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Gerade erst dem Horror in einer verunglückten Seilbahngondel entkommen, müssen die Überlebenden feststellen, dass einer von ihnen einen grausamen Schwur geleistet hat. Er kennt keine Skrupel und keine Gnade, ist der Polizei stets zwei Schritte voraus. In einer atemlosen Jagd verfolgt er die Überlebenden quer durch Europa bis auf die Kanarischen Inseln. Und er macht keine Fehler, denn er hält sich an die Grundsätze seiner mörderischen Gelüste: die dreizehn Gebote. Doch nicht einmal der Jäger ahnt, dass eine völlig andere Kraft in das tödliche Spiel eingreift – und diese Kraft erweckt die Urgewalt des Feuers ... 13 GEBOTE kann als Einzelwerk oder als Fortsetzung zu KABINE 14 gelesen werden.
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Seitenzahl: 481
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Den Überlebenden eines Seilbahnunglücks in Tirol fällt es schwer, in die gewohnte Normalität zurückzukehren. Angst und Verzweiflung sind allgegenwärtig – und das zu Recht. Ein düsteres Geheimnis verbindet einen von ihnen mit dem in der Seilbahngondel umgekommenen Frauenschänder. Er legt den Schwur ab, alle Überlebenden zu töten. In seinem grausamen Plan stützt er sich auf die Grundlage seiner mörderischen Gelüste: die dreizehn Gebote.
Als die Kriminalisten erkennen, dass sie einem fatalen Irrtum erlegen sind, eröffnen Polizei und Angehörige eine Hetzjagd, die von Italien über Österreich, Frankreich und Deutschland bis auf die Kanarischen Inseln führt. Stets ist der Killer den Verfolgern zwei Schritte voraus, kommt seinen Opfern bedrohlich nahe.
Doch nicht einmal der Mörder ahnt, dass eine völlig andere Kraft in das tödliche Spiel eingreift – und diese Kraft erweckt die Urgewalt des Feuers…
13 GEBOTE kann als Einzelwerk oder als Fortsetzung zu KABINE 14 gelesen werden.
Mortimer M. Müller schreibt seit seiner Jugend Lyrik, Kurzgeschichten und Romane in den Genres Thriller, Fantastik und Satire. Daneben ist er in den kreativen Bereichen Gesang und Fotografie aktiv. Er arbeitet und studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien.
Sein Kitzbühel-Thriller KABINE 14 wurde für den Friedrich-Glauser-Preis 2014, Sparte Debütroman, nominiert.
Mehr Informationen finden Sie unter:http://blog.mortimer-mueller.at
Weitere Romane des Autors sind in Vorbereitung.
meiner Mutter
die mit unermüdlicher Fürsorge dazu beigetragen hatdass ich erkennen durftewas im Leben wirklich wichtig ist
José
Winzer auf Teneriffa
Ramona
seine Frau
Carmen
seine Geliebte
Ferdinand
Architekt aus Wien
Samantha
Ferdinands sechsjährige Tochter
Sebastian
Seilbahnmitarbeiter aus Kitzbühel
Emma
Krankenschwester aus Südtirol
Matteo
ihr Ehemann, Chirurg
Hans
Förster aus Südtirol
Bernadette
Waldbrandforscherin in Ispra, Italien
Bernhard
Kriminalkommissar, Sonjas Vater
Anna
Bernhards Partnerin
Dolores
Bernhards Exfrau
Mathias
Bayerischer Polizeivizepräsident
Astrid
Leiterin einer Spezialeinheit der Polizei
Raphael
Doktorand aus München
Sonja
seine Freundin, Studentin
Sandra
sechzehnjährige Schülerin aus Hamburg
Michelle
ihre beste Freundin
Justin
Michelles Onkel, Fallanalytiker
Sergio
Direktor der Waldbrandeinheit auf Teneriffa
Teneriffa, Icod de los Vinos, El Amparo
Wien, Hernals
Tirol, Krankenhaus Kufstein, HNO-Abteilung
Ispra, Europäische Kommission, Joint Research Centre (JRC), Institut für Umwelt und Nachhaltigkeit (IES)
Bayern, A8 bei Rosenheim
München, Untergiesing-Harlaching
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld
Südtirol, SS44 bei Sterzing
Teneriffa, Icod de los Vinos, El Amparo
Südtirol, Sterzing im Wipptal, Gilfenklamm
Das erste Gebot: SEI NIEMALS DU SELBST
Wien, Währing
München, Untergiesing-Harlaching
Bayern, Irlbach bei Straubing
Straubing
Kärnten, A2, Raststation Völkermarkt
Das zweite Gebot: HANDLE NIEMALS UNÜBERLEGT
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Tirol, Krankenhaus Kufstein, HNO-Abteilung
Südtirol, Sterzing im Wipptal, Gilfenklamm
Ispra, Europäische Kommission, JRC, IES
Wien, Innenstadt
Das dritte Gebot: HABE IMMER EINEN PLAN B
Wien, Währing
Wien, Hernals
Hamburg-Nord, Ohlsdorfer Friedhof
Wien, Hernals
Hamburg-Nord, Ohlsdorfer Friedhof
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Wien, Alsergrund, Allgemeines Krankenhaus (AKH)
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld
Bayern, Irlbach bei Straubing
Salzburg, A1 bei Eugendorf
Teneriffa, Santa Cruz, Salud
Wien, Hernals
Hamburg-Mitte, Sankt Pauli
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld
Bayern, Irlbach bei Straubing
Tirol, Krankenhaus Kufstein
Wien, Hietzing
Südtirol, Sterzing im Wipptal, Krankenhaus
Tirol, Sankt Johann
Sizilien, Messina
München, Untergiesing-Harlaching
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld
Wien, Hietzing
Sizilien, Messina, Badiazza
Emilia-Romagna, Piacenza
Das vierte Gebot: TRAINIERE HART
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Teneriffa, Icod de los Vinos, El Amparo
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld, Polizeikommissariat
Ispra, Europäische Kommission, JRC, IES
Wien, Hernals
Teneriffa, Santa Cruz, Salud
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Wien, Hernals
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Flughafen Teneriffa Süd
Südtirol, Sterzing im Wipptal, Krankenhaus
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Bayern, Straubing, Polizeipräsidium
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Das fünfte Gebot: FINDE EIN VENTIL
Teneriffa, San Isidro
Südtirol, Sterzing im Wipptal, Krankenhaus
Wien, Hernals
Hamburg, Wandsbek, Bramfeld
über Südbayern
Südtirol, Sterzing im Wipptal, Krankenhaus
Wien, Hernals
über dem Genfer See
Südtirol, Schlanders
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Marseille, Flughafen
Das sechste Gebot: LASS DIR ZEIT
Côte d’Azur, Cassis bei Marseille
Teneriffa, Icod de los Vinos, El Amparo
über Hamburg
Tirol, Innsbruck
Wien, Hernals
Hamburg-Mitte, Altstadt
Tirol, Innsbruck, Flughafen
Hamburg-Mitte, Neustadt, Untersuchungshaftanstalt
über dem westlichen Mittelmeer
Das siebente Gebot: MEIDE BEKANNTE GESICHTER
Hamburg-Mitte, Neustadt
Teneriffa, Santa Cruz, Anaga
Ispra, Europäische Kommission, JRC, IES
Niederösterreich, Flughafen Stockerau
Hamburg, Flughafen
Teneriffa, El Rosario, Las Lagunetas
Wien, Strebersdorf
Teneriffa, Anaga-Gebirge, Mercedeswald
Flughafen Teneriffa Süd
Das achte Gebot: NIMM DAS ENDE DER WELT
Teneriffa, Santa Cruz, Salud
über Ostfrankreich
Teneriffa, Santa Cruz, Salud
Nordküste bei Los Realejos
La Orotava
Santa Catalina
Icod de los Vinos
Flughafen Wien Schwechat
Teneriffa, Caldera des Teide
Das neunte Gebot: FINDE IHRE STÄRKEN
Teneriffa, El Rosario, Las Lagunetas
über Norditalien
Teneriffa, Pinolerís
TF-5 bei Icod el Alto
östlich von Pinolerís
TF-5 bei Cuesta de la Villa
Flughafen Teneriffa Süd
Los Christianos
TF-1 bei Los Christianos
Das zehnte Gebot: GEH AUF NUMMER SICHER
La Orotava
Icod de los Vinos
Santa Cruz, Centro
Flughafen Teneriffa Süd
Icod de los Vinos, San Marcos
Icod de los Vinos, La Mancha
Icod de los Vinos, El Amparo
San Miguel
Icod de los Vinos, San Marcos
Das elfte Gebot: TU ES NACHTS
Pico del Teide
Icod de los Vinos, San Marcos
La Orotava
Icod de los Vinos, El Amparo
Icod de los Vinos, San Marcos
San Miguel
Icod de los Vinos, Calle San Agustin
Icod de los Vinos, La Mancha
Icod de los Vinos, Calle San Agustin
Icod de los Vinos, Cueva del Viento
La Orotava
Icod de los Vinos
San Miguel
in der Höhle des Windes
Icod de los Vinos, El Amparo
Icod de los Vinos, Calle los Reyes
Icod de los Vinos, Cueva del Viento
Icod de los Vinos, El Amparo
Icod de los Vinos, Cueva del Viento
TF-373 bei La Montañeta
Das zwölfte Gebot: BENUTZE KÖRPER UND GEIST
San José de los Llanos
Lavafelder oberhalb von Icod de los Vinos
Das dreizehnte Gebot: GENIEßE!
La Orotava
Santa Cruz, La Laguna, Klinik Rambla
Santa Cruz, Polizeizentrale
Santa Cruz, La Laguna, Klinik Rambla
Santa Cruz, Kirche San Francisco de Asís
Hamburg-Nord, Ohlsdorfer Friedhof
Teneriffa, Icod de los Vinos, oberhalb von El Amparo
Sonntag, 07. Januar, 09:30 Uhr Lokalzeit
José Gomez Durán liebte nichts so sehr wie seinen Wein. Er bewirtschaftete fast dreißig Hektar Rebenfläche, etwa einen Kilometer Richtung Süden, direkt an den ersten schroffen Hängen des Teide. In einer Seehöhe von sechshundert bis achthundert Metern gelegen, lag das Anbaugebiet die meiste Zeit des Jahres unterhalb der Passatwolken. In Kennerkreisen galten seine Rotweine als die besten der Insel. Sein Suertes del Tintilla gewann regelmäßig Preise bei nationalen und internationalen Weinmessen. Obwohl Josés Schwerpunkt auf Rotweinen lag, hatte er vor einigen Jahren mit Malvasia eine Weißweinsorte angebaut, die sich inzwischen ebenfalls großer Beliebtheit erfreute.
Die Terrassenbewirtschaftung und die kleinparzellige Gliederung erschwerten die Bearbeitung der Flächen. Dennoch ließ es sich gut davon leben. So gut, dass er sich zwei Häuser leisten konnte; und neben seiner Ehefrau Ramona ein hübsches junges Mädchen in Santa Cruz aushielt.
José blinzelte in die aufgehende, von Staubschlieren verdeckte Sonne und schnappte nach seiner Hutkrempe, als ihm eine plötzliche Böe seine Kopfbedeckung entreißen wollte. Die Calima hielt die Insel seit mehr als drei Wochen fest im Griff. Der steife Ostwind brachte nicht nur für die Jahreszeit ungewöhnlich warme und trockene Luftmassen, sondern auch gelben Wüstensand aus der Sahara mit sich. Jeden Morgen musste José die Scheiben seines Jeeps von einer feinen Staubschicht befreien. Aber er wollte nicht klagen. Im Norden Europas tobte der schwerste Winterorkan seit Jahrzehnten. Dutzende Menschen waren dem Sturm bereits zum Opfer gefallen. Da waren ihm Trockenheit und Temperaturen über fünfundzwanzig Grad fürwahr lieber.
Auch seinen Reben behagte das warme Wetter. Allerdings ließen sich erste Anzeichen von Trockenstress erkennen. José hoffte auf Niederschlag innerhalb der nächsten zwei Wochen, andernfalls würde es kritisch werden; und zwar auf jenen Flächen, auf denen er keine Berieselungsanlagen installiert hatte. Die jungen Sprosse vertrugen keine langen Dürreperioden. Trockenheit wirkte sich hier negativ auf die Anzahl und Qualität der Trauben aus. Dieses Jahr wollte er endlich eine Goldmedaille bei Mundus Vini, dem großen deutschen Weinpreis, erringen. In der Vergangenheit hatte es immer nur für Silber gereicht.
José schulterte seinen Rucksack und strich sich über den buschigen Schnurrbart. Heute würde er zu Fuß gehen. Er wollte seine nächstgelegenen Parzellen besichtigen und den Rebschnitt vor zwei Tagen begutachten. Hoffentlich hatten Pablo und Fernández alle Anweisungen befolgt.
»Hasta luego!«, rief er seiner Frau zu. Dann machte sich José auf den Weg.
Montag, 08. Januar, 07:00 Uhr
»Ihr müsst heute nicht in die Schule«, sagte Ferdinand.
Moritz reagierte überhaupt nicht und starrte schweigend auf sein unberührtes Toastbrot. Auch Samuel warf seinem Vater bloß einen leeren Blick zu. In den Augen seines Sohnes erkannte Ferdinand seine eigenen Empfindungen: Trauer, Unverständnis, Verzweiflung – und Reue.
»Ich will aber in die Schule«, sagte Samantha. Das sechsjährige Nesthäkchen der Familie hatte seinen Grießbrei bis zum letzten Löffel verspeist und blickte entschlossen zu Ferdinand hinüber.
»Mama hat gesagt, es ist wichtig, dass ich in die Schule gehe.«
Samanthas Augen waren von einem blassen Blau mit einem hellgrünen Rand dicht um die Pupillen. Ohne Zweifel Doris Augen.
Ferdinand sah zu Boden. Er konnte diesen Anblick nicht ertragen. Nicht, ohne sich schmerzlich an seine verstorbene Frau zu erinnern; falsch, seine ermordete Frau.
»Wenn du möchtest, dann geh in die Schule.«
»Okay.« Samantha legte artig die Serviette neben den Teller und sprang von ihrem Stuhl. »Ich nehm den Bus. Darf ich mir die Schoko vom Küchentisch als Jause mitnehmen?«
»Ja.«
»Und die restlichen Kekse von Oma?«
»Ja.«
Samantha summte Maikäfer flieg, während sie ihre Schätze in den Schulranzen stopfte. Ferdinand beobachtete sie halb beeindruckt, halb neidvoll. Er konnte nicht sagen, wie es Samantha gelang, den Tod ihrer Mutter so rasch zu bewältigen; oder zumindest so bald wieder in den Alltag zurückzufinden. Möglich natürlich, dass diese Gleichgültigkeit nur oberflächlich war. Aber konnte sich ein Kind von sechs Jahren derart verstellen, eine solch perfekte Maske tragen? Gleich heute Nachmittag würde er mit seinen Kindern zu Julius Müller, einem honorierten Therapeuten in Wien gehen. Ihn kannte Ferdinand schon seit dem Studium, wodurch Julius so einiges über sein Seelenleben wusste. Er würde ihm mit Sicherheit sagen können, was in der momentanen Situation zu tun war und wie die Erlebnisse am besten verarbeitet werden konnten.
Insgeheim wünschte sich Ferdinand, er möge ebenso gut mit dem Ableben seiner Frau zurechtkommen, wie Samantha. Aber das tat er nicht. Vielleicht lag es an dem angespannten Verhältnis, in dem sie auseinandergegangen waren. Vielleicht an der plötzlichen Einsamkeit, die in ihr Heim eingedrungen war. Wahrscheinlich aber an seinen Schuldgefühlen: Immer mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass Doris noch am Leben wäre, wenn er sich nicht so hartherzig und unnachgiebig gezeigt hätte. Fast sehnte er sich nach ihrem gemeinsamen Alltagstrott zurück, den wiederkehrenden Spitzen, unausgesprochenen Fragen, kaum verhüllten Geheimnissen. Alles wäre besser, als die momentane Situation, die derzeitigen Empfindungen, die in ihm auf- und niederschwappten, wie Meereswogen in der Brandung.
Es gibt kein Zurück, dachte Ferdinand und strich sich über die schwarz gefurchten Ringe unter den Augen. Sie kehrt nicht zurück. Nie mehr.
Montag, 08. Januar, 08:00 Uhr
»Hallo, Sebastian?«
Der Seilbahnmitarbeiter öffnete die Augen. Ein erfreutes Lächeln erschien auf seinen Zügen, als er die Stimme erkannte.
»Ja«, flüsterte er. »Kannst reinkommen.«
Matteo betrat das Krankenzimmer. Die kurzen, dunkelbraun gefärbten Haare des Chirurgen standen wirr vom Kopf ab. Gemeinsam mit der schmalen, randlosen Brille wirkte er verwegen, fast wie ein verrückter Professor. Er sah eindeutig jünger aus als Ende fünfzig.
Matteo musterte Sebastian, der aufrecht im Krankenbett saß. »Wie war die Operation?«
»Gut«, krächzte Sebastian und griff sich an den Halsverband. »Glaube ich.«
Matteo nickte. »Wenn du jetzt schon reden kannst und nicht einmal Sprechverbot erhalten hast, ist sie definitiv gut verlaufen. Deine Stimmbänder müssen durch den Schlag unbeschädigt geblieben sein und dein Kehlkopf war wohl nur deformiert, nicht zertrümmert. Sonst würdest du jetzt mit einem Tracheostoma hier liegen.«
Sebastian verzog das Gesicht. »Ja. Ich bin wirklich froh, dass es nicht notwendig war. Die Ärzte haben gemeint, dass du mir mit deinem Eingriff das Leben gerettet hast.«
Matteo zuckte die Schultern. »Einen Luftröhrenschnitt könnten auch Krankenschwestern und Sanitäter durchführen. Ist keine große Sache.«
»Trotzdem. Vielen Dank – ohne dich wäre ich jetzt tot.«
»Bedank dich lieber bei Emma. Sie hat mich erst darauf hingewiesen, dass du Hilfe brauchst.«
»Wo ist deine Frau? Kommt sie auch vorbei?«
»Natürlich. Sie sollte gleich hier sein. Weißt du schon, wie lange du im Krankenhaus bleiben musst?«
»Angeblich bis Mittwoch. Solange keine Komplikationen auftreten.«
»Kann man bei einer Hals-OP nicht ausschließen. Aber ich wünsche dir das Beste. Emma und ich fahren jetzt heim nach Südtirol. Vielleicht sehen wir uns mal wieder?«
»Gern.« Sebastian nickte etwas zu heftig und verzog das Gesicht. »Telefonnummern und Adressen haben wir ja ausgetauscht.«
»Fein.« Matteo lächelte. »Womöglich ergibt sich in naher Zukunft ein Treffen.«
Montag, 08. Januar, 08:30 Uhr
»Bitch«, murmelte Bernadette Langrew und knallte den Hörer auf die Bedienstation.
»Was ist los?« Patrick Sommer, der zweite diensthabende Wissenschaftler im Raum, lugte über die Oberkante seines Notebooks.
»Dreimal darfst du raten«, knurrte Bernadette und fuhr sich durch ihre kurzen, feuerrot gefärbten Haare. »Marko ist schon wieder nicht erreichbar. Sagt die Sekretärin.«
»Geht es um die Online-Warnungen?«
»Natürlich. EFFIS funktioniert noch immer nicht.«
»Wie lange besteht das Problem jetzt schon?«
»Fast drei Wochen.«
»Dir ist schon klar, dass…«
»Selbstverständlich.« Bernadettes dunkle Augen funkelten. »Mir ist sehr wohl bewusst, dass ziemlich jedem die Waldbrandgefahr am Arsch vorbeigeht.«
Patrick kratzte sich den haarlosen Schädel. »Ich würde das nicht so persönlich nehmen. Marko hat einfach andere Sorgen. Zuerst der Jahrhundertsturm, danach die Flutwelle an der Nordsee, die Schneekatastrophe in den Westalpen und ab morgen vielleicht eine neue, noch heftigere Sturmflut. Da kann eine funktionierende Waldbrandvorhersage nicht seine erste Priorität sein.«
»Das verlange ich auch gar nicht. Aber drei Wochen – ich bitte dich! Wahrscheinlich ist es nur ein winziger Bug, den ein Programmierer in wenigen Minuten beheben könnte.«
»Möglich. Nur jetzt waren Weihnachten, die Feiertage, Neujahr… Dazu die Häufung an extremen Wettererscheinungen. Mein Freund Roman sitzt in der Programmierabteilung. Er klagt schon seit Tagen, dass sie mit der Arbeit nicht nachkommen.«
Bernadette seufzte leise und massierte ihren Nasenrücken. »Du hast ja recht. Trotzdem: Spanien, der Süden Italiens, Teile von Griechenland und die Türkei erleben die schlimmste Winterdürre seit Jahrzehnten. Erst gestern ist wieder eine Meldung von einem Waldbrand auf Korfu eingetroffen. Innerhalb von nur drei Stunden sind dort fünfzig Hektar verbrannt.«
»Alles richtig«, bestätigte Patrick. »Aber noch hält sich die Zahl an Feuern in Grenzen. Ich denke, es sind zwei Faktoren, welche die aktuelle Gefährdung verringern: Erstens der niedrige Sonnenstand und die damit gedämpften Temperaturen. Zweitens der sozioökonomische Aspekt: Wie du weißt, ist Brandstiftung in den genannten Ländern einer der Hauptgründe für unkontrollierte Brände. Nur schickt die Baumafia ihre Handlanger sicher erst im Sommerhalbjahr aus.«
»Okay, okay«, lenkte Bernadette ein. »Ich werde Marko noch ein paar Tage Zeit geben. Ist ja auch nur das öffentliche Web-GIS, das Probleme bereitet. Die Warnungen an die nationalen Stellen sind nicht betroffen.«
»Eben. Davon abgesehen haben die meisten Staaten ein eigenes Vorhersagesystem für Waldbrände. Denen ist egal, ob und welche Daten wir publizieren, so nach dem Motto: Seit wann kann die Europäische Union etwas besser als wir?«
»Wo du recht hast, hast du recht«, brummte Bernadette und widmete sich dem nächsten Punkt auf ihrer Agenda.
Montag, 08. Januar, 10:30 Uhr
»Du bist so still«, sagte Kriminalkommissar Bernhard Lichtenberger und warf seiner Partnerin einen flüchtigen Blick zu. »Alles in Ordnung?«
Anna seufzte tief und streckte sich, was in der Enge des Dienstwagens kein leichtes Unterfangen war. »Wie man’s nimmt. Ich habe gestern zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Menschen geschossen; und ihn getötet.«
Bernhard wandte seinen Blick vom Straßenverlauf ab und musterte Anna erneut, diesmal eindringlicher. Er war sich nicht sicher, wie ihre Worte gemeint waren. Sie wirkte weder verstört, noch so, als hätte sie ein schlechtes Gewissen – was Bernhard ehrlich gesagt auch verwundert hätte.
»Ohne dich wären weitere Menschen gestorben.«
»Vermutlich. Trotzdem. Ich muss die ganze Zeit daran denken, wie es ausgegangen wäre, wenn ich nicht geschossen hätte. Oder ihn zumindest nicht umgebracht hätte. Nur eine Winzigkeit nach unten…«
»Hattest du den Kopfschuss beabsichtigt?«
»Ja.«
Bernhard erkannte auch jetzt kein Bedauern, weder in Annas Stimme noch auf ihren Gesichtszügen. Dennoch schien ihr etwas zu schaffen zu machen.
»Du wirst deswegen keine Probleme bekommen. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass dir niemand ein Disziplinarverfahren anhängt.«
»Nein, das macht mir keine Sorgen. Ich weiß, dass ich richtig gehandelt habe. Es mag verrückt klingen, aber… Ich hatte heute Nacht einen sehr eigenartigen Traum.«
»So?«
»Ja, ich… habe von dem Moment des tödlichen Schusses geträumt. Durch das Zielfernrohr konnte ich Bocconcellis Gestalt klar erkennen. Plötzlich hebt er den Kopf und blickt mir direkt in die Augen. Er grinst breit, streckt mir seine Hand entgegen und formt mit zwei Fingern das Peace-Zeichen. Dann löst sich der Schuss, sein Kopf zerplatzt und färbt die Linse des Zielfernrohrs rot. Aber das Schlimmste: Das einzige Geräusch im Traum war der Überschallknall des Projektils, tief und anhaltend, wie ein Donnerschlag.«
Anna verstummte und senkte den Blick.
»Du hast Angst, dass dich diese Vision dein Leben lang begleiten könnte?«
»Ja.«
»Für solche Fälle haben wir geschultes Personal, wie du weißt.«
Anna hob den Kopf. Falsche Antwort, dachte Bernhard, als er ihren Gesichtsausdruck deutete. Sie hatte eine Aufmunterung hören wollen, ein paar aufbauende Worte, vielleicht einen Ratschlag aus seinem eigenen Erfahrungsschatz. Stattdessen mit den Psychologen des Präsidiums zu kommen, war weder passend noch sensibel. Trotz dieser Erkenntnis brachte es Bernhard nicht über sich, seinen Fehler zu korrigieren. Stattdessen sagte er nur: »Wenn du magst, kannst du dir die nächsten Tage freinehmen. Behördlich wird das sogar angeraten. Ich erledige die ganzen Formalitäten.«
Anna straffte die Schultern. »Nein. Ich werde mich auf keinen Fall zurückziehen wie eine Schnecke in ihr Schneckenhaus. Wenn ich die Erlebnisse verarbeiten will, muss ich mit anderen darüber sprechen.«
Am besten mit Menschen, die einen höheren EQ besitzen als ich, dachte Bernhard.
Montag, 08. Januar, 11:45 Uhr
»Was ist los?«, fragte Raphael, ließ sich auf der Couch nieder und legte den Arm um seine Freundin. »Du wirkst so nachdenklich.«
Sonja seufzte tief. »Ich weiß nicht genau. Ich fühle mich irgendwie… traurig, melancholisch, fast depressiv. Mir kommt es so vor, als hätte ich mir die letzten vierundzwanzig Stunden etwas vorgemacht, eine Erleichterung empfunden, die gar nicht existiert. Und jetzt schlägt die Finsternis zu, ergreift meine positiven Gedanken und zermalmt sie wie welke Blütenblätter.«
Raphael drückte seine Freundin an sich und küsste sie auf die Stirn. »Auch wenn ich es nicht so poetisch ausdrücken könnte wie du, aber mir geht es ähnlich. Bei dem, was wir durchgemacht haben, ist das kein Wunder. Ich muss andauernd an Doris denken. Aber auch an Samantha. Wie kommt sie jetzt ohne Mutter zurecht?«
»Ich hoffe, sie entwickelt eine normale Psyche«, murmelte Sonja. »In meinen Soziologie-Vorlesungen bringt der Professor immer wieder Beispiele von Kindheitstraumata, die sich zu massiven Neurosen und Depressionen auswachsen.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Ich glaube, wir brauchen Urlaub«, stellte Raphael fest.
»Urlaub? Wie meinst du das? In den Semesterferien?«
»Nein. Jetzt.«
»Was? Wie stellst du dir das vor? Ich habe jeden Tag Vorlesungen, muss zu den Trainingseinheiten für die Karate-Landesmeisterschaften und…«
Raphael verschloss Sonjas Mund mit einem Kuss. Ihre Zungen berührten sich, tanzten einen Tango purer Leidenschaft. Unter Raphaels Küssen und seiner Umarmung ließ ihre Anspannung nach. Sie hielt die Augen geschlossen, auch dann noch, als sich ihre Lippen voneinander lösten.
»Vergiss einmal alle Verpflichtungen und Termine«, sagte Raphael. »Denk nur an dich, an uns. Wir müssen uns erholen, auf andere Gedanken kommen. Wir brauchen Urlaub. Du kannst es ja als eine Art Vor-Flitterwochen sehen.«
»Vor-Flitterwochen?« Sonja lächelte schwach. »Klingt gut. Aber diesmal lädst du mich ein.«
»Übernimmt die Kosten für Hochzeit und Flitterwochen normalerweise nicht der Vater der Braut?«
Sonja grinste und deutete einen Faustschlag gegen Raphaels Nase an.
»Hilfe«, rief dieser, drückte mit zwei Fingern seine Nase platt und rollte die Augen. »Karate-Girl hat es auf mich abgesehen!«
Sonja lachte hell auf. »Lass den Blödsinn, das sieht albern aus.«
»Wenn du meinst.« Raphael verzog die Lippen zu einem spitzbübischen Grinsen. »Ich habe dich zum Lachen gebracht. Das ist alles, was zählt.«
»Wir fliegen auf die Kanarischen Inseln«, sagte Sonja bestimmt.
»Aha. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?«
»Du hast völlig recht. Ich glaube kaum, dass ich in meiner momentanen Verfassung den Unterricht durchstehe. Ein entspannter Inselaufenthalt bei Sonne und Wärme könnte Wunder wirken.«
»Und weshalb gerade die Kanaren?«
»Haben wir schon letztes Jahr überlegt. Wäre auch kein so langer Flug wie in die Karibik. Außerdem sind dort die Wintermonate die beste Reisezeit.«
»Gut, von mir aus.« Raphael nickte. »Wir könnten am Abend im Internet nach Last-Minute…«
»Nein. Wir suchen sofort.«
Raphael lächelte. »Sieh an. Meine Prinzessin hat die Reiselust gepackt.«
Sonja kniff die Augen zusammen und warf Raphael einen strengen Blick zu. »Schalt sofort dein Netbook ein, sonst gibt’s eine auf die Rübe!«
»Wie Ihr befehlt, Eure Hoheit.« Raphael sprang vom Sofa, verbeugte sich keck und fügte hinzu: »Mit diesem Gesichtsausdruck seht Ihr übrigens aus wie ein Frosch.«
Sonja schrie auf, packte Raphael an den Hüften und zog ihn zu sich heran. »Dann küsst mich gefälligst, mein Prinz!«
Raphael strich über Sonjas gerötete Lippen. »Nichts lieber als das, mein Schatz. Nichts lieber als das.«
Montag, 08. Januar, 13:00 Uhr
Das Mobiltelefon läutete. Sandra ließ ihr Besteck fallen, griff nach dem Smartphone und drückte es ans Ohr.
»Hey, Michelle.«
Ihre Eltern warfen Sandra missbilligende Blicke zu, forderten sie jedoch nicht auf, das Telefon bis zum Ende der Mahlzeit beiseitezulegen. Ihre Tochter hatte Dinge mit ansehen müssen, die kein Mensch erleben sollte; erst recht kein sechzehnjähriges Mädchen.
»Klar«, sagte Sandra an ihre Telefonpartnerin gewandt. »Machen wir das. So in einer halben Stunde?«
Sandra beendete das Gespräch und blickte zu ihren Eltern auf. »Ich treffe mich nachher mit Michelle.«
»Wo?«
»Beim Hallenbad.«
»Hast du den Pfefferspray eingepackt?«
Sandra verdrehte die Augen. »Ja, Mama, hab ich.«
»Was ist mit deinem Geigenunterricht?«
»Den lasse ich heute ausfallen.«
»In Ordnung. Aber du bist spätestens um fünf wieder daheim.«
Sandra schnaubte abfällig und erhob sich von ihrem Sitz. »Ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Sandra…«
Sie wusste, was nun kam. Ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter, waren der Ansicht, dass die Erlebnisse der vergangenen Tage ihre psychische Gesundheit beeinträchtigt hatten. Klar, es war entsetzlich gewesen, und sie hatte letzte Nacht einen unguten Traum erleben müssen, in dem es um bedrückende Enge, rot glühende Augen und das Heulen des Sturms gegangen war. Aber im Grunde glaubte sie die Ereignisse gut verarbeiten zu können. Letztendlich war ihr ja nichts passiert. Doch sah sie ein, dass ihre Eltern aus Liebe zu ihr handelten und nur ihr Bestes im Sinn hatten.
»Wenn du mit uns oder irgendjemand sonst reden willst, brauchst du es nur zu sagen.«
»Ich weiß, Mama.« Sandra bemühte sich, ihre Mimik mit einer ordentlichen Portion Optimismus zu versehen. »Danke für das Angebot.«
Insgeheim dachte sie nicht im Entferntesten daran, mit einem Psychologen – oder schlimmer noch, mit ihren Eltern – über ihre Erlebnisse in der Seilbahngondel zu sprechen. Wozu gab es schließlich Freundinnen? Vor allem die eine, die beste Freundin.
Sandra lächelte.
Montag, 08. Januar, 14:20 Uhr
Emma erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen. Im ersten Moment war sie bloß erleichtert. Sie hatte einen Albtraum durchleben müssen. Matteo, ihr Ehemann, war in ein Monster mutiert, hatte sie betäubt und angekündigt, sie zu töten; zusammen mit all den anderen Passagieren, die den Horror in der Seilbahngondel überlebt hatten. Im Traum hatte Matteo behauptet, der Zwillingsbruder des Mörders zu sein; und Rache nehmen zu wollen: an Sonja und Raphael, an Samantha, Sebastian, den beiden Mädchen Sandra und Michelle – und an der Person, die seinen Bruder auf dem Gewissen hatte: Anna. Völlig hilflos war Emma nichts weiter übrig geblieben, als auf ihr Ende zu warten. Eine entsetzliche Vorstellung.
Emma gähnte und rieb sich die Augen. Ihr war leicht übel und auf ihrer Zunge lag ein bitterer Geschmack, der sie an Grapefruitsaft erinnerte. Außerdem war ihr linkes Bein gefühllos.
»Na, ausgeschlafen?«
Neben ihr saß Matteo. Am Fahrersitz. Sie waren nicht länger in ihrem gemütlichen Haus in Schlanders, wie Emma erst jetzt erkannte. Sie fuhren in Matteos Geländewagen eine ihr unbekannte, kurvige Straße entlang. Seltsam. Sie konnte sich nicht erinnern, ins Fahrzeug gestiegen zu sein.
»Wo sind wir?« Emma strich sich eine Strähne ihrer stirnlangen Haare aus dem Gesicht.
»Am Weg zur Gilfenklamm. Aber das weißt du doch.«
»Ich… kann mich nicht erinnern. Hatte einen schlimmen Albtraum.«
»So?« Matteo warf ihr einen aufmerksamen Blick zu. »Was hast du denn geträumt?«
»Keine Ahnung, hab ich vergessen.« Emma wollte ihrem Mann nicht mit abstrusen Wahnvorstellungen auf die Nerven gehen. »Wohin fahren wir noch mal? Es ist wie verhext, aber… mir kommt vor, als wäre ein Stück aus meinen Erinnerungen verschwunden und hätte einem schwarzen Loch Platz gemacht.«
Emma warf einen Blick auf die Zeitanzeige des Wagens. »Wie lange sind wir schon unterwegs?«
»Zwei Stunden.«
»Und ich habe die ganze Zeit geschlafen?«
»Ja.«
Emma schüttelte verwirrt den Kopf. Gewöhnlich schlief sie nicht beim Autofahren. Sehr merkwürdig.
»Vielleicht die Erlebnisse der letzten Tage«, ergänzte Matteo und rückte die Brille auf seiner Nase zurecht. »Irgendwie muss sich das ja äußern.«
Emma lief ein Schauer den Nacken hinab, als sie sich der Geschehnisse in Kitzbühel besann. Die mehr als vierundzwanzig Stunden, die sie in der Kabine ausharren musste, waren grauenvoll gewesen. Das Schlimmste aber war, dass sie sich dermaßen in einem Menschen getäuscht hatte.
»Um deine vorherige Frage zu beantworten«, sagte Matteo. »Wir fahren zur Gilfenklamm.«
»Ist die jetzt im Winter nicht geschlossen?«
»Doch. Aber du hast gemeint, du willst trotzdem hin. Wegen dem Engel.«
Emma verschränkte die Hände im Schoß und schloss die Augen. Als sie die Gilfenklamm das letzte Mal betreten hatte, mittlerweile mehr als fünf Jahre her, war ihr ein strahlender, weißer Engel erschienen – ihr Schutzengel Gabriel, wie sie später erkannte. Ihm war es zu verdanken, dass sie ihre damals schwierige Lebenssituation gemeistert hatte. Womöglich hatte sie gehofft, er würde sich ihr erneut zeigen und ihr helfen, die Erlebnisse in der Seilbahngondel zu verarbeiten. Aber weshalb konnte sie sich nicht an dieses Vorhaben erinnern?
»Wie lange brauchen wir noch?«, fragte sie.
»Fünfzehn Minuten.«
»Gut. Weck mich, falls ich noch mal einschlafen sollte.«
Emma hatte nicht vor, ins Reich der abstrusen Träume zurückzukehren. Auch ihre vorherige Müdigkeit hatte sich verflüchtigt. Nein, sie wollte gar nicht schlafen. Sie würde ein Zwiegespräch mit ihrem Schutzengel führen; und ihn fragen, weshalb sie ihre Menschenkenntnis so unvorstellbar getrogen hatte.
Montag, 08. Januar, 13:30 Uhr Lokalzeit
»Wie hat dir das Conejo en salmorejo geschmeckt?«, erkundigte sich Ramona bei ihrem Mann.
José strich über seinen schwarzen, penibel getrimmten Schnurrbart. »Wie immer ein Genuss für Augen, Nase und Gaumen.«
Ramona lächelte. »Willst du noch etwas? Es ist genug da.«
»Gern. Und wenn du ein paar gedörrte Feigen dazulegst, sage ich nicht nein.«
José beobachtete seine Frau, als diese in der Küche verschwand. Ramona besaß kurze, dunkle Locken und ausgeprägte Wangenbäckchen, die José früher oft mit Küssen bedeckt hatte. Ihre pummelige Gestalt war nicht unbedingt eine Augenweide, doch beim Gehen besaß sie noch immer die Grazie der Bauchtänzerin, als die er sie vor mehr als zwanzig Jahren kennengelernt hatte. Im Grunde führten sie eine glückliche und ausgeglichene Ehe, sah man von Josés Affäre mit Carmen ab. Wie viele Männer in seinem Alter, die der gehobenen Gesellschaftsschicht auf Teneriffa angehörten, hatte er sich in Santa Cruz eine junge Geliebte zugelegt. José war davon überzeugt, dass Ramona nichts von seiner Liebschaft wusste, obwohl er bei den Besuchen in der Stadt weder besondere Vorsicht walten ließ, noch sein regelmäßiges Zuspätkommen rechtfertigte. Seine Frau war eine so gutmütige Seele, dass sie die Untreue ihres Gatten nicht einmal in Betracht zog. Manchmal bereitete ihm dies erhebliche Gewissensbisse und mehr als einmal war er nah daran gewesen, mit Carmen Schluss zu machen. Aber ihr perfekter Körper, die sexuelle Freizügigkeit und Leidenschaft, hatten ihn stets in ihre Arme zurückgetrieben und seine Schuldgefühle erstickt.
Ramona kehrte aus der Küche zurück und stellte José eine weitere Portion des geschmorten Kaninchens auf den Tisch. Sie hatte drei Feigen dazugelegt und jede mit einem Tupfen aus roten Preiselbeeren versehen. Einer der Gründe, weshalb José seine Frau niemals freiwillig verlassen würde, waren ihre fantastischen Kochkünste. Carmen hingegen brachte nicht einmal ein Spiegelei zusammen, ohne dass ihr dieses in der Pfanne verbrannte.
»Gracias«, sagte José und nippte an seinem Rotwein. »Ohne dich würde ich glatt verhungern.«
Ramona setzte sich ihm gegenüber. »Wie war es heute am Berg?«
Sogleich spürte José, wie seine Laune einen Dämpfer erhielt.
»Pablo und Fernández haben gepfuscht, wie auf den anderen beiden Flächen. Die Triebe der Reben sind viel zu dicht am Stamm abgeschnitten. Ich schätze, dass dort ein Viertel weniger Trauben wachsen werden. Ich werde ihren Lohn kürzen.«
»Sei nicht so streng mit ihnen. Sie sind jung und unerfahren. Hättest du Ricardo und sein Team angestellt, wäre das nicht passiert.«
»Ja, aber dann hätte ich auch den doppelten Sold zahlen müssen. In Summe kommt es mich günstiger, wenn Pablo und Fernández auf den Parzellen der zweiten Güteklasse arbeiten.«
»Na dann«, Ramona schmunzelte, »ist doch alles in bester Ordnung, oder?«
José verzog das Gesicht. Alles in bester Ordnung war übertrieben, aber gut. Ganz unrecht hatte seine Frau nicht. Es gab bisher kaum Schädlinge oder Pilzinfektionen, die Reben waren vital und der Rebschnitt würde, ungewöhnlich früh im Vergleich zu anderen Jahren, in zwei bis drei Wochen abgeschlossen sein. Allerdings hatte er bei seinem letzten Rundgang bemerkt, dass Regen dringender nötig war als gedacht. Drei, vier südseitig ausgerichtete Parzellen litten bereits unter der Trockenheit. Aber José war guter Dinge. Laut Prognosen würde sich die Wetterlage Ende der Woche umstellen und ein Tief über dem Atlantik reichlich feuchte Luftmassen zu den Kanaren transportieren. Das bedeutete zehn Grad weniger, gleichzeitig aber auch ergiebige Niederschläge. Ein weiterer positiver Effekt: Endlich konnte er über Nacht das Fenster geöffnet lassen, ohne am Morgen von Nießanfällen geschüttelt zu werden – ausgelöst durch den feinen Saharastaub, der, vom kräftigen Ostwind getrieben, durch jede noch so kleine Ritze drang.
»Ich breche auf«, sagte José an seine Frau gewandt. »Damit Pablo und Fernández nicht noch mehr Unheil anrichten können.«
Montag, 08. Januar, 14:50 Uhr
»Komm schon, Emma, wir sind gleich da.«
»Bitte langsamer, Matteo. Ich spüre wieder mein Knie.«
»Sei nicht so wehleidig. Wir sind noch nicht mal zwanzig Minuten unterwegs.«
»Ja, aber der Weg ist steil und uneben. Eine hohe Belastung für meine Gelenke.«
»Wir haben Anfang Januar, da wird es früh dunkel. Wenn wir es bis zum Wasserfall schaffen wollen, müssen wir uns beeilen.«
Emma blieb stehen und warf ihrem Mann einen funkelnden Blick zu. Sie waren über die Absperrung geklettert, welche die Gilfenklamm im Winterhalbjahr vor Touristen verschloss. Das allein hatte beinahe ihre körperlichen Fähigkeiten überstiegen. Zudem war sie mit ihrer Umhängetasche an einem Pfosten hängengeblieben und wie ein aufgespießter Schmetterling mit zappelnden Beinen über dem Boden geschwebt. Ohne Matteos Hilfe wäre sie kaum heruntergekommen. Schon nach den ersten Schritten im Gelände hatte sich ihr Knie unangenehm bemerkbar gemacht. Jetzt spürte sie es so deutlich wie seit Wochen nicht mehr.
»Lauf vor, wenn du es nicht erwarten kannst!«
Matteo schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, ich habe eine bessere Idee.« Er trat auf Emma zu und hängte sich bei ihr ein. »Ich helfe dir.«
»Danke.« Emma war überrascht. Eine solche Fürsorge sah ihrem Mann gar nicht ähnlich.
»Siehst du die Brücke dort vorn?« Matteo deutete auf eine enge Stelle der Klamm, an der die Felswände lotrecht zum Himmel ragten.
»Ja.«
»Von da hat man einen schönen Blick über die Schlucht, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht reicht das, um mit deinem Engel in Kontakt zu treten?«
Emma warf ihrem Mann einen forschenden Blick zu. Doch seine Sprache und Mimik verrieten weder Belustigung, noch Sarkasmus. Vorhin im Wagen hatte sie ihren Schutzengel nicht erreicht. Gabriel war ungewohnt schweigsam, schien sie zu ignorieren. Seit sich die Ereignisse in Kitzbühel überschlagen hatten, war es ihr noch nicht gelungen, mit ihm zu sprechen.
»Vielleicht«, erwiderte Emma. »Versuchen können wir es.«
Matteo schob Emma auf die schmale Holzbrücke zu und half ihr über ein wässriges Schneefeld, das den Schatten hinter einem Felsen ausfüllte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, meinte Emma, stützte sich am Geländer der Brücke ab und warf einen zweifelnden Blick auf die hölzerne Konstruktion. »Sieht rutschig aus.«
»Keine Sorge, ich halte dich.« Matteo zog seine Frau auf die Brücke.
Emma fröstelte. Es war nicht allein die bedrückende Höhe, die ihr einen eisigen Hauch über den Körper jagte. Es waren auch nicht die horrenden Erinnerungen an die Fahrt in der Seilbahngondel, die jäh in ihr hochkrochen. Nein. Es war ein äußerst beklemmendes Gefühl realer Gefahr – eine Gefahr, die unmittelbar bevorstand. Eine Gefahr, die nichts mit der Brücke oder dem Abgrund zu tun hatte, sondern…
Ein glühender Hauch streifte ihren Nacken. Der Atem eines Dämons. Matteos Atem.
Mit einem Mal wusste Emma Bescheid. Sie wusste, dass ihr Albtraum keiner gewesen war; wusste, weshalb Matteo mit ihr zu dieser abgelegenen und im Winter menschenleeren Schlucht gefahren war; wusste, dass sie in wenigen Sekunden sterben würde.
Ihr Instinkt übernahm das Kommando. Emma duckte sich, wandte sich um und trat mit aller Macht zu. Doch anstatt die empfindlichen Weichteile zwischen Matteos Beinen zu treffen, ging ihr Tritt ins Leere. Matteo stand nicht mehr hinter ihr, sondern an ihrer Seite. Er packte Emmas Arm, ihren erhobenen Oberschenkel, nutzte das Geländer der Brücke als Hebel und schleuderte seine Frau über die Brüstung.
Als Emma kreischend in die Tiefe stürzte, meinte sie eine strahlend helle, geflügelte Gestalt zu erblicken – fast wie ein Engel, der mit gramerfüllt gebeugtem Haupt davonflog.
∞
Die Wassermassen verschluckten Emmas Gestalt. Einmal sah Matteo noch einen Arm oder ein Bein seiner Frau aufblitzen, dann war sie verschwunden. Matteo hätte sie lieber etwas weiter oben, nahe dem Wasserfall, in die Tiefe gestoßen. Dort wäre sie in unterirdische Stromschnellen gezogen worden und ihr Körper hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen den Felsen verkeilt. Durch die Wintersperre der Schlucht wären ihre sterblichen Überreste wohl erst im Frühjahr entdeckt worden – oder auch niemals. So war es möglich, dass ihre Leiche in einer flussabwärts gelegenen Ortschaft angeschwemmt wurde. Aber selbst wenn: Bis die behördliche Maschinerie ins Laufen kam, war er längst außerhalb ihrer Reichweite.
Kein Leben ohne Tod. Kein Tod ohne Leben.
Matteos Mundwinkel hoben sich eine Winzigkeit, aber nicht aufgrund von Freude. Vielleicht war es ein Gefühl von Endgültigkeit, ein Ausdruck seines analytischen Verstands, der – sozusagen – verstanden hatte, wie die Konsequenzen seines Handelns ausfallen mussten.
Er würde nicht alle Gebote befolgen können. Dazu kam die Herausforderung, in wenigen Tagen mehrere Menschen an unterschiedlichen Orten aufzusuchen und auf verschiedene Weisen zu töten.
Aber er würde eine Lösung finden. So, wie er immer eine Lösung fand.
Bleiben noch sieben, dachte Matteo und wandte sich von den tosenden Wassermassen ab. Es läuft alles nach Plan.
Montag, 08. Januar, 15:45 Uhr
»Hallo Moritz, Samuel, Samantha.« Die Sekretärin von Julius Müller lächelte und fuhr mit der Hand durch Moritz’ Wuschellocken. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, sie wüsste nicht, was geschehen war. Doch Ferdinand registrierte ihr häufiges Blinzeln und die Schatten, die sich unter ihren Augen festgesetzt hatten. Sie war mit Doris befreundet gewesen.
»Ferdinand, du kannst ins Behandlungszimmer«, sagte sie. »Julius hat gemeint, du sollst zuerst allein kommen.«
Ferdinand nickte und wandte sich seinen Kindern zu. »Im Wartezimmer gibt es Spielsachen und Comics. Es dauert nicht lang, dann hole ich euch.«
Moritz starrte schweigend zu Boden und Samuel hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Einmal mehr schien Samantha die Einzige zu sein, deren Gemütslage ausgeglichen war.
»Okay«, sagte sie und marschierte ins Wartezimmer.
Ferdinand spürte ein schmerzhaftes Stechen in der Brust. Wie konnte Samantha nur so gelassen bleiben?
Er betrat das Behandlungszimmer. Julius Müller war wie Ferdinand etwa vierzig und ebenso eine große, dünne, asketisch wirkende Erscheinung. Eine Hakennase dominierte seine Gesichtszüge und hielt eine Brille mit runden Gläsern. Wie Ferdinand wusste, wäre diese Brille nicht notwendig gewesen. Julius trug sie nur, weil er fand, dass dies seiner Rolle als Therapeut zugutekam.
»Ferdinand… Es tut mir so leid.« Julius erhob sich von seinem Schreibtisch und trat auf seinen Freund zu. Ohne weitere Worte umarmten sie sich. Ferdinand spürte, wie Tränen in seine Augen traten. Er hielt sie nicht zurück, wollte sie nicht zurückhalten. Das erste Mal, seitdem er Doris verloren hatte, ließ er seinem Kummer freien Lauf.
Julius sagte nichts, hielt Ferdinand fest, als wäre er ein kleines, schutzbedürftiges Kind. In diesem Moment fühlte sich Ferdinand auch so. Düstere Gedanken blitzten auf, Schuldgefühle krochen an die Oberfläche und nagten an seinem Selbstbewusstsein. Es hätte alles anders kommen können. Doris wäre noch am Leben, wenn er sich nicht derart ignorant und unfair verhalten hätte. Es war alles seine Schuld.
Es vergingen mehrere Minuten, bis die Tränen versiegten und sich die beiden Freunde voneinander lösten.
»Danke«, murmelte Ferdinand und wischte sich über die Wangen.
Julius taxierte die Gesichtszüge seines Freundes. »Wie geht es dir jetzt?«
»Besser.«
Das stimmte auch. Zumindest der bohrende Schmerz und die lähmenden Schuldgefühle waren einer dumpfen Benommenheit gewichen.
»Du hast deiner Trauer zum ersten Mal Ausdruck verliehen«, meinte Julius. So wie er die Worte aussprach, war es eine Feststellung. Als Therapeut und langjähriger Freund konnte ihm Ferdinand nichts vorspielen.
»Wenn der Schmerz zurückkehrt, und das wird er, darfst du ihn nicht verdrängen.«
»Ich… Ich werde es versuchen.«
»Nein, nicht versuchen.« Julius warf ihm einen scharfen Blick zu. »Es ist wichtig, dass du dich deinen Empfindungen stellst. Allein deinen Kindern zuliebe.«
Ferdinand seufzte tief und ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. »Du hast recht. Ich wollte nur… Ich meine, vor den Kindern…«
»Sie müssen deinen Kummer sehen. Sonst könnte es sein, dass sie selbst ihre Trauer unterdrücken und verdrängen. Wohin das führen kann, brauche ich dir wohl nicht zu erklären.«
Ferdinand dachte an Samantha. Ob sie nach außen hin nur deshalb so gleichmütig wirkte, weil er seine Verzweiflung nicht zeigte?
»Unwahrscheinlich«, entgegnete Julius auf Ferdinands entsprechende Frage. »Ich glaube eher, dass dieses Verhalten von ihrem Unterbewusstsein ausgeht. Ich bin leider kein Spezialist für Kinder, aber für mich klingt das danach, als hätte sie bereits eine Mauer zwischen Erinnerungen und Bewusstsein errichtet. Du solltest mit ihr zu einem ausgebildeten Kindertherapeuten.«
Ferdinand nickte und starrte zu Boden.
»Es ist schlimmer wie damals, als mein Bruder gestorben ist«, sagte er nach einer Weile. »Die Verzweiflung, die Gewissensbisse.«
»Zu ihm hattest du kein gutes Verhältnis.«
»Zu Doris auch nicht.«
»Vergiss nicht, ihr wart einmal glücklich. Ein Traumpaar.«
Ferdinand fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Das ist lange her.«
»Ist es eher der Schmerz oder sind es die Schuldgefühle, die dich belasten?«
»Beides.«
Julius musterte Ferdinands Antlitz und verschränkte die Arme.
»Mit den Schuldgefühlen wirst du lernen umzugehen. Auch mit dem Schmerz. Aber ein wenig dieser Trauer wird dich begleiten. Für den Rest deines Lebens.«
Montag, 08. Januar, 17:00 Uhr
»Erledigt«, sagte Raphael und streckte stöhnend die Hände zur Zimmerdecke, bis seine Gelenke knackten. »Die Reise ist gebucht.«
»Super.« Sonja lächelte. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
»Nein. Es sei denn dir ist es egal, tausend Euro in den Wind zu schießen.«
»Auf keinen Fall! Also, wann ist Abflug?«
»Mittwoch um dreizehn Uhr fünfzehn. Die Flugzeit beträgt vier Stunden. Das Mietauto können wir dann direkt am Flughafen abholen.«
»Du hast wirklich den Geländewagen bestellt?«
»Den kleinen Suzuki, ja. Aber Geländewagen ist übertrieben. Das Modell ist sehr kompakt, sieht nicht gerade nach einem Landrover aus. Hat auch nur den zuschaltbaren Allradantrieb und sonst keine SUV-Extras.«
Sonja grinste. »Allrad klingt doch schon spannend. Wenn ich fahre, möchte ich unbedingt eine steile Schotterstraße nehmen!«
Raphael schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Auf den Kanaren darf man erst mit siebenundzwanzig hinters Steuer.«
»Was, ernsthaft?« Sonjas Grinsen erlosch.
»Nein.«
»Du…« Sonja kniff die Lippen zusammen. »Boah, bist du fies!«
Raphael lachte und fing das Kissen auf, das Sonja nach ihm schleuderte. Sie alberten eine Weile herum und sanken schlussendlich erschöpft auf das Sofa.
»Vierzehn Tage Teneriffa«, murmelte Sonja. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Mir geht’s genauso. Spontanität hat definitiv etwas für sich.«
»Ich habe mir überlegt… Auch wenn es seltsam klingt, aber: Was hältst du davon, wenn wir unsere Mobiltelefone nicht mitnehmen?«
»Wieso?«
»Damit wir nicht erreichbar sind. Für nichts und niemanden. Ich glaube, das würde mir helfen abzuschalten und die Geschehnisse hinter mir zu lassen.«
»Was ist, wenn wir Hilfe brauchen? Oder ein familiärer Notfall eintritt?«
»Wir können die Handys ja mitnehmen. Aber wir drehen sie nicht auf, Familie hin oder her. Vor dreißig Jahren sind die Leute noch gut ohne ausgekommen.«
»Einverstanden.«
»Außerdem möchte ich nicht, dass wir unseren Urlaub herumposaunen. Also vorab keine Facebook-Meldungen, EMails oder Klatsch und Tratsch mit den Freunden.«
»Das mit dem Klatsch und Tratsch betrifft wohl eher dich und deine Clique.«
Sonja grinste. »Stimmt. Jedenfalls soll niemand neidisch werden. Es wäre unangenehm, falls auf der Uni bekannt wird, weshalb ich nicht zu den Vorlesungen komme. Außerdem ist es sicherer, seine Urlaubspläne geheim zu halten – vor allem, wenn man an Einbrecher denkt.«
Raphael zog die Augenbrauen hoch. »Wie du meinst. Aber meine Eltern darf ich schon informieren?«
»Ja, das werde ich auch tun. Und Laura muss ich ebenfalls einweihen.«
»Natürlich. Sonst alarmiert sie nach zwei Tagen die Polizei und setzt eine Horde Privatdetektive auf uns an.«
»Jetzt übertreib mal nicht. So ängstlich ist Laura nun auch wieder nicht.«
»Wenn du das sagst.«
»Sie ist übrigens total ausgeflippt, als ich ihr gesagt habe, dass wir ebenfalls heiraten werden. Ich habe mir ein paar gute Ausreden einfallen lassen müssen, weshalb wir keine Doppelhochzeit feiern können.«
»Danke. Lauras Emotionalität wäre mir zu viel gewesen.«
Sonja lächelte. »Bei den Unterkünften bleibt es dabei, die suchen wir uns vor Ort?«
»Ja, bis auf die erste Nacht. Da habe ich das günstige Doppelzimmer in San Isidro gebucht.«
»Ich will unbedingt auf den Vulkan, den Teide. Jetzt haben wir auch das richtige Fahrzeug dafür.«
»Stimmt. Ich schätze, dass man im Landesinneren auf Straßen trifft, die unseren kleinen Golf vor Herausforderungen gestellt hätten.«
»Wir sollten eine Liste mit Dingen machen, die wir uns ansehen wollen.«
»Okay. Aber vielleicht gefällt es uns irgendwo so gut, dass wir nicht mehr fortwollen.«
»Wäre das so schlimm?« Sonja erhob sich und setzte sich auf Raphaels Schoß. »Wir werden uns die Zeit schon vertreiben.«
»Miteinander treiben?«
Sie lachten beide.
Montag, 08. Januar, 18:30 Uhr
Kriminalkommissar Bernhard Lichtenberger schüttelte wieder und wieder den Kopf. Das durfte einfach nicht wahr sein. Ausgerechnet das Gewächshaus! Sein Garten umfasste fast tausend Quadratmeter, beinhaltete mehrere Obstbäume, Beerensträucher, ein Kräuterbeet und einen Naturteich. Nirgends gab es nennenswerte Schäden durch den Orkansturm, der am Wochenende getobt hatte, weder an den Gehölzen, noch auf dem Dach seines Hauses oder im Bereich des Wintergartens. Bloß das Gewächshaus war in Mitleidenschaft gezogen – nein, zerstört worden. Von einem Birnbaum am Nachbargrundstück hatte sich ein oberschenkeldicker Ast in seinen Garten verirrt und war mit voller Wucht auf das erst letztes Frühjahr errichtete Glashaus gekracht. Die Stärke des Aufpralls hatte das fragile Gebäude in seine Einzelteile zerlegt. Es bestand nur noch aus gesplitterten Fenstern und verbogenen Stehern. Die meisten Pflanzen, die den Winter dank Beheizbarkeit des Glashauses bislang gut überstanden hatten, waren von der eindringenden Kaltluft getötet oder durch den gefallenen und mittlerweile wieder geschmolzenen Schnee geknickt worden. Mit Bedauern musste Bernhard feststellen, dass es auch seine Chilipflanzen und die Süßkartoffel-Setzlinge getroffen hatte. Stundenlange Arbeit umsonst, abgesehen vom materiellen Schaden, der wohl tausend Euro betragen würde. Vielleicht sogar mehr, falls das Strom- und Wasserleitungssystem beschädigt war.
Trotz allem konnte sich Bernhard glücklich schätzen. Auf dem Heimweg vom Präsidium war er an Gärten vorbeigekommen, die aussahen, als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Am Ende der Straße war ein kompletter Dachstuhl vom Orkansturm abgehoben und auf parkende Autos geschleudert worden. Wie gut, dass er seinen Wagen stets in der Garage abstellte.
Als die ersten Regentropfen vom pechfarbenen Himmel fielen, wandte sich Bernhard vom zerstörten Glashaus ab. Heute würde er keine Reparaturmaßnahmen mehr setzen. Es war schon dunkel und er hatte weder die Muße noch die Kraft dazu. In den letzten Tagen war er körperlich und vor allem psychisch an seine Grenzen gegangen. Zudem plagte ihn seit einigen Stunden ein lästiger Hustenreiz. Bernhard hatte versucht, alle dringlichen Angelegenheiten gleich heute zu erledigen. Darunter fielen Berichte, Stellungnahmen, Pressekontakte und ein Gespräch mit Mathias Ortlieb, dem Polizeivizepräsidenten. Mathias hatte Anna und ihm seine Anerkennung ausgesprochen. Vor allem Bernhards Partnerin konnte hoffen, von der Lösung des Falls zu profitieren, obwohl – oder gerade weil – sie den Mörder auf solch entschiedene Weise zur Strecke gebracht hatte.
Anna war den ganzen Tag lebhaft und überzogen fröhlich gewesen, hatte gescherzt und die wenigen kritischen Kommentare abgewiegelt, als würde sie sich keine Sorgen machen und als wäre die ganze Angelegenheit nur eine Lappalie. Doch Bernhard ahnte, wie es in Wahrheit um Anna stand. Er las es in ihren Augen, erkannte es an ihrem gezwungenen Lächeln und den wachsamen Blicken, mit denen sie die Umgebung taxierte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Bernhard wusste, dass Anna als Kind ihre Eltern verloren hatte und beinahe nicht mehr ins Leben zurückgefunden hätte. Es wurmte ihn noch immer, dass er ihr auf der Fahrt von Kitzbühel ins Präsidium nicht die nötige mentale Unterstützung hatte geben können. Er wollte nicht, dass es Anna schlecht ging, wollte nicht, dass sie für etwas leiden musste, was seine Aufgabe gewesen wäre: den Mörder zu enttarnen und dingfest zu machen.
Bernhard rieb sich die Augen.
Du nimmst deine Arbeit mit nach Hause, hatte seine Frau stets behauptet und ihn schlussendlich verlassen. Nicht allein aus diesem Grund, aber Bernhards kompromissloser Umgang mit seiner kriminalistischen Arbeit hatte sie zweifellos in ihrer Entscheidung bestärkt.
Was vorbei ist, ist vorbei, dachte Bernhard. Wenigstens spricht meine Tochter wieder mit mir.
Er öffnete die Haustür und trat in die Stille des Gebäudes. Kein anderer Mensch, kein Haustier, kein Fernseher, keine Musikanlage. Bernhard liebte die Stille. In der Stille konnte er abschalten, seine Gedanken treiben lassen, ohne sich konkret mit einer Frage oder einem Problem auseinanderzusetzen. Er benötigte auch kein Buch, keinen Alkohol oder eine sonstige Ersatzhandlung. Nein, nur die Stille.
Montag, 08. Januar, 19:00 Uhr
»Was ist?«, fragte Roberto. »Wieder die Erinnerungen?«
»Ja.« Anna seufzte und schlang ihre Arme um Robertos muskulösen Oberkörper. »Das Geschehen lässt mich einfach nicht los. Dabei weiß ich genau, dass ich richtig gehandelt habe.«
Roberto schwieg einen Moment. »Vielleicht ist es doch nicht ausreichend, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Vielleicht musst du mit dem Richtigen reden.«
»Du meinst, mit einem Psychotherapeuten?«
»Genau.«
Anna schloss die Augen. »Ich habe Angst; Angst, dass die Erinnerungen und Visionen noch heftiger werden. Dass es so werden könnte, wie nach dem Tod meiner Eltern.«
»Ich glaube, du solltest deine Erlebnisse unter professioneller Hilfe aufarbeiten. So wie jetzt habe ich dich noch nie erlebt. Melancholisch, unkonzentriert, lustlos.«
Anna lächelte schwach. »Besonders das lustlos stört dich, was?«
»Hey! Ich meine das ernst. Mir ist es egal, dass wir keinen Sex haben. Viel wichtiger ist, dass es dir wieder gutgeht.«
Anna blickte in Robertos haselnussbraune Augen. »Vielen Dank«, murmelte sie und küsste ihn. »Für dein Verständnis und deine Aufmunterung.«
»Dafür ist ein Freund doch da.« Er umfing ihren zarten Oberkörper mit seinen kräftigen Armen.
»Du, Roberto…«
»Ja?«
»Was hältst du davon, wenn ich mir ein paar Tage frei nehme – und wir fahren fort. Ganz egal wohin, Hauptsache raus aus Deutschland.«
»Gern. Wie wäre es mit der Côte d’Azur? Wie du weißt, hat mein Onkel ein Haus in der Nähe von Marseille. Momentan ist er nicht in der Gegend und wir könnten sicher ein paar Tage dort verbringen.«
»Klingt super. Aber was ist mit deiner Arbeit?«
»Die kommen gut ohne mich zurecht. Wozu gehört mir der Fitnessclub?«
»Richtig.« Anna lächelte und blickte zu den Wohnungsfenstern. Heftiger Regen prasselte gegen die Scheiben. »Ich hoffe, im Süden Frankreichs ist es schöner als bei uns.«
»Sicher sogar. Habe heute im Wetterbericht gehört, dass sie fast zwanzig Grad haben. Richtiges Frühlingswetter.«
»Perfekt. Dann lass uns hinfahren.«
»Wann möchtest du aufbrechen?«
»Morgen? Heute? In einer Stunde?«
Roberto lachte. Seine tiefe, sonore Stimme ließ Anna einen wohligen Schauer über den Rücken rieseln.
»Ich werde mit meinem Onkel telefonieren«, sagte Roberto. »Du kannst inzwischen schon mal zu packen beginnen.«
Montag, 08. Januar, 19:15 Uhr
Kleine Wattewolken fegten über den mondlosen Sternenhimmel und brachten einzelne Schneekristalle mit sich, denen es jedoch nicht gelang, die braun gesprenkelte Landschaft mit einer weißen Puderschicht zu überziehen. Wie auch in Südtirol hatte es in Kärnten kaum Niederschlag gegeben, das Schneechaos in den Nordalpen war hier spurlos vorübergegangen.
Matteo war dies nur recht. Zwar handelte es sich bei dem Mietauto, das er genommen hatte, um ein Fahrzeug mit zu schaltbarem Allradantrieb, aber wenn die Autobahn durch wetterbedingte Unfälle gesperrt war, nützte ihm dies wenig. Außerdem wollte er seinen zeitlichen Sicherheitsrahmen nicht strapazieren.
Matteo schlürfte an seinem Kaffee, lehnte sich gegen die Motorhaube und blickte zu einem Lkw-Fahrer hinüber, der es sich gerade auf dem Beifahrersitz bequem machte, um ein Nickerchen zu halten. Matteo selbst wollte noch bis Graz fahren und sich dort eine Bleibe am Stadtrand suchen. In den frühen Morgenstunden würde er die Steiermark verlassen und Kurs auf Wien nehmen. Dort wartete die nächste Aufgabe auf ihn.
Ursprünglich hatte er Samantha, Doris verzogene Tochter, sogar verschonen wollen. Doch dies hätte seinem Schwur, alle Insassen der Seilbahngondel zu töten, widersprochen. Zudem war sie es gewesen, die die Polizeibeamtin alarmiert hatte. Wie gut, dass er sich noch rechtzeitig in Erinnerung gerufen hatte, dass sein Mentor den Begriff Gnade aus den dreizehn Geboten gestrichen hatte.
Durch dieses zusätzliche Opfer waren Änderungen in der Vorgehensweise unvermeidlich gewesen. Sein bisheriger Zeitplan hatte keine Verzögerungen vorgesehen. So sehr es ihn auch wurmte, aber er würde sein Versprechen nicht wie geplant einlösen können. Zumindest nicht allein.
Dienstag, 09. Januar, 05:15 Uhr
Es herrschte Finsternis. In der Luft hing ein modriger Geruch, wie in einem uralten Keller. Der Boden geriet in Bewegung. Er schwankte, hob und senkte sich. Jemand atmete. Es war ein röchelndes, gequältes Atmen. Sandra wusste, wer dort in der Dunkelheit lauerte. Eisiges Entsetzen durchflutete ihre Gedanken. Er war es, der Mörder!
Ein Heulen hob an, schrill und pfeifend. Das Gelächter des Sturms, der um den Raum strich, mit frostigen Fingern Sandras Wangen berührte.
Die Atemzüge kamen näher. Furchtsam wich sie zurück, stolperte rückwärts. Ihre Füße berührten etwas, weich und warm. Sie bückte sich, tastete umher. Eine Hand packte ihren Oberarm. Eine starke Hand, eine Männerhand. Die Hand des Mörders.
Sandra schrie auf. Sie warf sich zurück, fiel auf den Rücken. Der harte Griff löste sich, die Atemzüge verstummten. Der Boden war warm, weich. Klebrige Feuchtigkeit benetzte ihre Finger. Ein kleines, hartes Etwas, länglich und an der Spitze verdickt. Eine Taschenlampe? Sandra schaltete sie ein.
Es war ein Körper. Der nackte Körper einer jungen Frau. Blut bedeckte ihre Gestalt, den Boden und Sandras Hände.
»Ave Maria«, flüsterte das blutverschmierte Gesicht. Es war Sonjas Gesicht.
Sandra ließ die Taschenlampe fallen. Ein eisiger Hauch streifte ihren Nacken. Sie wirbelte herum. Aus der Finsternis schnellte die Hand auf sie zu, griff ihr zwischen die Beine. Sandra wollte zurückweichen, doch sie war wie gelähmt. Mit einem Ruck riss die Hand ihre Jeans auf. Auf einmal lag die Taschenlampe zwischen den fremden Fingern; und der Mörder stieß zu – hart, brutal, wie ein Messerstich.
Sandra schrie. Sie schrie und schrie und…
... erwachte. Sandra fuhr im Bett hoch, riss die Augen auf. Sie war schweißgebadet und ihr Herz trommelte wie wummernde Technobeats.
Ein Traum, dachte sie und versuchte die lähmende Furcht zurückzudrängen. Es war nur ein Traum.
Zwischen ihren Beinen fühlte es sich feucht an. Entsetzt tastete sie nach unten. Es war nass; nass und warm. Sandra sprang aus dem Bett, griff nach der Türklinke ihres Zimmers und trat auf den lichtlosen Gang hinaus.
Etwas knarrte. Sandra erstarrte. Ihr Herzschlag pochte in ihren Ohren, laut wie Donnerschläge. Panisch griff sie an die Wand, suchte den Lichtschalter. Wo zum Teufel war er? Er musste sich genau hier neben dem Türrahmen…
Das Knarren wiederholte sich. Sandra war sich absolut sicher, dass es näher klang als zuvor.
Flieh!, drang es in ihre Gedanken, doch ihre Beine gehorchten nicht, drohten einzuknicken, wie morsches Holz. Ein feuriger Schmerz brandete durch Sandras Unterleib. Warm und feucht lief es ihre Beine hinab.
Der Lichtschalter! Blendende Helligkeit durchflutete den Gang. Sandra blinzelte hektisch, blickte sich um.
Nichts. Kein Einbrecher, kein Monster, kein Mörder. Sie war allein.
Sandra atmete tief durch, ballte die Hände zu Fäusten. Beruhige dich, dachte sie. Alles nur Einbildung. Sie tapste ins Badezimmer und zog ihre Pyjamahose aus. Überall klebte Blut. Ihre Menstruation hatte eingesetzt, drei Tage zu früh. Im nächsten Augenblick krümmte sie sich vor Pein, als eine weitere Welle aus Schmerz ihren Unterleib durchzuckte.
Was für ein Scheißtag, dachte Sandra und erbrach sich in die Toilette.
∞
»Sandra?« Michelles Stimme klang verschlafen und verwirrt; kein Wunder um diese Uhrzeit.
»Ich habe geträumt«, flüsterte Sandra und noch immer zitterte ihre Stimme. »Von einem dunklen Raum. Von einem Mann, der mich töten will. Von Sonja.«
Sandra vernahm ein Rascheln, als sich Michelle im Bett aufsetzte.
»Ein Albtraum?«
»Ja. Aber nicht so harmlos wie gestern. Es war finster, ich habe ihn nur atmen gehört. Dann bin ich über Sonjas Leiche gestolpert. Überall war Blut. Der Mann hat mich gepackt, mir die Hose runtergerissen und… es war so schrecklich!«
»Ach du Scheiße.«
»Als ich aufgewacht bin, hatte ich meine Menstruation. Drei Tage zu früh. Das ist mir seit einem Jahr nicht passiert. Die Krämpfe waren so intensiv, dass ich kotzen musste.«
»Fuck! Sandra, das klingt wie ein schlechter Horrorfilm. Wie fühlst du dich jetzt?«
»Ging schon mal besser.«
»Gehst du heute in die Schule?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich fühle ich mich nicht danach.«
»Hast du Schmerzmittel daheim?«
»Ja.«
»Dann nimm eine Tablette und komm in die Schule. Ich werde ein bisschen Katzenfutter besorgen.«
Sandra umklammerte ihr Handy fester. »Ehrlich? Das wäre cool!«
Katzenfutter war ein Codewort für etwas völlig anderes. Etwas, das ihr in der momentanen Situation, bei ihrer Furcht und ihren Regelschmerzen, wirklich helfen konnte.
»Gehen wir nach der Schule zum schönsten Platz der Welt?«, fragte Michelle.
Sandra grinste. »Einverstanden. Das ist eh schon überfällig.«
Dienstag, 09. Januar, 08:30 Uhr
Bernhard gähnte ungeniert. Die vergangene Nacht war nicht so erholsam gewesen, wie die letzte. Er hatte nicht geträumt, natürlich nicht, aber war fortwährend hochgeschreckt. Darüber hinaus war der Hustenreiz stärker geworden. Zum Frühstück hatte er sich Salbeitee gekocht, eine Vitamin-C-Kapsel geschluckt und Halsbonbons gelutscht. Der Husten war noch immer da, trocken und bellend, aber immerhin wurde er nicht mehr jede Minute durchgeschüttelt.
Auf seinem Bürotisch stapelten sich Presseanfragen, Notizzettel, Zeitungsberichte, Laboruntersuchungen und Unterlagen zum Fall Bocconcelli. Durch die verstärkte internationale Zusammenarbeit waren weitere Morde aufgetaucht, die möglicherweise auf das Konto des Täters gingen. Momentan gingen sie von wenigstens dreizehn Fällen aus, die Bocconcelli zugeschrieben werden konnten. Berücksichtigte man die zwei Morde in der Seilbahngondel, waren es sogar fünfzehn. Falls sich dies bestätigte, würde es sich um die größte mitteleuropäische Mordserie einer Einzelperson in den vergangenen fünf Jahren handeln. Wenig verwunderlich, dass das mediale Interesse enorm war. Bernhard hatte die Sekretärin angewiesen, keine Anrufe mehr durchzustellen. Mit seinen Vorgesetzten hatte er sich darauf geeinigt, mit der Preisgabe weiterer Informationen zu warten, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren.
Bernhard sortierte einen Stapel Zeitungsberichte und blickte auf die Armbanduhr. Seltsamerweise war Anna noch nicht da. Gewöhnlich betrat sie das Präsidium spätestens um viertel nach acht und war damit meist früher im Dienst, als er selbst.
Sein Diensthandy läutete.
»Hallo, Bernhard«, erklang Annas Stimme.
»Guten Morgen, Anna. Hast du verschlafen?«
»Nein. Bin gerade mit Roberto auf dem Weg zur Côte d’Azur.«
Bernhard warf einen Blick aus dem Fenster, hinter dem tiefe, dunkle Wolken über die Stadt zogen. »Hast du dir doch ein paar Tage frei genommen?«
»Ja. Ich habe dir meine Urlaubsmeldung gefaxt. Könntest du sie an die Personalabteilung weiterleiten?«
»Natürlich. Wohin geht es denn?«
»Nach Cassis, das ist nahe Marseille. Robertos Onkel hat dort ein Haus.«
»Feine Sache. Dann wünsche ich euch viel Vergnügen – und dir gute Erholung.«
»Danke. Wenn es etwas Dringendes gibt, bin ich telefonisch erreichbar.«
»Kommt überhaupt nicht infrage.« Bernhard konnte nur mit Mühe den plötzlichen Hustenreiz unterdrücken. »Ich denke nicht daran, dich in deinem wohlverdienten Urlaub zu stören. Und ich werde dafür Sorge tragen, dass es auch sonst niemand tut.«
»Das ist lieb von dir. Dann sehen wir uns Mitte nächster Woche.«