Spiele der Sprache - Martin Seel - E-Book

Spiele der Sprache E-Book

Martin Seel

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Beschreibung

Ein Buch über Spiele der Sprache darf selbst ein Spiel mit ihr sein: Der Frankfurter Philosoph Martin Seel liefert mit »Spiele der Sprache« ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, die Rolle der Sprache innerhalb der menschlichen Welt aus der gleichberechtigten Vielfalt ihrer Gebrauchsweisen zu verstehen. Dieser Maxime folgend bedient er sich auf seiner Reise durch die Landschaft der Sprachphilosophie verschiedener Möglichkeiten, das Spiel der Sprache zu spielen: Argumentation, Erzählung, Improvisation. Dabei lässt er verschiedene Denker und philosophische Traditionen in Dialog miteinander treten – von Herder über Humboldt bis Wittgenstein, von romantischen über analytische, pragmatistische und phänomenologische bis hin zu dekonstruktiven Auffassungen – und nimmt so eine Korrektur ihrer wechselseitigen Blindheiten vor. Ein virtuos komponierter Versuch über die »Spiele der Sprache«, der vergegenwärtigt, was das sprachliche Leben bewegt und wie alle, die es führen, von ihm bewegt werden.

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Seitenzahl: 411

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Martin Seel

Spiele der Sprache

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Rolle der Sprache innerhalb der menschlichen Welt aus der gleichberechtigten Vielfalt ihrer Gebrauchsweisen zu verstehen: Das weit ausgreifende Buch von Martin Seel folgt dieser Maxime auf spektakuläre Weise. Der Autor inszeniert einen virtuosen Dialog zwischen einander widerstreitenden Philosophien der Sprache und des Geistes, um ihre Grenzen ein ums andere Mal zu überschreiten. Der erste Teil erzählt von zentralen Episoden der Geschichte des Sprachdenkens seit dem 18. Jahrhundert. Der zweite Teil argumentiert, Wittgenstein gegen den Strich beim Wort nehmend, für einen von irreführenden Hierarchien befreite Theorie sprachlicher Bedeutung. Der dritte Teil improvisiert über die bis dahin gesammelten Motive, um die Tiefen und Untiefen der durch Sprache geformten Wirklichkeiten des Spürens, Denkens und Handelns auszuloten. Ein Buch über Spiele der Sprache, so zeigt sich, darf selbst ein Spiel mit ihr sein.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. Fischer sind erschienen »Paradoxien der Erfüllung« (2006), »Theorien« (2009), »111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue« (2011), »Die Künste des Kinos« (2013), »Aktive Passivität« (2014), »›Hollywood‹ ignorieren. Vom Kino« (2017) sowie »Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele« (2018). 

Inhalt

Auftakt

Vorwort

I. Vorgeschichten

1. Ursprünge

2. Poesie und Prosa

3. Sprache und Denken

4. Teil und Ganzes

5. Macht und Gegenmacht

6. Sinn und Zweck

7. Wittgenstein

II. Wittgensteins Gedanke

Eine erste Auslegung

Eine erweiterte Auslegung

Funktionen der Rede

Ein anderes Bild

Regeln und ihre Grenzen

Eine systematische Auslegung

Auf der Kippe

III. Nachbetrachtungen

Gesten

Stimmen

Musik

Künste

Vernehmen

Denken

Handeln

Rationalität

Freiheit

Demokratie

Siglen

Literatur

Personenregister

Auftakt

Spiele der Sprache sind Spiele mit ihr.

 

Wir spielen ihr Spiel, indem wir unseres spielen.

 

So ist das mit Spielen. Man kann sie nicht spielen, ohne im Spiel zu sein. Man kann sie nicht spielen, ohne von ihnen bewegt zu werden. Man kann sie nicht spielen, ohne sich aufs Spiel zu setzen.

 

Sprache ist kein Gesellschaftsspiel wie jedes andere. Wir haben keine Wahl: Dieses eine Spiel müssen wir spielen.

 

Spiele der Sprache spielt man nicht allein, selbst wenn man sie alleine spielt.

 

Erst eine Vielzahl von Sätzen und Satzarten verleiht einem Satz einen Sinn.

 

Die Spiele der Sprache sind Spiele der Sprachen. Allein eine Sprache wäre noch keine.

 

In den Spielen der Sprache geht es darum, wie die Welt uns etwas angeht. Ginge sie uns nur in einem Sinn etwas an, ginge sie uns gar nichts an.

 

Die Spiele der Sprache sind das Spiel, das uns zu Lebewesen macht, die in ihrem Denken und Handeln einen Spielraum zu ihrem Denken und Handeln haben.

 

Der Einsatz in diesem Spiel sind Sätze – solche, die wahr oder falsch, angebracht oder daneben, stimmig oder störend sind. Wer sich auf die in Sätzen enthaltenen Gedanken versteht, weiß sich Gedanken über eigene und fremde Gedanken zu machen. Der Einsatz in diesem Spiel sind Sätze über Sätze.

 

Satz und Gegensatz gehören zusammen.

 

Mit sich einstimmig kann nur denken, wer auf vielerlei Stimmen hört. Rationalität ist keine Partitur für einen Solopart, sondern für einen gemischten Chor.

 

Die gleichen Sätze können Verschiedenes und verschiedene das Gleiche sagen.

 

Sprachen lassen sich nicht übersetzen – die meisten in ihnen gebildeten Sätze aber schon.

 

Nachbilden oder Neuerfinden: Übersetzen ist entweder ein Handwerk oder eine Kunst (oder eine Kombination von beidem). Freiheiten müssen sich beide Arten des Übersetzens nehmen.

 

Viele Sätze einer Sprache lassen sich an der Stelle ihrer Verwendung ohne Verlust ersetzen – viele andere jedoch nicht.

 

Sobald es auf die genaue Anordnung genau dieser Wörter in einem Satz ankommt, ist kein einziger Satz durch einen anderen vollständig ersetzbar.

 

In der Natur geht alles seinen gesetzlichen Gang, in der Sprache hingegen nicht, weswegen sie ihren Angehörigen die Freiheit lässt, ihrem Tun und Lassen einen unbestimmten Verlauf zu geben.

 

Unsere Sätze binden uns und geben uns frei.

 

Das Füllhorn der Sprache ist zugleich eine Büchse der Pandora. Die Übel, die dieser entspringen, sind eine Mitgift der Wonnen, die jenes enthält.

 

Spiele um Macht und Spiele um Wahrheit – beides hält die Sprache bereit.

 

In Spielen der Sprache kann man vielerlei gewinnen und verlieren: Wortgefechte, Argumente, Einsicht, Klarheit, Zweifel, Zuspruch, Ruhm, Wahlen, Macht, Menschen, Herzen, Nähe zum Getriebe der Welt und Abstand zu ihm.

 

Spiele der Sprache sind keine Gewinnspiele; der Gewinn besteht darin, sie so oder anders spielen zu können.

 

Die Spiele der Sprache orchestrieren unser Kennen und Können noch dort, wo ihre Worte stummgestellt bleiben.

 

Die Spiele der Sprache sind keine Spiele mit Worten allein. Gesten, Rhythmen und Klänge nehmen am Spiel der Sprache teil. Zum Dank hierfür erteilt das Regime der Sprache ihren nonverbalen Mitstreiterinnen außerhalb und innerhalb der Künste den Segen für ein vom Sagen unabhängiges Dasein.

 

Die Musik der Sprache ist eine andere als das Sprechen der Musik.

 

Spiele der Sprache sind nichts Exotisches. Ihre alltäglichen Kapriolen sind der Nährboden auch ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Früchte.

 

Wer über die Sprache spricht, spricht von der Welt, von der sie spricht.

 

Wer über die Spiele der Sprache spricht, hat Lizenz, ihre Spiele zum Sprechen zu bringen.

 

Ein Buch über Spiele der Sprache darf ein Spiel mit ihr sein.

Vorwort

»Immer ein Glück für den Dichter, und ein Unglück für den Weltweisen, daß die ersten Erfinder der Sprache nicht Philosophen und die ersten Ausbilder meistens Dichter gewesen sind. Und eben so ein Glück für den Prosaisten, und ein Unglück für den Weltweisen, daß das Reich einer lebendigen Sprache, Demokratie ist; das Volk regiert, und duldet keine Tyrannen: der Sprachgebrauch herrscht und ist schwer zu bändigen.«

Diese Sätze schreibt der vierundzwanzigjährige Johann Gottfried Herder im Jahr 1768 in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur. Es sind drei Gestalten, die Herder hier auftreten lässt. Der Dichter spricht eine vieldeutige und ungezügelte Sprache, die sich nicht an die Regeln der Grammatiker hält. In der Rolle des »Weltweisen« verlangt der Philosoph eine jederzeit klare und eindeutige Sprache. Zwischen ihnen steht der »Prosaist« als Vertreter der Umgangssprache, dessen Rede sich aus beiden Quellen der Sprache speist, obwohl weder die überschäumenden Energien der Dichtung noch der asketische Diskurs der Wissenschaft seine Sache sind. Die Praxis einer »lebendigen Sprache« und ihres »schwer zu bändigenden« Gebrauchs, das führt Herder vor Augen, vollzieht sich in einem Spannungsfeld gegensätzlicher Pole. Keiner dieser Pole allein macht die Grundform und den Grundbegriff menschlicher Sprachen aus. Dies anzunehmen, wäre »Tyrannei« in praktischer wie auch in theoretischer Hinsicht. Im »Reich« der Sprache sollte nicht Hierarchie, sondern »Demokratie« herrschen – und im Bereich ihrer Theorie nicht minder.

Ein Teil der Sprachphilosophie späterer Tage ist wissentlich oder unwissentlich der von Herder gelegten Spur gefolgt. Auch Wilhelm von Humboldt, Ludwig Wittgenstein, Theodor W. Adorno, Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricœur, Jacques Derrida, Charles Taylor und Albrecht Wellmer – um vorerst nur diese zu nennen – begnügen sich nicht mit einem einseitigen Begriff der Sprache. Sie alle stehen in Opposition zu einer Opposition, die das Nachdenken über Sprache noch heute weithin beherrscht. Mit ihr wird versucht, zunächst einen »eigentlichen« Bereich der Rede freizulegen und zu analysieren, um anschließend, sofern es überhaupt für nötig erachtet wird, ihre »uneigentlichen« Verwendungen in den Blick zu nehmen. Eine in Herders Sinn »demokratische« Theorie der Sprache widersetzt sich diesem Vorgehen. Denn was das menschliche Sprechen ausmacht, wird durch eine Trennung ihrer vermeintlich eigentlichen und ihrer vermeintlich uneigentlichen Gebrauchsweisen von vornherein verfehlt. Die Spiele der Sprache fügen sich einer solchen Anordnung nicht. Ihr Sinn und ihre Bedeutung sind nur aus der Fülle ihrer Gestalten zu verstehen.

»Sprachspiele« nennt Wittgenstein die Vielfalt der Tätigkeiten, die Menschen unter Verwendung von Wörtern und Sätzen ausüben. Diese Verwendungen der Sprache gibt es nur im Plural, weswegen eine theoretische Orientierung an einer oder einigen purifizierten Formen ihres Gebrauchs nach Wittgensteins Auffassung verfehlt ist. Wittgenstein und seine antifundamentalistischen Vorläufer wie Nachfolger ebnen den Weg zu einer systematischen Behandlung der Diversität des sprachlichen Lebens. Auf dieser Linie lässt sich Herders Geste in einen vollblütigen Begriff des sprachlichen Geschehens und Tuns überführen.

Das ist es, was ich in diesem Buch vorhabe. Ich werde die Landschaft der Sprachphilosophie – und der menschlichen Lebensform, wie sie sich von ihr her zeigt – ein wenig anders als üblich bereisen. Eine egalitäre Theorie der Sprache darf weder die hermeneutischen noch die analytischen, weder die romantischen noch die pragmatistischen, weder die phänomenologischen noch die dekonstruktiven Denkarten beiseite lassen. Sie muss ihnen allen Gehör schenken, weil keine dieser Behandlungsarten allein den Dimensionen einer »lebendigen Sprache« gerecht wird. So wie diese Dimensionen auch dort miteinander korrespondieren, wo eine von ihnen im Vordergrund steht, so überlagern sich die Einsichten der überlieferten Philosophien der Sprache auch da, wo sie in einem strikten Gegensatz zueinander zu stehen scheinen. Eine Korrektur ihrer wechselseitigen Blindheiten kann nur im Dialog mit ihnen gelingen, da sie – offen oder verdeckt – immer bereits einen Dialog miteinander unterhalten. Ein Versuch über die »Spiele der Sprache« nimmt an diesen Dialogen teil. Er spielt sein Spiel mit den der Sprache gewidmeten Sprachspielen, das, wenn es gut geht, vergegenwärtigen kann, was das sprachliche Leben bewegt und wie alle, die es führen, von ihm bewegt werden.

Das Buch hat drei Teile.

Der erste berichtet von einigen Episoden aus der Geschichte der Sprachphilosophie. Diese Erzählungen rufen die im 18. Jahrhundert intensivierten und seitdem andauernden Debatten über die Stellung der Sprache innerhalb der menschlichen Welt in Erinnerung, die den Hintergrund für alles Weitere bereitstellen. Jede dieser Kurzgeschichten mündet in eine theoretische Moral, die ich mir für den Rest des Buchs zu eigen machen werde.

Der zweite Teil argumentiert, Wittgenstein beim Wort nehmend, für einen von Anfang an nicht hierarchischen Begriff der Sprache. Dies führt zu einer Theorie der wechselseitigen Abhängigkeit heterogener Sprachfunktionen, die es so bei Wittgenstein nicht gibt.

Der dritte Teil improvisiert über die bis dahin gesammelten, im »Auftakt« bereits angeklungenen Motive, um zu verdeutlichen, was es heißt, die Sprache aus der Mitte der mit ihr eröffneten Weltbezüge zu verstehen – und gibt am Ende zu erkennen, worin sich eine »demokratische« Theorie ihrer Verfassung mit dem Einstehen für eine demokratische Verfassung der Lebensverhältnisse berührt.

Erzählung, Argumentation, Improvisation: Das sind schon drei der – nicht säuberlich zu trennenden – Möglichkeiten, das Spiel der Sprache zu spielen. Doch es sind beileibe nicht alle, denn »das Reich einer lebendigen Sprache« ist ein Land mit offenen Grenzen, in dem man nie an ein Ende gelangt.

Das Buch geht auf eine Serie von Vorlesungen zurück, die ich in den Sommersemestern 2014–2020 an der Goethe-Universität Frankfurt gehalten habe. Hervorgegangen ist es aus der Suche nach einer Form, die der Sprache ein Mitspracherecht bei ihrer Betrachtung gestattet. Vor allem fünf Sätze waren es, über die ich seither nachgedacht habe: die beiden von Herder, zwei weitere von Wittgenstein und einer von Raymond Chandler.

Die Diskussionen mit den Studierenden haben mich zuverlässig merken lassen, wo ich nicht weiterwusste. Thomas Assheuer, Eva Backhaus, Karin Bovisi, Angela Keppler, Christoph Menke, Jochen Schuff und Franz Schwarzbauer haben mich durch ihre Lektüren verschiedener Fassungen des Manuskripts mit Einspruch und Zuspruch bei Laune gehalten. Mein Lektor Alexander Roesler hat wie immer geduldig ausgeharrt, bis alles spruchreif schien. Ihnen allen möchte ich herzlich danken.

I. Vorgeschichten

Das 20. Jahrhundert galt für eine Weile als das Jahrhundert der Sprachphilosophie, worüber fast in Vergessenheit geriet, dass es ein solches Jahrhundert, wenn auch in bescheidenerem Maß, schon zuvor gegeben hatte, in dem das Nachdenken über die Sprache eine Fahrt aufnahm, die nicht mehr aufzuhalten war. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich in Europa eine an wechselseitigen Bezugnahmen und Polemiken reiche Debatte über die Rolle der Sprache innerhalb der Entwicklung der Menschheit. Zu ihren Protagonisten gehörten Giambattista Vico, William Warburton, Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Johann Peter Süßmilch, Jean-Jacques Rousseau, Etienne Bonnot de Condillac, Moses Mendelssohn, Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder, bevor die Romantiker ein weiteres Kapitel aufschlugen und Wilhelm von Humboldt auf den Plan trat, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Charles Sanders Peirce und Gottlob Frege eine neue Epoche anbrach.[1] Die älteren dieser Autoren fragten sich, wie es dazu kam, dass sich in allen menschlichen Gemeinschaften Sprachkulturen entwickelt haben – und was es bedeutet, dass Formen der Sprache ihr Denken und Handeln in Geschichte und Gegenwart so weitreichend prägen. Die Impulse dieser Überlegungen wirken überall nach, wo sie in späterer Zeit aufgenommen oder verworfen wurden. Ich werde einige Stationen dieser Debatten beleuchten, um nachzuzeichnen, wohin diese aus meiner Sicht führen. Diese Schlaglichter auf die Geschichte der modernen Sprachphilosophie – mehr als Schlaglichter sollen es nicht sein – verfolgen zentrale Episoden dieser Geschichte jeweils bis zu einem Punkt, an dem absehbar wird, was sich hieraus für eine »demokratische« Theorie der Sprache ergibt. Zugleich steuern sie auf einen großen Abwesenden zu, der erst spät seinen Auftritt haben wird.

1. Ursprünge

Das schönste Dokument der neu erblühten sprachphilosophischen Leidenschaft im 18. Jahrhundert ist Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, geschrieben 1770 und erschienen 1772. Der Autor beantwortet darin die 1769 gestellte Preisfrage der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ob – und falls ja, auf welchem Weg – die Menschen kraft ihrer natürlichen Anlagen die Sprache erfinden konnten. Mit großer Verve wirbt Herder dafür, die Sprache als eine durch und durch menschliche Hervorbringung aufzufassen: Es liegt in der Natur des Menschen, sich Sprachen zu erfinden und diese stets fortentwickeln zu müssen. Wie seine Vorläufer nimmt Herder die damals virulenten Gedankenexperimente über die Entstehung der Sprache zum Anlass, deren Rolle innerhalb menschlicher Lebensformen zu umreißen. Er nimmt Stellung zu allen seinerzeit verhandelten Alternativen – ob die Sprache göttlichen oder menschlichen Ursprungs sei, ob ihre Erfindung dialogisch oder monologisch vonstatten ging, ob sie durch die Ausbildung von Konventionen oder auf dem Weg der Nachahmung des Bezeichneten entstand, ob sie ihren Anfang in pragmatischen Regelungen oder im poetischen Ausdruck hatte.

Eine lebendigere Abhandlung über die Sprache ist nie geschrieben worden. Obwohl Herder die Obsession seiner Zeitgenossen in Sachen Sprachursprung teilt, teilt er zugleich mächtig gegen seine Mitstreiter aus. Die poetische Gerechtigkeit, die er der Ausdruckskraft der Sprache mit seinem dramatischen Stil angedeihen lässt, geht mit einer gehörigen Ungerechtigkeit gegenüber seinen Widersachern einher. So wütet Herder gegen die konventionalistische Sprachauffassung Condillacs, dem er vorwirft, sich in einem heillosen Zirkel verrannt zu haben, weil er die Entstehung der Sprache auf eine Verabredung »im gegenseitigen Kommerz« (US 709) der Menschen zurückführe. »Kurz, es entstanden Worte, weil Worte da waren, ehe sie da waren.« (US 710) Aber so muss Condillac gar nicht gelesen werden. Der Prozess der Sprachentstehung, den dieser in seinem Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis aus dem Jahr 1746 skizziert, kann als ein intersubjektives Sicheinspielen signifikativer Lautgestalten aufgefasst werden, worauf Condillacs Betonung eines aus »Gewöhnung« entstehenden »Gebrauchs« dieser Zeichen verweist, der sich »unmerklich« vollzogen habe. (Condillac 2006, 174–177, 216f.) Ein derartiges Übereinkommen setzt keine durch Verabredung zustande gekommene »Übereinkunft« voraus. So gesehen, wäre die »Erfindung« der Sprache keine willkürliche Setzung, sondern ein unwillkürliches Finden.

Der Einwand, den Herder gegen Condillac vorbringt, findet sich fast wortgleich bereits in Rousseaus Essay Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von 1755 (Rousseau 1971, 155). Während jedoch Condillac, wie Herder sagt, »die Tiere zu Menschen« machte, weil er ihnen bereits Sprachfähigkeit verlieh, bevor sie der Sprache fähig sein konnten, wird Rousseau dafür abgemahnt, dass er »die Menschen zu Tieren machte«, weil er ihnen die Fähigkeit zur Spracherfindung abspricht. (US 711) Tatsächlich aber verhält sich Rousseau lediglich skeptisch gegenüber der Möglichkeit, aus einem »gewaltigen Abstand« das Entstehen einer spezifisch menschlichen Sprache aufklären zu können. (Rousseau 1971, 153, 161) Wenig pfleglich – wir befinden uns in der Epoche des Sturm und Drang – behandelt Herder auch Süßmilchs 1766 veröffentlichten Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe. Mit überzeugenden Argumenten weist er Süßmilchs Annahme eines göttlichen Ursprungs der Schriftsprache zurück (US 702ff.); zugleich wirft er ihm den Glauben an eine Arbitrarität sprachlicher Zeichen vor (US 743). Dies hindert Herder jedoch nicht daran, Süßmilchs These eines inneren Zusammenhangs von Vernunft und Sprache recht ungeniert zu übernehmen – einen Gedanken, der die von Aristoteles bis zu Thomas Hobbes und John Locke vorherrschende instrumentalistische Sprachauffassung verabschiedet. (US 725ff.; Süßmilch 1766, 4f., 33ff.) Diese Auffassung hat bei Condillac ebenso deutliche Spuren hinterlassen wie bei Maupertuis, was sich bereits am Titel seines 1756 erschienenen Essays erkennen lässt: Abhandlung über die verschiedenen Mittel, deren sich die Menschen bedient haben, um ihre Vorstellungen auszudrücken (Maupertuis 1988). Sprache als ein Mittel, dessen sich die Menschen bedienen, um ihren vorsprachlichen Gedanken zum Ausdruck zu bringen: Schon für die allerersten Schritte der Sprachentstehung verwirft Herder diese Auffassung mit einer entschiedenen Geste.

Gegen seine Hauptgegner, Konventionalisten wie Hobbes, Locke und Condillac, mit Abstrichen auch Maupertuis und Süßmilch, die in den Wörtern der Sprache willkürliche Bezeichnungen sehen, legt sich Herder auf einen mimetischen Sprachursprung fest. Unter der Führung des Gehörs lässt er die Sprache aus Akten einer sondierenden Nachahmung der sinnlichen Erscheinungen der Welt entstehen. (US 704f., 740ff.) »Da sang und tönte also die ganze Natur vor.« (US 741) Nicht ein rudimentärer Dialog unter Menschen, sondern ein nachbildender »Dialog« mit der akustisch und anderweitig sinnlich beredten Natur steht für Herder am Anfang der Sprachentwicklung. Die synästhetischen Anmutungen der Natur werden umgewandelt zu einem »anerkennenden« Erkennen (US 722, 726) ihrer Merkmale, festgehalten durch zunächst »innerliche Merkworte« (US 724f.). Sprache soll nicht aus willkürlichen sozialen »Regeln« (US 753), sondern als ein sinnliches und besinnendes Aufnehmen von Eindrücken entstanden sein. Nicht umsonst ist »Besonnenheit« bei Herder ein Deckwort für »Vernunft« (US 719ff.). »O die Gesetze der Natur sind mächtiger als alle Konventionen, die die schlaue Politik schließet und der weise Philosoph aufzählen will.« (US 787) Gott oder die Natur, argumentiert Herder, haben dem Menschen das Potenzial zur Erfindung der Sprache verliehen, das im herausgreifenden Aufmerken auf Lautgestalten der Natur zum ersten Mal aktualisiert wurde. »Am wenigsten ists Einverständnis, willkürliche Konvention der Gesellschaft; der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen, hätte er sie auch nie geredet.« (US 725) – »Vernunft und Sprache taten gemeinschaftlich einen furchtsamen Schritt, und die Natur kam ihnen auf halbem Wege entgegen – durchs Gehör. Sie tönte das Merkmal nicht bloß vor, sondern tief in die Seele hinein! Es klang! Die Seele haschte – da hat sie ein tönendes Wort!« (US 734)

Herder konzipiert die Entstehung der Sprache monologisch: An ihrem Ursprung steht ein »inwendig sprechender Mensch« (US 731), der noch gar nicht in der üblichen Weise spricht. Trotz dieser solitären Genese ist die Sprache auch für Herder wesentlich intersubjektives Medium. Das soziale Phänomen der Sprache aber will er aus der individuellen Befähigung des Gattungswesens Mensch zum sprachlichen Denken und Handeln erklären. Für Herder ist Sprache erst im zweiten Schritt ihrer Entstehung eine stimmliche Artikulation relevanter Aspekte der Welt. Vor der stimmlichen Kommunikation kommt die mimetische Konzentration. Für einen rabiaten Antikonventionalisten ist das nur konsequent. Diese Konsequenz allerdings hat ihren Preis. Gegen die Annahme einer willkürlichen Gestalt sprachlicher Zeichen schreibt Herder dem Vokabular der frühen menschlichen Sprachen einen durchweg onomatopoetischen Charakter zu, der sich erst nach und nach abgeschwächt habe. Aus der Beobachtung, dass sich vielen Wörtern der gegenwärtigen Sprachen – insbesondere in ihrem poetischen Gebrauch – eine lautmalerische oder bildliche Bedeutung abgewinnen lässt, folgert Herder, dies müsse die ursprüngliche Art ihrer Bedeutungshaftigkeit gewesen sein. Herder übersieht dabei, dass auch und gerade arbiträren Zeichen ein mimetischer Charakter zukommen oder an ihnen entdeckt werden kann. Dass »Blitz« und »Donner« willkürliche Zeichen sind, hindert ihre Verwender nicht daran, ihre lautmalerischen Qualitäten zu vernehmen. Sprachliche Konventionen schließen mimetische Konnotationen keineswegs aus. Nicht ohne Grund kam die Frage, welches Vermögen der Sprache, das nachbildende oder das aus beliebiger Konvention gebildete, für ihre Verfassung grundlegend sei, schon in Platons Dialog Kratylos zu keiner eindeutigen Entscheidung. Herder hingegen schließt sich der Vorstellung an, Sprache sei zunächst »Poesie« gewesen und erst später zur »Prosa« geworden. »Was so viele Alten sagen und so viel Neuere ohne Sinn nachgesagt, nimmt hieraus sein sinnliches Leben: ›daß nemlich Poesie älter gewesen als Prosa!‹ – Denn was war diese erste Sprache als eine Sammlung von Elementen der Poesie? Eine Nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden Natur!« (US 740)

Im 18. und 19. Jahrhundert ist dies ein wirkmächtiger Topos. In seinen Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker von 1744 möchte Vico »die Irrtümer der Philologen« zu Fall bringen, »daß die Sprache der Prosaiker die eigentliche, die der Dichter die uneigentliche sei; und daß man zunächst in Prosa, später in Versen gesprochen habe«. Es geht ihm um den Nachweis, »daß die poetische Ausdrucksweise durch eine Notwendigkeit der menschlichen Natur vor der prosaischen entstand.« (Vico 2009, 195, 230) »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts«, heißt es 1762 in Hamanns Schrift Aesthetica in nuce, verbunden mit dem Zusatz: »So ist es uns schlechterdings unmöglich, die Poesie der Heyden zu übertreffen.« (Hamann 1968, 81 u. 111) Ähnlich argumentiert Rousseau im selben Jahr in seinem Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird. Die anfängliche Sprache wird als eine aus den »Leidenschaften« ihrer Sprecher entsprungene und an Bildern reiche »Sprache von Dichtern« charakterisiert, deren »Stammwörter […] von lautmalerischen Nachahmungen geprägt« waren. (Rousseau 1989, 104f. u. 107) Dieser, wie Herder es in seiner Ursprungsschrift nennt, »Metapherngeist« der noch »wilden Sprachen« (US 752) ist noch 100 Jahre später ein zentrales Motiv in der erkenntniskritischen Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne des jungen Nietzsche (auch wenn dieser, anders als Herder, gerade die Willkürlichkeit sprachlicher Prägungen betont). Bei ihm stehen »kühne Wortmetaphern« (US 754) am Beginn aller Rede. Der »Sprachbildner«, heißt es bei Nietzsche, »bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe.« (Nietzsche 1980, 879)

Sprache, sagen diese Stimmen, war ursprünglich poetische Rede, bevor sie von einer weitaus nüchterneren, weil regelgeleiteten, grammatisch und logisch begradigten und darum zunehmend abstrakten prosaischen Rede verdrängt oder an die Seite gedrängt wurde. So sieht es auch Herder in seinen früheren Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur. »Es ist allerdings wahr, was alle alte Schriftsteller einmütig behaupten, und was in den neuen Büchern wenig angewandt ist, daß die Poesie, lange vorher, ehe es Prose gab, zu ihrer größten Höhe gestiegen sei, daß diese Prose darauf die Dichtkunst verdrungen, und diese nie wieder ihre vorige Höhe erreichen können.« (NL 185) Der poetischen Phase der Sprachentwicklung geht in Herders Erzählung »von den Lebensaltern einer Sprache« (NL 181) eine noch frühere, »kindliche« Stufe voraus, in der »Gesang« und »Geberde« die vorrangigen Ausdrucksformen waren, bevor es auf der nächsten Stufe zu einem Sprechen kam, das »bildervoll« und »reich an Metaphern« war. (NL 183) »Und dieses jugendliche Sprachalter, war bloß das poetische: man sang im gemeinen Leben, und der Dichter erhöhete nur seine Akzente in einem für das Ohr gewählten Rhythmus: die Sprache war sinnlich, und reich an kühnen Bildern: sie war noch ein Ausdruck der Leidenschaft, sie war noch in den Verbindungen ungefesselt: der Periode fiel aus einander, wie er wollte – Seht! Das ist die poetische Sprache, der poetische Periode.« (NL 183)

Auch dies ist eine Gegenerzählung gegen die Entstehungsgeschichten, wie sie von den Konventionalisten vorgebracht werden. In Erzählungen und Gegenerzählungen dieser Art spitzt sich die Ursprungsfrage im 18. Jahrhundert auf eine dramatische, in den Augen ihrer Proponenten nach einer Entscheidung verlangenden Weise zu. Entweder ist es »Poesie« oder es ist »Prosa«, mit der die Sprachentwicklung beginnt. Entweder sind Expression und Nachahmung oder aber Willkür und Konvention die Quellen der »Erfindung« der Sprache. Entweder die poetologische oder die pragmatistische Erklärung gibt die richtige Antwort auf die Ursprungsfrage. Dabei ist allen beteiligten Autoren bewusst, wie sehr sie sich auf einem Feld der Spekulation befinden. Gleich im zweiten Stück der ersten Sammlung seiner Fragmente zitiert Herder den Beginn von Moses Mendelssohns Rezension der Abhandlung Ueber den Einfluss der Sprachen in die Meinungen und der Meinungen in die Sprachen von Johann David Michaelis, des Preisträgers der Königlichen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1759: »Warum mag es doch so schwer sein, über den Ursprung der Sprachen mit einiger Gründlichkeit zu philosophieren? Ich weiß wohl, daß sich von geschehenen Dingen, davon wir keine urkundliche Nachricht haben, selten mehr als Mutmaßungen herausbringen lassen. Allein warum will den Weltweisen auch keine Mutmaßung, keine Hypothese glücken? Wenn sie uns nicht sagen können, wie die Sprachen wirklich entstanden, warum erklären sie uns nicht wenigstens, wie sie haben entstehen können? – Sollte es nicht daher kommen, weil uns die Sprachen so natürlich geworden, daß wir nicht ohne dieselben denken können?« (NL 179; Mendelssohn 1991, 105) Innerhalb der Sprache, auf einem Entwicklungsstand, in der sie zur zweiten Natur geworden ist, würde das heißen, ist ein Außerhalb der Sprache, in der doch der Keim zu ihrer Entstehung bereits angelegt sein müsste, nicht länger zu greifen und zu begreifen. Aber Mendelssohn und Herder geben die Hoffnung nicht auf. Denn, so heißt es weiter bei Herder, weiterhin Mendelssohn zitierend: »Dieses mag uns so lange zur Entschuldigung dienen, bis ein glückliches Genie die Entschuldigungen unnöthig macht.« Bescheiden merkt Herder an: »Ich bin nicht dieses glückliche Genie, sondern setze […] diese Entschuldigungen zum voraus, weil ich ihrer nötig habe.« (NL 179) Nicht auszuschließen freilich ist, dass sich Herder mit seiner wenige Jahre später verfassten Ursprungsschrift, die ihm ebenfalls den Preis der Berliner Akademie einbrachte, an der Rolle dieses Genies hat versuchen wollen.

Das Genie in dieser Sache jedoch trat in anderer Gestalt auf die Bühne: nicht in der Rolle desjenigen, der endlich eine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache gibt, sondern in der Rolle dessen, der sich dem Wettstreit um des Rätsels Lösung verweigert, indem er den gordischen Knoten der Debatten des 18. Jahrhunderts entschlossen durchschlägt. Gestützt auf seine 1795 begonnenen Studien zur Eigenart und Vielfalt menschlicher Sprachen geht Wilhelm von Humboldt – um ihn handelt es sich – in seinem 1836 posthum erschienenen Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java zu der Suche nach einem Ursprung der Sprache auf Distanz. In der umfangreichen theoretischen Einleitung unter dem Titel Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts spielen Ursprungsfragen kaum noch eine Rolle. Humboldt weist nicht nur Herders Auffassung eines solitären Ursprungs der Sprache zurück, sondern alle Versuche, die Verfassung der menschlichen Sprache im Rückgang auf das Ursprungsgeschehen ihrer »Erfindung« ausfindig zu machen. »Die Sprache entspringt zwar aus der Tiefe der Menschheit«, aber als eine »in ihrem Wesen unerklärliche«, weil »unwillkürliche Emanation des Geistes« (VS 386). Ihre Entstehung muss als ein emergenter Prozess gedacht werden, der nicht nach dem Muster einer tätigen »Erfindung« aufgefasst werden darf. »Die Erscheinung der geistigen Kraft des Menschen in ihrer verschiedenartigen« – für Humboldt wesentlich sprachlichen – »Gestaltung bindet sich nicht an Fortschritte der Zeit und an Sammlung des Gegebenen. Ihr Ursprung ist ebenso wenig zu erklären, als ihre Wirkung zu berechnen, und das Höchste in dieser Gattung ist nicht gerade das Späteste in der Erscheinung. Will man daher den Bildungen der Natur nachspähen, so muss man ihr nicht Ideen unterschieben, sondern sie nehmen, wie sie sich zeigt.« (VS 388)

Die Sprache zu »nehmen, wie sie sich« in ihren unterschiedlichen Ausprägungen »zeigt«: Das ist die Therapie, die Humboldt der Ursprungssucht seiner Vorgänger angedeihen lässt. Er verordnet der Sprachphilosophie ein Verfahren der Immanenz. Die historisch gegebenen Sprachen sollten ihr erster Gegenstand sein. Eine Philosophie der Sprache, die dieses Vorgehen beherzigt, erkundet ihren Gegenstand von innen: durch die Vergegenwärtigung dessen, was es heißt, Sprecherin oder Sprecher historisch entstandener »natürlicher« Sprachen zu sein. Nur so, und nicht durch Ausflüchte dahin, wo vermutlich alles begann, kann sie einer Antwort darauf näher kommen, in welchem Sinn und in welchem Maß die menschlichen Weltverhältnisse sprachliche Verhältnisse sind. Rückblickend ist jedoch leicht zu erkennen, dass es im Grunde diese Verhältnisse waren, die schon die Ursprungstheoretiker aller couleur mit ihren Gedankenexperimenten beleuchtet haben. Im Gewand der Ursprungsdebatte ging es auch ihnen weniger um den tatsächlichen historischen Anfang als vielmehr darum, den Zustand und die Rolle entwickelter Sprachen in ihren Gesellschaften zu ermitteln. Auch für sie gilt, wie Humboldt anmerkt, »dass wir uns […] mit unserem Sprachstudium durchaus in eine geschichtliche Mitte versetzt befinden«. (VS 419) Denn eine Philosophie der Sprache – bei Humboldt, Herder und all den anderen, die bislang zu Wort gekommen sind – versucht aufzuklären, was Sprache für ihre Angehörigen ist und also: wie diejenigen, die in einer oder einigen von ihnen zu Hause sind, in ihnen zu Hause und in der Fremde sind.

In späteren Zeiten hat sich die von philosophischer Seite reflexiv betriebene Erkundung der Innenperspektive des sprachlichen Lebens von einer empirischen Erforschung der Sprachentstehung geschieden, die im überzeugendsten Fall der »kooperativen Infrastruktur der menschlichen Kommunikation« gewidmet ist. (Tomasello 2009, 18) Die seither gewonnenen Erkenntnisse darüber, wie phylogenetisch alles angefangen haben könnte und ontogenetisch der Weg in die Sprache stets von neuem beginnt, stellen gerade deshalb eine Quelle der Inspiration für philosophische Theorien der Sprache bereit, weil es ein anderer Weg ist, der hierbei begangen wird. Empirische Untersuchungen zur Sprachentstehung verfolgen auch dann eine eigene Agenda, wenn sie von philosophischen Hypothesen ihren Ausgang nehmen. Philosophien der Sprache nämlich haben es stets mit den sprachlichen Verhältnissen zu tun, in denen sie sich selbst bewegen. So gelesen, erweist sich die hier im Zeitraffer vorgestellte theoretische Debatte über den Ursprung der Sprache im 18. Jahrhundert als Ursprung einer Überwindung der Frage, wie es mit ihr seinen Anfang genommen hat.

Humboldts Zeitgenosse Hegel hat es ähnlich gesehen. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik streift er noch einmal die Vorstellung »einer ursprünglichen Poesie […], welche vor der Ausbildung der gewöhnlichen und kunstreichen Prosa liegt«. Von dieser aber gelte es die »dichterische Auffassung und Sprache« zu unterscheiden, »die sich inmitten eines schon vollständig fertigen prosaischen Lebenszustandes und Ausdrucks entwickelt.« (Hegel 1970a III, 242) Auf dieses Inmitten kommt es auch aus seiner Sicht an. Wie es sich mit den Kräften der »Poesie« und der »Prosa« innerhalb der Sprache verhält, kann nur im Blick auf ihren historisch ausdifferenzierten – und allein in diesem Sinn »fertigen« – Zustand verstanden werden. In einem solchen Zustand, sagt Hegel an derselben Stelle, »weiß« die Poesie »von dem Gebiet, von welchem sie sich loslösen muß, um sich auf den freien Boden der Kunst zu stellen, und bildet sich im bewußten Unterschiede dem Prosaischen gegenüber aus.« Aus einem hypothetischen Unterschied in der Entstehung der Sprache ist ein theoretischer Unterschied im Bestehen menschlicher Sprache geworden.

2. Poesie und Prosa

Die erste Vorgeschichte zieht die zweite unmittelbar nach sich. Humboldts Therapie nämlich erlaubt es, die Geschichte der neueren Sprachphilosophie noch einmal anders zu schreiben: nicht als Erzählung einer historischen, sondern einer systematischen Kontroverse darüber, was die Sprache der Menschen ausmacht; nicht als Erzählung darüber, wie es zur Sprache kam, sondern darüber, wie es ist, Sprache zu haben. In einer systematischen Betrachtung kommt es gar nicht länger auf eine zeitliche, sondern auf eine begriffliche Priorität entweder der »Poesie« oder der »Prosa« an. In dieser Lesart geht es darum, welche Formen der Rede das Kraftzentrum menschlicher Sprachen bilden. Im Zentrum steht jetzt nicht mehr der historische Beginn, sondern der begriffliche »Anfang« der Sprache – nicht ihr zeitlicher, sondern ihr sachlicher Grund.[2]

Diesen Perspektivenwechsel verdeutlicht keine Quelle besser als jene Passage in Herders Fragmenten, der ich das Motto dieses Buchs entnommen habe: »Immer ein Glück für den Dichter, und ein Unglück für den Weltweisen, daß die ersten Erfinder der Sprache nicht Philosophen und die ersten Ausbilder meistens Dichter gewesen sind. Und eben so ein Glück für den Prosaisten, und ein Unglück für den Weltweisen, daß das Reich einer lebendigen Sprache, Demokratie ist; das Volk regiert, und duldet keine Tyrannen: der Sprachgebrauch herrscht und ist schwer zu bändigen.« (NL 644) Herder spielt auch hier noch mit dem Topos eines poetischen Ursprungs der Sprache, aber nur, um ihn hinter sich zu lassen. Denn nun geht es um die Spannweite einer entwickelten Sprache: um ihre grundlegenden Dimensionen, die zusammen den Begriff und die beste Praxis einer »lebendigen« Sprache ausmachen. Mit programmatischer Geste sagt Herder deshalb: »Ich habe zeigen wollen, daß eine Sprache, wie sie die höchste Dichtkunst, und die strengste Philosophie fordert, zween Endpunkte sein, und mitten inne den Platz zu allen Gattungen habe, die ich unter den Namen einer behaglichen, bequemen Sprache setze.« (NL 643) Dichtkunst und Philosophie – als Beispiele der Letzteren erwähnt werden Baumgarten und Kant – bezeichnen zwei einander gegenüberstehende Pole, die den Möglichkeitsraum der Sprache vermessen. Sie gleichzusetzen, den einen durch den anderen zu ersetzen oder den einen über den anderen zu stellen, wäre ausgesprochen fatal. Denn die »Schönheit« der Dichtung und die »Vollkommenheit« der Wissenschaftssprache sind zwei selbständige, nicht aufeinander reduzierbare Arten sprachlichen Gelingens. »So wie Schönheit und Vollkommenheit nicht einerlei ist: so ist auch die schönste und vollkommenste Sprache nicht zu einer Zeit möglich; die mittlere Größe, ist unstreitig der beste Platz, weil man von da aus auf beiden Seiten auslenken kann.« (NL 643) Die Umgangssprache, die bei Herder auf den Namen der »Prose« hört, »ist uns die einzig natürliche Sprache, und das seit undenklichen Zeiten gewesen.« (NL 187) Sie bildet den mittleren Bereich zwischen dichterischer und wissenschaftlicher Rede. Sie bildet den Nährboden der beiden Extremformen des Sprachlichen und zugleich die Arena, auf der ihre Kräfte eine abgemilderte Wirkung entfalten. »Man sehe die meisten Vorschläge zur Bildung der Sprache, und sie fallen in ein Äußerstes, statt das Mittel zu halten. Einige entwerfen einen Plan zur philosophischen Sprache; andere wollen sie allein auf die dichterische Seite lenken. Daß, wenn beide etwas wirken, beide einander die Stange halten, macht das Glück unserer Sprachverbesserung.« (NL 187)

So sehr Herder hier als Sprachkritiker in praktischer Absicht auftritt, so sehr enthalten diese Passagen eine Kritik an zu kurz greifenden Theorien der Sprache. Nicht entweder die dichterische oder die philosophische Rede machen das aus, was Sprache eigentlich ist oder sein kann. Beide dieser »Endpunkte« sind paradigmatische Fälle der Sprachverwendung. Beide aber sind, was sie sind, allein in Relation zueinander und zu der alltäglichen Rede. Dichterische und wissenschaftliche Rede überschreiten beide die Gepflogenheiten der Umgangssprache, die ihrerseits nur eine »behagliche Sprache« sein, bleiben oder werden kann, wenn sie beständig Impulse von der disziplinierten philosophischen und der überbordenden dichterischen Rede empfängt. Nur mit Rücksicht auf diesen triangulären Prozess kann ein angemessener Begriff der Sprache gewonnen werden. Nur eine in diesem Sinn »demokratische« Theorie, darauf zielen Herders programmatische Thesen, wird der Verfassung menschlicher Sprachen gerecht.

Humboldt hat es ähnlich gesehen: »Die Poesie eines Volkes hat nicht den höchsten Gipfel erreicht, wenn sie nicht in ihrer Vielseitigkeit und in der freien Geschmeidigkeit ihres Schwunges zugleich die Möglichkeit einer entsprechenden Entwicklung in der Prosa begründet. Da der menschliche Geist, in Kraft und Freiheit gedacht, zu der Gestaltung von beidem gelangen muss, so erkennt man die eine an der andren, wie man dem Bruchstück eines Bildwerks ansieht, ob es Teil einer Gruppe gewesen ist.« (VS 586) Gebundene »Poesie« und wissenschaftliche »Prosa« sind für Humboldt Teil einer »Gruppe,« die nicht auseinandergerissen werden darf, wenn das Bild der Sprache gezeichnet werden soll. Bei ihm stehen diese Begriffe für die beiden Pole, zwischen denen sich die Vielfalt sprachlicher Ausdrucksformen aufspannt. Der Bereich der Umgangssprache, den Herder als denjenigen der »Prosa« bezeichnet, erscheint auch hier als der mittlere Bereich, in dem sich die Vektoren der beiden Extreme mischen. (VS 584–603) Hegel, der seinen Herder kannte, verwendet die Begriffe ähnlich; die lyrische »Poesie« bildet den einen Pol, die Prosa des »reinen Gedankens« den anderen; zwischen beiden bewegt sich die ebenfalls »Prosa« genannte Sprache der alltäglichen Rede. (Hegel 1970a III, 240–245, 280f.) Um die Sprengkraft dieser Überlegungen zu sichern, werde ich mir für den Rest dieser Geschichte Humboldts Terminologie zu eigen machen. Ich taufe Herders Pole auf die Namen einerseits der »Poesie« und andererseits der »Prosa«. Dabei verwende ich diese Begriffe in einem über ihre übliche Bedeutung hinausgehenden Sinn. So verstanden, steht »Poesie« für eine im weitesten Sinn literarische, »Prosa« hingegen für eine im weitesten Sinn diskursive Rede. Von diesen beiden Polen her, argumentieren Herder, Humboldt und auch Hegel, lässt sich ein integratives, differenziertes und von irreführenden Hierarchien befreites Verständnis der Sprache gewinnen, das der Vielfalt, Koexistenz und Konkurrenz ihrer Ausdrucksformen gerecht zu werden vermag. Sie treten dabei das Erbe der Rhetorik und Poetik des Aristoteles an, der kein normatives Gefälle zwischen diesen Formen der Rede vorsieht; zugleich überführen sie die Komplementarität des »oberen« und des »unteren« Erkenntnisvermögens in Baumgartens Aesthetica in eine Theorie der Sprache, die für diese Kennzeichnungen keine Verwendung mehr hat.

Das so verstandene Widerspiel von »Poesie« und »Prosa« ist geeignet, den Ertrag der Debatte über den Ursprung der Sprache zu bergen. Herders und Humboldts Sicht auf die Sprache bricht mit der Vorstellung, sprachliches Handeln habe seine Basis entweder in poetischen oder in prosaischen Formen der Rede. Eine stereoskopische Betrachtung beider Dimensionen verweigert sich dieser Alternative. Weder allein oder vorwiegend die poetische, noch allein oder vorwiegend die prosaische Rede machen das Herzstück des sprachgebundenen Denkens und Handelns aus. Poesie und Prosa sind zwei gleichermaßen konstitutive Formen der Sprache; gäbe es die eine nicht, könnte es die andere nicht geben – und schon gar nicht das Stimmengewirr der alltäglichen Kommunikation.

Diese Auffassung ist alles andere als selbstverständlich. Denn eine Geschichte der neueren Sprachphilosophie lässt sich als die eines Konflikts zweier Traditionslinien schreiben, die eben diese Auffassung bestreiten. Für die eine ist die prosaische Bedeutung von Sätzen der paradigmatische Fall der Sprachverwendung; poetische Rede verhält sich hierzu in logischer Hinsicht parasitär. Für die andere hingegen ist die poetische Rede der paradigmatische Fall; Prosa erscheint als eine Minusform der Poesie. Für die Prosa-Partei ist Sprache ein System arbiträrer Zeichen, deren Bedeutung auf Bedingungen ihrer korrekten Verwendung beruht. Diese stellt die wörtliche Bedeutung von Ausdrücken und Sätzen sicher, von deren Verständnis alle übertragenen und anderweitig poetischen Gebrauchsweisen abhängig sind. Für die Poesie-Partei ist Sprache Medium einer mimetisch-expressiven Artikulation von Weltbezügen. Das Repertoire konventionell geregelter Bezeichnungen und Bezugnahmen ist eine Verfallsform des originären Flusses der Rede. Prosa, so sieht es diese Partei, ist ausgetrocknete Poesie. Poesie, so sieht es die andere, ist Prosa, die über die Stränge schlägt.

So gravierend die Differenzen zwischen diesen Parteien sind, sie teilen ein methodisches Prinzip. Anders als Herder und Humboldt glauben beide, dass man in der Sprachphilosophie entweder die eine oder die andere Richtung einschlagen muss. Erst die Prosa, dann die Poesie – oder eben umgekehrt. Theorien der Bedeutung und des Verstehens müssen zunächst ihre paradigmatische Dimension analysieren und können sich erst dann ihren – begrifflich und funktional gesehen – zweitrangigen Bereichen widmen. In diesem hierarchischen Aufbau gleichen sich die Denkweisen der beiden Parteien. Sie beginnen mit einem grundlegenden Begriff der Sprache, der das Fundament einer Behandlung ihrer übrigen Formen bereitstellen soll. Mit einer derartigen fundamentalistischen Anlage unterscheiden sie sich beide von dem egalitären Verfahren der dritten, von Herder und Humboldt begründeten »demokratischen« Partei.

Zu der Prosa-Partei zählen so unterschiedliche Autoren wie Hobbes, Locke, Condillac, Frege, Michael Dummett, Donald Davidson, John L. Austin, John R. Searle, Jürgen Habermas, Robert B. Brandom und viele andere mehr. Sie alle nehmen an, dass es elementare Formen der Sprache gibt, die als grundlegend für alles weitere sprachliche Meinen und Verstehen ausgewiesen werden. Diese Annahme ist insbesondere bei denjenigen Autoren leitend, die im Fahrwasser der analytischen Philosophie – oder von ihr inspiriert – das Projekt einer systematischen Bedeutungstheorie verfolgen. Ein bestimmter Bereich der Sprache und ihres möglichst eindeutigen Gebrauchs wird methodisch isoliert und zu ihrer primären Dimension erklärt. Bei Frege sind es die Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen, die diese Basis bereitstellen. Bei Dummett ist es die berechtigte Behauptbarkeit von Aussagen, die den Zugang zu der Analyse sprachlicher Bedeutungen schafft. Das Modell des Behauptens steht auch Pate für Brandoms pragmatistische Überbietung einer Wahrheitssemantik in der Nachfolge Freges. Die Tätigkeit des Behauptens im diskursiven Spiel des Gebens und Einforderns von Gründen ist für Brandom der schlechthin paradigmatische Fall des Sprachgebrauchs. Bei Austin und Searle sind es Standardformen von Sprechakten, die das Grundgerüst aller Arten der Kommunikation bereitstellen. Unverblümter noch zeichnet Habermas die »verständigungsorientierte«, an verschiedenen Geltungsansprüchen orientierte Kommunikation als den »Originalmodus« der Sprachverwendung aus. Anders als Dummett, Searle oder Habermas dagegen ist Davidson der Ansicht, dass sprachliche Konventionen hierbei keine tragende Rolle spielen. Gegen die Gebrauchstheoretiker besteht er darauf, dass die Verständlichkeit der Kommunikation durch den Wahrheitsbezug von Sätzen verbürgt wird, die propositionalen Einstellungen aller Art Ausdruck geben.[3] So divergent und untereinander kontrovers die genannten Theorien auch sind, ihnen allen geht es um eine theoretische Freilegung der buchstäblichen Bedeutungen sprachlicher Einheiten, deren Kenntnis sie für die Basis des sprachlichen Denkens, Meinens und Verstehens halten. Darin liegt das Credo der Prosa-Partei. Um zu verstehen, was Sprache ist, muss ein eigentlicher, unverstellter Bereich ihrer Bedeutung ausgemacht und analysiert werden, bevor ihre zahlreichen uneigentlichen Vorkommnisse theoretisch untersucht werden können.

Nicht dieses Vorgehen ist es, was der Poesie-Partei gegen den Strich geht. Wogegen sie opponiert, ist vielmehr die Besetzung der Position der vermeintlich eigentlichen im Unterschied zu den vermeintlich uneigentlichen Dimensionen der Sprache. Die methodische Bevorzugung der eindeutigen und buchstäblichen, weder bildhaften, figürlichen noch fiktionalen Rede halten ihre Vertreter für eine fatale Fixierung. Denn, so nehmen sie an, es ist gerade die poetische Rede, an der das eigentliche Potenzial der Sprache zu erkennen ist.

Dieser Partei können, wenn auch teilweise mit Abstrichen, Autoren wie Vico, Hamann, Friedrich Schlegel, Novalis, Nietzsche und Walter Benjamin zugerechnet werden. Bei Hamann steht die Poesie Modell für den vollen Reichtum der Sprache im Kontrast zu ihrer diskursiven Begradigung. »Die Reinigkeit einer Sprache entzieht ihrem Reichtum; eine gar zu gefesselte Richtigkeit, ihrer Stärke und Mannheit.« (Hamann 2014, 22) Auch Schlegel protestiert gegen eine theoretische Marginalisierung der Poesie. Eine »philosophische Theorie der Poesie«, schreibt er, muss mit der »Herrschaft des Verstandes« brechen. Ihr primärer Gegenstand sei »die eigentlich philosophische Poesie, welche nicht nur den Verstand, sondern die Vernunft interessiert.« Dieses Interesse aber hebt die Differenzen der verschiedenen Gattungen nicht auf. »Die vielen und trefflichen Kunstwerke, deren Zweck ein philosophisches Interesse ist, bilden nicht etwa eine bloße Nebenart der schönen Poesie, sondern eine ganz eigene große Hauptgattung, welche sich wieder in zwei Hauptgattungen spaltet.« (Schlegel 1972a, 107, 112, 109) Entsprechend lässt er in seinem Gespräch über die Poesie eine der Figuren sagen: »Philosophie und Poesie, die höchsten Kräfte des Menschen, […] greifen nun ineinander, um sich in ewiger Wechselwirkung gegenseitig zu beleben und zu bilden.« (Schlegel 1972b, 295) Wo aber eine Wechselwirkung vor sich geht, ist zugleich mit einer Differenz der beteiligten Kräfte zu rechnen. Schlegels Erweiterung des herkömmlichen Begriffs der Poesie zu einer in den Künsten und in der Philosophie gleichermaßen virulenten Energie schafft Platz für einen Widerstreit heterogener Darbietungsweisen, die den bei Herder und Humboldt vorgesehenen Wechselwirkungen nahe kommt – aber eben nur nahe. An anderer Stelle werden die Spuren einer homöostatischen Beziehung beider Gattungen wieder verwischt: »Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.« (Schlegel 1970b, 305)

Extremer noch formuliert Novalis: »Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimnis, – daß wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht.« (Novalis 2008, 450) Auf diese Sätze hat sich Martin Heidegger in seinem Band Unterwegs zur Sprache zustimmend bezogen. (UzS 241) In Novalis’ Geist unterscheidet er »beliebig Gesprochenes« von »rein« Gesprochenem. »Rein Gesprochenes ist das Gedicht.« (UzS 16) Allein an ihren reinen Formen zeigt sich die wahre Verfassung der Sprache und das Verhältnis der Sprechenden zu ihr. »Eigentliche Dichtung ist niemals eine höhere Weise (Melos) der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht.« (UzS 31) Die Prosa der alltäglichen Sprachverwendung erweist sich als ein Abfallprodukt ihres poetischen Optimums. Ebenfalls unter Bezug auf Novalis erklärt Eugenio Coseriu die poetische Sprache zum »Ort der Entfaltung der funktionellen Vollkommenheit der Sprache«. Das Vermögen der Sprache zeige sich unverkürzt allein in ihren künstlerischen Ausprägungen. »Wenn das so ist, dann kann die dichterische Sprache nicht eine Modalität des Sprachgebrauchs unter anderen sein, dann kann sie nicht mit anderen Modalitäten wie der Alltagssprache oder der wissenschaftlichen Sprache koordiniert werden. Sie muß dann vielmehr als Sprache schlechthin angesehen werden, denn nur in ihr findet man die volle Entfaltung der sprachlichen Möglichkeiten.« (Coseriu 2007, 147f.) Eine klarere Stellungnahme zugunsten der Poesie-Partei dürfte kaum zu finden sein. Das Argument einer aus »Vollständigkeit« entspringenden »Vollkommenheit« aber setzt eine Bestimmung der verschiedenen Funktionen voraus, die in Dichtung und Literatur zusammenkommen sollen. Eine davon ist eben jene wahrheits- und rechtfertigungsbezogene Darstellungsfunktion der Sprache, von der die Gegenseite behauptet, dass sie die schlechthin grundlegende ist.

Weniger eindeutig sind die Mutmaßungen, mit denen sich Benjamin den aufkommenden Tendenzen der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert entgegengestellt hat. Im Geist Hamanns und der Romantiker – und ihnen an kalkulierter Dunkelheit in nichts nachstehend – führt er die Aufschlusskraft der Sprache auf ein »mimetisches Verhalten« zurück. Humboldt wirft er vor, er habe die »magische Seite der Sprache« übersehen. (Benjamin 1985, 26) In seinem Versuch Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen von 1916 kritisiert Benjamin die »bürgerliche Auffassung der Sprache, deren Unhaltbarkeit und Leere« er nachweisen möchte. »Sie besagt: Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat der Mensch.« (Benjamin 1977a, 144) Die alternative Version, die Benjamin verfolgt, geht von einer intimen Beziehung von Wort und Gegenstand aus. »Das menschliche Wort ist der Name der Dinge. Damit kann die Vorstellung nicht mehr aufkommen, die der bürgerlichen Ansicht der Sprache entspricht, daß das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konventionen gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei. Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen.« Vielmehr, so Benjamin, »beruht der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie sich ihm mitteilt.« (Benjamin 1977a, 150) Zentral für diese Annahme ist der Gedanke einer Korrespondenz zwischen einer Sprache der Dinge und der Sprache des Menschen. »Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst.« (Benjamin 1977a 142) In Benjamins Lehre vom Ähnlichen von 1933 heißt es deshalb vom Menschen: »Ja, vielleicht gibt es keine seiner höheren Funktionen, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen mitbestimmt ist.« Damit aber stellt sich die Aufgabe, diese Seite der Sprache namhaft zu machen. »Wenn nun aber die Sprache, wie es für Einsichtige auf der Hand liegt, nicht ein verabredetes System von Zeichen ist, so wird man ja in dem Versuch sich ihr zu nähern immer wieder auf den Gedanken zurückgreifen müssen, wie sie in ihrer rohesten, primitivsten Form in der onomatopoetischen Erklärungsart vorliegen. Die Frage ist: kann diese ausgebildet und schärferer Einsicht angepaßt werden?« (Benjamin 1977b, 204 u. 207)

Hierauf findet sich in Benjamins Entwürfen keine eindeutige Antwort. Wohl aber geben sie Hinweise darauf, dass eine Zurückführung sprachlicher Bedeutungen auf einen mimetischen Ursprung oder Gehalt nicht gelingen kann. Denn in der Lehre vom Ähnlichen heißt es zugleich: »Diese, wenn man will, magische Seite der Sprache wie der Schrift läuft nicht beziehungslos neben der anderen, semiotischen, einher.« (Benjamin 1977b, 208) Es braucht also die Zeichenhaftigkeit von Sprache, an und in der sich ihre nicht lediglich designative Bedeutsamkeit entfalten kann. Entsprechend hatte Benjamin in Über die Sprache überhaupt angemerkt: »Andererseits ist gewiß, daß die Sprache der Kunst sich nur in tiefster Beziehung zur Lehre von den Zeichen verstehen lässt. Ohne diese bleibt überhaupt jede Sprachphilosophie gänzlich fragmentarisch, weil die Beziehung zwischen Sprache und Zeichen […] ursprünglich und fundamental ist.« (Benjamin 1977a, 156) Das Fragment Über das mimetische Vermögen von 1933 sekundiert: »Die Schrift ist so, neben der Sprache, ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, unsinnlicher Korrespondenzen geworden. Diese Seite der Sprache wie der Schrift läuft aber nicht beziehungslos neben der anderen, der semiotischen einher. Alles Mimetische der Sprache kann vielmehr, der Flamme ähnlich, nur an einer Art von Träger in Erscheinung treten. Dieser Träger ist das Semiotische.« (Benjamin 1977c, 213) Wenn aber der mimetische Ausdruck lediglich eine »Seite« der Sprache ist, die eines »Trägers« etablierter sprachlicher Codes bedarf, ist die Annahme, die poetische Rede stelle das Grundparadigma sprachlicher Bedeutsamkeit bereit, nicht länger zu halten.

Dies gilt für jeden Versuch, nicht die Prosa, sondern die Poesie zum eigentlichen Kraftzentrum sprachlichen Lebens zu erklären. Eine Theorie der poetischen Rede kann nicht allein stehen. Sie lässt sich nicht methodisch isolieren, wie dies, wenn man der Gegenpartei Glauben schenkt, für die prosaische Rede immerhin möglich erscheint. Sie kann nicht als Alternative zu den systematischen Bedeutungstheorien ausgearbeitet werden, wie sie die theoretischen Prosaisten in vielen Varianten entwickelt haben. Was die Sympathisanten eines Primats der Poesie gegenüber der Prosa miteinander verbindet, ist keine tragfähige Satzung, sondern lediglich ihre Opposition gegen das Programm der Prosa-Partei. Gerade deswegen aber kommt den widerständigen Strömungen in der Geschichte der neueren Sprachphilosophie eine erhebliche Bedeutung zu. Ohne den Einspruch ihrer Proponenten müsste es so aussehen, als gäbe es keine Alternative zu der von den Prosaisten etablierten Ordnung der Dinge. Es ist dieser Einspruch, der einen dritten Weg eröffnet. Ihm liegt das Motiv zugrunde, dass auch eine Theorie der prosaischen Rede nicht allein stehen kann – jenes Motiv, das es Herder erlaubt, eine »demokratische« Theorie der Sprache ins Spiel zu bringen. Damit ist eine Weichenstellung vorgenommen, die historisch zu einer Auflösung der Poesie-Gruppierung als einer unabhängigen Bewegung führt. Aus drei Parteien werden zwei: Die vermeintlich selbständige Poesie-Partei hat ein Fortleben allein in der demokratischen Partei.