Aktive Passivität - Martin Seel - E-Book

Aktive Passivität E-Book

Martin Seel

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Beschreibung

Von der aktiven und passiven Natur des Menschen – die wichtigsten aktuellen Essays von Martin Seel, dem eleganten Stilisten unter den deutschen Philosophen Alles menschliche Verhalten steht in einer grundlegenden Polarität von Bestimmtsein und Bestimmendsein. Könnten wir uns nicht bestimmen lassen, könnten wir nichts bestimmen – weder uns selbst noch die Welt, in der wir uns vorfinden. Von dieser zugleich aktiven und passiven Natur des Menschen handelt das neue Buch von Martin Seel. Scheinbar ganz klassisch verfolgen die hier versammelten Texte ihr Grundmotiv im Blick auf das Wahre, Gute und Schöne, um die spannungsreichen Beziehungen von Wissen und Nichtwissen, Anerkennung und Aufmerksamheit, Expressitivät und Imagination zu erkunden. Philosophieren heißt nun einmal, sich auf eine Kreuzfahrt zwischen Regionen unseres Selbstverständnisses zu begeben, die niemals vollständig erschlossen werden können.

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Seitenzahl: 505

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Martin Seel

Aktive Passivität

Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortI. Vom Wahren1. Die Fähigkeit zu überlegen. Elemente einer Philosophie des Geistes1.2.3.4.5.6.2. Kenntnis und Erkenntnis. Zur Bestimmtheit in Sprache, Welt und Wahrnehmung1. Arten des Erkennens2. Bestimmtsein und Bestimmen3. Das Medium der Sprache4. Zur Bestimmtheit der Welt5. Zur Bestimmtheit der Wahrnehmung6. Resümee3. Perspektivität und Objektivität. Überlegungen mit Rücksicht auf Robert Brandom1.2.3.4.4. Vom Nachteil und Nutzen des Nichtwissens für das Leben1. Praktisches Nichtwissen2. Dialektik des Nichtwissens3. Ästhetik des Nichtwissens4. Ethisches Resümee5. Paradoxien der Verständigung. 17 Stichworte1. Zweierlei Paradoxien2. Verständigung3. Platons Theorie der Kommunikation4. Einspruch: Wilhelm von Humboldt5. Drei Paradoxien6. Die erste Paradoxie7. Die zweite Paradoxie8. Die dritte Paradoxie9. Drei Unmöglichkeiten10. Ziele der Verständigung11. Wie viele Paradoxien sind es?12. Sind es Paradoxien?13. Warum die Paradoxien?14. Das Modell der Übertragung15. Abschied vom Übertragungsmodell16. Eine andere Deutung17. Doch eine Paradoxie?6. Über sich selbst schreiben. Betrachtungen zu Nietzsches Spätstil1.2.3.4.5.6.7.II. Vom Guten7. Spuren einer eudaimonistischen Ethik in der Kritischen Theorie1.2.3.8. Neugier als Laster und als TugendBegriff und GegenbegriffSoziale NeugierÄsthetische NeugierWissenschaftliche NeugierEin Laster, eine Tugend9. Anerkennung und Aufmerksamkeit. Über drei Quellen der Kritik1. Ein radikaler Begriff der Anerkennung2. Kommentare3. Drei Quellen der Kritik10. Ist eine rein säkulare Gesellschaft denkbar?1. Säkularisierung2. Selbsttranszendenz3. Verlust und Vertrauen11. Dialoge zwischen Kunst und Natur im Zeichen ökologischer KrisenNaturKunstNatur und KunstDas Modell der LandschaftWider die Blindheit12. Aktive Passivität. Über die ästhetische Variante der Freiheit1. Zu sich selbst kommen kann nur, wer fähig ist, sich an Personen und Sachen zu verlieren.2. Handelnde können ihre Unabhängigkeit nur in Abhängigkeit von anderen und anderem gewinnen.3. Menschliche Freiheit hat ihren Kern in der Fähigkeit, sich bestimmen zu lassen – sich bestimmen zu lassen und zugleich: sich bestimmen zu lassen.4. Das Feld des Ästhetischen ist ein besonderer Schauplatz der Ausübung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung – und insofern ein besonderer Schauplatz der Freiheit.5. Ästhetisches Verhalten ist eines der Spielfelder menschlicher Freiheit, weil es das Spielfeld ihrer Betätigung ist.6. Die Praxis der ästhetischen Wahrnehmung und Herstellung kulminiert in Zuständen einer »aktiven Passivität«.7. Prozesse der ästhetischen Wahrnehmung und Herstellung genügen sich selbst.8. Die zentrale Tugend ästhetischer Sensibilität besteht in dem Vermögen, in einer Entfernung von sich selbst zu sich selbst zu finden.9. Der Sinn ästhetischer Praxis und der mit ihr verbundenen Einstellungen liegt in einer Gewöhnung an die Entwöhnung.10. Ästhetische Freiheit ist eine konstitutive Dimension der Freiheit.III. Vom Schönen13. Was geschieht hier? Beim Verfolgen einer Sequenz in Michelangelo Antonionis Film Zabriskie PointEine SequenzVorüberlegungÄsthetische Erfahrung, die ErsteWas geschieht hier?Ästhetische Erfahrung, die ZweiteExplosion14. Bewegtsein und Bewegung. Elemente einer Anthropologie des Films1. Film als Architektur2. Film als Musik3. Film als Bildbewegung15. Die Imagination der FotografieErscheinenGrenzen IGrenzen IITechnikGesteImagination16. Expressivität. Eine kleine Phänomenologie1. Zur Logik des Expressiven2. Dimensionen der Expressivität3. Artistische Expressivität4. Drei Zugaben17. Notwendige Beliebigkeit. Kontingenz als Organisationsprinzip künstlerischer Objekte1. Kontingenz in den Künsten2. Eine Fotografie3. Ein Film4. Ein Gedicht5. Eine Musik18. Schönheit – eine kurze begriffliche ReiseI. Die ReiseII. NachbetrachtungenNachweise

Vorwort

Mit jedem Wort, das wir gebrauchen, mit jeder anderen Handlung, die wir vollziehen, jedem Blick, den wir werfen, jedem Gedanken, den wir fassen, in jedem Gespräch, das wir führen, jeder Pflicht, die wir übernehmen, jedem Recht, auf das wir pochen, vor jedem Kunstwerk, das uns anspricht – jedes Mal sind wir bestimmt und bestimmend zugleich. Von dieser aktiv-passiven Natur des Menschen handeln die Beiträge dieses Bandes. Aus unterschiedlichen Perspektiven erkunden sie den inneren Zusammenhang des Bestimmens und Bestimmtwerdens, der unser Tun und Lassen überall prägt. Personen können ihre Unabhängigkeit nun einmal nur in Abhängigkeit von anderen und anderem gewinnen.

Zu der Polarität von Aktivität und Passivität gesellt sich eine weitere, die nicht minder für die Art der menschlichen Freiheit kennzeichnend ist – diejenige von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Wir können die Bestimmtheit der Welt nur von den Möglichkeiten und Grenzen unseres Bestimmens her denken. Alles Bestimmen spielt sich in Horizonten des vorläufig oder nachhaltig Unbestimmten ab. Dieses Verhältnis betrifft gleichermaßen das theoretische wie das praktische Wissen. Wir verfügen weder über die Welt noch über uns selbst. Die Kräfte der Fusion und Diffusion treffen sich dort, wo wir die Kraft zum Denken und Handeln haben. Bestimmen heißt begrenzen und ist darum seinerseits begrenzt – auch und gerade da, wo wir uns selbst zu bestimmen vermögen.

Die Texte in diesem Buch sind in drei Abteilungen gegliedert. Deren Überschriften – »Vom Wahren«, »Vom Guten«, »Vom Schönen« – dürfen mit einer gehörigen Prise Ironie gelesen werden. Sie wollen weder eine strikte Identität noch eine radikale Differenz der Leitbegriffe der Philosophie signalisieren; beide Alternativen entwerfen ein falsches Bild. Die philosophische Tätigkeit vollzieht sich vielmehr als eine reflexive Aufklärung wechselseitig voneinander abhängiger und aufeinander verweisender Grundbegriffe und Grundverständnisse, die nicht voneinander isoliert werden können. Sie müssen ein ums andere Mal zueinander in Beziehung gebracht werden, was wegen der Dynamik historischer Lebensformen niemals ein für alle Mal gelingen kann. Die Einheit der Philosophie besteht in einem beständigen Verfolgen dieser Verbindungen über ihre inneren Grenzen hinweg. Nur in dieser Überschreitung kann die Philosophie den Selbstauslegungen der menschlichen Praxis auf der Spur bleiben und ihren inneren Spannungen gerecht werden. Sie übt sich darin, die Sprachen des Philosophierens immer wieder neu zu übersetzen und sie dabei stets von neuem in ein kritisches Verhältnis zu den Koordinaten unseres Wissens und Wollens zu setzen.

So jedenfalls geschieht es hier. In der Abteilung über das Wahre, die vorwiegend der theoretischen Philosophie gewidmet ist, erhält auch die praktische Philosophie das Wort. Eine Philosophie des Geistes und der Sprache darf nicht ausklammern, was ihre Ermittlungen für den Spielraum der Freiheit bedeuten. Hierbei kommt auch der Ästhetik eine signifikante Rolle zu – denn wie sollte man über Wahrnehmung und Erkenntnis ohne Scheuklappen sprechen können, wenn man ihre ästhetischen Formen nicht wenigstens im Blick behält. Entsprechend haben in dem Teil über das Gute neben der praktischen Philosophie auch die beiden anderen Disziplinen ihren Auftritt. Besonders die Titelabhandlung bringt sie alle eng miteinander ins Gespräch. Die bei Adorno geliehene Formel einer »aktiven Passivität« erhellt die Verfassung unseres Denkens und Handelns weit über eine Theorie der Künste hinaus. Nicht anders verhält es sich schließlich in der Sektion über das Schöne. Wir verstünden die Attraktion des Schönen innerhalb und außerhalb der Künste nicht, würden wir dieses nicht als eine eigensinnige, ebenso betörende wie irritierende Spielart des Guten verstehen, die auch unseren theoretischen Spürsinn animiert.

In dieser innerdisziplinären Offenheit nimmt der vorliegende Band den Leitgedanken meines älteren Buches Sich bestimmen lassen (Frankfurt/M. 2002) wieder auf. Zugleich verfolgt er viele Motive meiner fragmentarischen Theorien (Frankfurt/M. 2009), in denen ich die Karten der Philosophie noch erheblich wilder gemischt habe, in einem vergleichsweise prosaischen Gestus weiter.

An den hier zusammengestellten Texten habe ich allerlei stilistische Korrekturen stillschweigend vorgenommen sowie einige Wiederholungen getilgt. Die wenigen inhaltlichen Ergänzungen sind in zusätzlichen Anmerkungen markiert. Sebastian Esch bin ich für seine überaus gründliche Redaktion des Bandes verpflichtet. Eva Backhaus, Frederike Popp und Jochen Schuff haben mich bei der Korrektur der Fahnen und der Erstellung des Registers zusätzlich unterstützt. Alexander Roesler vom S. Fischer Verlag war wie immer ein ebenso umsichtiger wie geduldiger Lektor. Ihnen allen möchte ich herzlich danken.

 

Frankfurt, im März 2014

 

M.S.

I.Vom Wahren

1.Die Fähigkeit zu überlegen. Elemente einer Philosophie des Geistes

1.

Die Fähigkeit zu überlegen ist neben der des Betrachtens von Bildern, der Herstellung von Werkzeugen und der Entwicklung politischer Gemeinschaften eine der Grundfähigkeiten des Menschen. Sie ist aber nicht irgendeine dieser Grundfähigkeiten – sie ist diejenige, ohne die es die anderen nicht gäbe. Denn sie ist es, durch die der Mensch ein handelndes Lebewesen ist, das in theoretischer wie praktischer Absicht sondieren kann, worauf es sich in seinem Verhalten festlegen will. Diese Sondierung betrifft Möglichkeiten, die gegeben oder noch nicht gegeben, die zu schaffen oder zu erinnern, die zu erhoffen oder zu befürchten – und die darum zu beachten oder zu missachten, zu ergreifen oder zu vermeiden sind. Es ist das Überlegen, das eine Welt eröffnet, die sich im Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in vielfältige Zustände gliedert, auf die wir uns unterschiedlich einstellen können. Es eröffnet eine Sphäre erreichbarer und unerreichbarer Möglichkeiten des Fürwahrhaltens und Wahrmachens, die wir in Wahrnehmung, Reflexion und Imagination vor uns bringen und so einer Beurteilung und Behandlung zuführen können. In Prozessen des Überlegens geschieht eine Auffächerung von Gelegenheiten des Innehaltens, Dafürhaltens und Vollbringens, in denen sich das geschichtliche Leben des Menschen bewegt. Ohne das Überlegen gäbe es keine historisch-kulturelle Welt, in der Gedanken formuliert und weitergegeben, Geschichten erzählt und tradiert werden, Handlungen gelingen oder scheitern, Reiche entstehen und vergehen, Hoffnungen enttäuscht werden oder sich erfüllen.

Die Fähigkeit zu überlegen, über die ich hier spreche,[1] ist keine theoretische oder praktische Fähigkeit, sondern diejenige einer theoretischen wie praktischen Sondierung beliebiger Umstände. Herder hat hierfür das schöne Wort »Besonnenheit« geprägt.[2] Lebewesen, die in diesem Sinn Besonnenheit haben, können sich besinnen: Sie können zu klären versuchen, wie es sich mit etwas verhält und wie sie sich zu etwas verhalten sollen. Auch unüberlegt handeln und reden – und voreilig denken – können sie nur, da sie in der Lage sind, sich zu besinnen. Die Herder’sche Besonnenheit kann daher als Grundausstattung eines rationalen Lebewesens verstanden werden. Zu dieser gehört auch das Vermögen, sich dann und wann – und manchmal nachhaltig – irrational zu verhalten. Denn es liegt im Begriff einer Fähigkeit, dass sie gelegentlich unter Niveau gebraucht oder ihre Aktualisierung von Fall zu Fall versäumt werden kann. Wer überlegen kann, verhält sich also keineswegs durchgängig überlegt; er ist vielmehr mit einer fragilen Kompetenz ausgestattet, deren Besitzer nicht davor gefeit, ja sogar in besonderem Maß dazu disponiert sind, in Verwirrung zu geraten und sich selbst in die Irre zu führen. Diese Unsicherheit und Unwägbarkeit des Überlegens reicht so weit, dass man sich bei jemandem, der durchgängig überlegt handelte und in diesem Sinn ganz und gar überlegt wäre, fragen müsste, ob er überhaupt überlegen kann.

So heikel die Kompetenz des Menschen, sich im Überlegen zu orientieren, auch ist, sie ist die Wurzel dessen, was die Tradition »Geist« genannt hat. Sie ist nicht eine Wurzel dieses oder jenes Vernunftgebrauchs, sondern allen Verstehens unserer selbst und der Welt. Die Frage nach der Natur des Überlegens hält sich daher an einem Punkt der Indifferenz von theoretischer, praktischer und sonstiger Vernunft auf. So jedenfalls hat es Hegel gesehen. »Der Geist«, notiert er in einem Zusatz zu § 4 seiner Rechtsphilosophie, »ist das Denken überhaupt, und der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken. Aber man muß sich nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits denkend, andererseits wollend sei und daß er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre eine leere Vorstellung. Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben.«[3] Das menschliche Denken, meint Hegel, kann unterschiedlich auf Unterschiedliches zielen, erkennend auf das Sosein, vollbringend auf das Seinsollen der Welt, vernehmend auf das Erscheinen der Kunst, reflektierend auf das Begreifen der dabei verwendeten Begriffe – aber es ist jedes Mal Denken. Es ist Geist nicht allein in seinem denkenden Vollzug, sondern ebenso in seinem gedanklichen oder intentionalen Resultat. Es ist Geist nicht allein als subjektive, sondern ebenso als intersubjektive, an andere adressierte Leistung. Es ist Geist nicht allein im individuellen Tun und Lassen, sondern ebenso in kollektiven Gestaltungen, die das Tun und Lassen von Einzelnen weit übersteigen, wie es bei Regeln, Ritualen und Institutionen der Fall ist oder in den Systemen der Ökonomie, des Rechts, der Politik, der Religion und der Wissenschaft. Diese Verhältnisse, so unabhängig sie auch von den einzelnen Vollzügen des individuellen Denkens bestehen mögen, »sind« Geist in dem Sinn, dass sie in ihrem Bestehen von der Übung des Überlegens und Verstehens abhängig sind. Deswegen ist das, was ich hier ausführe, ein Beitrag zu einer Philosophie des Geistes – in einer durchaus altmodischen Bedeutung des Begriffs, die unter »Geist« nicht allein psychische Zustände aller Art, sondern die gesamte Sphäre der menschlichen Praxis fasst. Subjektiver wie objektiver Geist, um es noch einmal in Hegels Sprache zu sagen, haben ihre Wurzel in der Fähigkeit des Überlegens.

2.

Was ich im Folgenden darlegen werde, wird also den Charakter einer Wurzelbehandlung haben, von der ich hoffe, dass sie nicht allzu schmerzhaft ausfallen wird. Um diese durchzuführen, müssen wir uns klarmachen, dass auch das Überlegen ein Handeln ist, eines freilich, das nicht mit äußerer Bewegung oder mit Eingriffen in die Welt verbunden sein muss. »Überlegst du oder starrst du nur vor dich hin?«, können wir ein Kind fragen, das über seinen Hausaufgaben sitzt. »Überlegen Sie doch!«, können wir einem Prüfling sagen, der sich in widerstreitenden Aussagen verheddert hat. In Aufforderungen dieser Art wird der Tätigkeitscharakter des Überlegens deutlich; Überlegungen sind Akte, die man vornehmen oder unterlassen kann, und setzen Prozesse in Gang, auf die man sich einlassen oder von denen man sich fernhalten kann. Andererseits sagen wir aber auch: »Hör auf zu überlegen, tu endlich was!«, und markieren damit eine charakteristische Differenz zwischen dem Überlegen und dem sonstigen Handeln, worin die Polarität von »Denken und Handeln« ihre Berechtigung hat. Wer bloß überlegt, lässt alle andere Tätigkeit ruhen. In Situationen, in denen es auf schnelle Entscheidung und rasches Zupacken ankommt, erweckt dies nicht selten den Eindruck, dass die Betreffenden gar nichts tun. Jedoch ist dies lediglich ein komparatives Nichtstun, denn sie sind durchaus mit etwas beschäftigt, womit sie jetzt aufhören und später wieder beginnen könnten. Das Denken ist nun einmal kein Machen, keine Poiesis, aber doch eine – und nicht irgendeine – Praxis.

Diese Praxis hat einen wesentlich intersubjektiven Charakter. Natürlich bewegt sie sich allein vermöge subjektiver Vollzüge, da niemand an der Stelle eines anderen überlegen kann. Zwar kann man in einem bestimmten Sinn für den anderen überlegen – so wie es Eltern für ihre Kinder tun, wenn sie darüber nachdenken, wann und wo sie eingeschult werden sollten –, aber man kann nicht die Überlegung eines anderen anstellen. Auch wenn mehrere zusammen darüber nachdenken, was von Hegel zu halten ist oder wohin der nächste Urlaub gehen soll, muss jeder einzelne sein eigenes Überlegen ins Spiel bringen. Überlegen kann nur, wer es auch alleine kann. Trotzdem gehört es zur Fähigkeit des Denkens, dass sie für andere identifizierbar ist. Von Grenzfällen abgesehen – »Starrt er noch oder denkt er schon?« – ist das Überlegen eine Handlung, die im Kontext anderer Handlungen steht, die öffentlich zugänglich sind. Es äußert sich in charakteristischen Verhaltensweisen, in Mimik und Gestik, im Reden und Schreiben sowie in weiteren Hervorbringungen, die als Ausdruck eines überlegten Vorgehens interpretierbar sind. Ein Überlegen, das in seinen Vollzügen und Konsequenzen nicht ans Licht treten, das in der gemeinsamen Welt keine Spuren hinterlassen könnte, wäre keines. Wer überlegen kann, bewegt sich in einer Welt, in der Überlegende einander die Fähigkeit zum Überlegen zuschreiben.

Diese Zuschreibung gelingt aber nur, soweit das Überlegen der anderen grundsätzlich verständlich ist. So sehr einzelne Überlegungen eines Menschen für andere unverständlich bleiben können – wenn sein Denken für sie unverständlich bleibt, beginnen sie zu zweifeln, ob er überhaupt denken kann. Denkende können auch sich selbst nur verstehen, wenn sie in ihrem Denken weitgehend verständlich sind. Wer seine Überlegungen nicht mitteilen kann, kann nicht mitteilen, dass er denken kann und also gar nicht sicher sein, dass er zu denken vermag. Sein Denken mitteilen aber kann nur, wer Gedanken anderer zu teilen weiß – gewiss nicht alle ihrer Gedanken, aber doch so viele, dass man sich über naheliegende Dinge verständigen und auf dieser Basis über weniger Naheliegendes auch streiten kann. Denken zu können bedeutet, sich auf eine für andere verstehbare Weise auf eine auch anderen zugängliche Welt beziehen zu können. Denn nur wenn es eine auch anderen zugängliche Welt ist, auf die sich Denkende in ihrem Denken beziehen, können sie sicher sein, dass es eine Welt ist, auf die sie sich beziehen. Und nur wenn sie sich auf eine Welt beziehen können, die nicht lediglich die Ausgeburt ihres Denkens ist, können sie für ihre Überlegungen Erkenntnis in Anspruch nehmen – die Erkenntnis, dass es sich hiermit und damit so verhält, wie auch andere es müssten einsehen können. In diese kommunikative Situation ist alles Denken auch dann eingebunden, wenn es sich nicht in kommunikativen Akten vollzieht. Als Denken spielt es sich in einer sozialen Welt ab – in einer Welt, in der Gedanken den intersubjektiven Anspruch auf Wahrheit oder Plausibilität erheben und daher geteilt und kritisiert werden können. Als Denken aber spielt es sich nicht allein in einer sozialen Welt ab, sondern in einer, die in vielen Hinsichten unabhängig von den Prozessen des menschlichen Meinens und Planens besteht. Nur weil die Welt kein Produkt des Denkens ist, nur weil sie nicht durchweg Geist ist, sind für andere verständliche Reaktionen auf die soziale wie die natürliche Welt möglich. Im Denken wie in vielen anderen Verhaltensweisen beziehen wir uns auf Verhältnisse, die nicht insgesamt in unserer Macht liegen und an denen wir deswegen unsere Macht versuchen können.

Die zugleich intersubjektive und objektive Kontur des subjektiven Überlegens ist in den Arbeiten von Wittgenstein, Davidson, Brandom und der jüngeren Frankfurter Philosophie – ich denke vor allem an Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas und Friedrich Kambartel – so gut beleuchtet worden, dass ich mich mit diesen kurzen Hinweisen begnügen kann. Ich benutze diese Erinnerung, um den Stellenwert des Überlegens für eine Philosophie des Geistes hervorzuheben. Nur im Umkreis des Überlegens gibt es Intentionalität in dem anspruchsvollen Sinn einer in Raum und Zeit ausgreifenden Voraussicht und Planung, Erinnerung und Imagination. Und nur im Umkreis des Überlegens gibt es so etwas wie Verbindlichkeit – und zwar Verbindlichkeit aller Art, von der logischen bis hin zu derjenigen moralischer und rechtlicher Natur. Denn nur wer überlegen kann, hat Gründe zu glauben, was er glaubt, und zu wollen, was er will. Nur wer überlegen kann, kann sich – für sich selbst und gegenüber anderen – nach Maßgabe seiner Gründe festlegen in dem, was er denkt und will. Und nur wer dies kann, kann seine Festlegungen variieren und revidieren. Nur wer überlegen kann, kann sich aus eigenem Antrieb verändern. Nur wer überlegen kann, ist in seinem Tun und Lassen frei.

Warum das so ist, lässt sich an der Differenz zwischen dem Guten und Schlechten einerseits und dem Richtigen bzw. Wahren und Falschen andererseits erläutern. Was gut oder schlecht für ein Lebewesen ist, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, lässt sich feststellen, ohne dass man ihm die Fähigkeit zubilligt, ein Urteil darüber zu haben, was für es gut oder schlecht ist (obwohl es natürlich beim Menschen häufig mit solchen Urteilen verbunden ist). Was hingegen richtig oder falsch im Verhalten eines Lebewesens ist, davon ist nur zu sprechen, wenn das betreffende Lebewesen selbst um diesen Unterschied weiß. Freilich gibt es Grade dieses Wissens, wie man sich an Kleinkindern leicht klarmachen kann; aber im vollen Sinn erreicht ist dieses Wissen erst dort, wo ein Handelnder die Unterscheidung von »richtig« und »falsch« auf sich selbst, d.h. auf sein Verhalten, anwenden kann – und diejenige von »wahr« und »falsch« auf seine Meinungen. Nach einem Argument von Davidson hat Meinungen über die Welt nur, wer Meinungen über seine Meinungen (und über diejenigen anderer) hat: wer Meinungen als wahr und falsch einzuschätzen vermag.[4] Wer aber in diesem Sinn Meinungen hat, hat Meinungen auch darüber, was in instrumenteller bis moralischer Bedeutung richtig und falsch ist. Wer also Meinungen in diesem Sinn hat, kann sich mit Hilfe korrigierbarer Meinungen über sich und die restliche Welt organisieren. Nichts anderes aber bedeutet es, zum Überlegen fähig zu sein, weswegen man sagen kann: Im Unterschied zu »gut« und »schlecht« gibt es »richtig« und »falsch« nur im Kontext des Überlegens.

Und damit Verbindlichkeit im Denken und Handeln. Diese rührt daher, dass der Überlegende sich auf eine bestimmte Weise bindet – nämlich an das Resultat seiner Überlegung und darauf, was aus diesem für das eigene Meinen und Beabsichtigen folgt. Das Resultat einer Überlegung aber ist dies nur, wenn diese Bindung nicht willkürlich, einfach so, ausfällt, sondern auf Gründen basiert, die für oder gegen diese und jene Überzeugung, Absicht oder Einstellung sprechen. Gründe sind kein Privatbesitz, sondern etwas, was durch andere und mich selbst korrigierbar ist: worüber ich mir und anderen Rechenschaft ablegen und wofür ich zur Rechenschaft gezogen werden kann. »Du widersprichst dir doch!«, »Das kann nicht dein Ernst sein!«, oder im moralischen Kontext: »Das kannst du nicht machen!« – das sind gängige Reaktionen, wie wir sie einander, aber manchmal auch uns selbst zukommen lassen. Begründete Festlegungen nämlich haben Konsequenzen: nicht nur was den Haushalt von Überzeugungen, sondern auch, was das weitere Handeln und das Selbstverständnis einer Person betrifft. Nur weil sie Konsequenzen haben, sind sie Teil eines Netzes von Orientierungen, das Umsicht und Einsicht über das Hier und Jetzt hinausreichen lässt – eine Grundbedingung der Herder’schen Besonnenheit. Selbst diejenigen meiner Gründe, von denen ich sagen kann, dass sie nur für mich welche sind, zum Beispiel meine Tapeten gelb anzumalen, sind Gründe nur dann, wenn auch andere einsehen könnten, dass ich hinreichende Gründe habe, meine vier Wände so zu gestalten. Hätten wir nicht für viele unserer Verhaltensweisen Gründe und wären diese nicht im Verhalten erkennbar und in verschiedenen Medien – Gestik, Mimik, Wort, Schrift, Bild, Musik (einschließlich ihrer Kombinationen) – kommunizierbar, so wären wir nicht verstehbar – weder für andere noch für uns selbst. Gäbe es nicht die Verbindlichkeit, wie sie mit der intersubjektiven Währung von Gründen gegeben ist, so hätte unser Verhalten nicht die von Wilhelm von Humboldt in bewegenden Worten beschriebene Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit, die das Reden und Schweigen unter Menschen überhaupt interessant macht.[5] Normativität und Verständlichkeit gehören zusammen: Wir verstehen uns und einander und verstehen einander und uns selbst gelegentlich nicht, wir teilen die Auffassung der anderen oder teilen sie nicht, weil wir durch unterschiedliche Arten von Gründen gestützte Vorstellungen darüber haben, was im Denken und sonstigen Handeln richtig ist. Das macht uns verletzlich in einer Weise, in der es nicht-rationale Lebewesen nicht sind, aber es macht uns auch beweglich in einer Weise, die es ohne Rationalität nicht gibt. In seinem Tun und Lassen durch andere und sich selbst korrigierbar zu sein ist das Wahrzeichen des Geistes. Wer aber, um es zu wiederholen, seine Gedanken, Vorhaben und Leistungen korrigieren kann, kann sich korrigieren – und ist insoweit in seinem Handeln frei.

3.

Jedoch könnte der Eindruck entstehen, dass dieses schöne Bild der Einheit von Überlegung und Freiheit in unseren Tagen deutlich Patina angesetzt hat. Schließlich leben wir in Zeiten einer fortschreitenden Entzauberung des Geistes durch die Naturwissenschaften, vor allem in Gestalt einer Neurobiologie, die sich daranmacht, das menschliche Bewusstsein so weit zu naturalisieren, dass von der Souveränität des Überlegens wenig bis gar nichts übrig bleibt. Ich möchte daher einen kurzen Seitenblick auf die gegenwärtigen Zweifel an der Kraft und Macht des Überlegens richten, bevor ich das soeben entworfene Bild zu restaurieren versuche.

In einem Manifest über die Aussichten der Hirnforschung, das elf Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler – unter ihnen Gerhard Roth und Wolf Singer – im Oktober 2004 in der Zeitschrift Gehirn und Geist veröffentlicht haben, findet sich der optimistische Satz über die Erforschung des menschlichen Erlebens und Überlegens: »Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.«[6] Man kann das so lesen, dass die Sprache des Empfindens, Überlegens und Entscheidens – also die Sprache des Geistes mitsamt den von ihr benannten Phänomenen – sich bald als eine Oberflächenerscheinung erweisen wird, hinter der die wahre Wirklichkeit neuronaler Prozesse erkennbar werden wird, eine Wirklichkeit, die unserem Verstehen und Selbstverstehen voraus liegt und es gerade dort bestimmt, wo wir uns als selbstbestimmt erfahren. So gelesen, stellt die neurobiologische Forschung eine ernsthafte Bedrohung für die Selbstauslegung des menschlichen Geistes dar. Wo wir glaubten, einen Kopf zu haben, waltet allein das Gehirn. In dieser Enthauptung des Geistes läge freilich eine Selbstentleibung auch der Wissenschaften, die dieses Henkersamt verrichten. Denn die Naturwissenschaften, die sich daranmachen oder daranzumachen glauben, das Denken auf seine naturale Basis zurückzuführen, sind selbst hervorragende Erzeugnisse desjenigen Geistes, von dem sie behaupten oder zu behaupten scheinen, dass er eine Schimäre ist.

Man kann den fraglichen Satz aber auch anders – und, wie ich glaube, sehr viel genauer und produktiver – lesen. Ich möchte ihn daher noch einmal zitieren. »Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse (gemeint sind die des geistigen Lebens, M.S.) grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.« Man gewinnt eine weit weniger paradoxe Lesart, sobald man die Aufmerksamkeit auf das Demonstrativum »diese« lenkt. Denn dass »all diese« geistigen Prozesse als physikochemische Vorgänge beschreibbar sind, setzt voraus, dass sie auch anderweitig beschreibbar sind. Könnte man die fraglichen Vorgänge nicht auch in der »Sprache des Geistes«, und das heißt hier vor allem: in der Sprache der Teilnahme am menschlichen Leben benennen, so könnte man sie nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln anders und weiter bestimmen. Die Sprache des Überlegens und seiner Gründe – einschließlich des Idioms der Wissenschaften selbst – ist eine unhintergehbare Voraussetzung der Beschreibung der neuronalen Prozesse, in denen Erleben und Überlegen sich realisieren. Wer sich auf Gründe nicht versteht, kann nichts von den Ursachen für diese Gründe wissen und auch nichts davon, ob und wie diese Gründe als Ursachen wirksam sind. Ohne einen Pakt mit dem alltäglichen Verstehen und seinen Reflexionsformen müsste die naturwissenschaftliche Erforschung des Geistes den Boden unter den Füßen verlieren. Denn ihr Gegenstand sind nicht einfachhin neuronale Zustände, sondern diejenigen, in denen sich die Selbsterfahrung des Geistes vollzieht. So gewiss sich diese Erfahrung in neuronalen Prozessen realisiert, so gewiss sind die Leistungen, die auf diese Weise realisiert werden, diejenigen von Teilnehmern an der menschlichen Praxis. Es sind Leistungen des Verstehens, die als solche müssen identifiziert werden können, damit sie in ihrem gehirnphysiologischen Ablauf untersucht werden können. Es kommt daher in den Wissenschaften vom Menschen alles auf eine reiche Beschreibung dieser Praxis an – eine Beschreibung, die verständlich macht, dass wir Naturwesen und Kulturwesen sind, oder genauer: dass wir als die Naturwesen, die wir sind, die Kulturwesen sind, die wir sind – und vice versa.

Wenn diese Einschätzung zutrifft, besteht für die Freunde des Geistes und der Freiheit kein Grund zur Panik. Einen Ausdruck der Panik sehe ich demgegenüber in den Versuchen, in den Naturprozessen, die denen unseres Überlegens zugrunde liegen, auf Teufel komm raus eine Lücke aufspüren zu wollen. Diese Lücke soll es möglich machen, wenigstens für den Augenblick echter Stellungnahmen und freier Entscheidungen aus dem Kräftespiel der Natur herauszutreten und ganz von allein den Lauf der Welt zu bestimmen. Ein solcher Lückentheoretiker ist John Searle, der allerdings auf eine Reihe erlauchter Vorläufer zurückblicken kann. Searle benutzt das Beispiel der Wahl des Paris, um das Faktum einer solchen Lücke zur Evidenz zu bringen.[7] Paris hat die drei Göttinnen – Aphrodite, Hera und Athene – vor sich und überlegt, welcher von ihnen, deren jede ihn mit süßen Versprechungen umwirbt, er den Preis der höchsten Anmut überreichen soll. Wenn die Entscheidung des Paris (für Aphrodite) durch seine Überlegungen determiniert wäre, so argumentiert Searle, wäre sie nicht frei, denn sie wäre ja durch seine Präferenzen, sein Wissen und die hieraus resultierenden Gründe determiniert. Wenn die Entscheidung wirklich frei sein soll, meint er, muss sie zu einem Zeitpunkt nach der Überlegung, in einer Lücke zwischen Überlegung und Festlegung, erfolgen. In dieser Lücke soll es dem Subjekt der Entscheidung möglich sein, sich nochmals positiv oder negativ zu seinen eigenen Gründen zu verhalten. Nur dann sind wir frei, würde das bedeuten, wenn wir freigesetzt sind von allem, was uns vorher und nachher bestimmt.

Wer aber frei von allem ist, ist frei für gar nichts mehr. Philosophen wie Peter Bieri und Daniel Dennett haben daher die Lückentheorie der Freiheit mit überzeugenden Argumenten kritisiert.[8] Diese angebliche Freiheit hat ihren Ort in einem luftleeren Raum, in dem der Versuch einer Selbstbestimmung von nichts mehr bewegt sein, sich nach nichts mehr richten und daher auch nichts bewirken könnte. Die Position des Lückentheoretikers erweist sich wie diejenige eines reduktiven Materialisten als selbstdestruktiv. Indem sie die eine Überlegung abschließende Stellungnahme spekulativ aus der ihr zugrunde liegenden Kausalität herausnimmt, nimmt sie ihr die Kraft, eine effektive Festlegung des Denkens und Handelns zu sein. Wer aus der Kausalität ausschert, schert aus der Wirksamkeit von Gründen und damit aus der Wirklichkeit von Freiheit aus. Wer aus der Natur ausschert, verlässt zugleich die Domäne des Geistes. Wir müssen daher nach einer Antwort suchen, die die Autorität des Überlegens begreiflich macht, ohne an der wissenschaftlichen Kenntnis über den Menschen vorbeizureden. Wir benötigen ein Bild des Überlegens, das kompatibel ist mit dem, was wir über seine neuronale Basis wissen.

4.

Nach diesen grellen Signalen, die zu der Sorge Anlass geben mögen, dass sich die Ampel einer rechtmäßigen Philosophie des Geistes allenfalls bei Gelb passieren lässt, wende ich mich dem Verfahren des Überlegens selber zu. Wie vollzieht sich das Überlegen und wie führt es zu Resultaten, die – für eine Weile wenigstens – bindend sind?

Es vollzieht sich als eine Abwägung von Gründen mit dem Ziel der Gewinnung einer gerechtfertigten Meinung oder Absicht. Es hat den Sinn, im jeweiligen Zusammenhang zu einer richtigen theoretischen oder praktischen Festlegung zu kommen. Natürlich kann »richtig« in verschiedenen Kontexten sehr Verschiedenes bedeuten – eine wahre Meinung, eine aussichtsreiche Hypothese, eine plausible politische Einschätzung, eine kluge sportliche Taktik, einen lohnenden künstlerischen Versuch, eine moralisch gebotene Handlungsweise und Weiteres mehr. In jedem dieser Fälle zahlt sich der Aufwand des Nachdenkens nur aus, wenn er zu Überzeugungen, Absichten und Einstellungen führt, die für die Person, die sie hat, nach bestem Wissen und Gewissen richtig sind – und das bedeutet, wenn er zu Einsichten führt, an die sie sich bis auf weiteres halten kann. Das ist der ganze Sinn einer Begründung: zu einer haltbaren, für das eigene Verhalten verbindlichen Position zu kommen – oder jedenfalls zu einer, die verlässlicher ist als solche, zu denen man aus Trägheit oder Hörigkeit, durch Zufall oder Zwang gelangt. Alles Überlegen hat den Sinn, die eigene Orientierung auf dem Weg einer Rechtfertigung der eigenen Ansichten und Absichten zu optimieren.

Dies geschieht durch eine Abwägung von Gründen. Was aber sind Gründe? Gründe, einfach gesagt, sind Umstände oder Annahmen, die für oder gegen eine Überzeugung oder Absicht, Haltung oder Handlung sprechen. Dass mir die Stimme zu versagen droht, ist für mich ein Grund, einen Schluck Wasser zu trinken. Dass es regnet, kann ein Grund dafür sein, zum Regenschirm zu greifen. Dass Rom nördlich von Neapel liegt, berechtigt zu der Annahme, dass Neapel südlich von Rom liegt. Oskars Gefühle für Luise können für ihn ein Grund sein, sich mit ihr zu verabreden. Dass der Ätna ausgebrochen ist, kann ein Grund sein, jetzt nicht nach Sizilien zu fliegen. Dass der Ölpreis steigt, berechtigt zu der Annahme, dass das Benzin an den Tankstellen teurer werden wird. Hegels Gedanke, dass propositionales Wissen nur in Verhältnissen sozialer Anerkennung möglich ist, ist ein Grund dafür, dass geistige Prozesse nicht auf Gehirnprozesse reduziert werden können. Und so fort. Gründe liegen überall bereit. Ob sie aber Gründe, wofür sie Gründe und wann sie im jeweiligen Zusammenhang hinreichende Gründe sind, dies zu klären ist Sache des Überlegens. Dieses nimmt auf, was den Überlegenden – durch die Kultur, in der sie leben, durch ihre Erziehung, Ausbildung und Erfahrung – als Gründe mitgegeben ist, es stützt sich auf Informationen, die ihnen zur Verfügung stehen, sowie auf Recherchen, die ihnen möglich sind, und es wägt schließlich ab, welche Gründe am Ende tatsächlich zählen.

Als Grund zählt dabei nach dem oben Gesagten nur, was nicht nur für mich dafür zählt. Es gehört zu der Natur von Gründen, dass sie nicht im Belieben der Überlegenden stehen, sondern einer intersubjektiven Rechtfertigung zugänglich sind. Selbst wenn ich gegen das Einreden eines anderen darauf beharre, dass etwas für mich – und vielleicht nur für mich – ein Grund ist (wie es bei Oskars Gefühlen für Luise im günstigsten Fall der Fall ist), beharre ich zugleich darauf, dass ich, so wie ich nun einmal bin, tatsächlich einen Grund habe, so und nicht anders zu verfahren, und erwarte, auch der andere müsste einsehen können, dass dieser Grund das benennt, was für mich hier das Beste ist.

Gründe, so zeigt meine willkürliche Liste von Beispielen, sind nicht einfach Gedankendinge. Obwohl es nicht selten Gedanken sind, die den Grund für etwas abgeben, sind es doch ebenso häufig äußere wie innere Zustände – geographische, ökonomische oder rechtliche Verhältnisse, Durst oder Verliebtsein, Ambition oder Angst –, die zur Rechtfertigung einer Stellungnahme angeführt werden. Bei weitem nicht alle Gründe werden im Überlegen generiert. Vielmehr ist die Welt selbst voller Gründe für und gegen dies und das – jedoch ist sie es allein aus der Perspektive eines aktuellen oder potentiellen Überlegens, aus der Umstände aller Art als Gründe erfasst und aufgefasst werden können. Allein mit der Fähigkeit zum Überlegen öffnet sich jener »Raum der Gründe«, von dem zu sprechen sich seit den Arbeiten von Wilfrid Sellars eingebürgert hat. Entgegen anderslautender Gerüchte aber ist dieser Raum kein spirituelles Nebenzimmer des Universums, kein vulgärplatonischer oder spätfregeanischer Ideenhimmel, sondern es ist der eine Raum der Welt, in dem bei unterschiedlichen Gelegenheiten unterschiedliche Gegebenheiten zu Faktoren werden, die für oder gegen etwas sprechen. Dieser für uns Menschen zunächst und zumeist sehr irdische Weltraum der Gründe hat sein Gravitationszentrum in der intersubjektiven oder für intersubjektive Interventionen offenen Praxis des Überlegens. In ihr geht es darum, angesichts gegebener Umstände möglichst richtige – und manchmal auch: möglichst produktive – Konsequenzen zu ziehen aus dem, was wir bislang für wahr und richtig gehalten haben.

Im Prozess des Überlegens freilich verwandeln sich die Umstände, die unseren Auffassungen und Absichten entgegenkommen oder entgegenstehen, in Annahmen darüber, was für oder gegen etwas spricht.[9] Obwohl also alles Mögliche ein Grund sein kann, treten Gründe im Überlegen durchaus als geistige Entitäten auf: als Überzeugungen für oder gegen die Meinung oder Absicht, die schließlich gefasst wird – dass meine Stimme versagt (und ich deshalb zum Glas greife), dass ich mich nach Sizilien sehne (und deshalb einen Urlaubsflug buche) oder dass die Opec die Fördermengen drosselt (und deshalb mit höheren Benzinpreisen zu rechnen ist). Theoretische und praktische Gründe unterscheiden sich hier als Annahmen, die entweder primär oder ausschließlich für eine weitere Annahme oder aber primär oder ausschließlich für eine zu realisierende Absicht sprechen. Eine theoretische Überlegung dient der Gewinnung oder Sicherung einer Einsicht, wie etwas ist. Eine praktische Überlegung dient der Gewinnung oder Sicherung einer Einsicht, wie etwas sein – und wie man entsprechend handeln – sollte. In beiden Fällen aber geht es um die möglichst triftige Rechtfertigung einer jeweiligen Einsicht – und darum, dieser Einsicht im weiteren Denken und Handeln zu folgen. Es kommt also im Denken wie im sonstigen überlegten Handeln auf die Gewinnung möglichst effektiver Beweggründe an: auf Gründe, die einen tatsächlich und zum absehbar Besten leiten. Hierin liegt der Kern von Hegels These, dass Denken und Wollen in der Fähigkeit des Begründens eine gemeinsame Wurzel haben. Mit beiden Arten von Einsichten – theoretischen wie praktischen – nämlich legen wir uns auf vielfältige und für uns manchmal unübersehbare Konsequenzen fest: auf Folgerungen, die zu ziehen, und auf Handlungen, die auszuführen sind.

Dabei ist Logik basal, aber Logik ist nicht alles. Nur in einfachen Fällen vollzieht sich das Überlegen in der Form einer Deduktion aus feststehenden Prämissen. Andere Schlussformen sind bereits deutlich komplexer. Aber das Finden triftiger Gründe ist gar nicht eine Angelegenheit schlussfolgernder Operationen allein. Es ist auf Wahrnehmung ebenso angewiesen wie auf Imagination, etwa wenn es darum geht, zu ermitteln, was überhaupt lohnende Ziele oder gangbare Wege des Handelns sind. Es ist auf genaue Beschreibung ebenso angewiesen wie auf angemessene Bewertung, aber auch darauf, sich über das eigene Befinden klar zu werden. Häufig mündet es in eine Abwägung von Gründen, die darauf zielt, das alles in allem beste Argument, die alles in allem beste Handlung, die alles in allem günstigste Lebensweise auszuzeichnen. Da eine Person, die überlegt, aber nie alles und nur selten mit Sicherheit alles Relevante im Blick hat, bleibt das Überlegen in den anspruchsvolleren Fällen ein kreativer Vorgang, in dem Gründe nicht nur gefunden, sondern zugleich gebildet werden. In dem Aphorismus Lücken aus den Minima Moralia hat sich Adorno deshalb gegen eine allzu geradlinige Vorstellung vom Denkprozess gewandt. »Erkannt wird vielmehr in einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen, kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen transparenten Erfahrung.«[10]

Zwar spricht Adorno hier von einer philosophischen Erkenntnis, die sich nicht deduktiv aus vorgängigen Gewissheiten ergibt, aber das Resultat lässt sich verallgemeinern: Überlegt wird in einem keineswegs an allen Stellen transparenten Zusammenhang von Anschauungen, Kenntnissen und Präferenzen, mit dem Ziel zu erkunden, was für oder gegen bestimmte – nicht selten erst im Prozess des Überlegens zu bestimmende – Optionen spricht. Deswegen sprechen wir ja von Urteilsbildung. Es liegt in der Macht des Überlegens, sich zu einem theoretischen oder praktischen Problem ein wenigstens vorläufig abschließendes Urteil zu bilden. Aber dieses Urteil darf nicht willkürlich gebildet sein. Es muss sich konsistent zu den Annahmen verhalten, die es stützen, Annahmen, die ihrerseits in weitgehender Übereinstimmung mit der übrigen Praxis des Überlegenden stehen sollten. Andernfalls ist es kein guter Grund. Andernfalls kann es den Überlegenden nicht verlässlich binden. Andernfalls kann es den Überlegenden nicht in der gewünschten Weise bewegen.

Im Prozess des Überlegens werden Gründe geprüft, entwickelt und manchmal erfunden; sie werden generiert und aktualisiert, kritisiert und korrigiert – und dies in der Suche nach Stellungnahmen, die in Bezug auf eine bestimmte Sache oder Situation alles in allem den Ausschlag geben können.[11] Die Fähigkeit zu überlegen wird hieran erkennbar als die Fähigkeit, sich durch Gründe bestimmen zu lassen. Die so gewonnenen Gründe sind mit dem Anspruch verbunden, jeweils gute Gründe zu sein: solche, von denen auch andere sich müssten überzeugen lassen können, solche, die tatsächlich für oder gegen das sprechen, wofür oder wogegen sie zu sprechen scheinen. Es gehört zu der Natur von Überzeugungen, dass die, die sie haben, glauben oder doch hoffen, sie seien wahr. Weil sie dies glauben, vermuten oder doch hoffen, sind sie in ihren Überzeugungen ansprechbar durch die Einrede von anderen, die dieses Wahrsein in Zweifel ziehen, aber auch bestätigen können. Deswegen können wir uns nicht allein von etwas überzeugen, sondern uns auch von etwas überzeugen lassen. Genau betrachtet aber gehen der passive und der aktive Aspekt des Überlegens überall zusammen, wo immer wir überlegend tätig sind. Sich zu überzeugen heißt, sich überzeugen zu lassen; sich überzeugen lassen aber kann nur, wer selbst überlegend tätig ist.

Als Überlegende sind wir dabei in vieler Hinsicht abhängig: von unserem Informationsstand, von den Sprachen, die wir sprechen, von den Präferenzen, die uns leiten und davon, wie die übrige Welt ist. Eben diese Abhängigkeiten aber sind eine Bedingung jener Unabhängigkeit von bestimmten dieser Bindungen, die wir im Überlegen gewinnen können. Wir lösen uns von ihnen, indem wir uns an anderen festhalten. Durch eigenes Nachdenken können Überlegende ihre Lebensbedingungen moderieren und modifizieren, indem sie Möglichkeiten des Denkens wie Handelns in Rechnung stellen, die ihnen vor dem Überlegen so nicht vor Augen gestanden oder die, wie es manchmal der Fall ist, vor dem Überlegen noch gar nicht bestanden haben. Alles Überlegen ist sich öffnen für Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Es vollzieht sich als ein abwägendes Sondieren unter ihnen, das, wenn die Überlegung ihr Ziel erreicht, zu einer abschließenden Stellungnahme fortgeführt wird, die den Grund dafür abgibt, sich so oder anders zu verhalten.

5.

Was aber ist der Status dieser Stellungnahmen? Wie stehen sie zu dem, was im Prozess der Überlegung geschieht? Wenn wir zurückdenken an das von Searle interpretierte Urteil des Paris, sehen wir, wie viel von einer Beantwortung dieser Frage abhängt. Denn es ist dieser Punkt, an dem sich die vermeintliche Lücke zwischen Überlegung und Festlegung auftut. Folglich ist es dieser Punkt, an dem gezeigt werden muss, dass der Gedanke einer solchen Lücke die Sache des Denkens und Entscheidens verfehlt.

Man darf sich die Festlegung im Überlegen nicht, wie Searle und andere es tun, als einen Akt der Wahl vorstellen. In einen solchen Akt würde das Überlegen münden, wenn das Resultat der Überlegungen am Ende noch einmal konfirmiert, wenn es mit einem zusätzlichen Ja oder Nein besiegelt werden müsste – wenn es einer gesonderten Stellungnahme zum Überlegten bedürfte, um die Überlegung wirksam werden zu lassen. Folgen wir dieser Vorstellung, so betreten wir das Gedankengebäude, das in der neueren Philosophie auf den Namen eines »Cartesischen Theaters« hört. In diesem Szenario wird das Überlegen als eine Art Bühnenschauspiel verstanden, das einer im Zuschauerraum sitzenden Instanz zur Beurteilung anheimgegeben ist. Das überlegende Ich erscheint hier als ein überlegenes, gleichsam Regie führendes Ich, das nach dem Durchlauf aller Gründe seinen geistigen Daumen hebt oder senkt. Die letzte Entscheidung obliegt ihm, nachdem alle Gründe abgewogen sind. Das Drama der Gründe erscheint hier nur als das Vorspiel zur eigentlichen Festlegung, zum eigentlichen Akt eines freien Urteils oder einer freien Entscheidung.

Damit aber sind wir im falschen Film. Denn er gibt ein höchst irreführendes Bild des Denkens. Dieses ist nicht ein inneres Beobachten von Gründen, sondern ein Sichfestlegen im Zuge ihres Gebrauchs – ihrer Aktualisierung und Mobilisierung, ihres Auffindens und Abwägens. Es gibt im Überlegen kein blankes Ja oder Nein. Ein solches abgehobenes Ja oder Nein bezeichnet vielmehr gerade den Widerpart des Überlegens – nämlich ein Reagieren unter Absehung von Gründen. Überlegte Urteile und Entscheidungen ergeben sich vielmehr aus den Gründen, die für oder gegen diese oder jene Festlegung sprechen. Da diese Gründe im Prozess des Nachdenkens selbst Stellungnahmen sind, muss nicht zu ihnen noch einmal Stellung genommen werden – und dies darf auch nicht geschehen, wenn sie ihr Gewicht als Gründe behalten sollen. Gründe von Gewicht und Wirkung gibt es nur dadurch, dass sie von denen, die sie berücksichtigt oder entwickelt haben, gedacht werden. Denken ist ein gerichteter Prozess, der darin zum Abschluss kommt, dass ein Urteil vollzogen wird. Der Vollzug eines eigenen Urteils ist nichts anderes als der eigene Vollzug des Urteils, die Ausbildung eines eigenen Vorsatzes nichts anderes als die eigene Ausbildung eines Vorsatzes. Der Vollzug dieser Festlegungen ist die Stellungnahme, um die es im Prozess des Denkens geht – eine Festlegung, die, solange sich ihre Autoren rational verhalten, ihr künftiges Meinen und Wollen bindet.

Wir müssen uns also von dem Mythos der Stellungnahme verabschieden: von dem Mythos einer Stellungnahme, die ein rationales Subjekt in Distanz zu seinen eigenen Erwägungen vollziehen könnte. Diese Distanz gibt es im Überlegen nicht. Denn nur überlegend kann man sich von bestimmten seiner Überlegungen distanzieren (wenn man sie nicht vergessen, ignorieren oder einfach von ihnen absehen will). Das Überlegen lässt keinen Raum für den Sonderakt einer abgehobenen Stellungnahme zu seinen Resultaten. Keine Stellungnahme ist möglich, mit der wir uns über unser Erleben und Bestreben, über unsere Affekte und Affinitäten, über unsere Motive und Gründe – über das im Ganzen intransparente Geflecht unseres Denkens – erheben könnten. Aber das ist auch gut so. Denn anders könnte das Überlegen gar nicht wirksam sein: Es könnte die Person, die überlegt, nicht in die eine oder andere Richtung lenken. Es könnte gerade das nicht, was nur das Überlegen kann: aus einer Vielfalt von im Denken darstellbaren und bewertbaren Möglichkeiten auf eine nichtbeliebige Weise diejenigen aussuchen, die aus der Sicht der jeweils Denkenden – und günstigenfalls nicht allein aus ihrer – die besten sind.

Ein Schatten dieses Mythos liegt noch über der »Ja/Nein-Stellungnahme«, die Tugendhat und Habermas in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Heidegger und Gadamer entgegengehalten haben, so als gäbe es einen Akt der Autonomie innerhalb des Überlegens.[12] Zwar ist es irreführend, wenn Gadamer in Wahrheit und Methode mit einer vieldeutigen Metapher behauptet, »die Selbstbesinnung des Individuums« sei »nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis geschichtlichen Lebens.«[13] Wie Tugendhat und Habermas zu Recht monieren, fehlt dieser flackernden Orientierung ein entscheidendes Moment der Besonnenheit, dasjenige nämlich, selbst abwägen und selbst entscheiden zu können, was richtig und falsch ist. Geschichte, Tradition, sprachlicher Bedeutungszusammenhang und kulturelle Praxis allein können das begründete subjektive Urteil nicht liefern. Die Bestimmtheit einer überlegten Festlegung verdankt sich einer überlegenden Bestimmung. Doch diesen Akt der Autonomie gibt es nur in und mit dem Prozess der Überlegung, der in eine theoretische oder praktische Stellungnahme mündet. Daraus folgt aber zugleich, dass es nicht der Vorgang der Stellungnahme ist, der durch meine Korrektur in Frage gestellt wird. Es verhält sich vielmehr mit der Zurückweisung des Mythos der Stellungnahme wie mit Davidsons Kritik an dem »Mythos des Subjektiven«.[14] Nicht das Subjektive wird bei Davidson und anderen nachcartesischen Philosophen diskreditiert, sondern lediglich eine Deutung, die ihm den Status einer exklusiven Quelle von Wissen und Gewissheit verleiht. So wie die Verabschiedung des Mythos des Subjektiven die Autorität der ersten Person intakt lässt, so lässt auch die Verabschiedung des Mythos der Stellungnahme die Autorität der subjektiven Stellungnahme intakt: Wer fähig ist zu überlegen, ist fähig, selbstbestimmt, nämlich aus eigenem Urteil zu handeln.[15]

6.

Eine Person, die dies kann, ist, soweit sie es kann, in ihrem Tun und Lassen frei. Sie kann selbst festlegen, was in ihrem Denken und Handeln richtig ist. Sie kann sich selbst korrigieren oder sich von anderen korrigieren lassen in dem, was sie für wahr und richtig hält. Ihr ist die Besonnenheit gegeben, mit Möglichkeiten zu spielen, bevor sie eine von ihnen ergreift. Sie kann sich durch ihre Gründe im Denken und Handeln binden. Es ist ihr gegeben, sich eine Richtung zu geben. Sie kann sich bestimmen lassen und doch zugleich sich bestimmen lassen.[16]

Was wir Freiheit nennen, mit anderen Worten, ist ein spezifisches Können – eben dasjenige, das wir in Prozessen des Überlegens bemühen und in Prozessen des gelingenden Überlegens auf besondere Weise beweisen. Alles freie Handeln ist mit diesem Können verbunden, auch wenn es oft nicht auf eine merkliche oder aufwendige Weise aktiviert werden muss. Jenseits rein reflexhafter Reaktionen gibt es viele Verhaltensweisen, die nicht die Form eines überlegten, geschweige denn überlegenden Handelns haben, die aber den jeweiligen Akteuren dennoch als absichtliche Handlungen zugerechnet werden, die sie auch hätten unterlassen können. Eine Klasse stellen Routinehandlungen wie die Betätigung der Gangschaltung im Auto dar, die so eingeübt sind, dass sie von keiner Überlegung gesteuert werden müssen. Eine andere Klasse bilden willkürliche Aktionen, die »einfach so« ausgeführt werden, ohne dass eine aktuelle oder vergangene Überlegung dahinter stünde – Aktionen, von denen Handelnde je nach Kontext mit gutem oder schlechtem Gewissen im Nachhinein sagen können, »Ich habe es einfach mal probiert« oder »Ich habe mir nichts dabei gedacht«. Diese Aussagen – und die entsprechenden Vorwürfe, auf die sie manchmal antworten – haben aber nur Sinn bei Akteuren, die sich vor ihren oder während ihrer Handlungen etwas hätten denken können. In seinem Tun und Lassen frei ist nur, wer sich dabei etwas – zumindest – hätte denken können. In diesem Sinn ist es die Fähigkeit zu überlegen, die uns die Freiheit des Denkens und Handelns verleiht. Wie klug oder unklug, überlegt oder unüberlegt wir im Einzelnen auch handeln mögen, uns selbst zurechnen können wir unser Verhalten nur, wo wir es aus der Kraft unseres Überlegens hätten ändern können. Nur wo diese gegeben ist, können wir uns selbst und anderen sagen: Wir hätten besser nachdenken oder besser richtig nachdenken sollen.

In ähnlichen Worten hat schon Aristoteles die Handlungsfreiheit beschrieben, wenn er im dritten Buch der Nikomachischen Ethik sagt, der Vorsatz sei »ein mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen, die in unserer Macht stehen«.[17] Jedoch ging es in meiner Betrachtung nicht nur um die Freiheit des äußeren Handelns, sondern generell um die Fähigkeit zu überlegen, die nach einer auch heute verbreiteten Ansicht die Quelle für das ist, was wir unter Willensfreiheit verstehen. Wie aber, so muss man an dieser Stelle fragen, steht es um den Prozess des Überlegens selber? Was hilft uns diese Fähigkeit, wenn sie ihrerseits der Ausdruck eines Determiniertseins ist, sei es durch vorausliegende soziale Konventionen, sei es durch reflexiv unerreichbare psychische Faktoren, oder eben, nach den neuesten Angriffen auf die Souveränität des Geistes, durch das neuronale Geschehen, das alles Denken bedingt? Dies ist eine alles andere als harmlose Frage. Denn sie weist darauf hin, dass wir einen ernstzunehmenden Begriff der Freiheit – und also des Geistes – nur entwickeln können, wenn es möglich ist, das Überlegen selbst auf eine einsichtige Weise als frei zu charakterisieren. Das ist die Stelle, an der Lückentheoretiker und andere Indeterministen die Chance für ihren Auftritt wittern. Denn wie sollte das Überlegen frei sein können, wenn es sich in deterministischen Naturprozessen realisiert?[18] Wie also kann Freiheit überhaupt als ein Geschehen gedacht werden, das sich im Einklang mit der Physiologie, Soziologie und Psychologie menschlicher Denkprozesse vollzieht? Wie sollte das Überlegen frei sein können, wenn ihm kein Heraustreten aus den anonymen Verläufen der natürlichen und sozialen Welt sowie den eigenen Prädispositionen möglich sein sollte?

Ich möchte nicht schließen, ohne eine Antwort auf diesen Einwand gegeben zu haben. Meine Erwiderung lautet, dass das Denken und mit ihm der Geist aus gar nichts heraustreten muss, um bei seinen Möglichkeiten zu bleiben. Weder seine natürlichen noch seine sozialen und psychischen Determinanten kann es verlassen. Es kann sich aber auf sich verlassen: auf seine Bestimmbarkeit und Bestimmtheit, mit der es den Gang der Dinge und somit den Lauf der Welt zu verändern vermag.

Gewiss, auch das Denken kann zwanghaft und darin unfrei sein. »Du redest der Spur nach«, bekommen wir in harmloseren Fällen zu hören, wenn wir als eigene Überlegung ausgeben, was dem Gerede von anderen nachgeplappert ist, oder wenn wir in einem Disput einfach irgendetwas sagen, nur um überhaupt etwas gesagt zu haben. Ernster sind Fälle des Dogmatismus und der Manipulation, in denen unantastbare Prämissen wirksam sind, die im Denken mit einfältiger bis wahnwitziger Konsequenz ausgebeutet werden. Auch hier wird überlegt, aber es wird nicht frei überlegt. Paradox könnte man von »unüberlegtem« Überlegen sprechen, worin sich erneut zeigt, dass »Überlegen« ein normativer Begriff ist. Es bezeichnet ein Vermögen, das unter Niveau oder auf Niveau genutzt werden, das zur rechten Zeit oder zur Unzeit aktiviert oder deaktiviert sein kann; ein Vermögen, mit dem wir den Anspruch verbinden, es auf findige und bündige – nicht aber auf starre oder uferlose – Weise zu nutzen. Wie aber lässt sich beides unterscheiden? Hilfreich wäre hier ein Kriterium, das ohne eklatante Zirkularität eine liberale gegenüber einer illiberalen Denkungsart auszeichnen könnte. Wie jedoch könnte ein Kriterium lauten, das »überlegtes« von »unüberlegtem«, zwanghaftes von nicht-zwanghaftem, automatisiertes von nicht-automatisiertem, verknöchertes von beweglichem, erstarrtes von lebendigem Überlegen scheidet?

Frei, so möchte ich sagen, ist ein Überlegen, das zu jeder der Möglichkeiten, auf die es sich verlegt, ernsthaft eine Alternative ins Auge fassen kann, ohne auf das Entwickeln solcher Alternativen fixiert zu sein. Ein freies Überlegen ist nicht darauf angewiesen, sich durch das Erwägen immer weiterer Alternativen zu überbieten; dies wäre nur eine weitere Form der Pathologie. Aber es könnte sich überbieten; es könnte in weitere Richtungen gehen. Es könnte nicht allein phantasierend, sondern ernsthaft Möglichkeiten in Betracht nehmen, die dem Meinen und Machen eine andere Richtung geben würden.[19] Es könnte dies tun, um die Richtigkeit seiner Überlegungen auf die Probe zu stellen – insbesondere das Gewicht der Gründe, die bislang den Ausschlag gegeben haben. Weil es das könnte, hat es Spielraum gegenüber sich selbst, ohne sich in diesem Spielraum zu verlieren; es kann sich festlegen, ohne sich nur auf das festlegen zu müssen, worauf es sich gerade verlegt. Dieser Prozess – wir können uns überlegend so oder so festlegen – ist es, worin die menschliche Freiheit ihre Basis hat. Sie hat ihre Basis in dem Vermögen einer nicht alternativlosen Festlegung der Richtung unseres Denkens und Handelns: einer Festlegung, die, hätten wir anders (oder auch nur zu einer anderen Zeit) überlegt, auch anders hätte ausfallen können.

In einem solchen Überlegen finden, schaffen und haben wir Möglichkeiten des Tuns und Lassens, auf die wir uns mit Gründen verlegen können. Nichts anderes ist der Sinn von Freiheit: Möglichkeiten wahrzunehmen in der doppelten Bedeutung des Wortes – sie zu erkennen und sie zu ergreifen. Die Freiheit im Überlegen erlaubt es, Zustände der Welt und des Lebens hypothetisch zu variieren und zu evaluieren. Wer überhaupt überlegen kann, ist fähig, sich im Möglichen zu bewegen und von ihm sich bewegen zu lassen. Solange ich überlege, habe ich alternative Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Nach Maßgabe meiner Gründe kann ich mich hiervon oder davon überzeugen und hierfür oder dafür entscheiden. Nachdem ich überlegt und entschieden habe, habe ich alternative Möglichkeiten gehabt. Ich hätte anders überlegen oder das Überlegen sein lassen können. Zwar hätte, wenn wir annehmen, dass die Welt – und mit ihr das Gehirn – ein kausal geschlossenes System darstellt, unter den genau gleichen Bedingungen alles nicht anders ablaufen können. Aber was hätte nicht anders ablaufen können? Das Überlegen. Dieses jedoch ist dadurch charakterisiert, dass in ihm, aus der Perspektive der Überlegenden, ein Spektrum von Möglichkeiten auf eine prinzipiell unvorhersehbare Weise zur begründenden Abwägung steht. Wer überlegt, hat demnach Möglichkeiten des Reflektierens und Reagierens, die weder der Apfel, der auch etwas kann, nämlich vom Baum fallen, noch die Fledermäuse mit ihrer erstaunlichen Bewegungsfreiheit haben. Wer überlegt, hat die geistige Beweglichkeit jener Lebewesen, die sich im Denken orientieren können.

Diese Innenperspektive einer reflexiven und kommunikativen Teilnahme am geistigen Leben aber ist, wie ich von Beginn an zu zeigen versucht habe, ganz unumgänglich. Sie ist eine Voraussetzung aller menschlichen Praxis und daher aller – geistes- wie naturwissenschaftlichen – Wissenschaft vom Menschen. Wir können uns nicht und sonst nichts verstehen, wenn wir uns nicht als zur Freiheit befähigt verstehen. Es ist diese Freiheit, die Philosophie und Wissenschaft immer und überall in Anspruch nehmen müssen. Es ist diese Freiheit, die den Quellgrund dessen darstellt, was bei Hegel subjektiver wie objektiver Geist heißt. Es ist diese Freiheit, die die Welt als einen kulturellen Raum aktualer und potentieller Gründe plastisch werden lässt. Wenn aber sich auf Gründe zu verstehen zugleich bedeutet, sich als frei zu verstehen, so ergibt sich eine weitere Konsequenz: Nur wer sich als frei versteht, vermag es, sich durch die neuronalen Prozesse seines Gehirns als determiniert zu erkennen. Denn nur wer auf die beschriebene Weise durch sein und in seinem Überlegen frei ist, vermag überhaupt zu erkennen.

Freilich könnte dieser Schluss von »sich als frei verstehen« auf »frei sein« illegitim erscheinen. Schließlich ist er gerade im Alltag manchmal nicht gültig. »Ich glaubte, frei zu handeln«, kann ich im Rückblick auf mein Verhalten sagen, »stand aber völlig unter dem Einfluss von X«, sei X nun ein Guru oder ein anderes Suchtmittel. Aus diesem Umstand folgt aber keineswegs, dass es sich generell so verhält, ja nicht einmal, dass es sich generell so verhalten könnte. Denn dass alles Verstehen und mit ihm alles Sich-als-frei-Verstehen illusionär sein könnte, ist selbst kein verständlicher Gedanke, da dann auch dieser Gedanke unter dem von ihm selbst formulierten Vorbehalt stehen müsste. Es lässt sich nicht konsistent behaupten, dass alles Verstehen mit Notwendigkeit illusionär ist.[20] Wer das Verstehen – und die ihm zugehörige Freiheit des überlegenden So-oder-anders-Verstehens – generell unter Illusionsverdacht stellt, stellt sein eigenes Denken und mit ihm die eigene Erkenntnis unter Verdacht. An dieser Stelle bricht der Stab eines eilfertig nach Kriterien der naturwissenschaftlichen Objektivierung zurechtgebogenen Denkens. Hier zeigt sich die Autonomie des Überlegens gegenüber allen Versuchen einer heteronomen Beschreibung. Als Überlegende sind wir Teilnehmer an einer intersubjektiven oder für intersubjektive Kritik offenen Praxis, die wir nicht zugleich unter die Beobachtung einer externen Perspektive stellen können.[21] Und auch die Beobachter dessen, was in Prozessen des Erlebens und Überlegens auf psychologischer oder neuronaler Ebene geschieht, sind ihrerseits Teilnehmer an dieser Praxis und bleiben dies, solange sie ihre Forschung mit seriösen Mitteln, d.h. auf nachprüfbare Weise verfolgen. Wie die alltäglich Handelnden vertrauen sie darauf, dass es einen Unterschied macht, ob sie und wie sie sich in ihrem Überlegen orientieren. Sie vertrauen darauf, etwas zu können, was sie nur so realisieren können, dass sie ihren Überlegungen folgen. Sie realisieren dieses Können eben dadurch, dass sie überlegen – dass sie sich die Freiheit nehmen, aus eigener Abwägung so oder anders zu verfahren. Ein Können aber, das realisierbar ist und Realisierung findet, ist eine Tatsache und schafft Tatsachen, die sich durch keinen Jargon der Eigentlichkeit – durch kein Gerede darüber, was eigentlich geschieht, wenn Menschen miteinander reden – aus der Welt schaffen lassen.

Die menschliche Natur, aber nicht allein diese, so möchte ich resümieren, hat es an sich, dass sie nicht allein einer Weise ihrer zutreffenden Beschreibung und Aufklärung offen steht. »Wer aus der Natur ausschert«, habe ich am Ende von Abschnitt 3 plakativ gesagt, schert aus der »Domäne des Geistes« aus. Jetzt möchte ich nicht minder plakativ hinzufügen: Wer die Domäne des Geistes verlässt, gibt die Möglichkeit verlässlicher Erkenntnis auf. Wer das historisch erworbene Selbstverständnis der Menschen zugunsten einer ihm äußerlichen Beschreibungsweise auflöst, schert auch aus dem naturwissenschaftlichen Verständnis vom Menschen aus. Er verliert den Kontakt zu dem Gegenstand seines Verstehens. Jedoch dürfte es dazu kaum kommen. Denn eine plausible naturwissenschaftliche Beschreibung des Menschen setzt einen anspruchsvollen Begriff der Freiheit ebenso voraus, wie ein plausibler Begriff der Freiheit ein anspruchsvolles Verständnis der naturalen Bedingtheit geistiger Prozesse zur Voraussetzung hat.

2.Kenntnis und Erkenntnis. Zur Bestimmtheit in Sprache, Welt und Wahrnehmung

1.Arten des Erkennens

Erkennen kann und Erkenntnis hat nur, wer hinsichtlich der Objekte seines Erkennens etwas auszumachen vermag. Damit es aber zu Erkenntnis kommt, darf das, worauf es in ihr ankommt, nicht einfach irgendetwas, es muss etwas Bestimmtes sein. Baum und Katze beispielsweise müssen von einander unterschieden werden, wenn die Katze auf dem Baum gesichtet werden soll. Erkennen in seiner elementaren Bedeutung heißt auseinander halten: Wer Baum und Katze nicht auseinander halten kann, wird die Katze nicht jagen und den Baum nicht anbellen können, auf den die Katze geflohen ist. Je nach Interessenlage, so zeigt dieses Beispiel, werden erkennende Wesen unterschiedliche Dinge auseinander zu halten versuchen: Katzen und Bäume sind nicht in jedem Kosmos so bedeutend wie in dem eines Hundes, der in den Vorstädten dieser Welt sein Leben verbringt. Womit nicht gesagt sein soll, dass ein Hund Katzen und Bäume auseinander halten könnte; ihm reicht es – und daher reicht es bei ihm nur dazu –, jeweilige Katzen von jeweiligen Bäumen zu unterscheiden, wenn beides sich im Feld seiner Witterung auf eine attraktive Weise bemerkbar macht. Wer einen Baum von einer Katze zu unterscheiden weiß, kann noch lange nicht Bäume von Katzen unterscheiden; denn dazu braucht es allgemeine Begriffe, wie sie nur bestimmten Unterscheidern zur Verfügung stehen: solchen, die bestimmen können, was ihnen in den Sinn oder vor die Sinne kommt; solchen, die angeben können, wie es sich mit etwas verhält; solchen, die festhalten können, was ihnen unterkommt, indem sie sagen, dass es so und so ist oder war. Es dürfte eine wichtige kognitive Wasserscheide zwischen denjenigen Lebewesen liegen, die unterscheiden, und denen, die darüber hinaus Unterscheidungen treffen und sich folglich durch die Anwendung ihrer Unterscheidungen unterscheiden können.[22]

Die Fähigkeit, etwas Bestimmtes wahrzunehmen, bedeutet also noch nicht, zu einer Bestimmung dessen fähig zu sein, was man wahrgenommen hat. Entsprechend lässt sich der Erkenntnisbegriff weit oder eng fassen: so, dass er lediglich die Kompetenz betrifft, diverse Umstände wahrnehmend und denkend auseinander zu halten, oder so, dass er darüber hinaus die Kompetenz verlangt, etwas mit begrifflicher Bestimmtheit – oder in einem Zusammenhang mit ihr – auseinander zu halten. In dieser zweiten, engeren Bedeutung werde ich im Folgenden über Erkenntnis sprechen. Dabei ist die Qualifikation wichtig, dass Erkenntnis in diesem Sinn nach begrifflicher Artikuliertheit oder wenigstens nach einem Zusammenhang mit ihr