Nichtrechthabenwollen - Martin Seel - E-Book

Nichtrechthabenwollen E-Book

Martin Seel

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Beschreibung

Müssen Philosophierende jederzeit recht haben wollen, selbst dann, wenn sie schreiben? Nein, antwortet Martin Seel: Sie müssen es nicht, wenn sie so frei sind, Gedankenspiele zu spielen, ohne Angst vor den Abenteuern der Künste zu haben. Wie das geht, führt dieses Buch aus der Perspektive der halb fiktiven, halb realen Figur dessen, der es gerade schreibt, in drei Runden vor. Die erste erkundet Wege, dem Zwang zum Rechthabenwollen zu entkommen. Die zweite überlässt sich diesen Abwegen in einem Feuerwerk von Gedanken und Bildern. Die dritte erzählt davon, wie es dazu kam, dass der Autor jemand geworden ist, der nicht mit sich im Reinen sein möchte. Auf dem schmalen Grat zwischen Philosophie und Literatur entwickelt sich so ein zugleich philosophischer und literarischer Versuch über das Verhältnis beider Schreibarten und ihrer Stellung zum übrigen Leben.

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Seitenzahl: 169

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Martin Seel

Nichtrechthabenwollen

Gedankenspiele

FISCHER E-Books

Inhalt

Ein VorsatzEinige VorworteMeditationen über ein WortungetümQuerfeldeinAbschiedsvorlesungDank an Thomas Assheuer, [...]

Ein Vorsatz

Ich möchte nicht länger recht haben wollen, jedenfalls nicht mit dem, was ich schreibe.

 

 

Das ist der Vorsatz, aus dem dieses Buch hervorgegangen ist. Ungewöhnlich ist dieser Vorsatz nicht. Viele Schriftsteller haben ihn seit jeher gehabt. In der Philosophie jedoch, könnte man meinen, bleibt den Schreibenden diese Möglichkeit verwehrt; sie sind darauf aus, recht zu bekommen, auch wenn es dazu nur selten kommt.

 

 

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Um zu sehen, wie es damit steht, empfiehlt es sich, die ausgeschilderten Routen zu verlassen und sich auf Abwege zu begeben, wie sie sich überall in der Landschaft der Philosophie auftun. Auf dieser frivolen Fahrt werden sich ständig wechselnde Ansichten und Aussichten ergeben, die in keine Übersicht münden. Gedankenspiele sind die Form des Denkens, bei der es nicht um den Durchblick geht.

 

 

Wie das geht und ob es überhaupt geht, davon handeln die Teile dieses Buchs. »Handeln« freilich ist übertrieben, aber mit Übertreibungen müssen Sie auf den folgenden Seiten ohnehin rechnen. Eine Handlung hat dieses Buch nicht: Es ist die Handlung, die in ein offenes Gelände des Denkens und Schreibens führt. Es besteht aus lauter Anläufen zu der Art von Text, den Sie in Händen halten. Weiter geschieht hier nichts. Aber wie immer, wenn weiter nichts geschieht, passiert allerlei, was so nicht zu erwarten war.

 

Sie merken schon:

Hier wird Ihnen nicht geholfen.

Hier wird Ihnen nichts versprochen.

Hier wird Ihnen keine Lehre angeboten.

Hier wird Ihnen nicht gesagt, wie Sie leben sollen.

Hier wird Ihnen nicht der Sinn des Seins vermittelt.

Hier wird Ihnen nicht gezeigt, wo alles seinen Grund hat.

Hier wird Ihnen nicht erklärt, was Sie immer schon wussten.

Hier wird ein Spiel gespielt, von dem nicht einmal sein Erfinder weiß, welchen Regeln es folgt.

Einige Vorworte

Nachdem ich schon ein paar meiner Karten auf den Tisch gelegt habe, folgt jetzt eine kleine Serie von Vorworten, mit denen dieses Buch sich auf seine Tonlagen einstimmt. Es steht ja nirgends geschrieben, dass ein Vorwort keine anderen neben sich haben dürfte. Weder Jean Paul noch Friedrich Nietzsche haben sich an dieses vermeintliche Gebot gehalten. Es steht auch nirgends geschrieben, dass die Vorworte eines Buchs mit einer Stimme sprechen müssen, sowenig es ausgemacht ist, dass ein Buch nur mit einer Stimme sprechen darf.

 

 

Vielleicht bestehen die Teile dieses Buchs ohnehin nur aus Vorworten zu Texten, die hier gar nicht stehen. Wäre das so, wären die folgenden Vorworte nichts weiter als Vorworte zu Vorworten, die in ein Spiegelkabinett führen, aus dem kein Ausweg vorgesehen ist. »Einige meiner ungeschriebenen Bücher« war einer der vielen Titel, die ich verworfen habe, aber das Verworfene – und selbst das Verwerfliche – nicht völlig aufzugeben, gehört zu den Reflexen, die ich nicht verloren geben will.

 

 

»Lauter erste Sätze« war auch eine Überschrift, bei der es nicht geblieben ist. »Verbot der letzten Sätze« wäre ebenfalls ein Kandidat gewesen, der es in die Endauswahl hätte schaffen können. Das Letzte ist das Allerletzte. Nicht das letzte Wort zu haben, nicht einmal so zu tun, als ob es darum ginge – darum geht es.

 

Ich werde in diesem Buch dreimal dasselbe tun. Ich werde Gedankenspiele spielen, die erkunden und vorführen, wie Gedankenspiele gehen, aber jedes Mal anders, wie es die Art solcher Spiele ist. (Wir werden uns auf dem schmalen Grat zwischen Philosophie und Literatur bewegen, Abstürze inbegriffen.)

 

 

»Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.« Das ist der erste, allein stehende Satz in Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, der am Ende des Romans, als die Todesursachen seines Helden vollends undurchsichtig geworden sind, mehrmals variiert wird. Fernando Pessoa, von dem heute jedes der betagteren Cafés im Zentrum Lissabons behauptet, er habe sich vor allem in seinem Halblicht zu Tode gesoffen, hat das Œuvre nicht einer, sondern einer Vielzahl von Dichterpersonen geschaffen, unter ihnen die kontemplative des Alberto Caeiro, die futuristische des Álvaro de Campos, die klassizistische des Ricardo Reis. Johnsons Jakob und Pessoas personae sind nicht die schlechtesten Leitfiguren eines Denkens, das es darauf anlegt, vom geraden Weg abzukommen.

 

 

Eine ermutigendere Geschichte erzählt William Carlos Williams im Vorwort seiner Autobiografie. Der Schreibtisch in seiner Arztpraxis war mit einer kleinen Hebebühne ausgestattet, mit der sich seine Schreibmaschine je nach Bedarf hervorzaubern oder in der Versenkung verschwinden ließ. »If the patient came in at the door while I was in the middle of a sentence, bang would go the machine – I was a physician. When the patient left, up would come the machine« – und er war wieder Dichter. Ich bin zwar nicht Landarzt, sondern Philosoph, aber mein Schreibzeug steht dem seinen in nichts nach. (Die beiden Berufe unterscheiden sich nur wenig: Der Arzt kuriert die Menschen von ihren Krankheiten, der Philosoph von ihrer Unberatenheit, so die offizielle Tätigkeitsbeschreibung; der eine lässt seine Patienten mit ihren Pathologien, der andere mit ihren Widersprüchen auskommen, so der inoffizielle Befund.) Schreibgeräte, die sich mühelos hervorzaubern und wieder verstauen lassen, haben heute alle dabei, die mit einem Laptop unterwegs sind. Man braucht das Gerät nur aufzuklappen, und schon ist der Halbsatz des Tages geschrieben. Das »bang« des mechanischen Zeitalters ist freilich verloren gegangen. Der Lärm der maschinellen Textherstellung hallt nur noch in der Erinnerung an Stanley Kubricks Horrorfilm Shining wider, in dem ein verrückt gewordener Schriftsteller zigtausend Mal einen einzigen Satz in die Tasten hämmert: »All work and no play makes Jack a dull boy.«

 

 

Quer über die Gleise kann man auf viele Weisen gehen. In der Literaturtheorie war eine Weile vom »offenen Kunstwerk« oder von »offenen Gedichten« die Rede. Man dachte an Textsorten und andere Kunstarten, die ihre Partien eher lose miteinander verbinden und dabei die etablierten Gattungsgrenzen kreuzen. Warum sollte es nicht auch eine offene Philosophie geben, die ihre Form darin findet, mit den Formen dieses Metiers zu spielen? Schließlich ist Philosophieren eine Kunstart, die weniger als jede andere auf ein bestimmtes Genre festgelegt ist. Hier wie in den anderen Künsten sind Verdichtung und Entzerrung zwei Triebkräfte ein und desselben Prozesses.

 

 

Etwas absichtsvoll Unfertiges zu machen, oder stehen zu lassen, oder geschehen zu lassen, oder es so aussehen zu lassen, ist eine Kunst in aller Kunst, selbst in denjenigen ihrer Spielarten, die nicht mit ihrer Unvollkommenheit prunken. Vollkommenheit ist für Anfänger. »Play what you can’t play«, soll Miles Davis zu seinen Musikern gesagt haben.

 

 

(Die Konjunktion »oder« wird in diesem Buch eine gewisse Rolle spielen; ob und wann sie einschließend oder ausschließend gebraucht wird, das zu entscheiden, bleibt Ihnen überlassen.)

 

 

Man kann auf zweierlei Weise philosophieren: so, dass man versucht, mit seinen Sätzen ein möglichst weitläufiges Gebäude zu errichten, in dem vieles seinen rechten Ort findet, oder so, dass man Landschaften skizziert, in denen alles auch anders sein könnte. Auf die eine Art bauen die Schreibenden aus ihren Sätzen ein mehr oder weniger geschlossenes System. Auf die andere Art lassen sie ihre Sätze und Zeilen auf freiem Feld stehen. Die einen arbeiten architektonisch, die anderen skulptural. Das eine Verfahren führt in die Hierarchie, das andere in die Anarchie, aber jedes enthält den Keim des anderen. Ludwig Wittgenstein hat aus den Sätzen seines Tractatus logico-philosophicus ein System errichtet, das zugleich die Parodie eines solchen ist. In den Philosophischen Untersuchungen hat er aus unzähligen Skizzen ein »Album« zusammengestellt, in dem manche Späteren Baupläne für ihre Theorien gefunden haben.

 

 

Es wäre ganz verkehrt, das systematische und das vagabundierende Denken gegeneinander auszuspielen. In der Sozietät der Philosophie genießen beide das volle Bürgerrecht. Es steht ihnen zu, voneinander Abstand zu halten, miteinander zu paktieren oder sich wechselseitig in die Parade zu fahren. Anything goes. In einer Atmosphäre zivilen Ungehorsams gedeihen die Ökonomien des Denkens am besten. Im Einklang mit dieser Lehre bestreitet dieses Buch niemandem das Recht, recht haben zu wollen. (Auch sein Autor wird es dann und wann in Anspruch nehmen.) Es stellt ihm nur das ebenbürtige Grundrecht, nicht recht haben zu wollen, zur Seite: die Erlaubnis zum privaten oder öffentlichen Gebrauch einer ungezügelten Gedankenfreiheit.

 

 

Philosophische Texte haben ihre eigene Musik. Einige gleichen Symphonien, andere einem Arrangement von Bagatellstücken, wieder andere breiten sich wie Flächenkompositionen aus oder bewegen sich nach Art der patterns und loops einer Minimal Music. Wer will, kann Rhythmen der einen Spielart in denen der anderen aufspüren. Von John Coltranes ausgedehnten Improvisationen A Love Supreme und Ascension zu der Aphoristik seiner späten Stellar Regions sind es zwar große, aber keine Giant Steps.

 

 

Es gibt auftrumpfende Aphorismen (Typus Karl Kraus) und abtrumpfende (Typus Friedrich Schlegel). Die einen stoßen ihre Leser mit overstatements vor den Kopf, die anderen ziehen ihnen mit understatements den Boden unter den Füßen weg. Mein Temperament verlangt nach jenen, mein Geschmack zieht diese vor. Willkommen in der Schizophrenie.

 

 

Den eigenen Widerspruch bejahen zu können, ist der Witz allen Humors – nicht nur im alltäglichen Lebenswandel, sondern auch auf den Bühnen des Denkens. Die wenigsten seiner Theoretiker jedoch haben damit ernst gemacht. »Wahrhaft philosophieren heißt der Philosophie spotten«, sagt Blaise Pascal. Die Philosophen haben diese Zeile nur verschieden interpretiert, aber es kommt darauf an, sie beim Wort zu nehmen.

 

 

Anderen ins Wort zu fallen ist meist eine Untugend, gelegentlich aber auch eine Tugend. Sich selbst ins Wort zu fallen dagegen ist oft eine Tugend. Auch sie aber kann, wie jede Tugend, zu einem Laster werden. Zu einem Laster wird sie, wenn Sprechende oder Schreibende, sei es vor lauter Skrupeln, sei es vor lauter Einfällen, das timing ihrer Darbietung vermasseln. Da hilft es nur, den Skrupeln mit Einfällen und den Einfällen mit Skrupeln Einhalt zu gebieten.

 

 

Gedankenspiele sind keine Wortspiele und auch nicht bloß Scherz, Satire, Ironie oder schiere Albernheit, so sehr das alles erlaubt ist. Denn es sind Gedanken, die ins Spiel gebracht und in ihm gehalten werden sollen. Gedanken, soweit sie eine sprachliche Form haben, lassen sich auf ihre Wahrheit oder Falschheit hin befragen. Zu ihrem Wahrheitswert aber kann man sich unterschiedlich verhalten. Man kann auf ihm beharren, man kann an ihm zweifeln oder an seiner Unentscheidbarkeit verzweifeln. So verhalten sich alle, die nach dem Besitz der Wahrheit streben. So verhalten wir uns alle, soweit wir nach dem Besitz der Wahrheit streben. Doch der Besitz der Wahrheit ist nicht alles, worauf es im Denken ankommt. Wir können uns auch einem freien Spiel unserer Gedanken hingeben. Als Einsatz gilt dann jeder Satz, der attraktiv genug ist, um das Denken zu weiteren Einsätzen zu animieren. Solange die Kugel rollt, bleibt die Wahrheitsfrage eingeklammert. Abgerechnet wird hinterher. Unveräußerliche Wahrheiten sind ein Abfallprodukt der Verschwendung geistiger Ressourcen.

 

 

Gedankenspiele sind keine Gedankenexperimente. Diese dienen der Verdeutlichung, Überprüfung oder Entfaltung eines Arguments, jene dienen zu gar nichts.

 

 

Wer das Denken zu ernst nimmt, nimmt es nicht ernst genug. »Denken wir, weil es sich bewährt hat, zu denken?«, fragt Wittgenstein einmal. Wenn man sich die Geschichte der Menschheit anschaut, sind daran erhebliche Zweifel erlaubt. Nein, wir denken, weil wir nicht anders können, als im Denken immer auch anders zu können.

 

 

Spiele können immer wieder von neuem beginnen. Ein nicht endendes wäre keins. Der Sinn gleich welcher Spiele liegt weniger in ihrem Ausgang als in ihrem Anfang. Auch bei Wettkampfspielen ist das so; das Vergnügen an ihnen lebt von ihrem ungewissen Ausgang. Bei der Lust am Denken verhält es sich kaum anders, jedoch mit einem Unterschied: Gedankenspiele kann man nicht gewinnen.

 

 

Wenn man älter wird, genau genommen ist das ja immer der Fall, wird es Zeit, mit dem Aufhören aufzuhören und mit dem Anfangen anzufangen. Um aber von vorn zu beginnen, muss man zurückgehen können. (Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Prinzip, auch als Mythos des Sisyphos bekannt.) Nur wer sich wiederholen kann, bleibt nicht in Wiederholungen stecken. Nur wer auf etwas zurückgreifen kann, kann mit sich etwas anfangen. Nur wer auf sich zurückgreifen kann, kann über sich hinaus gelangen. Etwas mit sich und also etwas mit etwas und mit anderen anfangen zu können – das ist schon ein Anfang und beinahe das A und O von allem, was zählt.

 

 

Also noch einmal – und immer wieder – von vorn.

Meditationen über ein Wortungetüm

1

Ich möchte nicht länger recht haben wollen.

 

Soll er doch sehen, wie weit er damit kommt, werden Sie sagen. Recht so. Eben darum geht es: zu verfolgen, wie weit man es mit dem Nichtrechthabenwollen treiben kann.

 

Dieses Wortungetüm lasse ich die vielköpfige Hydra des Rechthabenwollens zu einem danse macabre auffordern. Schauen wir zu, wie sich mein kleines Begriffsmonster bei diesem Tanz aus der Affäre zieht.

2

»Have you ever considered any real freedoms? Freedoms from the opinions of others? Even the opinions of yourself?« Diese Frage richtet Colonel Kurtz (Marlon Brando) am Ende von Francis Ford Coppolas Film Apocalypse Now an sein Gegenüber, Captain Willard (Martin Sheen). Dieser hat, wie Kurtz weiß, den geheimen Auftrag, ihn, den abtrünnigen Elitesoldaten, zu liquidieren. Kurtz hält Willard in seinem mörderischen Privatreich jenseits der vietnamesischen Grenze gefangen, wird es aber bald darauf zulassen, dass dieser zu seinem Schlächter wird.

 

Radikaler noch als die Figur des Bartleby in Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung träumt Kurtz davon, den Zwang nicht nur zu eigenen Entscheidungen, sondern auch zu eigenen Überzeugungen loszuwerden. Sich von den eigenen Überzeugungen zu befreien, so etwas kann sich nur ein Verrückter wünschen. Colonel Kurtz ist wahnsinnig, was sich allein daran zeigt, dass ihn die Frage, ob er an höherer Stelle dafür gehalten wird, mehr als jede andere beschäftigt. Eine Freiheit von den Meinungen anderer jedenfalls hat er noch nicht erlangt. Mit den schleppenden Worten eines lebensmüde gewordenen Potentaten erkundigt er sich bei Willard nach den Gründen für dessen Mission.

Kurtz: Did they say why, Willard? Why they wanted to terminate my command?

Willard: I was sent on a classified mission, Sir.

Kurtz: It’s no longer classified, is it? – What did they tell you?

Willard: They told me that you had gone totally insane and that your methods were unsound.

Kurtz: Are my methods unsound?

Willard: I don’t see any method at all, Sir.

»Ist dies schon Tollheit, so hat es doch Methode«: Willard verweigert seinem Peiniger das Kompliment, das Polonius in Shakespeares Drama dem Geisteszustand Hamlets macht.

 

Mag das, was ich hier treibe, auch Tollheit sein, einer Methode folgt es nicht. Vielleicht ist es das, was mich bei Sinnen bleiben lässt.

3

Ich möchte nicht länger recht haben wollen.

 

Das geht erst einmal gar nicht. Denn schon um diesen einfachen Vorsatz niederzuschreiben, muss ich annehmen, mit einigem recht zu haben. Ich kann die sieben Worte dieses Satzes nicht verwenden, ohne zu glauben, dass sie die Bedeutung haben, die ihnen in dieser Zusammenstellung zukommt. Der Umgang mit diesen und zahllosen anderen Worten verlangt vielerlei Kenntnisse – Kenntnisse nicht bloß der Sprache, sondern der Wirklichkeiten, von denen sie spricht. Auch ein so beredter Irrer wie Kurtz muss darauf vertrauen, dass er sich im Gebrauch seiner Worte nicht durchgängig irrt.

 

Personen haben Überzeugungen, an die sie sich halten müssen, solange sie diese für wahr halten. Ihre Fähigkeit zu denken und zu handeln hängt von einem erheblichen Zutrauen in das eigene Rechthaben oder doch Rechthabenkönnen ab. Zwar müssen – und sollten – wir nicht glauben, überall recht zu haben, denn das wäre nur eine andere Art der Verrücktheit. Aber niemand, kein denkendes Wesen, kann auf ganzer Linie nicht recht haben wollen – es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe.

4

»And I may be wrong but I won’t be wrong all way

And I may be wrong but I won’t be wrong all way.«

So beginnt der Text des von Count Basie und Jimmy Rushing komponierten Songs Boogie Woogie (I May Be Wrong), ein musikalischer Abschiedsbrief eines Mannes an sein »baby«, dem Rushing seine brüchige Stimme leiht.

 

In einer ähnlichen Lage aber sind wir jederzeit alle, ganz gleich, was gerade unsere dringendsten Sorgen sein mögen. Wir sind es einfach dadurch, dass wir mit den Überzeugungen durchs Leben gehen, die nun einmal die unseren sind.

 

Wir könnten nicht irren, wenn wir nicht auch recht hätten. Wir könnten nicht falsch liegen, wenn wir nicht auch richtig lägen. Wir könnten nicht zweifeln, wenn wir uns nicht in vielem sicher wären. Wir könnten uns selbst nicht verstehen, wenn nicht viele unserer Überzeugungen wahr wären. Wir könnten die anderen nicht verstehen, wenn wir ihnen nicht in vielem recht geben würden. Wir könnten uns selbst und einander nicht missverstehen, wenn wir nicht glaubten, uns einen Reim auf ihre Ansichten und Absichten machen zu können. Wir könnten nicht miteinander streiten, wenn wir nicht wüssten, worüber wir streiten. Wir könnten miteinander nicht darüber streiten, worüber wir uns eigentlich streiten, wenn wir nicht sicher sein könnten, bei aller Uneinigkeit wenigstens eine gemeinsame Sprache zu sprechen.

 

Dass wir uns überhaupt verstehen, wenn auch nicht immer, nicht immer gut und nie überall – das allein zeigt schon, dass viele unserer Überzeugungen wahr sind. Wären sie es nicht, könnten wir gar nicht wissen, wovon die Rede ist, selbst dann, wenn wir anderer Meinung sind.

5

Mit alldem möchte ich auch noch recht haben – womit es so aussieht, als hätte ich mein Vorhaben schon nach wenigen Seiten gegen die Wand gefahren. Denn ich bin mit meinem Versuch in keiner besseren Lage als irgendjemand anderes. Ich kann mich dem Verlangen, recht zu haben, nicht dauerhaft entziehen, weil solche wie wir es nicht können.

 

Der Anspruch auf Wahrheit ist ein unentbehrliches Gelenk unserer Art zu leben. Wir müssen annehmen, dass viele unserer Überzeugungen wahr sind, andernfalls kämen wir nirgends zurecht. Wir könnten keine Absichten haben, wenn wir diese nicht wahr machen wollten. Wir könnten uns nichts wünschen, würden wir nicht hoffen, dass unsere Wünsche wahr werden. Wir könnten nichts versprechen, würden wir nicht wissen, was es heißt, das Versprochene wahr werden zu lassen. Wir könnten nicht heucheln, lügen und betrügen, wenn wir nicht zu wissen glaubten, wie es wirklich um die fraglichen Dinge steht.

6

Jedoch ist der Wahrheitsbezug, der uns im Denken und Handeln begleitet, nicht gleichbedeutend mit einer Jagd nach Wahrheitsbesitz. Die Wahrheit unserer eigenen Meinungen ist kein Eigentum, auf das wir einen verbrieften Rechtsanspruch hätten. Die Wahrheitsorientierung, ohne die wir uns nicht orientieren können, verkommt, sobald wir uns auf unser Rechthaben versteifen. Niemand hat überall recht. Niemand kann es überall recht machen – weder sich, noch den anderen, noch dabei, worauf es jeweils ankommt.

 

Das Wörtchen »wahr«, das auch in manch anderer Sprache zu den four letter words zählt, ist ein beständiger Widerhaken im Gefüge unserer Gedanken. Zusammen mit seinem Gegenpart, dem Wörtchen »falsch«, hält es den möglichen Zweifel an unseren Überzeugungen wach. Darin liegt der Sinn aller Rede von Wahrheit und Falschheit: sich im Glauben an die Richtigkeiten des eigenen Meinens und Machens das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit nicht vernebeln zu lassen.

7

In jedem größeren Gebäude finden sich heutzutage farbige Piktogramme, die den Weg zum Ausgang und zu den Notausgängen anzeigen. Solche Zeichen sind auch die Wörter »wahr« und »falsch«. Sie weisen Individuen und Kollektive auf Fluchtwege aus ihren Verblendungen hin.

8

Aber ich will keine offenen Türen einrennen. Es geht mir nicht um eine Kritik der Rechthaberei. Auch wenn dieses Laster eine der Nebenwirkungen des Rechthabenwollens ist, wäre es abwegig, deswegen überhaupt nicht mehr recht haben zu wollen. Mein Faible für das Nichtrechthabenwollen beruht nicht auf dem Glauben, Rechthaben und Rechtfertigung seien von Übel. Es beruht auf dem Glauben, dass es im Denken und Schreiben auch anders geht.

9

Unter dem Titel Die Kunst, recht zu behalten listet Arthur Schopenhauer mit satirischem Vergnügen 31 Manöver auf, die Personen dazu befähigen, zur Befriedigung ihrer Eitelkeit in Disputen jedweder Art »den Schein der Wahrheit zu erlangen unbekümmert um die Sache«. Leute, die diese Techniken beherrschen, wollen gar nicht recht haben, sondern nur in den Augen der anderen recht bekommen, koste es an Aufrichtigkeit, Anstand und Wahrheit, so viel es wolle. Sie reden bullshit und sind auch noch stolz darauf. Um damit zu reüssieren, müssen sie jederzeit so tun, als ginge es ihnen darum, recht zu haben. Mein Verzicht auf das Rechthabenwollen hat damit nichts zu schaffen, denn wer nicht recht haben will, kann gut damit leben, nicht recht zu bekommen.

 

Doch ich will auch nicht so hoch hinaus wie Søren Kierkegaard, der es am Ende seines Werks Entweder – Oder