unverschämte hat einfach keine Scheu, seine Launen an anderen auszulassen.

Je nach Situation können seine flegelhaften Anwandlungen sehr unterschiedlich ausfallen. Die Mittel der kommunikativen Grobheit können selbst fein oder grob sein. Der Akt der Unverschämtheit kann darin bestehen, einen Gruß zu verweigern, Widerworte zu geben, zu schwadronieren, zu grinsen, zu lachen, zu tuscheln, zu nuscheln, aufzustöhnen, zu brüllen, zu fluchen, zu schimpfen, jemanden anzustarren, den Mund zu halten, den Blick abzuwenden, die Augen zu verdrehen, die Arme zu verschränken, sich im Sessel zu fläzen, mit der Achsel zu zucken, jemandem den Vogel zu zeigen oder obszöne Gesten zu machen. Der sozialen Phantasie und Aphasie sind hier kaum Grenzen gesetzt.

Weil ihr aber wenig Grenzen gesetzt sind, liegt die Schwelle zum ungehobelten Gebaren andererseits nie genau fest. Schließlich können die Grenzen des Anstands, die von der Unverschämtheit überschritten werden, auch bloß vermeintliche Grenzen sein. In einem Verhalten, das sich als blanker Unmut oder purer Übermut äußert, mag eine Form der Chuzpe wirksam werden, die zwar den Adressaten übel aufstößt, zugleich aber einen heilsamen Widerstand gegen übertriebenen Konformismus enthält. Gelegentlich ist auch ein aufmüpfiges oder aufsässiges Verhalten eine kreative Handlung.

Eines jedenfalls wird man dem Unverschämten nicht nachsagen können: dass er »gschamig« sei, sich also nicht traut, sich offen zu seiner eigenen Art zu bekennen. Er macht die Verstellung nicht mit. Wer sich nicht geniert, wer sich nicht zu fein ist, einmal geradeheraus zu sein, wer den Kotau gegenüber falschen Autoritäten verweigert, beweist eine innere Freiheit, die durchaus etwas für sich hat. Dann – aber auch nur dann – wird »unverschämt« zu einem positiven Prädikat. Für solche Ausnahmen hat der Sprachgebrauch auch da einen feinen Sinn, wo es gar nicht allein um charakterliche Anlagen geht. Mögen auch manche Menschen unverschämt reich und manche Waren unverschämt teuer sein, manche Frauen oder Männer sind nun einmal unerhört attraktiv, und manches Produkt der Küche oder sonst einer Kunst ist einfach – »unverschämt gut«.

4.Schamgefühl

Schamgefühl hat, wer sich bis in die leiseste Regung hinein vor sozialer Bloßstellung scheut. Dieses Empfinden ist ein leiblich verankerter Widerwille gegen alles, was nach Ansicht einer Person ungehörig, verboten oder schlichtweg tabu ist. Ihr Gespür betrifft den Umgang mit anderen, aber auch Objekte und Institutionen, die als achtenswert oder heilig gelten – seien dies kultische oder künstlerische Artefakte, religiöse oder rechtliche Einrichtungen, Gebilde oder Gebiete der Natur. Der Schonung würdig erscheinen Menschen und Dinge in der Wahrnehmung der Schamhaften niemals nur deshalb, weil gerade ihnen an deren Beachtung etwas liegt. So wie sie es erfahren, so wie es ihnen anerzogen (oder auch eingebläut) worden ist, handelt es sich vielmehr um Werte, denen überhaupt Respekt oder Ehrfurcht gebührt. Schamgefühl ist ein stillschweigendes Bewusstsein möglicher Schande: einer Schande, die aus der Verletzung unbedingt achtenswerter Gebote entspringt.

Dabei ist es fast unerheblich, ob jemand eine solche Übertretung bemerkt. Ein Mensch, der Schamgefühl hat, sieht die Augen der anderen – seien es die der Mitmenschen, seien es die von Göttern oder anderen Geistern – stets auf sich ruhen. Vor ihren Augen will er bestehen, und deshalb auch vor seinen. Schamhaftigkeit äußert sich hauptsächlich in einem Vermeiden deplatzierter Worte und Taten, das sich vor allem in der Körpersprache von Personen manifestiert – im niedergeschlagenen Blick, in der Art der Kleidung, im Tonfall der Rede, in verhaltenen Bewegungen und Gebärden. Schamgefühl ist eine Art des Selbstseins, der die Scheu vor Taktlosigkeit in Fleisch und Blut übergangen ist.

Eine seiner Wurzeln hat dieser Habitus in der sexuellen Scham. Noch der Wunsch, sich in einem übertragenen Sinn keine Blöße zu geben, hat hier seine Basis. Man will nicht nackt, ohne alle Zeichen der Kultiviertheit, vor den anderen dastehen und nicht ungeschützt vor sie treten. Oft bedeutet das zugleich: Man will andere nicht willkürlich bloßstellen, ihren Selbstschutz nicht ohne Not verletzen. Sich zu schämen bedeutet dabei nicht immer nur, sich für sich zu schämen – für eigenes Verhalten, das man als Verfehlung empfindet. Man kann sich auch für andere schämen – freilich nur für solche, denen man sich zugehörig fühlt. Man schämt sich dann für Mitglieder seiner Familie, für seinen Verein, seine Firma oder sein Land, weil sie sich nicht so aufführen oder aufgeführt haben, wie Anstand oder Recht es gefordert hätten. Auch wenn es andere sind, für die man hierbei Scham empfindet, so betrifft diese doch immer einen selbst: als Person, die einem Einzelnen oder einer Gemeinschaft aus Neigung oder Geschichte verbunden ist. Manchmal sind die seismographischen Ausschläge des individuellen Schamgefühls Reaktionen auf ein sehr viel allgemeineres Beben.

Dieses Gespür kann aber auch zu einem Hemmnis werden – bis hin zu einer Berührungsangst gegenüber dem Leben selbst. Nicht nur im Bett gibt es eine falsche Scham. Wie man sich dort zusammen mit einem begehrten Menschen der eigenen Nacktheit ungeniert erfreuen kann, ist es manchmal auch andernorts an der Zeit, das Spiel der Verhüllungen hinter sich zu lassen. Dann kommt es – im privaten wie im öffentlichen Raum – darauf an, die Scheuklappen abzulegen und den Erwartungen anderer gerade nicht zu entsprechen. Den bloßen Anschein des Unschicklichen muss man nicht fürchten. Die allzu Schamhaften beweisen nicht nur einen Mangel an sozialer Courage, sondern auch an Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst. Aus Furcht davor, wie sie von anderen gesehen werden, trauen sie sich nicht, offen zu sich selbst zu stehen. Schamgefühl, eigentlich ein Wahrzeichen der Selbstachtung, wird so zu deren Gefährdung. Diejenigen, die ganz darin gefangen sind, hindert es daran, ein unverklemmtes Leben zu führen. Aus einem Übermaß an Takt geraten sie mit sich selbst außer Takt.

5.Takt

Takt ist eine Tugend der zurückhaltenden sozialen Berührung. Immer geht es um die richtige Distanz zu anderen Menschen. Ein Zuviel ist hier ebenso deplatziert wie ein Zuwenig; die Verfehlungen der Gleichgültigkeit und der Aufdringlichkeit halten sich die Waage. Der dezente Umgang mit anderen fällt ganz unterschiedlich aus, je nachdem, wie nah oder fern sie uns stehen. Selbst denjenigen, denen wir nahe kommen, sollten wir leiblich und seelisch nicht zu nahe kommen. Selbst diejenigen, die uns fernstehen, dürfen erwarten, dass wir in der Begegnung mit ihnen auf sie eingehen können. Taktlos verhält sich, wer sich anderen gegenüber in Belange einmischt, die sie mit sich selbst ausmachen wollen, oder Angelegenheiten ans Licht zerrt, die sie nicht preisgeben mögen. Taktlos kann es auch sein, anderen etwas aufzudrängen, wovon sie nichts hören wollen oder was sie nicht aufnehmen können. Wo – und wann – wir anderen zu nahe treten, wo – und wann – wir uns zu fern von ihnen halten, was – und wann – ihnen gegenüber ausgesprochen werden darf: hierfür ein Gefühl zu haben, darin liegt die Gabe der Diskretion.

Diese Zurückhaltung fängt schon bei der leiblichen Haltung an. Bei einer harmlosen Konversation auf welchem gesellschaftlichen Parkett auch immer kommt einem manch einer bereits physisch zu nahe, weil er nicht den räumlichen Grundabstand kennt, den die Teilnehmer an einer informellen Unterhaltung zu wahren haben. Auch wenn er nicht über eine feuchte Aussprache verfügt, möchte man ihn gerne ein Stück von sich wegschieben, würde es einem der eigene Takt nicht verwehren, den Taktlosen dermaßen vor den Kopf zu stoßen. Es gehört nun einmal zu den Gesetzen der Höflichkeit, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Man möchte nicht ungehobelt sein – nicht einmal den Ungehobelten gegenüber. Man möchte sich nicht aufspielen – nicht einmal denen gegenüber, die in einem fort auftrumpfen. Man möchte nicht zu direkt sein – nicht einmal denen gegenüber, die eine Abfuhr verdienen. Darin liegt die Schwierigkeit und manchmal das Verhängnis des Takts. Vor lauter Vornehmheit versagt man sich das direkte Wort. Vor lauter Einfühlungsvermögen vermeidet man einen offenen Zugang zu anderen Menschen. In den zarten Banden des Takts kann man sich heillos verstricken.

6.Unbefangenheit

Wie jede Tugend und jedes Laster ist Unbefangenheit eine komparative Eigenschaft; ihr Wert und Unwert ergibt sich aus ihrer Stellung unter vielen anderen. Wie bei einigen anderen Tugenden scheint ihre Beherzigung ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Denn unbefangen ist keine und keiner. Biologisch, biographisch und ideologisch, durch Herkunft, Sprache, Aussehen und vieles andere mehr sind alle, die selbständig denken und handeln können, vielfältig determiniert, bevor sie auch nur den kleinen Finger gerührt haben. Wie sollten sie da unbefangen urteilen und agieren können?

Sie können es, solange sie sich nicht einseitig bestimmen lassen. Unbefangen ist, wer nicht nur einigen wenigen seiner Prägungen nachgibt – und wer die vielen, denen er unterliegt, gegeneinander ins Feld zu führen vermag. Gegen den Drang, morgens im Bett zu bleiben, lässt sich der Wunsch mobilisieren, abends ein paar Seiten geschrieben zu haben. Gegen den Drang, sich zu seinem Vorteil zu verrechnen, lässt sich die Furcht mobilisieren, als Betrüger dazustehen. Gegen den Drang, den Genuss von Tabak für gesund zu halten, hilft die Kenntnis medizinischer Tatsachen. Allein das Widerspiel solcher Prägungen macht es möglich, nicht an eine von ihnen gefesselt zu sein. Man muss sich nicht von früh bis spät als kleiner Bruder aufführen, auch wenn man lebenslänglich der jüngere Bruder eines älteren bleibt; man muss sich nicht zeitlebens für einen Rebellen halten, nur weil man in einem Milieu aufgewachsen ist, in dem das gang und gäbe war; man muss nicht an der Lehre des Panpsychismus festhalten, nur weil sie einen einmal beeindruckt hat. Man muss nichts müssen: So lautet das Credo derer, die unbefangen sind. Sie wissen, dass alles, was wir müssen, eine Folge unseres Wünschens oder Wollens ist. Deshalb kommt es darauf an, uns an diejenigen unserer Zwecke und Leidenschaften zu binden, an denen uns vor allen anderen liegt, wobei es hilfreich ist, uns von einigen der Bindungen tragen und antreiben zu lassen, in denen wir ohnehin stehen. An gar nichts gebunden zu sein und trotzdem im eigenen Leben einen Sinn zu finden, das geht nicht; es geht wider die Natur einer jeden Kultur. Vor allem an eine Person oder Sache gebunden zu sein, das geht, aber es geht nicht gut; es zerstört den freien Blick auf die Welt. Wer nicht in vielem befangen ist, kann gar nicht unbefangen sein.

Menschen, zum Beispiel, haben Hände. So überaus nützlich diese Gliedmaßen auch sind, manchmal weiß man nicht, wohin mit ihnen. Leute, die damit keine Schwierigkeit haben, weil sie über ein geschmeidiges Auftreten verfügen, merken oft gar nicht, wie leicht ihnen eine ungezwungene Haltung fällt. Menschen, zum Beispiel, haben Überzeugungen. Viele davon stammen aus zweiter und dritter Hand. Diejenigen, die über ein unbefangenes Urteil verfügen, können ihre Ansichten von Fall zu Fall aus eigener Überlegung auf die Probe stellen. Erst recht ist ein »unabhängiger Geist« jemand, der sich so schnell von niemandem ein X für ein U vormachen lässt – so sehr, dass er oft gar nicht merkt, wie wenig er in seinen Theorien und Phantasien von den Marotten des Zeitgeists abhängig ist.

Habituell und intellektuell ist Unbefangenheit eine ziemlich strahlende Tugend. In moralischer Hinsicht aber kann sie anrüchig sein – oder es werden. »Ich bin da ganz unbefangen«, mag jemand achselzuckend sagen, wenn von ihm erwartet wird, in einem persönlichen oder politischen Konflikt Stellung zu beziehen. Manche gehen so weit, in allen Streitfällen die Enthaltung zu ihrer Haltung zu machen. Dann wird Unvoreingenommenheit selbst zur Voreingenommenheit: zu einem frivolen Sichheraushalten aus allem, was einen so oder anders festlegen würde. Wer gänzlich unbefangen wäre, wäre gänzlich blind – für seine eigenen Möglichkeiten nicht weniger als für die der anderen auch.

7.Unparteilichkeit

Unbefangenheit ist eine Bedingung aller Unparteilichkeit, aber nicht gleichbedeutend mit ihr. Als Person kann man mehr oder weniger unbefangen sein; mehr oder weniger unparteilich dagegen sind Personen in den unvermeidlichen Rollen eines Richters auf welchem Feld auch immer: vor Gericht oder im Sport, als Lehrer, Gutachter, Ermittler, Vorgesetzte oder Eltern. Wer unparteilich urteilen will, muss »über den Parteien stehen« – oder es wenigstens versuchen. Die dies versuchen aber müssen selbst irgendwo stehen: auf dem Boden eines Rechts und seiner Auslegung, das ihnen die Lizenz zum Urteil über andere gibt. Nur wer in diesem Sinn Partei ist, kann unparteilich sein. Unparteilichkeit steht immer für etwas ein: für eine Regel oder einen Regelkanon, für ein Gesetz oder ein Prinzip oder für eine Lebenshaltung, die sich nicht geradewegs ausbuchstabieren lässt. Diese Basis bildet die Norm der Bewertung. Von solchem Rückhalt hängt hier alles ab. Denn alles hängt hier von der Hinsicht ab, unter der jeweils geurteilt wird: von der Angemessenheit oder Unangemessenheit, dem Maß oder Unmaß, der Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit der Richtlinien, die das Urteil der Unparteilichen leiten. Unparteilichkeit als solche ist keineswegs fair; sie ist es nur, wenn sie im Namen fairer Grundsätze operiert. Selbst ein grausamer Despot könnte unparteilich richten.

8.Grausamkeit

Grausam sind Handlungen, die die leibliche oder seelische Integrität von Lebewesen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen verletzen; grausam sind Menschen, die eine Disposition zu solchen Handlungen haben. Zum Opfer von Grausamkeit kann eine Person durch gezielte Nichtbeachtung oder durch offene Demütigung werden, erst recht durch Akte der Vergewaltigung und der physischen wie psychischen Folter. So sehr Einzelne auf eigene Rechnung grausam sein können, in einem oft gesteigerten Maß sind es Kollektive, deren Mitglieder aus Motiven der Vergeltung zur Brutalität übergehen, oder wenn sie glauben, ihr eigenes Glück und am Ende das der Menschheit hinge von Aktionen der Grausamkeit ab.

Als grausam können aber auch Handlungen empfunden werden, die es gar nicht in eigentlicher Bedeutung sind. Dem eigenen Kind die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches zu versagen, kann sowohl von den Eltern, die das Verbot aussprechen, als auch von dem Kind, das sich ihm fügen muss, als grausam erfahren werden, und dies in einem durchaus buchstäblichen Sinn. Fürsorge kann schmerzlich sein. Jedoch: Die als grausam empfundene Handlung wird hier mit dem Wohl des Kindes, etwa seiner Gesundheit oder Sicherheit, begründet. Sie geschieht im Namen seiner Integrität: in der Absicht, diese zu schützen. Sie ist eine – nach Einschätzung der Handelnden unvermeidliche – Folge der Rücksicht auf sein Gedeihen. Ähnlich verhält es sich bei mancher medizinischen Behandlung, der wir uns unterziehen, oder bei Übungen und Vorschriften, die wir uns selbst auferlegen, obwohl sie uns einigermaßen zuwider sind. Wir glauben, dass dies letztlich zu unserem Guten sein wird. Selbst eine »Ästhetik der Grausamkeit«, wie sie von Künstlern wie Antonin Artaud oder Michael Haneke vertreten wird, kündigt den Pakt mit dem Publikum nicht auf, wie viel Irritation und Erschütterung ihre Werke auch bereithalten mögen.

Dergleichen mag für die Beteiligten auf verschiedene Weise grausam sein oder erscheinen, aber mit dem Laster der Grausamkeit hat es nichts zu tun. Denn für dieses zählt das Wohlbefinden der anderen gerade nicht. Der Grausame nimmt die Schmerzen seines Gegenübers nicht wahr, oder sie sind ihm gleich – oder er ergötzt sich daran. Er zieht seine Nummer trotz der Qualen seiner Opfer durch. Er sieht nur sich und seine Begierden oder Ideale: eine Extremform der Egomanie und Bösartigkeit, von der auch staatliche wie nichtstaatliche Vereinigungen befallen sein können. Einen Impfstoff immerhin gibt es gegen diesen Terror. Jedoch wirkt er meist nur, wenn alles zu spät und das Unheil längst geschehen ist. Dieses Medikament besteht in einer einfachen Einsicht: Wer anderen gegenüber habituell grausam ist, ist es zugleich gegen sich selbst. Der Grausame muss eine Härte auch sich selbst gegenüber entwickeln, mit der er die eigenen Regungen der Zartheit und des Mitleids, der zugestandenen Unsicherheit und Schwäche unterdrückt oder zumindest zu unterdrücken versucht. Sein Tun ist nicht einmal zu seinem Guten. Das entschuldigt sein Verhalten nicht im Geringsten. Aber es gibt den Geschundenen und denen, die mit ihnen fühlen, wenigstens die – wenn auch oft vergebliche – Hoffnung, dass die Hartherzigen doch erschütterbar sind. Sie ist verbunden mit der Gewissheit, dass sich keine Gesellschaft auf Dauer und im Ganzen dem Gesetz der Grausamkeit beugen wird.

9.Mitgefühl

Zuneigung und Abneigung sind wesentliche Triebkräfte des menschlichen Handelns und wesentliche Produktivkräfte auch. Ohne das Widerspiel von Sympathie und Antipathie würde uns nichts verlocken und nichts widerstreben. Wir würden in uns ruhen wie Steine und mit stumpfem Blick das Ringen der Pflanzen um Licht und Schatten verfolgen. Fühlten wir uns nicht angezogen und abgestoßen von Menschen und Dingen, gäbe es für uns nichts zu wollen. Weder Erfüllung noch Entbehrung stellte sich ein, es gäbe weder Freundschaft noch Liebe, keine Kunst, kein Denken, keine Wissenschaft, keine Politik, keine Religion und keine Moral. Wer nie auf seine Neigungen hört, hat keinen Willen, mit dem er diese lenken könnte, wer nie für jemanden entflammt ist, weiß nichts von sich, wer sich für das Werk anderer nicht begeistern kann, wird nie ein eigenes schaffen, wer nie einen Gedanken attraktiv fand, hat zu denken noch gar nicht begonnen, wer nie auf eine Hypothese fixiert war, ist für die Wissenschaft verloren, wer nie die Leidenschaft der Macht verspürte, hat politisch nichts zu bestellen, wer sich nie zu einem Glauben hingezogen fühlte, ist für die Wonnen auch des Unglaubens taub, wer nie von Mitleid ergriffen wurde, hat kein Gespür für das, was recht und billig ist. Und umgekehrt. Wer nie angewidert war vom Verhalten anderer, wer nie erschrocken ist über die Demut der Gläubigen, wer nie Empörung empfand über den Zustand der Welt, wem nie eine These gegen den Strich ging, wer nie von Neid ergriffen wurde auf die Begabung der anderen, wer nie einen oder eine nicht ausstehen konnte, wer nie entsetzt war über die eigenen Begierden, lebt als Untoter unter den Lebenden. Selbst diejenigen, die einer seligen Apathie sehr nahekommen, oder dies wenigstens glauben, haben Anstrengungen unternommen, die übermenschlich wären, wären sie nicht von einem Affekt gegen das affektive Für und Wider getragen. Die menschliche Welt bewegte sich nicht, weder zum Guten noch zum Schlechten, wären ihre Bewohner nicht fortwährend so oder anders bewegt.

In diesen schwankenden Grund schlägt das Mitgefühl seine Wurzeln. Dort entsteht es, dort vergeht es – oder es erhält sich. Nur Personen, denen viele andere Personen im Positiven wie im Negativen nicht gleichgültig sind, können ein Gefühl dafür entwickeln, wie es ist und was es heißt, als Person unter Personen zu leben. Nur Personen, denen andere auf die eine oder andere Weise nahegehen, können auf Distanz zu ihren unmittelbaren Reaktionen ihnen gegenüber gehen. Nur Personen, die zu sich selbst in Distanz gehen können, können anderen trotz ihrer Distanz zu ihnen nahe zu sein versuchen. Nur Personen, die anderen nahe oder fern stehen können, sind fähig, ihre Freude und ihr Leid im Gleichklang mit anderen zu erleben. Die Grundstellung des Mitgefühls besteht darin, im Verhältnis zu anderen das eigene Empfinden von einer Empfänglichkeit für ihre Lage färben zu lassen. Diejenigen, die es sich erhalten haben, setzt es instand, eine Situation in einem mit anderen geteilten Empfinden auszukosten oder zu durchleiden – oder, wie es manchmal kommt, auszukosten und zu durchleiden.

Dazu bedarf es nicht zuletzt der Einbildungskraft – woran sich zeigt, dass auch und gerade das Mitgefühl kein bloßes Reagieren, sondern eine geistige Handlung ist. Um am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, muss ich mir vorstellen können, wie es mir ginge, wenn ich in ihrer Lage wäre. Das ist einerseits nicht schwer, denn mich kenne ich ja einigermaßen; andererseits aber nicht leicht, denn es muss mir gegeben sein, ein Gespür für die Lage der anderen zu entwickeln – insbesondere dann, wenn sie mich ansonsten nichts angehen oder ich sie ansonsten gar nicht ertragen kann. Manches immerhin wünscht man nicht einmal seinen ärgsten Feinden. Mitgefühl entsteht aus einem stillschweigenden Wissen darum, dass die anderen, so verschieden sie auch sein mögen und so unterschiedlich ich zu ihnen auch stehen mag, in derselben Lage sind wie ich: als Personen, die im Widerspiel von Zuneigung und Abneigung durch ihr Leben navigieren und dabei, wenn es gutgeht, zugleich verschiedene Distanzen zu ihren ureigenen Affekten entwickeln. Ohne ein gewisses Maß der Gleichgültigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen gibt es kein Gefühl der Humanität.

Mitgefühl ist nicht allein Mitleid, sondern ebenso Mitfreude, inklusive Mitwarten, Mitbangen, Mithoffen, Mittrauern, Mitzittern, Mitlachen, Mitweinen – und vieles andere mehr. Man muss diese Zuwendung nicht allein haben und zeigen, sondern auch empfangen und manchmal ertragen können. Dabei können sich heikle Konstellationen ergeben. Verfehltes Mitgefühl besteht nicht in geheuchelter Freude und geheucheltem Leid allein. Wenn der andere, obwohl er dazu in der Lage wäre, kein Gefühl für mein Mitgefühl zeigt, ist er dieses nicht wert; er wird sich meine Sympathien verscherzen. Insofern kann das Mitgefühl auch durch seine Empfänger Schaden nehmen. Seine bedrohlichste Form aber manifestiert sich in einer wohlwollenden Usurpation. Man kann andere durch sein Mitgefühl erdrücken und sogar ersticken. Dies geschieht, wenn die von Empathie Ergriffenen sich gleichsam an die Stelle derjenigen setzen, denen sie gilt. Sie glauben deren Leiden zu durchleiden und deren Liebe zu erleben, oder sie fühlen sich berechtigt, das Leben der anderen in ihre Hand zu nehmen. Dann macht sich eine Gleichgültigkeit innerhalb der fürsorglichen Zuwendung breit. Früher oder später wird sich eine solche Gleichgültigkeit auch gegen diejenigen wenden, die einem blinden Mitgefühl erliegen. Sie selbst kommen in ihren Gefühlen nicht länger vor; die Macht ihrer Anteilnahme trübt das Gespür für das eigene Befinden. Übersteigerte Empathie mündet in Missachtung sowohl der anderen wie unserer selbst.

10.Selbstmitleid

Weinerlichkeit und Larmoyanz trüben die Beziehung zu anderen und zu sich selbst. Man soll nicht in Selbstmitleid versinken. Trotzdem ist es keine Schande, gelegentlich die eigenen Wunden zu lecken. Man darf sich ruhig einmal bedauern, um dann, wenn es sein muss, wieder Härte gegenüber sich selbst zu zeigen. Beides hat seine Zeit. Das sentimentale wie das unsentimentale Selbstverhältnis haben beide ein Recht. Es wird verwirkt, wenn eines von beiden ein Vorrecht für sich reklamiert. Erst im Abstand von maßlosem Selbstmitleid und maßloser Askese findet eine Person zu sich.

11.Humor

Der Sinn für Komik ist eine Tugend von zweifelhaftem Ruf. Er kann jederzeit ins Lasterhafte umschlagen. Dies geschieht, wenn Leute sich im Verlachen anderer gefallen und dabei ihre vermeintliche Überlegenheit genießen. In seinen grausamen Varianten wird dieses Lachen zum Ausdruck eines Ressentiments von Menschen, die sich, weil sie mit sich selbst nicht klarkommen, in ein hämisches und höhnisches Gelächter retten. Oder es kann sich in einer flauen Humanität gefallen, die aber auch alles, vom Peinlichen bis zum Abscheulichen, von einer heiteren Seite nimmt. Freundlichere Züge dagegen zeigt der Sinn für Komik, wenn er die, die sich ihm überlassen, noch in absurden Lebenslagen mit Lebensfreude anzustecken vermag. Mit anderen mitzulachen wird dann zu der willkommenen Verführung, im Gelingen das Misslingen, im Misslingen das Gelingen, im Wichtigen das Unwichtige und im Unwichtigen das Wichtige zu entdecken. Gesund ist dieses Lachen auch in einem kognitiven Sinn. Plötzlich, in einer befreienden körperlichen Erschütterung, werden wir sonst verdeckter Spannungen, Ungereimtheiten und Widersprüche gewahr, die uns und anderen tausenderlei Streiche spielen. In einem solchen Lachen tanzen wir aus der Reihe des Ernstes, weil wir sehen, dass die Verhältnisse aus seiner Reihe tanzen.

Eine besondere Variante dieser sozialen wie kognitiven Lust ist der Humor. Ihn zu haben, ist eine elementare Form der Unbefangenheit, und vielleicht ihre radikalste. Wer ihn zeigt, weiß vor allem über sich selbst zu lachen. Wer ihn zulässt, versetzt sich durch eine spontane Regung in eine Distanz zu sich selbst. In solchem Humor meldet sich ein unwillkürliches Bewusstsein davon, dass das, was man für unbezweifelbar hält, doch bezweifelbar ist, dass es da, wo man selbst steht, keinen sicheren Stand gibt. Doch es lässt sich davon die Laune nicht verderben; es nimmt die Unwucht der eigenen Lage an. Die Weisheit dieses Humors besteht darin, den eigenen Widerspruch nicht nur zu bekämpfen, sondern bejahen zu können, wie es für ein gelungenes Selbstverhältnis unvermeidlich ist. In ihr meldet sich die Bereitschaft, die eigene Position zur Disposition zu stellen. Freilich: Man muss eine Position haben, um sie zur Disposition stellen zu können. Man muss eine Position halten, um eine andere dagegen halten zu können. Humor ist der Beweis dafür, dass wir es uns leisten können, das eine und das andere zu haben: ein Vertrauen in die Stärke der eigenen Position und zugleich das Wissen um ihre Schwäche.

Seine Äußerungsformen sind vielfältig und oft ganz unscheinbar. Es muss kein schallendes Lachen, Prusten oder sonst ein dröhnender Frohsinn sein, wodurch er sich bemerkbar macht; ein leises Lächeln oder ein gelassenes Schulterzucken tut es auch. Immer aber handelt es sich um eine Reaktion, die die Begrenztheit und Beschränktheit der menschlichen Reaktionen zum Anlass eines relativierten Ernstes erhebt. Humor ist ein affektiver Widerstand gegen den falschen Ernst – vor allem gegen den eigenen. Das Leben zu ernst zu nehmen, davon weiß sein Lachen, hieße, es nicht ernst genug zu nehmen – da hinter fast jedem Schrecken die Freude und hinter fast jeder Freude der Schrecken lauert, hinter fast jeder Absurdität ein Sinn und hinter jedem Sinn die Absurdität.

12.Albernheit

»Sei nicht albern«, ist eine Aufforderung an Junge wie Alte, die hierzu immerhin fähig sind. Nicht alle sind es. Es gibt Menschen, selbst Kinder, von denen man sich wünschte, sie einmal herumalbern zu sehen. Und es gibt solche, die sich das nur auf Kommando trauen – am 11. 11. oder einem anderen Stichtag. Dabei ist es so einfach. Man muss nur das Gewohnte in einen leichten Schwindel versetzen. Drei Chinesen mit dem Kontrabass ist ein in Kindergärten gern gesungenes Lied. Wenn man die Lautgestalt dieser Zeile (und der drei, die ihr folgen) entschlossen begradigt, bricht zuverlässig eine unkontrollierbare Fröhlichkeit aus: Dri Chinisin mit dim Kintribiss – usw. Die Umlaute mitgezählt, lassen sich im Deutschen im Handumdrehen acht schräge Idiome hervorzaubern, in denen man unter ansteckendem Kichern und Giggeln nach Belieben parlieren kann (man muss nur den Mund entsprechend formen). Das ist das Grundprinzip der Albernheit: sich eine Auszeit nicht vom Anstand, wohl aber von der Würde zu nehmen, mit der ein gesetztes Benehmen alles und jedes seinen geordneten Gang gehen lässt.

Im Unterschied zum Humor handelt es sich hier um einen Unernst, der keinerlei höheren Ernst für sich reklamiert. Deswegen fällt das Albernsein manchen so schwer. Sein ganzer Witz liegt in einer puren Ausgelassenheit. Es leistet keinen Widerstand und übt keine Kritik. Es will nicht verlachen, sondern bloß zerlachen. Es hat genug damit zu tun, die Seifenblasen des Verständigen und Verständlichen zum Platzen zu bringen. Alleine geht das nicht. Wenigstens ein Publikum muss man haben. Besser noch ist es, es sind andere da, die Laune auf ein verbales oder mimisches Gekasper haben. In Augenblicken übermütiger Geselligkeit kann es zu regelrechten Anfällen eines ungehemmten Frohsinns kommen, die für Erwachsene mitunter gesundheitsschädlich sind.

Die meisten Kinder haben da ein besseres Stehvermögen. Albernheit, zusammen mit selbstvergessenem Staunen und Spielen, ist Kindlichkeit par excellence: die Fähigkeit, inmitten der Welt den Lauf der Welt anhalten zu können. Wer sich davon nichts erhält, ist umsonst einmal Kind gewesen. Wer nie ein Quatschkopf ist, erweist sich selten als ein feiner Kopf. Ein alberner Mensch dagegen will nicht begreifen, warum er mit seiner ständigen Lachbereitschaft allen auf die Nerven geht. Noch die heiterste Regression hat ihre Zeit. »Sei nicht kindisch«, ermahnen wir das Kind im Mann oder der Frau, wenn es partout nicht damit aufhören will, alles und jedes zum Schreien komisch zu finden.

13.Ironie