»Hollywood« ignorieren - Martin Seel - E-Book

»Hollywood« ignorieren E-Book

Martin Seel

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Beschreibung

Für oder gegen Hollywood – von dieser Alternative sollte sich eine Theorie des Kinofilms befreien. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel demonstriert in seinem Buch »›Hollywood‹ ignorieren. Vom Kino«, wie dies gelingen kann. Ob es um das Verhältnis von Bewegung und Stillstand, Erzählung und Gegenerzählung, Gesetz und Gewalt oder um die Transformation filmischer Genres geht: Jedes Mal kommt ein Spektrum heterogener Darstellungsmöglichkeiten in den Blick. In fesselnden Analysen einzelner Filmen sowie der Reaktionen des Kinos auf den zweiten Irakkrieg wird die Reichweite filmischer Weltbezüge vorgeführt. U. a. über die Filme von John Ford: »The Man who shot Liberty Valance«; Jean-Luc Godard: »Vorname Carmen«; Michael Mann: »Heat«; Michael Haneke: »Caché«; Francis Ford Coppola: »Apocalypse Now« und Clint Eastwood: »American Sniper«.

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Seitenzahl: 320

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Martin Seel

»Hollywood« ignorieren

Vom Kino

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort1. »Hollywood« ignorieren. Ein Selbstversuch1. Der Sinn einer Theorie des Films2. Der methodische Einwand3. Drei Kronzeugen2. Kino-AnthropologieEin MottoKino-AnthropologieAktive PassivitätEine ZugabeEthos und PathosKontinuität und Diskontinuität3. Bewegte Stillstände im Kino und anderswoOntologiePhänomenologieÄsthetikKinematographie4. Prénom Carmen oder von der Unzuverlässigkeit des KinosFalsche FährtenGenresDer Name des Films5. Ethan Edwards und einige seiner Verwandten1.2.3.4.5.6. The Man Who Shot Liberty Valance oder von der Undurchsichtigkeit normativen Wandels1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.7. Ein Duell in der Grauzone von Gesetz und Gewalt. Heat von Michael MannEin DuellEine GrauzoneFatalismusZwielichtGewaltGesetz und Gewalt8. Anonyme Bilder verdeckter Gewalt. Caché von Michael Haneke1.2.3.4.5.6.7.9. Narration und (De-)Legitimation. Der zweite Irakkrieg im Kino1. Erzählung und Rechtfertigung2. Der zweite Irakkrieg im Film3. Vier Thesen10. Begleitende Kontextualisierung. Indirekte Filme über 9/11 und die FolgenErste VorüberlegungZweite Vorüberlegung1. Action im Umfeld2. Verstörung daheim3. Ausläufer des Kriegs4. Vorgeschichten5. Perspektiven aus der Ferne6. Zurück in die ZukunftSchlussbetrachtung11. Schießstand als Therapiezentrum. American Sniper von Clint Eastwood12. Kann es einen gerechten Kriegsfilm geben? Francis Ford Coppolas Apocalypse Now1. Kriegsfilme2. Ästhetische Gerechtigkeit3. Apocalypse Now4. Anfang und Ende5. Charly don’t surf6. Gerechtigkeit und Schönheit13. Erscheinendes Gelingen. Über das Kunstschöne1.2.3.4.5.Nachweise

Vorwort

»Man muß manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, – und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen.« Das von Ludwig Wittgenstein in einer seiner Notizen erdachte Verfahren zur Klärung philosophischer Begriffe wird in diesem Buch auf den Ausdruck »Hollywood« angewandt. Wie bereits das Inhaltsverzeichnis erkennen lässt, werden Filme aus Hollywood dabei keineswegs ignoriert. Meine Empfehlung lautet vielmehr, den Begriff »Hollywood« einmal beiseite zu lassen. Der Buchtitel signalisiert also keine Aversion gegen das Hollywood-Kino, sondern gegen eine – sei es positive, sei es negative – Fixierung auf es. Theorien des Kinofilms sowie Untersuchungen zu einzelnen Filmen und Filmperioden sind gut beraten, sich ihren Blick nicht durch einschüchternde Kategorien und Hierarchien verstellen zu lassen.

Das einleitende Kapitel erläutert diese Maxime. Das zweite resümiert und modifiziert die filmtheoretische Perspektive meines Buchs Die Künste des Kinos aus dem Jahr 2013. Das dritte untersucht die Befähigung des bewegten Bildes, Zustände existentiellen und sozialen Stillstands zu exponieren. Mit Ausnahme des letzten Kapitels, das in einer Totalen auf die Landschaft der Künste blickt, sind die restlichen Kapitel Interpretationen einzelner oder thematisch miteinander verbundener Filme gewidmet. Diese Deutungen erkunden, in welcher Form die betreffenden Filme Verhältnisse von Erzählung und Gegenerzählung, Gesetz und Gewalt, Terror und Krieg exponieren. Zeigen zu können, was und wie bestimmte Filme zeigen, ist das Mindeste, wozu eine Philosophie des Films in der Lage sein sollte.

Die meisten der hier versammelten Texte sind im Rahmen zweier Projekte innerhalb des Forschungsverbunds »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt entstanden. Das eine war den filmischen Reaktionen auf die Ereignisse von 9/11 und die anschließenden Kriege gewidmet. Das andere, das ich zusammen mit Angela Keppler geleitet habe, hat aus einer allgemeineren Perspektive die Verstrickungen von Gesetz und Gewalt im Kino untersucht. Jochen Schuff und Judith-Frederike Popp möchte ich für ihre überaus produktive Mitarbeit danken. Auch Eva Backhaus, Stefan Deines sowie Daniel Martin Feige waren immer wieder involviert. Ohne den beständigen Dialog mit ihnen allen sähen meine Texte anders aus, wie auch das Buch ein anderes Gesicht hätte, hätte nicht Karin Bovisi die Redaktion des Bandes übernommen – auch hierfür herzlichen Dank.

 

Frankfurt/M., im März 2017

M.S.

1. »Hollywood« ignorieren. Ein Selbstversuch

Die wichtigste Markierung in dem merkwürdigen Titel dieses Beitrags sind die Anführungszeichen, in die ich den Namen »Hollywood« gesetzt habe. Ohne diesen Wink wäre die Botschaft meines Titels eine ganz andere – und außerdem eine völlig verfehlte. Seine Geste legt keineswegs nahe, man solle beim Nachdenken über den Film einen Bogen um Hollywoodfilme machen. Dies wäre einigermaßen abenteuerlich, um das Wenigste zu sagen. Ich möchte vielmehr nahelegen, dass man innerhalb der Theorie des Films die Kategorie »Hollywood« mit Vorsicht gebrauchen sollte. Dies gilt insbesondere dann, wenn darunter die Stilepoche des Classical Hollywood verstanden wird.

Bevor ich erläutere, was es damit auf sich hat, noch ein Wort zu meinem Untertitel. Als ich diesen Text im Frühjahr 2013 für eine Tagung über das Verhältnis der kontinentalen Philosophie zum klassischen Hollywoodkino schrieb, war ich gerade dabei, das Manuskript meines im Herbst desselben Jahres erschienenen Buches über Die Künste des Kinos abzuschließen.[1] In diesem Buch kommt das Wort »Hollywood« außer in einem Hinweis auf einen Buchtitel von Robert Pippin überhaupt nicht vor.[2] Das, so dachte ich mir, kann kein Zufall sein in einer Abhandlung, in der etwa die Hälfte der besichtigten oder erwähnten Filme US-amerikanischer Herkunft sind, wovon bei weitem die meisten in Hollywood produziert wurden. Um einen »Selbstversuch« handelt es sich bei meinen Überlegungen also insofern, als jenes Tagungsthema mich nötigte, mir darüber klarzuwerden, was ich im damaligen Frühjahr eigentlich getan hatte.

Vor diesem Hintergrund werde ich zu erläutern versuchen, in welchem Sinn eine Philosophie des Films »Hollywood« ignorieren kann, darf und vielleicht sogar muss. Theorien des Films, so lautet meine These, geraten auf eine schiefe Bahn, wenn sie die Stile des Hollywoodfilms – und erst recht, wenn sie den Stil seiner klassischen Periode – in methodischer Hinsicht als einen oder gar den paradigmatischen Fall des Kinos behandeln. Nach einer Vorüberlegung zum Status einer Ästhetik des Kinos werde ich meinen methodischen Vorbehalt gegenüber einer theoretischen Fixierung auf das Hollywoodkino ausführlicher formulieren. Abschließend werde ich drei kontinentale Kronzeugen für meine Auffassung aufrufen, von denen zumindest einer überraschend sein dürfte.

1. Der Sinn einer Theorie des Films

Ich beginne mit einer knappen Verständigung über den Sinn und die Reichweite einer Theorie des Films sowie über ihren primären Gegenstand. Wie in dem erwähnten Buch werde ich unter »Film« vorwiegend den für das Kino produzierten und dort erscheinenden Spielfilm verstehen, also die vielen anderen Formen der Verwendung filmischer Bilder vernachlässigen. Darin liegt mehr als nur eine pragmatische Beschränkung auf ein bestimmtes Großgenre des Films und einen bestimmten Ort seiner Darbietung. Denn eine generelle ästhetische Theorie des Mediums Bewegtbild dürfte zumal unter den heutigen Bedingungen vergeblich sein, da es sich hierbei gar nicht um ein einheitliches Phänomen handelt. Die Art der Theorie, auf die es den meisten Autoren in diesem Feld ankommt, betrifft vielmehr das ästhetische Potential des Kinofilms – seine besondere Disposition über Zeit und Raum, Bild und Klang, Narration und Attraktion, Fiktion und Exploration, Imagination und Emotion. Eine solche Theorie widmet sich der spannungsreichen Verwandtschaft des Films mit vielen anderen Künsten und damit seiner wechselvollen Stellung unter ihnen.

Analoges gilt auch im Bezug auf einzelne Filmgenres. Man kann die Grundoperationen des Spielfilms nur aus seiner Position zu anderen filmischen Gattungen und deren Anleihen sowohl untereinander als auch bei außerfilmischen Verfahren der Darbietung erkennen.[3] Wenn man dabei der vielen Hybridformen künstlerischer Objekte innerhalb und außerhalb des Kinos eingedenk bleibt, wird ersichtlich, wie nahe selbst das bescheidene Unternehmen einer Theorie bloß des Spielfilms einer intellektuellen Hybris kommt. Aber das ist ganz in Ordnung so, solange man sich dessen bewusst bleibt, worin letztlich die Mission einer Theorie des Kinos besteht: nämlich Begriffe bereitzustellen und Zugänge zu entwerfen, die geeignet sind, sich auf das, was das Kino – und nur das Kino – kann, intensiver einzulassen, als es andernfalls möglich wäre.

Freilich ist das künstlerische Potential des Films nicht vom Himmel gefallen. Im Zuge technischer Erfindungen hat es sich historisch entwickelt und entwickelt sich weiterhin, ohne dass ein Ende abzusehen wäre, wie sehr auch das Kino als institutioneller Ort des Erscheinens von Filmen marginalisiert worden ist und weiter marginalisiert werden mag. Die technischen Innovationen jedoch, durch die das Kino zur Welt gekommen ist und dank deren es sich immer wieder verändert hat, dürfen nicht mit seinen ästhetischen Verfahren gleichgesetzt werden. Denn diese haben ihren Ursprung in der Genese einer vielfältigen kulturellen Praxis der Herstellung und Wahrnehmung von Filmen – in den einander überlagernden, miteinander im Widerstreit liegenden, von Brüchen und Umschwüngen gekennzeichneten, keiner geraden Linie folgenden und jederzeit auf Abruf geltenden Konventionen der Produktion und Rezeption.[4] Auf diese Geschichte des Kinos muss eine Philosophie des Films notwendigerweise Bezug nehmen. Die Frage ist nur, wie dies am besten geschieht. Meine Antwort lautet: Es sollte in einer exemplarischen Form geschehen, die von vornherein für die heterogenen Möglichkeiten der filmischen Gestaltung offen ist. Die Plausibilität einer Theorie des Films, mit anderen Worten, steht und fällt mit einer einsichtigen Kombination ihrer begrifflichen Analyse mit einer variantenreichen Phänomenologie.

Das heißt natürlich, dass hierbei unter anderem dem Hollywoodfilm vor, nach und während seiner klassischen Periode eine signifikante Rolle zukommt. Im Unterschied zu einer Geschichte des Kinos oder auch nur bestimmter Epochen und Regionen seiner Entwicklung geht eine komparativ angelegte Ästhetik des Kinos dabei ein besonderes Risiko ein. Denn jeder Versuch über die Kunst des Kinos enthält eine Wette darauf, was sich als das Arsenal seiner basalen Formen nicht allein erwiesen hat, sondern weiterhin erweisen wird.

2. Der methodische Einwand

Jetzt bin ich so weit, meinen methodischen Einwand gegen eine Fixierung auf die Kategorie »Hollywood« innerhalb der Theorie des Films begründen zu können. Dass der Verdacht, dass sich hier eine schiefe Bahn auftut oder doch auftun kann, nicht aus der Luft gegriffen ist, lässt sich am einfachsten durch einen Blick auf die angelsächsische Diskussion belegen. Bei philosophischen Autoren wie Stanley Cavell, Noël Carroll, George Wilson, Thomas Wartenberg, Richard Allen, James Conant, Robert Pippin, Berys Gaut und etlichen anderen, die aus einer systematischen Perspektive über den Film schreiben, spielt das Hollywoodkino eine paradigmatische Rolle. Es wird primär eine Theorie des narrativen Spielfilms made in Hollywood vor allem in dessen klassischer Periode entwickelt, verbunden mit dem, sei es expliziten, sei es impliziten Anspruch, auf der so gewonnenen Basis auch den anderen Formen des Kinos gerecht werden zu können. Weniger in einem normativen, sondern vorwiegend in einem methodischen Sinn wird »Hollywood« gleichsam als der Standardfall des Kinos behandelt, demgegenüber seine Frühphase, das Autorenkino oder die mit digitaler Technik produzierten Filme als instruktive Abweichungen verstanden werden, wenn diese Formen des Films nicht (wie z.B. bei Cavell der Animationsfilm) gleich ganz aus dem Spektrum der Künste des Kinos ausgeschlossen werden.[5] Für die genannten Spielarten müssen dann allerlei Zusatzdeutungen und Sondertheorien bemüht werden, wodurch entscheidende Formaspekte gerade des Filmtypus aus dem Blick geraten, der das einseitige sample dieses theoretischen Zugangs bildet. Ein solches Vorgehen nämlich muss vor der Aufgabe versagen, die mal ostentative, mal latente, oft subkutane, stets aber potentielle Kommunikation unter den verschiedenen Stilen und Ökonomien des Kinos zu erkennen. Eine Konzentration auf die narrative Welterzeugung des klassischen Hollywoodkinos beispielsweise verleitet dazu, die Dimension des von Tom Gunning so genannten »cinema of attraction« zu vernachlässigen, die das experimentelle wie das populäre Kino bis zum heutigen Tag prägt. Zudem schleicht sich bei einer theoretischen Orientierung am Paradigma des klassischen Hollywood vielfach der irreführende Glaube an einen konstitutiven Illusionismus des Kinos ein. Dieser betet das auch aus der Theorie anderer Künste geläufige Mantra nach, jede Form der medium awareness, also der Aufmerksamkeit für das Schauspiel ihrer Inszenierung, sei störend für eine intensive und erst recht immersive Wahrnehmung der »Welt eines Films«.

Auf diese Irrwege aber werde ich hier nicht weiter eingehen.[6] Denn die Gegenseite einer Fixierung auf Hollywood und alles, was damit vermeintlich zusammenhängt, ist für mein Argument nicht minder aufschlussreich. Hüben wie drüben – diesseits und auch jenseits des großen Teichs – nämlich finden sich zahlreiche Theoretiker des Kinos, die das Autorenkino (was immer darunter jeweils im Einzelnen verstanden wird) als paradigmatisch für die Kunst des Kinos behandeln, wobei freilich auch in Hollywood tätige Regisseure (wie Howard Hawks, John Ford, Anthony Mann, Alfred Hitchcock, Nicholas Ray usw.) fast nach Belieben eingemeindet werden können, indem sie in den Adelsstand echter, wenngleich manchmal verkannter »auteurs« erhoben werden. Höchst respektable Blockbuster mit ihren erheblichen attraktionistischen Qualitäten, die wir Regisseuren wie Cecil B. DeMille, George Lucas, James Cameron, Paul Greengrass oder Peter Jackson verdanken, werden hier allenfalls mit der Feuerzange angefasst. Man hält die Fahne einer fetischisierten »Filmkunst« oder schlimmer noch des »Kunstfilms« hoch und redet damit wiederum daran vorbei, was das Kino in seinen heterogenen Formen vermag.

Diese Tendenz sehe ich beispielsweise bei kontinentalen – nicht zufälligerweise französischen – Philosophen wie Jacques Rancière oder Jean-Luc Nancy. Der interessantere Fall freilich ist Gilles Deleuze. Im ersten seiner beiden Kinobücher spielt die narrative Dynamik des klassischen Hollywoodkinos eine zentrale Rolle. Das zweite hingegen ist den Choreographien oder besser noch Chronotopien vor allem des europäischen Autorenkinos gewidmet (wobei die »mentalen Bilder« Hitchcocks als ein transformierendes Gelenk fungieren). Es ist jedoch mehrfach beobachtet worden (unter anderem von Rancière), dass eine erhebliche Spannung zwischen der von Deleuze postulierten historischen Ordnung und der systematischen Kraft seiner Taxonomien besteht.[7] Die Produktivität der Analysen Deleuzes liegt mit ihren historischen Zuordnungen im Widerstreit. Insbesondere die Grundunterscheidung (l’image-mouvement vs. l’image-temps), die den beiden Büchern ihren Titel gibt, verweist weniger auf Stadien der Entwicklung bestimmter filmischer Verfahren als vielmehr auf das wechselvolle Verhältnis ihrer unterschiedlichen Relationen und Dominanzen. So gelesen, behandelt Deleuze grundsätzliche, teilweise schon früh koexistierende und auf vielfache Weise kombinierbare Möglichkeiten des Kinos. Er erkundet das sich ausdehnende Universum seiner formalen Dispositionen. Er geht dem künstlerischen Potential des Spielfilms nach, wie man es von einer Philosophie des Kinos erwarten darf.

Die Schizophrenie einer Orientierung entweder am klassischen Hollywood oder am Rest der Geschichte und ebenso derjenigen einerseits an Hollywood und andererseits an der übrigen Filmwelt ist dabei nur hinderlich. So wichtig Hollywood zumal in seiner klassischen Periode für die künstlerische und ökonomische Entwicklung des Kinos war und deshalb nicht nur für eine Historiographie und Soziologie dieser Kunstform, sondern ebenso für die Theorie ihrer Stellung unter den Künsten ist, so irreführend wäre es, seine Stilformen als den Fixstern zu behandeln, an dem sich eine Philosophie dieser Kunst positiv oder negativ auszurichten hätte. So wie keine Theorie des künstlerischen Bildes, die bei Sinnen ist, auf den Gedanken kommen wird, Delacroix gegen Ingres, Mondrian gegen Newman, Pollock gegen Lichtenstein, den Kubismus gegen den Dadaismus, die Pop Art gegen die Concept Art usw. auszuspielen, so wird keine Philosophie des Films, die seine Sphären mit offenen Augen erkundet, Godard gegen Greengrass, Kiarostami gegen Kitano, das vergleichsweise Elitäre gegen das überaus Populäre, also Haneke gegen Hollywood – oder umgekehrt – ausspielen wollen. Wer es theoretisch mit der Vielfalt des Spielfilms gestern wie heute aufnehmen werden will, muss sich von vornherein an vieles halten.

Meine Empfehlung, »Hollywood« zu ignorieren, läuft darum nicht darauf hinaus, einen Bogen um diese oder eine andere der Traditionen und Epochen des Kinos zu machen. Sie läuft im Gegenteil darauf hinaus, »Classical Hollywood« und jeder anderen Stilart und Stilepoche des Films gerechter zu werden, als es in einer methodischen Isolierung oder Separierung möglich wäre. Eine theoretische Privilegierung oder Sonderbehandlung des Hollywoodfilms trübt den Blick für seine ästhetische Position. Denn man unterschätzt seine Stärken, wenn man seine Rolle methodisch überschätzt.[8]

3. Drei Kronzeugen

Für die Unbefangenheit, mit der eine Theorie des Films ihrem Gegenstand begegnen sollte, gibt es in der Geschichte des Nachdenkens über das Kino zahlreiche Beispiele, von denen ich hier nur drei ins Feld führen möchte. Mein erster Kronzeuge ist Erwin Panofsky, der zwar kein Philosoph war, aber mit seiner epochalen, im amerikanischen Exil geschriebenen und 1946 publizierten Abhandlung über Style and Medium in the Motion Pictures erheblichen Einfluss auf philosophische Geister wie Kracauer und Cavell ausgeübt hat.[9] Zudem wurde ihre erste Fassung zur selben Zeit wie die großen Kunstwerkaufsätze Benjamins und Heideggers (um 1936) geschrieben, worin man einen historischen Wink mit dem Zaunpfahl sehen könnte (der daran erinnert, dass wenigstens einer der drei von der neuen Kunstform etwas verstanden hat). Panofsky hatte einen klaren Blick für das besondere raumzeitliche Regime des Kinos, das seinen Zuschauern erlaubt, sich als ästhetische Subjekte inmitten der imaginativen Landschaften seiner Filme aufzuhalten. Der filmische Raum ist nicht allein – und nicht so sehr – ein Raum, in dem Bewegung stattfindet, sondern vor allem ein sich in seinem eigenen Rhythmus bewegender Raum, den das Publikum sehend und hörend exploriert. Diese Phänomenologie der Kinosituation und vieles, was aus ihr folgt, entwickelt Panofsky ohne jede Berührungsangst vor den diversen filmischen Genres, was sich vor allem daran zeigt, dass er wie selbstverständlich die damals verfügbaren »special effects« mit einbezieht und dem »trick film« ebenso wie dem »animated cartoon« die Ehre erweist. Dies hat unter anderem zur Folge, dass er einen deutlichen Abstand zu den realistischen Dogmen seines Freundes Kracauer hält, der diese aus Style and Medium in the Motion Pictures glaubte herauslesen zu können. Bei Panofsky wird sichtbar, dass und wie eine bei seinen formalen Grunddispositionen ansetzende normativ undogmatische und dennoch einheitliche Theorie des Films möglich ist.

Ein zweiter großer Eisbrecher in dieser Sache ist natürlich André Bazin. Durch die Art seines Wirkens hat er auf einzigartige Weise nicht nur den Blick für die künstlerische Vielfalt des Kinos geöffnet, sondern diese auch erheblich gefördert. Wie Panofsky verfährt er in seinen Studien und Kritiken immer wieder komparativ, beleuchtet also die spannungsreichen Affären des Films mit der Malerei, dem Theater, der Literatur und der Fotografie, die seine Entwicklung geprägt haben und weiterhin prägen. Seine stereoskopische Auffassungsgabe ist dabei den offenen und verdeckten Korrespondenzen zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kino gewidmet. So soll es sein. Das Kompliment, das Dudley Andrew im Vorwort seines Buches What Cinema is! seinem Helden macht, ist darum völlig verdient: »The idea of cinema best articulated by Bazin applies to all sorts of films, genres and modes, and in all its periods.«[10] Zwar steht dieser Satz ironischerweise in einem Buch, in dem – mit starkem normativem Akzent – fast ausschließlich das europäische und zumal das französische Autorenkino eine Rolle spielt, jedoch ändert das aus meiner Sicht nicht das Geringste an der Plausibilität der Direktive, die in ihm ausgegeben wird.

Nun aber wird es Zeit für mein surprise item in Gestalt des dritten Kronzeugen, den ich aufrufen möchte. Bei allem Misstrauen gegen die von ihr verbreitete Ideologie zollt Adorno – um ihn handelt es sich[11] – der Kunstfertigkeit der amerikanischen Filmproduktion beinahe das höchste Lob, das er zu vergeben hat – und zwar bereits im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, wo dem Film ansonsten scheinbar alles erdenkliche Üble nachgesagt wird: »Der Zwang des technisch bedingten Idioms, das die Stars und Direktoren als Natur produzieren müssen, auf daß die Nation es zur ihrigen mache, bezieht sich auf so feine Nuancen, daß sie fast die Subtilität der Mittel eines Werks der Avantgarde erreichen, durch die es im Gegensatz zu jenen der Wahrheit dient.«[12] Bemerkenswert ist dieser Satz allein deshalb, weil hierin die Anerkennung des Films als eines mit den anderen Künsten konkurrenzfähigen Mediums liegt. Das ist selbst dann so, wenn Horkheimer und Adorno den Film für den Zwangscharakter des kapitalistischen Systems verantwortlich machen, ihn also, mit Deleuze gesprochen, zu einem Eckpfeiler der modernen »Kontrollgesellschaft« erklären: »Autos, Bomben und Film halten so lange das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist.«[13] Die zweite Hälfte dieses rabiaten Satzes immerhin enthält die Annahme, dass selbst in der manipulativen Macht des kommerziellen Filmschaffens eine subversive Energie am Werk ist. An der ästhetischen Produktion eines Scheins sozialer Freiheit nämlich scheint auf, wie es um diese tatsächlich steht. In der hochartifiziellen Verschleierungskunst des Films liegt somit zugleich ein Keim der Möglichkeit, den Bann gesellschaftlicher Repression zu unterbrechen.

Von hier aus wird auch die Maxime verständlich, die Adorno in der Einleitung seines gemeinsam mit Hanns Eisler geschriebenen Buches Komposition für den Film niedergelegt hat. Obwohl das Filmbuch in den vierziger Jahren während der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung geschrieben wurde, liegt ihm eine weit offenere Einstellung zugrunde. Die Autoren erheben es zu ihrer Methode, für das künstlerische Potential gerade der filmischen Konfektionsware aufmerksam zu sein. »Die Möglichkeiten, welche die technische Apparatur für Kunst in der Zukunft bietet, sind unabsehbar, und noch im verkommensten Film sind Augenblicke, wo diese Möglichkeiten sichtbar aufblitzen. Aber das gleiche Prinzip, das diese Möglichkeiten entfesselt hat, fesselt sie zugleich an den Betrieb des big business. Die Auseinandersetzung mit Massenkultur muß es sich zur Aufgabe setzen, die Verschränkung beider Elemente, der ästhetischen Potentialitäten der Massenkunst in einer freien Gesellschaft und ihres ideologischen Charakters in der gegenwärtigen, sichtbar zu machen.«[14]

So eindeutig aber ist diese Trennung gar nicht vorzunehmen. Denn Adorno und sein Kompagnon Eisler beweisen hier ein Auge – und Ohr – für etwas, woran die Philosophie des Films bis heute mit wenigen Ausnahmen achtlos vorbeigegangenen ist: für die spezifische Musikalität des Films. Ausgehend von der »Vieldeutigkeit des Bewegungsbegriffs« im Film stellen die Autoren den »Großrhythmus« des Films demjenigen der Musik gegenüber. »Großrhythmus« meint weder die messbare Zählzeit im Fall der Musik noch die messbaren Einstellungslängen im Fall des filmischen Bildes, sondern die komplexe zeitliche Choreographie von Musikstücken oder Filmen als Ganzen. »Der ›Großrhythmus‹«, heißt es in dem Filmbuch, »ergibt sich aus der Zusammensetzung und Proportion der Formelemente, nicht ganz unähnlich musikalischen Verhältnissen.«[15] Das Besondere dieser Musikalität der filmischen Bewegung liegt jedoch nach Eislers und Adornos Einsicht gerade in ihrer Differenz zu derjenigen der Musik. Denn die »großrhythmische Struktur von Filmen ist weder komplementär zur musikalischen noch ihr parallel: sie läßt als solche sich überhaupt nicht in eine musikalische umsetzen.«[16] Diese Beobachtung führt zu einem komplexen Begriff der filmischen Bewegung, die ja schon zur Zeit des Stummfilms häufig eine visuelle und eine akustische gewesen ist. Die klangbildliche Einheit des filmischen Prozesses muss aus der Ungleichartigkeit des visuellen und des akustischen Rhythmus verstanden werden: Aus der Interferenz dieser differenten Bewegungen erst ergibt sich der Rhythmus eines gesamten Films. Darum schlagen die Autoren vor, den Begriff der Montage über den Bereich des Bildes hinaus zu erweitern: »Wenn irgend dem von Eisenstein so emphatisch vertretenen Begriff der Montage sein Recht zukommt, dann in der Beziehung zwischen Bild und Musik. […] Die Divergenz der Medien ebenso wie ihre konkrete Beschaffenheit schreibt diesen Montagecharakter vor.«[17] In seiner Abhandlung Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, die nach einer Ergänzung im Blick auf den Film förmlich schreit, führt Adorno zudem aus, dass »räumliche Verhältnisse ins musikalische Phänomen selber fallen.«[18] Diese Beobachtung rückt die Klangwelt eines Films in eine komplexe Beziehung zu den räumlichen Verhältnissen, in denen sich das Geschehen auf der Leinwand vollzieht. Aus der Interaktion seiner mal eher konsonanten, mal eher dissonanten auditiven und visuellen Räume ergibt sich die bewegte Zeit eines Films, in der sich im Kino ein virtueller Wahrnehmungsraum öffnet. Dabei dürfen natürlich auch die übrigen akustischen Dimensionen des Filmbildes nicht vernachlässigt werden. Auch Wort und Geräusch schließlich tragen wesentlich zu der Rhythmik filmischer Prozesse bei. Diese Rhythmik, also die Interferenz der beiden »Großrhythmen« des Bildes und der Tonspur, ist ausschlaggebend für das, was Filme eigentlich sind. Über den Gehalt von Filmen, heißt das, darf analytisch nur sprechen, wer auf die gesamte Organisation ihrer visuellen und akustischen »Formelemente« Rücksicht nimmt.

An diese Einsicht freilich hat sich Adorno allerdings nicht immer gehalten. Sonst hätte er sich nicht so oft mit der Oberfläche eines oberflächlich gesehen konventionellen Plots begnügt. Er hätte sich nicht – wie in der Dialektik der Aufklärung[19] – über den »Lubitsch-touch« mokiert, sondern gesehen, dass Komödien von Lubitsch oder Capra filmische Bewegungen erzeugen, die ihresgleichen suchen. Er hätte vielleicht auch bemerken können, was für uns heute selbstverständlich ist, dass Actionfilme in erster Linie Musik fürs Auge sind, was immer die privaten und politischen Verwicklungen sein mögen, die in ihnen einer fiktiven Lösung zugeführt werden.[20] Dass Adorno durchaus einen Sinn für die Bewegungsform des Kinos hatte, beweist sein Faible für »Revuefilme«, die, wenn man von der kitschigen Handlung einmal absehe, wie es wiederum in dem zusammen mit Eisler geschriebenen Filmbuch heißt, »dem Ideal der Montage am nächsten kommen und in denen darum die Musik am präzisesten ihre Funktion erfüllt«.[21]

Diese für Adorno typische Rhetorik der Übertreibung sollte einen nicht übersehen lassen, wie ernst es ihm mit seinem Faible für das Musical ist. In seiner Ästhetik-Vorlesung im Wintersemester 1958/59 erörtert Adorno unter anderem die Frage, inwieweit ein Kunstwerk »seiner selbst mächtig« sein könne und dürfe. »Ein Kunstwerk, das der Versuchung nicht nachgibt«, bemerkt er dort, »in dem das Potential des Kitsches als ein Aufgehobenes nicht enthalten ist«, sei »wahrscheinlich selbst überhaupt kein Kunstwerk.« An dieser Stelle kommt ihm das Kino in den Sinn: »Also etwa in bestimmten Revuen oder Filmrevuen, in denen die Präsentation eines Sinnzusammenhanges schon fast gar nicht mehr erhoben wird, sondern wo das Kunstwerk ganz vorbehaltlos diesen sensuellen Momenten sich ausliefert, kann gerade aus diesen der Fessel ledigen sensuellen Elementen etwas wie ein zweiter geistiger Zusammenhang sich komponieren, während dort – sagen wir in der Musik von Tschaikowskij oder anderen großen schlechten Komponisten –, wo der Anspruch des Kunstwerks erhoben wird, aber man gleichwohl merkt, daß es in Wirklichkeit nur darauf ankommt, Themen miteinander zu verbinden, die die Herrschaften, wenn sie nach Hause gehen, gut behalten können, derartige Momente unendlich viel weniger erträglich sind, als dort, wo sie mit einer gewissen Art, ich würde sagen: von Schamlosigkeit hervortreten.«[22]

Um es kurz zu machen: Etwas von dieser Schamlosigkeit des populären Kinos und damit zugleich: etwas von der exemplarischen Promiskuität oder normativen Unbefangenheit, mit der Adorno in seinen lichten Momenten das klassische Hollywoodkino behandelt, so möchte ich mein methodisches Credo resümieren, sollte sich die Philosophie des Films auch in unseren Tagen bei ihrem Blick auf die Landschaften des Kinos bewahren.

2. Kino-Anthropologie

Noch immer ist das Kino eine vergleichsweise junge Kunst, auch wenn in unseren Tagen angesichts der Frage, ob oder in welchem Maß wir dabei sind, in ein »postkinematographisches Zeitalter« einzutreten, heftig über ihr Altern diskutiert wird.[23] Zusammen mit der Fotografie ist der Film diejenige Kunstform, die – anders als die weit älteren Künste – fast vom Augenblick ihrer Geburt an von einer theoretischen Auseinandersetzung über die Kraft ihres artistischen Potentials begleitet wurde. Bei vielen Theoretikern – von Hugo Münsterberg über Vachel Lindsay, Walter Benjamin, Erwin Panofsky, Siegfried Kracauer, André Bazin, Edgar Morin bis hin zu Stanley Cavell, Gilles Deleuze und etlichen anderen – spielt dabei mal ausdrücklich, mal unausdrücklich eine anthropologische Spekulation eine signifikante Rolle. In Frage steht, wie sich das Kino zu den bis dahin prägenden Wahrnehmungs- und Lebensverhältnissen des Menschen verhält. Diese Frage freilich lässt sich nicht beantworten, ohne sich der spannungsreichen Verwandtschaft des Films mit vielen anderen Künsten zu widmen, etwa der Architektur, der Musik, dem Theater, dem Tanz, der Literatur, der Fotografie, der Malerei, der Plastik oder auch der Installation. Eine Theorie des Films handelt von der Stellung des Films unter den Künsten – und damit zugleich von seiner Stellung zu der Stellung, die diese zur modernen condition humaine einnehmen.

Wie jede andere Theorie einer Kunstform hat es auch diejenige des Films stets mit einer doppelten Differenz zu tun. Sie muss einerseits klären, wie sich die Grunddisposition dieser Kunstform von der der anderen unterscheidet, und sie muss andererseits im Auge behalten, worin die kunstbezogene Praxis von der sonstigen Lebenspraxis abweicht. Die Differenz des produktiven wie rezeptiven Umgangs mit den Künsten zur übrigen Praxis nämlich kann nur aus ihrer Kontinuität mit dieser – und die Kontinuität mit ihr nur aus ihrer Differenz verstanden werden. Auch dieser nicht allein den Film betreffenden Auffassung liegt ein anthropologisches Motiv zugrunde. Denn der Wert der Kunst, so möchte ich deutlich machen, besteht in einer besonderen Art der Aktivierung einer bestimmten, elementaren Dimension der menschlichen Praxis – eine Aktivierung, die wiederum nur in einer Diskontinuität gegenüber der Verfolgung außerkünstlerischer Praktiken möglich ist. Was für eine Dimension das ist, auf deren Dramatisierung die Kunst der Künste spezialisiert ist, werde ich auf den folgenden Seiten am Beispiel lediglich einer Kunstform, der des Kinofilms, erläutern (was aber, wie gesagt, ohne ein Gespür für seinen Dialog mit vielen anderen Künsten gar nicht gelingen kann). Meine These wird sein, dass die angedeutete Funktion der Kunst hier, im Kino, in einem gewissen Extrem realisiert werden kann.

Ein Motto

Um mein Argument überschaubar zu halten, werde ich mich dabei durchweg auf den Spielfilm, oder genauer noch: auf das Erscheinen von Spielfilmen im Raum des Kinos beschränken. Ich werde also andere filmische Genres und vor allem die vielen anderen heutigen Arten der Präsentation und Verwendung des Bewegtbildes außer Acht lassen. Beginnen aber möchte ich mit einem Motto, das ich meinem Buch über Die Künste des Kinos entnehme. Die folgenden Sätze bilden den Schluss seines Vorspanns:

 

»Das Kino ist nur eine der Möglichkeiten der kunstbezogenen Welt- und Selbstbegegnung. Alle Künste können ihr Publikum auf eine besondere Weise mit sich bekannt machen. Radikaler als andere Arten der Kunst bringen Filme uns nahe, wovon wir bestimmt sein möchten. Wie viel Geistesgegenwart, Kenntnis und Verständnis, Deutungslust und Deutungskunst einzelne Filme ihrem Publikum auch abverlangen mögen, das Kino ist vor allem ein Ort des Auslebens unwillkürlicher Empfänglichkeit. Im Kino feiern wir die passive Seite unserer Existenz, ohne deren Genuss alle unsere Aktivitäten einigermaßen vergeblich wären. In dieser Aufforderung zum Geschehenlassen besteht das Ethos des Kinos. Mit weitergehenden Forderungen ist es nicht verbunden. Die Künste des Kinos muten uns lediglich zu, vom Hell und Dunkel ihrer Bewegung bewegt zu werden.«[24]

 

Diese Passage zeigt die Richtung an, in die ich auch hier gehen werde. Ich versuche damit einer Verpflichtung nachzukommen, deren Erfüllung ich in jenem Buch versäumt habe. Denn ich habe dort nirgends gesagt, was es mit diesem »Ethos des Kinos« eigentlich auf sich hat. Diese Schuld möchte ich hier zu begleichen versuchen.

Kino-Anthropologie

»Ethos« klingt nach »Ethik« und Ethik klingt nach Philosophie, weswegen man befürchten könnte, dass ich den Film kurzerhand zu einem philosophischen Unternehmen erkläre, wie es heutzutage durchaus in Mode ist.[25] Diesem Ethos des Kinos zudem eine anthropologische Deutung zu verleihen, mag ebenfalls einigermaßen abenteuerlich erscheinen. Darum seien zwei kurze Erläuterungen der hier relevanten begrifflichen Verhältnisse vorausgeschickt.

Die Analogie zwischen philosophischer und künstlerischer Anthropologie hängt wesentlich von einer angemessenen Auffassung ihres philosophischen Parts ab. Schon Kant hat die Aufgabe der Philosophie letztlich in einer anthropologischen Reflexion gesehen; ähnlich hat neuerdings Ernst Tugendhat argumentiert.[26] Versteht man Philosophie als eine reflexive Aufklärung vielfach miteinander verbundener Grundbegriffe und Grundverständnisse, ohne die es im menschlichen Denken und Handeln und zugleich in der Erhaltung und Entwicklung menschlicher Kulturen und Gesellschaften (tatsächlich oder vermeintlich) nicht – oder nicht gut – geht, so wird freilich neben ihrem anthropologischen zugleich ihr historischer Zuschnitt deutlich. Nicht nur kann es kein Ende des Philosophierens geben, da seine Art der Aufklärung in geschichtlichen Lebensformen immer wieder benötigt wird. Weil die menschliche Lebensform eine grundlegend historische ist, verhält es sich zugleich so, dass die Reflexion über ihre Verfassung ebenfalls eine wesentlich historische ist. Das kritische Verstehen des menschlichen Weltverhältnisses, das die philosophische Tätigkeit kennzeichnet, und damit: das Verstehen des Verstehens, wie es sich in den diversen Praktiken und Institutionen menschlicher Kulturen und Gesellschaften manifestiert, hat die Kontur einer prozessualen Anthropologie, die gerade in ihren systematischen Ambitionen keinen denkbaren Abschluss kennt.

Unter dieser Voraussetzung lassen sich Konkurrenz und Kooperation zwischen Kunst und Philosophie ohne irreführende Hierarchisierungen beschreiben. Alle Künste vollführen auf ihre Weise ein Experiment mit der Stellung des Menschen inmitten der natürlichen und historischen Welt. In der Gegenwart ihrer Werke eröffnen sie einen von den Verbindlichkeiten der übrigen Praxis freigesetzten Spielraum der Selbstbegegnung und Weltbegegnung. Die Stellung der Kunst zur Philosophie (und umgekehrt) ergibt sich daraus, wie beide Seiten das Inderweltsein des Menschen eruieren. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt liegt in einer von innen heraus vollzogenen Erkundung der menschlichen Lebensform. Aus Perspektiven des Beteiligtseins an ihr und des Verstricktseins in sie verschaffen sie dem Menschen, wie es bei Heidegger heißt (wie aber auch Hegel hätte sagen können), Gelegenheiten einer »Aussicht auf sich selbst«.[27] In dieser Hinsicht interagieren und kooperieren die Künste seit jeher mit der reflexiven Aufklärung der Philosophie. Aus demselben Grund aber liegen sie zugleich in einem beständigen Widerstreit mit ihr. Denn die nichtbegrifflichen Exerzitien der Kunst bringen die Individualität des Wirklichen und seiner Erfahrung zum Erscheinen, die im Diskurs der Philosophie unterbestimmt bleiben muss, sofern sie dort nicht ganz vernachlässigt wird. Im Feld dieser Konkurrenz bewegt sich auch die Imagination des Kinos. Seine anthropologischen Expeditionen führen auf Wege, auf denen ihm das philosophische Denken nicht folgen kann.[28]

Der Charakter dieser Expeditionen lässt sich vor dem Hintergrund einer minimalistischen Anthropologie verdeutlichen, deren Spuren in der Geschichte des Nachdenkens über die menschliche Disposition beinahe überall zu finden sind. Im Kontrast zu der Ungerührtheit eines unbewegten Bewegers ist das menschliche Leben immer wieder in einer unauflöslichen Spannung entgegengesetzter Pole gesehen worden – als ein fortwährender Wechsel zwischen Bewegung und Stillstand, Anspannung und Entspannung, als Pendel zwischen Schmerz und Langweile, als Antagonismus zwischen Lustprinzip und Todestrieb. Wie immer man diese Deutungen im Einzelnen deuten mag, sie sprechen dafür, in der Polarität von Bewegtwerden und Sichbewegen ein Grundgesetz nicht nur des menschlichen Lebens zu sehen. Allerdings darf diese Polarität nicht als ein Konflikt voneinander unabhängiger und nicht einmal in erster Linie als ein Konflikt gegensätzlicher Kräfte aufgefasst werden. Sie bezeichnet vielmehr eine Grundspannung, von der das eher aktive wie das eher passive Verhalten gleichermaßen geprägt sind. Bewegtsein und Bewegung wirken zusammen. Wir können uns nicht bewegen, ohne bewegt zu sein; wodurch wir bewegt werden, hat Einfluss darauf, wie wir uns bewegen. In allem, wonach wir leiblich und seelisch streben, werden wir leiblich und seelisch bewegt; alles, wodurch wir physisch oder psychisch bewegt werden, modifiziert unser Vermögen der körperlichen oder geistigen Bewegung. Dies beschreibt nicht allein eine Lage, in der wir unausweichlich sind, sondern ebenso eine, die wir in unserem Sinnen und Trachten unausweichlich begehren. Denn wir können nicht anders, als so oder anders bewegt sein zu wollen. Wir streben nach Situationen, von denen wir erwarten oder erhoffen, dass sie uns in einer entgegenkommenden, überraschenden, irritierenden oder anderweitig erhebenden Weise bewegen werden. In allem, wozu wir uns bestimmen, bestimmen wir uns immer auch dazu, uns bestimmen zu lassen.[29]

In dieses Gefüge von Bewegung und Bewegtsein greift der Film ein. Die Situation im Kino verleiht der menschlichen Position zwischen Bestimmtsein und Bestimmendsein einen besonderen Dreh. Filme variieren die menschliche Situation aber nicht allein, sie führen Varianten und Variationen des menschlichen Inderweltseins vor. Sie tun es nicht ein für alle Mal, sie tun es immer wieder – und immer wieder anders. »Kino-Anthropologie« – allein der Klang dieses Ausdrucks sagt es schon: Filme spielen mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten menschlicher Erfahrung und Erwartung, indem sie jeweils bestimmte Konstellationen ihrer Verschränkung durchspielen. Der Form dieser Imagination sind die Betrachtungen meines erwähnten Buchs gewidmet. Anders als die anderen Künste, aber doch in einer sei es latenten, sei es offenkundigen Verwandtschaft mit ihnen, organisiert der Kinofilm seine eigenen Verhältnisse von Raum und Zeit, Bild und Klang, Protention und Retention, Erscheinen und Verschwinden, Anwesenheit und Abwesenheit, Weltbezug und Weltdistanz, Erzählung und Reflexion, Motion und Emotion. Er stellt eine Art der Spannung zwischen phänomenaler Bewegung und leiblich-seelischer Bewegtheit her, wie sie so in den anderen Künsten nicht zu finden ist.

Die Raumzeit des Kinos eröffnet eine virtuelle Landschaft, in der jedem Drinnen ein Draußen und jedem Draußen ein Drinnen korrespondiert. In ihr erfüllt sich das gespaltene Begehren zugleich nach Räumen der Geborgenheit und ihrer Überschreitung. Diese zugänglichen und unzugänglichen, sich öffnenden und schließenden filmischen Räume ereignen sich in einem Film zusammen mit seiner eigenen Zeit. Alles, was in seinem Verlauf geschieht, verweist darauf, was in ihm nicht mehr, noch nicht und gar nicht Gegenwart ist; in allem, wie er geschieht, gewährt er das Erleben einer vergehenden Gegenwart. Das Tempus der filmischen Darbietung, auch wenn sie Geschichten aus Vergangenheit oder Zukunft erzählt, ist stets das Präsens. Der Raum der filmischen Darbietung ist stets ein geschehender Raum. Die Dynamik des filmischen Raums und der filmischen Zeit eröffnet für das Publikum eine Zone des Vernehmens und Verstehens innerhalb eines Horizonts, der das Verstehen und Vernehmen zugleich übersteigt, wie es in den Lebenslagen außerhalb des Kinos auch der Fall ist. Spielfilme sind künstliche Landschaften, die wir im spürenden Betrachten erkunden. Indem sie ihre Welt so vorführen, dass sie den Zuschauern vieles in ihr vorenthalten, führen sie ihnen vor, was es heißt, für eine Weile Bewohnerin oder Bewohner einer natürlichen, kulturellen, sozialen und historischen Welt zu sein.

Jeder Film aber disponiert anders über die eigene Zeit und den eigenen Raum. Durch den Gang seiner Geschichte, durch das Widerspiel der Perspektiven, aus denen heraus sie sich entfaltet, sowie durch die Art seiner Kombination von Narration und Attraktion gewinnt jeder einzelne Film seine individuelle Gestalt und seinen individuellen Gehalt. Das Verfahren des Films ist dabei stets ein anderes als das der Philosophie. Seine ästhetische Anthropologie verfährt in einem radikalen Sinn experimentell. Die Erkundungen des Films exponieren im Offenen das Verborgene, in der Zeit das Vergehen, im Handeln das Widerfahren, im Wissen das Nichtwissen, in der Bewegung das Bewegtsein. Kraft seiner formalen Dispositionen beleuchtet er immer neue Facetten der Disposition des Menschen.

Aktive Passivität

Ähnliches aber gilt auch für andere Kunstformen und ihre Art der Interaktion mit den übrigen Künsten. Um den besonderen Akzent, den der Film dem anthropologischen Spürsinn der Künste verleiht, noch genauer zu erkennen, müssen wir uns an einen Impuls erinnern, den er mit vielen anderen Künsten teilt. Inspirierende Werke fast jeder Kunstgattung bringen das, was sie jeweils präsentieren, in eine Form, die Leser, Betrachter oder Hörer zu einem spürenden, im selben Atemzug fesselnden und befreienden Auffassen nötigt: zu einer Belebung zugleich ihrer Rezeptivität und Spontaneität, zu einer Aktivierung ihrer mit Einbildungskraft und Einsichtsfähigkeit gepaarten Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, wie sie das übrige Denken nicht zu entfachen vermag. In ihrer beharrlichen Erinnerung an die Besonderheit des Besonderen, an den begrifflich nicht zu erfassenden Reichtum des Wirklichen, an seine Schönheit und seinen Schrecken, sind sie ein unverzichtbares Korrektiv der philosophischen Reflexion.

In seiner Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1958/59 hat Adorno dies am Beispiel der Musik mit einiger Emphase beschrieben: