Theorien - Martin Seel - E-Book

Theorien E-Book

Martin Seel

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Das Wort ›Theorie‹ stand einmal für das Vermögen, in einem alles und alles in einem zu sehen. Wer jedoch das Eine nicht zu schauen vermag, darf sich an vieles halten.« Philosophische Theorien gelten als schwer zugängliche, abstrakte Gedankengebäude. Martin Seel zeigt, dass es auch anders geht: In geschliffenen Sätzen, Beobachtungssplittern, Aphorismen, Denkbildern und kurzen Erzählungen lässt er die großen Themen der Philosophie im Kleinen aufscheinen. In der literarischen Tradition von Lichtenberg, Nietzsche, Wittgenstein, Benjamin oder Adorno macht er Ernst mit der These, dass Theorien Anschauungen sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 246

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prof. Dr. Martin Seel

Theorien

FISCHER E-Books

Inhalt

123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104105106107108109110111112113114115116117118119120121122123124125126127128129130131132133134135136137138139140141142143144145146147148149150151152153154155156157158159160161162163164165166167168169170171172173174175176177178179180181182183184185186187188189190191192193194195196197198199200201202203204205206207208209210211212213214215216217218219220221222223224225226227228229230231232233234235236237238239240241242243244245246247248249250251252253254255256257258259260261262263264265266267268269270271272273274275276277278279280281282283284285286287288289290291292293294295296297298299300301302303304305306307308309310311312313314315316317318319320321322323324325326327328329330331332333334335336337338339340341342343344345346347348349350351352353354355356357358359360361362363364365366367368369370371372373374375376377378379380381382383384385386387388389390391392393394395396397398399400401402403404405406407408409410411412413414415416417418419420421422423424425426427428429430431432433434435436437438439440441442443444445446447448449450451452453454455456457458459460461462463464465466467468469470471472473474475476477478479480418482483484485486487488489490491492493494495496497498499500501502503504505506507508509510511512513514515516517Danksagungen

1

»My name is John Ford«, soll der Filmregisseur im Oktober 1950 bei einer Sitzung der Directors Guild in Hollywood gesagt haben, als er seine Stimme gegen die Parteigänger des Senators McCarthy erhob, »I make westerns.« Mein Name ist M. S., ich mache Theorien.

2

Theorien sind Anschauungen. Ihre Zahl spottet jeder ng. Wer Theorien macht, führt eine Art Rosenkrieg mit der Wissenschaft. Deren Ergebnisse sind Fragmente einer Theorie, die niemals zustande kommt. Meine Sätze sind nichts als Bruchstücke, aber sie kommen zusammen.

3

Nur die wenigsten Anschauungen sind Theorien. Zu Theorien werden sie, wenn sich für sie eine Bestimmung findet – wenn aus ihnen Sätze werden, die sich sehen lassen können, weil in ihnen etwas Unbestimmtes schwingt.

4

Das Wort »Theorie« stand einmal für das Vermögen, in einem alles und alles in einem zu sehen. Wer jedoch das Eine nicht zu schauen vermag (und manches spricht dafür, dass niemand es kann), darf sich an vieles halten. So geschieht es hier: Dieses und jenes wird in den Blick genommen, mitsamt dem Blick, der es so oder anders nimmt. Es – die Welt, das Wissen von ihr und die Erwartung an sie – so oder anders nehmen: etwas anderes haben wir gar nicht zu tun.

5

Zu einem freien Leben gehört ein freier Blick; wer diesen nicht übt, wird jenes nicht führen, wer diesen nicht vorführt, wird zu jenem nicht verführen können.

6

Kontemplation verlangt Zerstreuung.

7

An manchen Abenden im Jahr quillt selbst aus den solidesten Quartieren de` Stadt allerlei Gerümpel heraus – Lumpen, Alteisen, ramponierte Matratzen, Badewannen, Gartenschläuche, Kinderwagen, Spielzeug, Kübel, Schirme, Bildschirme, Bücher, Sessel, Teppiche, Tischchen, Tische, Kommoden, Regale, Reifen, Keyboards, Klaviere. Schon sind die Jäger und Sammler unterwegs, Kleinunternehmer mit ihren Pick-ups, Rentner auf dem Moped, Kinder per Fahrrad, Stadtnomaden und Flaneure, die sich mit Entsorgtem versorgen. Bis in die Morgenstunden rumort es in den Straßen, als wäre die öffentliche Ordnung in Gefahr. Ich verlasse mein Gebäude und schaue mich unter dem Sperrmüll um, auf der Suche nach Stücken, die zu keiner Einrichtung passen.

8

Vivir para contarla – Leben, um davon zu erzählen – überschreibt Gabriel García Márquez den ersten Band seiner Erinnerungen. Leben, um es zu betrachten, überschreibt die Philosophie ihre Bücher.

9

Die Stücke dieses Buchs bestehen aus einem Satz oder mehreren Sätzen. Meist sind sie kurz. Gespielt wird eine Art minimal music, die sich ständig selbst unterbricht; gezeigt werden short cuts, die sich zu keiner Geschichte verbinden.

10

Die einzelnen Teile sind nummeriert. Die Zahlen sind bloß Namen; sie haben nichts zu bedeuten. Sie fügen den Sätzen nichts hinzu, außer etwas Farbe.

11

Der Zufall tut seine Arbeit ohnehin, warum ihn also nicht für sich arbeiten lassen.

Was mir zufällt, nehme ich auf und wandle es ab, bis es mir gefällt.

Ich erfülle mir den Traum, zugleich Ordnung und Unordnung zu halten.

12

Sich nicht vom Gedanken zur Formulierung, sondern von der Formulierung zum Gedanken verleiten lassen – das ist der Trick.

13

Das Füllmaterial in philosophischen Büchern hat seinen guten Sinn. Wie die Holzwolle in Porzellankisten macht es den Raum zwischen den Buchdeckeln dicht. Nimmt man die Füllung weg, zerfällt das Service der Theorie in Splitter und Scherben, die alle nach ihrem Geschmack zusammensetzen können.

14

Dieses Buch ist ein Werk der Zerstörung. Es zerstört den Fluss der Reden, aus denen es stammt.

Dieses Buch vermeidet die Fehler von Büchern. Es kann an allen Ecken und Enden weitergeschrieben werden.

Dieses Buch verdirbt die Freude an Büchern. Es hat weder Anfang noch Ende.

Dieses Buch führt nirgendwohin. Es kennt keinen Gipfel, der erklommen, keinen Plan, der abgeschritten würde. Seine Landschaft ist eine Ebene, die sich hier wölbt und da senkt, weswegen sie von keinem Punkt aus überblickt werden kann.

15

Der Autor verlangt keine Zustimmung, er erbittet Unterwerfung. Der Leser gebe sich seinen Sätzen hin und gehe dann seiner Wege.

16

Ich lieferte einmal, mit 15 oder 16, eine Lateinarbeit ab, die nach Noten schlechteste, die ich je schrieb, über 20 Zeilen von Lukrez. Ein paar flüchtige Übersetzungsfehler am Anfang hatten mir freie Fahrt zu einem Text gegeben, der alles, nur keine Übersetzung war. Das ist meine Wissenschaft geblieben: mir einen Reim zu machen auf Sätze, die einen anderen haben.

17

Eigenen und fremden Texten das Blut aussaugen: der Vampirismus des Schreibens.

18

Don’t care! Es gibt auch Gebote der Nachlässigkeit. Wer ein Buch schreibt, darf sich um andere Bücher nicht kümmern, am wenigsten um die eigenen. Werke entstehen aus Gleichgültigkeit gegenüber dem Werk.

19

Wie ein Hund, der nach einem ausgiebigen Bad sein dickes Fell schüttelt, muss der Schreibende alles abschütteln, was bei seinen Lektüren auf ihn eingeprasselt ist. Die spitzen Schreie der Umstehenden nimmt er mit dem Gleichmut eines seiner Natur gehorchenden Vierbeiners in Kauf.

20

Die reichsten Leser essen die Krumen vom Tisch der Schreibenden.

21

Gerade Linien ergeben keinen Text.

22

Das höchste Erkennen liegt im Erkennen der Einseitigkeit auch des höchsten Erkennens.

23

Wer seinen Stil gefunden hat, hat seinen Stil verloren.

24

Ansatzlos schreiben, wie ein Boxer, der ansatzlos schlägt.

25

Bevor du das einzig Wahre tust, tu lieber das Falsche – da bleiben dir noch Möglichkeiten offen.

26

Der Maler On Kawara unterzieht sich ein ums andere Mal der Übung, an unterschiedlichen Orten der Welt an jeweils einem Tag mit größter Sorgfalt ein Bild zu malen, das in einer anonymen Schrift bloß das Datum des betreffenden Tages zeigt. Diese Bilder beziehen sich auf nichts sonst und dadurch auf alles, was an diesem Tag wirklich und möglich war.

27

Wirklichkeit ist in Wirklichkeit Möglichkeit: eine sich ständig verändernde Konstellation von Gelegenheiten, die eintreten und ausbleiben, ergriffen und nicht ergriffen werden. Wer nur die eine Seite sieht, ist im wörtlichsten Sinn verrückt. Realität ist kein Faktum. Sie ist bestimmt und unbestimmt. Sie legt uns fest und bleibt uns offen.

28

Ein Kosmos findet sich überall. Nie konnte ich meinen Blick von den Rheinschiffen lösen, auf denen alles vorhanden war, geschäftige Handlanger und spielende Kinder, Frachträume und Vorratskammern, die hohe Kommandobrücke, eine niedrige Wohnung mit Gardinen und Geranien, Fahrräder und manchmal ein kleines Auto für den Landgang, getragen von einer stetigen Bewegung inmitten einer fließenden Bewegung.

29

Eine Woche nach Ostern finde ich in einem Schrebergarten lauter CD-Rohlinge an den Obstbäumen hängen, die sich glänzend und glitzernd im Lufthauch drehen, zur Abwehr der Krähen, die sich über dieses Windspiel lauthals beklagen.

30

Inmitten des Lebens am Rand des Lebens zu stehen – im leeren Abteil eines vollen Zuges, im Hinterzimmer einer von Kindern durchtobten Wohnung, übrig geblieben am Ende eines Fests, unterwegs im Lärm der Stadt: das ist die Stellung des höchsten Glücks wie des höchsten Unglücks. Deswegen ist dieses Glück das äußerste, weil es in der Position der Verzweiflung steht und doch ihr Gegenteil ist, deswegen ist diese Verzweiflung die äußerste, weil sie die Position des Glücks innehat, ohne es zu haben.

31

Nur etwas Aufschub – darauf dürfen die Glücklichen wie die Unglücklichen hoffen.

32

Was wir haben kommen sehen, war alles nur halb so schlimm und halb so schön. Glück und Unglück kommen als Überraschung.

33

Soeben Vater geworden, beugt er sich staunend über den Sohn, der staunend das Schweigen einer noch leeren Welt vernimmt. Er spürt ein Befremden, das er kennt; er kennt es von der anderen Seite her – jenes ungläubige Wohlwollen, das ihn rasend gemacht hat, früher, als es dem Tun und Lassen des halberwachsenen Kindes galt, das er einmal war. Jetzt liegt es in seinem Blick. Sein erstes Vatergefühl ist das für den Blick seines Vaters auf ihn.

34

Der Kleine blättert mit Hingabe in einem Buch mit Fotografien vom Mond, das diesen in allen Weltgegenden erscheinend zeigt, mal groß, mal klein, mal hinter Wolken. Er lernt, ihn am Himmel zu betrachten, zu erwarten, zu vermissen, mal groß, mal klein, mal »hinter Wolken«. Die Wendung wird ihm zum Ausdruck für alles, was abwesend, dem Sehen und Sehnen entzogen ist. Was weder sichtbar ist noch sonst erreichbar – Gestirne, Flugzeuge, Mama –, ist »hinter Wolken«. Alles, was nicht da ist, ist da da.

35

Die Ontologie dieses Kindes ist weder eine des Bleibens noch eine des Werdens, sondern eine des Kommens. Alles, was ist, kommt, und alles, was kommt, kommt auch wieder. Die Kirmes, seine Sitterinnen, der Mond, die Spatzen: Alles »tommt wieder« und ist dann immer neu da. Wiederkommen – darin beweist sich ihm alles Verschwindende als etwas, das wahrhaft ist.

36

Der Zweijährige, im Wald vor sich hin laufend, zwei Kapuzen über den Ohren, um ihn herum nur Regen und Rauschen, für ihn gegenwärtig nur das Patschen seiner Füße in den Pfützen, weiß seine Eltern hinter sich, ohne den geringsten Zweifel, einfach weil es immer so war. Wie schwach die starken Evidenzen sind, wie stark die schwachen.

37

Das Bild, die Farben, die Hand, das Gesicht: Durch die Tür nach draußen ist davon nichts zu sehen. Nur zwei Füße, die sich baumelnd in einer Bewegung halten, die keiner Bewegung dient und so dem Malen den nötigen Anschwung gibt.

38

Die steinalte Frau, fast ohne Gedächtnis, in einer Art natürlichem Christentum großgeworden, kann mit ihren Nachkommen, die sie versorgen, in der Sprache ihres Glaubens nicht sprechen; zweifelhaft auch, ob dieser Trost hier trösten oder wenigstens beruhigen könnte. Wer bist du; Warum hast du mich verlassen; Wo bin ich her; Wo kann ich bleiben. Woher und Wohin, allein diese Fragen beschäftigen sie noch, und fast jede Antwort kommentiert sie, die ihr Leben lang Dialekt gesprochen hat, mit einem langsamen, hochdeutschen, staunenden: Das kann ich nicht verstehen. Die Angehörigen fassen dies alles in der einfachsten Bedeutung auf, als gehe es um Fragen der raumzeitlichen Identität, auf die es gottlob eine Antwort gibt. Alle wissen aber, dass mehr gemeint ist mit den Fragen, und wissen, wovon sie schweigen, wenn sie sagen, was sie sagen. So reden sie von Orten, Kindern, Häusern, Entfernungen, Enkeln und führen einen religiösen Diskurs. In der einfachen Rede von den einfachen Dingen vermeiden sie jeden falschen Ton. Sie sprechen nur von diesem Zimmer und davon, wie es dazu kommen konnte, dass wir, die alte Frau und ich, heute hier zusammen sind. Alles hat seine Richtigkeit. Die Erinnerung an das Bekannte lässt alles Unbekannte sein.

39

Kinder machen ihre Eltern älter – sie machen ihre Zeit schon früh so kostbar, wie sie es anderen erst später wird.

40

Kinder haben die Aufgabe, ihre Eltern zu enttäuschen. Manche tun sich schwer damit, manche scheitern daran, manche merken gar nicht, wie leicht es ihnen fällt.

41

Erst im Alter gelingt es den Eltern, den Kindern ihre, der Kinder, Schwächen zu zeigen – sie arbeiten sie an sich selbst heraus.

42

Schon früh am Morgen ist in diesen Räumen ein Mann mit einer Plastiktüte unterwegs. Jeden fragt er nach dem Ausgang, den er nicht sucht; noch am Abend sind seine schlurfenden Schritte zu hören. Der das beobachtet, ist hier für ein paar Stunden mit seiner Mutter zusammen, die ihn nur noch auf dem Foto erkennt. Aber sie merkt, dass er ihr nahe ist, jedenfalls jetzt, auch wenn er sich zu ihr herüberbeugen muss, um ihr in die Augen zu sehen, mit denen sie unentwegt zur Seite blickt. In ihren hellen Momenten weint sie, wenn sie nicht unverhofft lacht. Dann boxt sie ihn an die Schulter, wie eine Mutter, die ihren erwachsenen Sohn so behandelt, als wäre er ihr Kleiner.

43

Mal zeigt meine Mutter Freude, mal ist sie unwirsch, wie sie es früher nie gewesen ist, mal spricht sie einen Satz, einen einzigen nur, als wären alle ihre Worte noch da. Wir spüren ihr Spüren, aber was genau sie empfindet und wie, das wissen wir nicht (sowenig wir wissen, was »genau« in diesem Zusammenhang bedeutet). Haben wir jemals mehr gewusst? Wussten wir je besser, wie es ihr ging? Genau zu wissen, wie es jemandem geht – das gibt es nur in der Fiktion. Figuren wie Anna Karenina oder Nathan Zuckerman sind dazu da, uns von dem Befinden von Personen mit der Kaltnadel der Imagination ein Bild zu entwerfen. Im Angesicht eines Gegenübers aus Fleisch und Blut verliert sich der Glaube, wir wüssten Bescheid (was Wunder, da wir uns auch über uns selbst nicht im Klaren sind).

44

Hörer unterschiedlicher Nationalitäten haben sich am Samstagnachmittag unabhängig voneinander auf dem nach Geschäftsschluss weitgehend leeren Parkplatz einer deutschen Kleinstadt eingefunden. Jeder für sich sitzt in seinem Auto, um unbehelligt zu durchleiden, was im Radio aus fernen Stadien übertragen wird. Statt in der Menge einsam zu sein, sind sie lieber in der Fremde allein.

45

Wer allein ist, kann seinem Rhythmus ungestört folgen. Der Einsame dagegen hört nur das eigene Herz und sehnt sich nach Melodien, die einer anderen Frequenz unterliegen.

46

Zwei Dinge sind es, die uns bewegen – das eigene Wohlergehen und etwas, womit wir dieses riskieren.

47

Was wir begehren, ist Erfüllung und Begehren.

48

Dem Satz, der Sache, dem Leben einen Dreh geben – ohne diesen Schwindel wäre alles ein Schwindel.

49

Die Gestalt eines Buchs sollte seinen Ansichten entsprechen.

50

Variation, erst recht der fließendere Plural, ist eines jener schönen Worte, die das zeigen, was sie sagen. A-i-a-i-o: eine Abwechslung von Lauten, in der sich Wiederholung mit Veränderung paart. Einen solchen Verlauf nimmt auch das philosophische Tun. Es nimmt Gedanken auf, führt sie weiter und lässt sie nicht so, wie sie waren. Es belebt sie, es bewegt sie, es hält sich in ihrer Bewegung.

51

Wenn wir, eine schwere Last tragend, für einen Moment innehalten, hat für einen Moment nur die Balance Gewicht.

52

Sich in einer Bewegung halten, das ist fast schon alles, worauf es ankommt. Nicht allein Gehen und Stehen, alles Arbeiten, Spielen, Denken, Sprechen, Schreiben usf. sind Vorgänge, die nur aus einer mitlaufenden Bewegtheit heraus gelingen können. Die falschen Bewegungen sind jene, die uns die Beweglichkeit nehmen: die es erschweren oder unmöglich machen, den Gang der Dinge zu ändern.

53

Jede Ethik ist eine Betrachtung darüber, was uns bewegen kann und soll – wovon wir wollen können, dass es uns bewege. Das pure Wollen aber tut es nicht. Denn es hat sich nicht in der Hand. Was uns – und also auch es – bewegt, sind Neigungen und Abneigungen, Begierden und Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen, einschließlich der Überzeugungen, von denen sie fast alle gefärbt sind. Unser Wollen ist eine durch Überlegung und andere Übung erfolgende Modifikation dieser Faktoren, die immer schon – nicht ohne unser Zutun, aber oft wie von allein – wirksam sind. Wir steuern ein Geschehen, dessen Teil wir selbst sind. Was wir wollen können, ist allein, dass es auch unsere Bewegung sei, die uns in Bewegung versetzt.

54

Um uns selbst lenken zu können, müssen wir uns von uns selbst lenken lassen. Das, woran wir Interesse haben, das, worum es uns vor allen Dingen geht, das, woran uns leidenschaftlich liegt – ob das Personen oder Projekte, private oder politische Anliegen sind –: das muss sich finden. Niemand könnte sich selbst bestimmen, der nicht in der Lage wäre, auf die Tendenzen und Talente zu achten, die ihm nun einmal gegeben sind. Auch die Unzufriedenheit mit eigenen Neigungen und Abneigungen kann nur wirksam werden, wenn sie an andere, gegenstrebige Impulse anknüpfen kann. Jede Selbstlenkung müsste sich im Kreis drehen und dort verenden, wenn sie nicht in einem unwillkürlichen Gerichtetsein einen wenigstens vorübergehenden Rückhalt fände. Diese unwillkürliche Ausrichtung betrifft nicht allein die leitenden Antriebe, sie betrifft ebenso sehr die leitenden Absichten eines Lebens. Wer ich sein und was ich erreichen will, ergibt sich mir nicht aus Überlegung allein. Es kann sich nur zusammen mit ihr ergeben. Und das nicht nur ein Mal, sondern immer wieder. Es kann sich nur ergeben in Reaktion auf die Reaktionen, die ich der Welt gegenüber zeige und die sie mir gegenüber zeigt. Mit fixen Plänen kann man nur scheitern. Über sich bestimmen können nur Personen, die mit sich selbst Schritt zu halten – die in ihrem Tun daran anzuknüpfen vermögen, was so weit mit ihnen geschehen ist. Die Notwendigkeiten unseres Handelns entspringen der Zufälligkeit unseres Lebens.

55

Etwas mit sich und also etwas mit etwas und den anderen anfangen zu können – das ist schon der Anfang und beinahe das A und O eines guten Lebens.

56

»Das muss sein«, sagen wir oft, weil wir zu einer bestimmten Handlungsweise keine ernstzunehmende, sinnvolle, lohnende Alternative sehen – nichts, was für unsereinen in Frage käme. Etwas anderes wäre für jemanden wie mich undenkbar: nicht zum Stammtisch zu gehen, nicht die nächste Karrierestufe anzustreben, nicht gegen das Kernkraftwerk zu demonstrieren, nicht die tägliche Zeile zu schreiben. Mit solchen Bewertungen legen wir uns fest auf Möglichkeiten, die uns, so wie wir geworden sind, so wie wir uns kennen, so wie wir uns uns allein vorstellen können, als »unbedingt« geboten erscheinen. Diese Festlegung hat ihre Grundlage in einer Affirmation von Affinitäten, die wir für bestimmte Dinge unseres Lebens haben – oft bei gleichzeitiger Negation anderer Affinitäten, die wir im Licht der Ersteren als hinderlich oder destruktiv erfahren. In diesem Spannungsfeld anziehender und abstoßender, entdeckter und verdeckter, genutzter und vertaner Möglichkeiten bewegt sich die bewusste Steuerung des eigenen Lebens. Durch diese nehmen wir Gelegenheiten zu uns selbst wahr. Wir bejahen einige der Möglichkeiten, die uns gegeben sind, und richten uns von hier aus an solchen aus, die wir nach bester Überlegung erreichen oder erhalten wollen. Indem wir uns bestimmen, lassen wir uns bestimmen.

57

Handlungen sind Einlassungen. Wir sind es gewohnt, das Handeln als etwas Aktives und Freies zu verstehen, und daher verstört, wenn wir bemerken, wie sehr es passiv und bedingt ist. Anders jedoch kriegen wir uns nicht auf die Reihe. Wir sind aktiv/passive Geschöpfe. Unser Handeln ist kein Tun, kein Lassen: ein Tun-und-Lassen.

58

Laster des Tuns; Laster des Lassens. Streber und Lahmärsche, Überflieger und Pedanten – um nur die harmlosen Fälle zu nennen – verfehlen die Balance von Tun und Lassen, die freilich in jedem Feld eine andere ist (schließlich will auch Trägheit gelernt sein).

59

Selbst auf die Askese muss man sich einlassen.

60

Man kann sich an den Rand des sozialen Lebens stellen oder dorthin geraten, aber nicht an den Rand des Lebens. Auch wer, wie er glaubt und die anderen es bald darauf wissen, am »Rand des Todes« steht, stand, solange er noch lebte, in der Mitte seines Lebens. Vielleicht sind ihm seine Angelegenheiten in einer Weise dringlich geworden, wie sie es vorher nicht waren; vielleicht war es gerade umgekehrt. Die zeitliche Nähe zum eigenen Tod ist keine privilegierte Position. Sie verschafft keinen Überblick, der größer wäre als der geringe, den die haben, deren Ende ihnen unbestimmter scheint.

61

»Vollkommene Ruhe«, sagt Pascal, »ist der Tod.« Der vollkommene Überblick auch. Der hierzu nötige »Blick von nirgendwo« sagt es schon: Wir wären aus allem heraus. (Wie gering die Reize eines todlosen Lebens werden, sobald man einen Gedanken darauf verwendet.)

62

Alles Überlegen ist ein Spiel mit Möglichkeiten: ein Wägen zwischen Optionen, deren Wert ich abschätze, deren Realität ich imaginiere, deren Für und Wider ich im Licht anderer Optionen beurteile. Dieses Urteilen geschieht im Umkreis dessen, was ich jetzt weiß oder zu wissen glaube, schätze oder zu schätzen meine, inmitten von allem, was bis dahin auf mich gekommen ist. Ich nutze – ich spiele meine Determiniertheit aus.

63

Das, was ich will, ergibt sich aus einer Konkurrenz meiner durch Kenntnisse und Phantasien entweder gezügelten oder angefeuerten Neigungen, die, wenn es gutgeht, in einem effektiven Streben mündet, das mein Handeln im Unterschied zu bloßen und nachrangigen Wünschen für eine Weile leitet. Dieser Wille aber kann das Ergebnis eines äußeren oder inneren Zwangs und also unfrei sein. Frei ist er, wenn das Kräftespiel, das ihn erzeugt, von einem Überlegen steuerbar ist, in dem das Für und Wider verschiedener Handlungsmöglichkeiten mit Gründen austariert werden kann. Aber kann nicht auch dieses Überlegen zwanghaft sein, wenn es pathologischen oder ideologischen Imperativen folgt? Sicher; doch ein Überlegen, das sich nur in festgefahrenen Bahnen bewegt, kommt seiner Bestimmung nicht nach. Gegen den Virus der inneren Unfreiheit geschützt ist ein Denken, das zu jeder der Möglichkeiten, auf die es sich festlegt, eine Alternative finden kann, ohne auf das Finden solcher Alternativen fixiert zu sein. Es versteift sich nicht darauf, sich zu überbieten, obwohl es sich überbieten könnte; es hat Spielraum gegenüber sich selbst, ohne sich in diesem Spielraum zu verlieren; es kann sich festlegen, ohne sich nur auf das festlegen zu können, worauf es sich vorerst festgelegt hat. Dieser Prozess – wir können uns überlegend so oder so festlegen – ist es, woraus sich die Freiheit unseres Wollens ergibt. Das freie Wollen ist die Fähigkeit einer nicht alternativlosen Festlegung der Richtung unseres Handelns: einer Festlegung, die, hätten wir anders (oder auch nur zu einer anderen Zeit) überlegt, auch anders hätte ausfallen können.

64

Nicht alternativlos? Am Ende gar beliebig? Sollte eine Festlegung nicht für mich selbst und gegenüber anderen verbindlich sein, wie ein Versprechen, an das ich mich gebunden fühle? Aber wenn es nicht in meinem Belieben läge, es so oder anders zu machen, wo wäre die Verbindlichkeit? Dass etwas so richtig ist und ich mich deshalb daran halte, ergibt nur Sinn, wenn ich mich darum daran halte, weil ich glaube, einsehen zu können, dass es so richtig und anders falsch ist: weil es hierzu aus meiner Sicht keine sinnvolle Alternative gibt. Etwas einsehen zu können bedeutet zu sehen, dass man es auch hätte anders sehen können – und es doch so zu sehen, in dem Bewusstsein freilich, dass die eigene Ansicht sich als falsch herausstellen könnte.

65

Zwei, drei Worte nur, und die Sätze aus dem Mund meiner Mutter verlieren sich im Hinweis ihrer Fingerspitzen auf das Muster der Tischdecke oder eine Naht an meinem Hemd. Mit ihrer Schwester führe ich flüssige Gespräche, die nach zehn Minuten immer wieder von vorn beginnen. Der übermüdete Kollege umkreist das brennende Problem in immer neuen Varianten, ohne je zu einem Entschluss zu gelangen. Ohne das Getriebe einer wachen, aus Erinnerung und Erfahrung gespeisten Regung findet kein Grund einen Grund.

66

Ob es gute Gründe oder große Affekte, böse Absichten oder dubiose Neigungen sind, die am Ende ins Gewicht fallen, tut beinahe nichts zur Sache, solange das Zaudern der Überlegung seinen Auftritt gehabt hat (schließlich ist die freie nicht immer eine vernünftige Handlung). Frei zu sein heißt, auf eine bestimmte Weise zögern zu können: so, dass die im Überlegen aufgerührten Kräfte Zeit gehabt haben, ihr unwahrscheinliches Werk zu tun.

67

Ich bejahe! Ich verneine! Ich führe Regie! Ich bin der Boss! – so geht es im Haushalt von Personen nicht zu. Mit einem reinen Ja oder Nein kann nur der Würfel dienen, an den wir unser Geschick delegieren. Personen sind Lebewesen, die sich von sich bestimmen lassen können – von jenen Beweggründen, die ihr Überlegen überleben. Diese Gründe sind ihre Stellungnahme, zu der sie nur mit anderen Gründen Stellung beziehen können, wenn sie nicht in Panik oder Jubel ihr Denken über Bord werfen wollen, wogegen nichts spricht außer dem Risiko, nachher umso mehr in einer Lage zu sein, für die man sich mit Inbrunst verwünscht, wenn nicht der Zufall es will, dass sie in Umstände geraten, für die sie ewig dankbar sein werden.

68

Der Lichtkegel unserer Sondierungen dehnt sich aus und zieht sich zusammen – in der Kindheit und im Alter, am Morgen und am Abend, bei manchem sogar im Frühjahr und im Winter. Frei ist man mehr oder weniger, wovon menschliche Individuen wie biologische Arten ein jederzeit unterhaltsames Beispiel geben.

69

Wir verfügen weder über die Welt noch über uns selbst. Denn im Herzen aller Verfügung, und nur dort, liegt das Unverfügte. Es ist weder Begleiterscheinung noch sonst bloß Erscheinung; es ist eine Quelle aller wirksamen Leistung. Die Kräfte der Fusion und Diffusion treffen