Die vierte Frau - Mortimer M. Müller - E-Book

Die vierte Frau E-Book

Mortimer M. Müller

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Beschreibung

Bianca erwacht in einem fremden Bett, einer unbekannten Wohnung und ohne Erinnerungen. Sie weiß nur, dass sie von einem Mann hierhergebracht und missbraucht worden ist. Bianca flieht in die Innenstadt von Wien, wo sie die Bar wiedererkennt, in der sie die schicksalhafte Begegnung mit ihrem Peiniger Georg hatte. Auf der Suche nach ihrer eigenen, verworrenen Vergangenheit stellt Bianca fest, dass es noch andere weibliche Opfer gibt; und sie beschließt, Beweise zu sammeln, um Georg ein für alle Mal das Handwerk zu legen. Doch bald wird die Jägerin zur Gejagten, als Georg begreift, dass ihm jemand auf der Spur ist - und er ebenso raffiniert wie unerwartet zurückschlägt ...

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ZU DIESEM BUCH

Bianca erwacht in einem fremden Bett, einer unbekannten Wohnung und ohne Erinnerungen. Sie weiß nur, dass sie von einem Mann hierhergebracht und missbraucht worden ist. Bianca flieht in die Innenstadt von Wien, wo sie die Bar wiedererkennt, in der sie die schicksalhafte Begegnung mit ihrem Peiniger Georg hatte. Auf der Suche nach ihrer eigenen, verworrenen Vergangenheit stellt Bianca fest, dass es noch andere weibliche Opfer gibt; und sie beschließt, Beweise zu sammeln, um Georg ein für alle Mal das Handwerk zu legen. Doch bald wird die Jägerin zur Gejagten, als Georg begreift, dass ihm jemand auf der Spur ist – und er ebenso raffiniert wie unerwartet zurückschlägt …

DIE VIERTE FRAU ist ein Kriminalroman mit Handlungsort Wien.

Mortimer M. Müller schreibt seit seiner Jugend Kurzgeschichten und Romane in den Genres Thriller, Fantastik, Sci-Fi und Satire. Daneben ist er in den kreativen Bereichen Gesang, Film und Fotografie aktiv. Sein Lebenselixier braut er aus täglichem Sport, der Natur, seinen Träumen, Familienleben und Sonnenlicht. Hauptberuflich arbeitet er als Waldbrandforscher an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Der Künstler ist Preisträger des Hamburger Schloss-Schreiber-Stipendiums. Sein Kitzbühel-Thriller KABINE 14 wurde für den FriedrichGlauser-Preis, Sparte Debütroman, nominiert.

Mehr Informationen finden Sie unter:

https://blog.mortimer-mueller.at

Weitere Romane des Autors sind in Vorbereitung.

für Jana

Inhaltsverzeichnis

1. fremd

2. flucht

3. fehler

4. verfolgt

5. familie

6. vollbad

7. verbündet

8. finster

9. verschwörung

10. fakten

11. freundin

12. friedhof

13. feind

14. fort

15. feig

16. visionen

17. fitness

18. visite

19. vier

20. verloren

21. fern

22. frei

23. festessen

24. verstand

25. verrat

26. vergeltung

27. frieden

Epilog

NACHWORT

1. fremd

Etwas ist nicht so, wie es sein sollte. Sie spürt es, sobald sie die Augen aufschlägt, kann ihre Empfindung aber nicht benennen. Sie zwinkert. Einmal. Zweimal.

Denk nach, Bianca, erklingt es in ihrem Geist. Orientiere dich, überlege, entscheide und handle!

Sie liegt auf dem Rücken, starrt auf einen hellen Plafond mit einer kreisrunden, abgeschalteten Deckenleuchte. Unter sich spürt sie etwas Weiches, vermutlich eine Matratze. Nicht weit entfernt erklingt Vogelgezwitscher. Vielleicht eine Nachtigall.

Bianca wendet das Gesicht zur Seite. Es knistert leise unter ihren brustlangen blonden Haaren. Sie sieht eine weiße Fläche vor sich; eine weiß verputzte Innenmauer. Es ist keine gewöhnliche Wandfarbe. Sie wirkt rau und fleckig, strahlt Tiefe und unnahbare Kälte aus, könnte ebenso eine Mauer aus Schnee sein. Ein Kalkanstrich, denkt Bianca. Ungewöhnlich.

Der Überzug des Kissens ist weich und flauschig. Ein angenehmer Duft entweicht dem Baumwollstoff. Sie mag den Geruch – frisches Heu, gemischt mit Bergluft und Lavendel. Seit wann verwendet sie dieses Parfum? Ist es überhaupt ein Parfum? Womöglich ihr eigener Schweiß oder der Duft des Waschmittels? Es fällt ihr schwer, den Geruch einzuordnen, denn da ist noch die Nuance von etwas anderem. Eine herbe, scharfe Ausdünstung, die in ihr ein Gefühl von Abscheu weckt.

Bianca dreht den Kopf auf die andere Seite. Das dünne Laken hat sich aufgewölbt. Sie zieht ihre Hand aus der Tiefe der wohligen Bettwärme hervor, drückt das Leintuch glatt.

Das Zimmer ist hell. Sonnenlicht strömt durch eine Glasfront ein paar Meter entfernt. Ein ausgedehnter Raum, sicher mehr als dreißig Quadratmeter, doch arm an Interieur. Ein moderner Schreibtisch mit Bürostuhl in der Ecke. Ein Bücherschrank fast ohne Bücher. Ein Ellipsentrainer mitten im Zimmer, ein Handtuch quer über die Haltegriffe geworfen. Die Wände des Zimmers sind kahl, nur an einer Stelle hängt ein gemaltes Stillleben, das eine Vase mit Blumen vor einem geöffneten Fenster zeigt.

Bianca kennt diesen Raum nicht, hat ihn noch nie gesehen. Das Bett, in dem sie liegt, der Schlafbereich mit einem Wandschrank und das weiß gestrichene Nachtkästchen werden durch eine schiebbare Wand abgegrenzt. Diese steht zur Gänze offen. Dazwischen liegen Socken am Boden.

Meine Socken, denkt Bianca. Sie stemmt sich im Bett hoch, fühlt, dass sie kein einziges Kleidungsstück am Leib trägt. Dort liegen nicht nur Socken. Blaue Jeans. Eine Bluse. Ein rotes Spitzenhöschen. Mein Höschen? Sie weiß es nicht. Aber ihr kommt ein Verdacht.

Biancas rechte Hand wandert zwischen ihre Beine. Was sie fühlt, lässt sie zurückschrecken. Blut, denkt sie, als ihre Finger zum Vorschein kommen. Aber es ist nicht nur Blut. Da ist noch etwas anderes, dickflüssig und klebrig, gelblich weiß, wie alte Sahne. Biancas Finger zittern. Hastig wischt sie das intime Gemisch ins Laken.

Ein Bad. Ich brauche ein Bad. Sie rutscht zur Bettkante, setzt ihre Füße auf den hellen Parkettboden. Ihre Fußsohlen kribbeln, als stehe sie auf einem Ameisenhaufen. Das Gefühl macht ihr Angst, doch sie weiß nicht wieso. Genau genommen weiß sie fast gar nichts.

Bianca legt die Handflächen auf ihre Oberschenkel, schließt die Augen und atmet tief durch. Ihr fällt auf, dass der Vogelgesang verstummt ist. Dafür erklingt von irgendwoher leise klassische Musik.

Weshalb kann ich mich an nichts erinnern?, denkt sie. Was ist das für eine Wohnung – meine eigene? Ihre Empfindung sagt nein. Was tue ich dann hier?

Bianca erhebt sich. Prompt erfasst sie ein Gefühl von Schwindel. Sie lässt sich zurücksinken, krallt ihre Finger in das Bettlaken. Zum Schwindel gesellen sich Übelkeit und ein unangenehmes Pochen hinter ihren Schläfen. Biancas Zunge fühlt sich pelzig an. Ein bitterer, undefinierbarer Geschmack, als sie ein paar Kaubewegungen macht. Bin ich gestern ausgegangen?, denkt sie. Habe ich zu viel getrunken? Wie spät ist es überhaupt?

Ihr Blick fällt auf das Nachtkästchen neben dem Bett. Eine kleine Orchidee mit blaugelben Blüten leuchtet ihr entgegen. Auf der Ablagefläche liegt ein Smartphone.

Mein Handy. Bianca greift danach. 10:15 – Samstag, 15. November, behauptet die Anzeige am Display. Der Bildschirm zeigt das Symbol für neue Whatsapp-Nachrichten. Sie tippt auf die kühle Glasoberfläche. PIN eingeben. Kalt, beinahe höhnisch steht es da. Biancas Daumen wandert über die Zahlen. Ich weiß es. Ich muss es wissen! Sie tippt: 9 – 3 – 5, und fügt nach kurzem Zögern eine 0 hinzu.

PIN-Eingabe ungültig. Biancas Hand beginnt erneut zu zittern. Hastig legt sie das Smartphone beiseite. Ein Schritt nach dem anderen. Zuerst ins Bad.

Bianca fokussiert sich auf ihre Atemzüge. Tief lässt sie die Luft in ihre Lungen strömen, stößt sie mit einem tonlosen Fauchen wieder aus, verfährt auf diese Weise noch mehrere Male. Dabei bemüht sie sich, die pochenden, aber allmählich abnehmenden Schmerzen in ihrem Schädel zu ignorieren. Diesmal steht die langsam auf, Zentimeter für Zentimeter, bis sie die Knie durchgestreckt hat. Der Schwindel ist noch da, aber nicht so schlimm wie zuvor.

Bianca versucht einen Schritt; kein Problem. Noch einen; sie schwankt, aber weigert sich, die Schiebewand zu ergreifen. Ein paar weitere, zaghafte Schritte, dann steht sie direkt an der Fensterfront und blickt nach draußen. Das Sonnenlicht wirkt unnatürlich grell, sticht in ihren Augen. Ein blitzblauer Himmel mit ein paar weißen Schönwetterwolken, die rasch über das Firmament ziehen.

Postfrontale Kaltluftwetterlage.

Was habe ich gerade gedacht? Woher weiß ich das?

Hör mit diesen dämlichen Fragen auf, rügt sie sich selbst. Orientiere dich, überlege, entscheide und handle!

Vor dem Fenster die kahlen Zweige eines Baumes. Dahinter die Silhouette einer Stadt; einer großen Stadt. Schwarze und rote Dächer, Anbauten, Schornsteine, Balkone und Dachterrassen. Ein gelbgrauer Kirchturm überragt seine Umgebung, reich an Giebeln, Verzierungen und spitzen Fortsätzen. Ein unansehnlicher Dorn, der dennoch eine seltsame Erhabenheit ausstrahlt. Ich weiß, wie diese Kirche heißt, denkt Bianca, aber es will ihr nicht einfallen.

Ein Knacken hinter ihr, kaum lauter als eine fallende Stecknadel.

Bianca fährt herum, hebt die Arme abwehrend vor ihren nackten Oberkörper. Die hastige Bewegung treibt Schwindel und Übelkeit empor, für einen Moment flackert ihr Sichtfeld. Sie möchte die Augen schließen, doch reißt sie nur noch weiter auf.

Niemand zu sehen, keine Regung auszumachen. Da ist nichts, drängt es in ihren aufgewühlten Geist. Nur das Knistern der Bodendielen.

Bianca setzt sich in Bewegung. Sie durchschreitet das Wohnzimmer, marschiert rechts an dem offenen Schlafzimmer vorbei, betritt eine Küchenzeile. Im Spülbecken steht ein mit Wasser gefüllter Topf. Daneben zwei gebrauchte Teller mit Besteck, Tassen, eine Schüssel mit undefinierbaren Essensresten. Zwei Äpfel und eine Banane auf der Anrichte. Der Rest eines Brotes und ein angebissenes, mit gehobelten Mandeln bestreutes Briochekipferl.

Ein Bild blitzt in Biancas Bewusstsein auf. Eine breite Nase mit bebenden Nasenflügeln. Feine Krümel, die aus einem kauenden Mund zu Boden rieseln; ein Mund, der von einem Dreitagebart umrahmt wird. Das Bild verschwindet so rasch, wie es gekommen ist.

Bianca geht weiter den Gang entlang, erblickt an seinem Ende die Wohnungstür. Links davor die Eingänge zu zwei weiteren Räumen. Sie öffnet die erste Tür, schaltet das Licht ein, findet sich in einem Badezimmer wieder.

Vor ihrem inneren Auge eine weitere Szenerie. Eine nackte, unbekannte Männergestalt, den Rücken ihr zugewandt. Der Fremde beugt sich über das Waschbecken, Seifenschaum auf Kinn und Wangen. Er dreht ihr sein Gesicht zu, doch kein Antlitz ist zu erkennen; eine leere, augenlose Fläche mit einem schwarzen Loch an jener Stelle, an der ein Mund sein sollte. Die Eingebung verblasst wie die vorherige.

Bianca senkt den Kopf und massiert ihre Stirn. Was geschieht mit mir? Verliere ich den Verstand?

Tust du nicht, entgegnet eine Stimme in ihrem Bewusstsein. Bald wird alles einen Sinn ergeben. Ein Schritt nach dem anderen.

Stimmt. Das Bad.

Bianca hebt den Kopf, erblickt eine Duschkabine und daneben eine Toilettenschüssel. Erst jetzt merkt sie, dass ihre Harnblase randvoll sein muss. Eilig nimmt sie Platz, entspannt ihr Muskeln und lauscht mit milder Belustigung dem Plätschern des Wasserstrahls. Klingt wie damals die Quelle bei der Wanderung in den Ötschergräben.

Ötschergräben? Bianca kratzt sich am Kinn. Ist das eine Schlucht?

Sie erhebt sich, betätigt die Toilettenspülung. Auch dieses gurgelnde Geräusch erinnert sie an irgendetwas, aber es ist nichts Gutes.

Die Duschkabine besitzt eine große, quadratische, fix angebrachte Brause. Eine Regendusche, begreift Bianca, schiebt die Tür auf und tritt hinein.

Ein leiser Aufschrei entweicht ihren Lippen, als sie den Wasserhahn betätigt und die ersten, eisigen Tropfen auf ihre Haut trommeln. Sie tritt beiseite, bis das Wasser zu dampfen beginnt, dann stellt sie sich in die Mitte der Duschkabine. Wohlige Wärme umschließt sie, feiner Dunst beschlägt die Innenseiten der Scheiben. Ein Hauch von Zedernholz dringt in ihre Nase. Zedernholz und Ingwer.

Bianca schließt die Augen, steht regungslos und genießt den Moment, versucht an nichts anderes zu denken, als an das herrlich warme Wasser, das ihren Körper hinabperlt.

Ein Quietschen lässt sie die Augen öffnen. Ein lachendes Gesicht an der Duschkabinenwand. Jemand hat es gezeichnet. Gerade eben. Sie selbst hat es gezeichnet. Doch das Gesicht wirkt nicht glücklich, es ist …

Bianca blinzelt und der Smiley ist verschwunden. Sie starrt auf den Fleck an der halb durchsichtigen Scheibe der Duschkabine, aber das Gesicht kehrt nicht zurück. Weil es nie dagewesen ist.

Bianca spürt einen kühlen Schauer in ihrem Nacken, trotz der dampfenden Hitze, die sie umgibt. Woher kommen diese Bilder in meinem Geist? Sind das Erinnerungen, Träume, Wahnvorstellungen?

Abwarten. Es wird sich alles klären.

Biancas linke Hand wandert zwischen ihre Beine. Glatt rasiert, denkt sie. Makellos. Ihre äußeren Vulvalippen sind dezente, wohlgeformte Erhebungen. Sie umschließen die inneren vollständig, nur ein winziges Stück lugt hervor, wie ein Angebot, in die verlockenden Tiefen vorzudringen. Bianca schiebt einen Finger dazwischen, streicht über ihre Klitoris.

Eine Woge aus Lust peitscht empor und sie schreckt zurück, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gegriffen. Was ist los mit mir?, denkt sie, starrt auf das dunkelrote Blut an ihrem Finger, das vom plätschernden Wasser rasch fortgewaschen wird. Ein juckender, ziehender Schmerz, ein unbestimmtes Fremdkörpergefühl zwischen ihren Beinen, in ihrer Yoni. Womöglich ein Tampon, doch Bianca wagt es nicht, den Bereich erneut zu berühren.

Sie steigt aus der Duschkabine, sucht nach einem Handtuch, findet es an einem Haken an der Wand. Während sie ihre Haare abrubbelt, fällt ihr Blick auf eine seltsame Verfärbung an ihrem rechten, oberen Handgelenk. Sie hält inne, lässt den Arm sinken. Ein blauroter Striemen zieht sich über ihre Haut knapp unterhalb des Handgelenks. Er verliert in Richtung Armunterseite an Stärke, ist aber auch dort vorhanden. Mit klopfendem Herzen hebt Bianca die zweite Hand. Dort dasselbe Bild, nur weniger deutlich ausgeprägt.

Fesseln, denkt Bianca. Jemand hat mich gefesselt.

Das ungute Gefühl von vorhin ist wieder da. Bianca lauscht auf verdächtige Geräusche, auf Schritte oder Stimmen, doch da ist nichts, nur das Tropfen der Regendusche und das Summen des Ventilators.

Orientiere dich, überlege, entscheide und handle! Sie weiß noch immer viel zu wenig über ihre momentane Situation. Eigentlich weiß sie nicht einmal viel über sich selbst.

Bianca stellt sich vor den länglichen Wandspiegel, der zwischen Duschkabine und Waschbecken montiert ist. Sie betrachtet ihr Gesicht, ihren Körper, sucht nach Anhaltspunkten, einem Aha-Effekt oder Déjà-vu-Erlebnis. Doch nichts dergleichen geschieht.

Ich bin also eine Blondine, stellt Bianca fest, doch für sie klingt das mehr nach einer Frage. Ihre Augen sind kastanienfarben mit einem Hauch von Grün und ihre Brauen ebenfalls nicht so hell, wie es ihre Haarfarbe vermuten lässt.

Süßes Stupsnäschen. Aber meine Brüste könnten größer sein.

Bianca dreht sich zur Seite. Netter Arsch. Sie wackelt prüfend mit ihrem Gesäß. Damit kann ich Männern den Kopf verdrehen.

Ein Lächeln erblüht auf ihrem Gesicht.

Wenn ich lache, wirke ich viel sympathischer. Bianca hebt prüfend eine Augenbraue, knabbert spielerisch auf ihrer Unterlippe. Mit diesem Gesichtsausdruck kann ich einen Mann garantiert in den Wahnsinn treiben. Er wird sich wünschen, dass ich …

Ein Schatten über ihr. Groß, finster, breite Schultern. Bianca liegt auf dem Rücken, die Arme auseinandergezogen und fixiert. Ihre Sinne gedämpft, wie in Watte gepackt. Er stößt zu, wieder und wieder. Schweiß tropft auf ihre nackte Brust. Es riecht nach Ammoniak und geschmolzenem Metall. Ein Grunzen, ein Keuchen, animalisch und abstoßend. Ihre Beine gespreizt, dazwischen brennende Schmerzen, ein Gefühl, als würde sie im Inneren auseinandergerissen. Die Stöße werden heftiger, das Grunzen lauter. Große, schweißnasse Hände umfassen ihre Brüste, drücken zu, brutal und unnachgiebig. Ein Schrei, der Laut eines wilden Tieres, halb Lust, halb Wahnsinn. Ihre Sinne vernebeln weiter, ihre Sicht nicht mehr als ein verschwommener Tunnel. Wer ist es, der schreit? Wo befinde ich mich? Weshalb bin ich hier? Wer bin ich überhaupt?

Bianca zwinkert. Sie starrt noch immer in den Spiegel. Aber ihr Spiegelbild ist nicht mehr dasselbe. Ihre Züge fahl wie der Tod, die Augen weit aufgerissen und ein Speichelfaden, der aus dem schief stehenden Mundwinkel hängt.

Oh mein Gott, durchfährt es Biancas Geist, als sie die Bilder rekapituliert und die Botschaft begreift. Ich bin vergewaltigt worden! Jemand hat mich betäubt, hierhergebracht und missbraucht.

Bianca schwankt, klammert sich an das Waschbecken. K.-o.-Tropfen, denkt sie. Jemand hat mir Drogen in mein Getränk getan. Deshalb ihre Verwirrung und ihr Gedächtnisverlust. Deshalb kommt ihr diese Wohnung nicht bekannt vor. Ich muss von hier verschwinden!

Bianca eilt in das Wohnzimmer zurück – als jemand an der Eingangstür klopft; oder nein, eher hämmert. Sie fährt zusammen, erstarrt in der Bewegung.

„Hey, Georg.“ Eine sonore Männerstimme mit einem scharfen Unterton. „Bist du da?“

Bianca wagt keinen Laut. Die Muskeln ihres Körpers verkrampfen. Hektisch blickt sie sich um, sucht nach etwas, das sie als Waffe gebrauchen kann.

„Ich hoffe mal, du liegst nicht im Bett – und hast schon wieder eine neue Bitch gefickt.“ Ein hohes, hämisches Lachen. „Also gut, ich gebe dir und deiner Süßen noch zehn Minuten. Dann komme ich wieder und diesmal lässt du mich gefälligst rein, sonst mache ich mir selbst auf.“

Schwere Schritte, die sich von der Wohnungstür entfernen. Dann Stille. Doch keine angenehme Stille. Es ist die Ruhe vor einem Orkan, der alles mitreißt, was sich ihm in den Weg stellt.

Biancas Hände zittern, ihr läuft es eisig kalt den Nacken hinab. Ich muss hier weg!

Sie sammelt ihre Kleidungsstücke zusammen, schlüpft in Höschen, Socken, BH, Bluse, Jeans und eine weinrote Weste, die sie unter dem Bett entdeckt. Das Handy lässt sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans gleiten, eilt in den Vorraum. Zweimal muss sie innehalten, weil Schwindel und Übelkeit drohen überhandzunehmen.

Keine Zeit, denkt sie und zwingt sich weiterzugehen. Durchhalten!

Ein schwarzer, taillierter Wintermantel, sauber auf einen Kleiderhaken gehängt. Auf einer Holzbank darunter Schal, Lederhandschuhe und Haube, außerdem hübsche Winterstiefel mit Fransen. Offenbar hat ihr Peiniger alles sorgsam verwahrt, wusste genau, was er tat. Aber er hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich so früh aus meinem Drogenschlaf erwache. Bianca zieht alles an.

Am Boden steht eine Frauenhandtasche. Wie alle anderen Utensilien kommt ihr auch diese Tasche nicht bekannt vor. Sie wirft einen Blick hinein, registriert einen Kalender, eine Geldbörse, Schlüsselbund, Kaugummis, Lippenbalsam, Menstruationstasse und Kugelschreiber. Bianca zögert einen Moment, dann wirft sie sich die Handtasche über die Schulter.

Leise zieht sie die Wohnungstür auf, lugt nach draußen. Ein schmaler, finsterer Gang, der fast unmittelbar in eine steile, abwärts führende Treppe übergeht. Bianca huscht aus der Tür – und fährt zusammen, als ein Bewegungsmelder anschlägt und ein gelbweißes Deckenlicht erwacht.

Weiter. Immer weiter.

Die steinerne Treppe ist alt und fleckig, ein Kontrast zu der modern eingerichteten, hellen Wohnung, die sie verlassen hat. Einen Stock tiefer gibt es zwei Türen. Die silberfarbenen Ziffern 5 und 6 prangen über den Türspionen. Aus einer Wohnung dringt klassische Musik. Haydn, meldet der unbewusste Teil ihres Verstandes, aber auch diesmal weiß Bianca nicht, woher diese Eingebung kommt.

Im nächsten Stock die Wohnungen 3 und 4, im Hochparterre die Nummern 1 und 2. Ein paar letzte Stufen führen sie zur Eingangstür des Gebäudes, von der in großen, schmutzigen Blasen der Lack abplatzt. Bianca hält den Atem an und drückt die Tür auf.

2. flucht

Sie spürt die Kälte wie einen Prankenhieb, sobald sie ins Freie tritt. Bianca zögert, verharrt auf der zweiten und letzten Stufe. Weiß wie Schnee, denkt sie, meint den hellen Sandstein zu ihren Füßen. Dahinter Großsteinpflaster. Rechteckige Granitquader, in den Boden gehämmert und zu größtmöglicher Ebenmäßigkeit gedrillt, mit schwarzen Asphaltbahnen ausgebessert und damit unwiederbringlich zerstört. Die Gasse ist schmal, verläuft von links nach rechts. Blutgasse, liest sie auf dem Schild schräg über ihrem Kopf. Wie passend.

Biancas Atem bildet eine weiße Dampfwolke vor ihrem Gesicht, die von einer Windböe davongewirbelt wird. Sie wendet sich nach rechts. Eine Richtung ist so gut wie die andere. Der kalte Wind pfeift um ihre Gestalt, wirbelt alte Blätter vorbei. Mit kleinen Schritten geht sie voran, zieht den Mantel enger um ihren Körper. Eine Person kommt ihr entgegen, ein Mann.

Bianca gerät aus dem Gleichgewicht. Sie spürt, wie Schwindel aufsteigt und ihren Geist zu umfassen droht. Nein, denkt sie. Nicht jetzt. Der Schwindel verfliegt so rasch, wie er gekommen ist. Sie hebt den Blick. Der Unbekannte ist um die Fünfzig, trägt Brille und Wollhaube, sieht stur geradeaus. Keine Gefahr.

Nach hundert Schritten erreicht sie eine Querstraße. Domgasse steht auf dem Namensschild. Nie gehört. Bianca wendet sich abermals nach rechts. Wo liegt die Kirche, die ich von der Wohnung aus gesehen habe?

Stephansdom, manifestiert sich eine Eingebung in ihrem Geist. Die Kathedrale heißt Stephansdom.

Woher weiß ich das?

Du weißt es, weil du in Wien lebst.

Wien. Aha.

Die Hauptstadt von Österreich.

Klar, was sonst.

Bianca, erinnere dich!

Sie versucht es, aber es will ihr nicht gelingen. Splitter, Gedankenfetzen, mehr nicht. Ein großes Tohuwabohu in ihrem Kopf. Wie die Fernsehsendung.

Welche Fernsehsendung?

Die du als kleines Kind immer gesehen hast. Zusammen mit deiner Schwester.

Ich habe eine Schwester?

Bianca, erinnere dich!

Sie marschiert weiter, biegt wahllos links oder rechts ab, starrt auf den Boden. Großsteinpflaster, noch mehr Großsteinpflaster, eine asphaltierte Straße, ein Bürgersteig.

Bianca bleibt stehen. Wenn du dich an nichts erinnern kannst, wirst du dich hoffnungslos verlaufen.

Was soll ich denn sonst tun?

Arbeite mit dem, was du hast.

Aber ich habe doch nichts! Ich weiß nicht einmal, wo ich wohne, was ich arbeite …

Natürlich. Weshalb ist ihr dieser Gedanke nicht eher gekommen. Bianca stellt sich mit dem Rücken an die Mauer des Wohngebäudes hinter ihr. Sie greift nach der Handtasche über ihrer Schulter, betrachtet sie zum ersten Mal genauer. Sie ist weinrot und matt, vermutlich aus Leder, trägt kein sichtbares Markenzeichen. Bianca klappt die Tasche auf, greift nach dem ebenfalls weinroten Kalender. Fast an jedem Tag finden sich Eintragungen und Termine. Sehr viele Termine. Es scheint, als wäre sie eine vielbeschäftigte Frau – sofern dies tatsächlich ihre Tasche und ihr Kalender sind.

Besitze ich keinen digitalen Terminplaner? Zum Beispiel am Handy? Doch das kann sie nicht überprüfen, denn der Sperrbildschirm des Smartphones ist weiterhin aktiv. Wenn ich meine Termine nur im Kalender eintrage, ist das nicht seltsam? Zumindest in der heutigen Zeit. Bin ich seltsam?

Bianca, konzentriere dich!

In der aktuellen Woche, die auf einer Doppelseite zu finden ist, wurde als Lesezeichen ein weißes Bändchen eingeklemmt. Die Schrift ist klein und geschwungen, aber gut zu lesen. Ist ja auch meine Schrift, denkt sie.

Ist sie das?, fragt eine andere, skeptische Stimme in ihrem Geist.

Für heute, Samstag, ist nur um 11:00 Uhr ein Termin vermerkt: Brunch mit Anna. Bianca runzelt sie Stirn. Sollte ich eine Anna kennen? Am Vortag, Freitag, 14. November, finden sich vier Einträge. Um 09:00 Uhr: Meeting mit Julia und Hannes. Um 14:00 Uhr: Friseur, Spitzen schneiden. Um 17:00 Uhr: Training. Um 19:00 Uhr: Date. Hinter dieses letzte Wort hat jemand – vermutlich sie selbst – einen Smiley gezeichnet. Wie das unsichtbare Gesicht auf der Duschkabinenwand.

Bianca spürt, wie Übelkeit ihren Magen emporklettert. Sie schlägt den Kalender zu. Nicht zu viel denken, denkt sie. Oder an etwas anderes denken, bis du die Fakten kennst.

Sie wechselt auf die erste Seite des Kalenders. Dort sind Kontaktdaten vermerkt. Bianca Riedhofer steht ganz oben. Tatsächlich mein Kalender. Sofern der Nachname stimmt. Darunter eine E-Mail-Adresse, eine Handynummer, eine Anschrift: Grünentorgasse 5/4, 1090 Wien, Österreich.

Ist dort meine Wohnung?

Zumindest scheint ihr dies als guter Anhaltspunkt. Sie könnte zu der Adresse gehen und nachsehen, ob einer ihrer Schlüssel passte. Aber was, wenn sich das Türschloss nicht öffnen ließ?

Es sind die richtigen Schlüssel und aus!

Bianca greift nach der Geldbörse, blickt hinein. Fünfzig Euro Bargeld. Eine Bankomatkarte. Eine Jahreskarte der Wiener Linien. E-Card der Sozialversicherung. Mitgliedskarten für ein Fitnesscenter und eine Supermarkt-Kette. Presseausweis. Bin ich Journalistin? Auf sämtlichen Karten findet sich derselbe Name: Bianca Riedhofer. Manchmal auch mit dem vorgezogenen Titel MA, Master of Arts.

Ich bin Akademikerin, denkt sie. Auf einigen der Karten ist ein Foto von ihr abgedruckt, allerdings mit dunklen Haaren – der Beweis, den sie gesucht hat. Bianca Riedhofer ist definitiv mein Name. Weshalb, zum Teufel, kann ich mich nicht daran erinnern?

Bianca zieht das Smartphone aus ihrer Gesäßtasche, wirft einen Blick auf den Bildschirm. 10:48 verkündet das Display. Sie drückt kurz auf den Einschaltknopf. Der Beginn zweier Whatsapp-Nachrichten ist zu erkennen. Einmal von einer Sophie mit den Worten: Hey, Süße, passt es für dich, wenn … und einmal von einem Herbert: Hallo Bianca! Wollte mich wieder bei … Sie möchte die Nachrichten lesen, alles aufsaugen wie ein Schwamm, um zumindest ein paar Informationen aus ihrem Leben zu erhalten.

Biancas Hände beginnen zu zittern. Sie erkennt, dass ihr Mobiltelefon stumm geschaltet ist. Deshalb hört sie den Eingang neuer Nachrichten oder Anrufe auch nicht. Vielleicht ist der Fingerabdrucksensor aktiviert. Bianca presst nacheinander sämtliche Fingerkuppen auf die Unterseite des Bildschirms. PIN eingeben, ist jedes Mal die Antwort. Soll sie noch einmal versuchen, die Geheimnummer zu erraten? Nein, zu riskant, da ist weiterhin nicht der Hauch einer Erinnerung. Wenn sich das Mobiltelefon versperrt, hat sie nichts davon.

Womöglich besitzt das Gerät eine Gesichtserkennung. Bianca zwinkert in die Frontkameras des Smartphones, verschiebt das Handy nach oben, nach unten, nach links und rechts. Diesmal bleibt der Bildschirm gänzlich schwarz. Enttäuscht lässt sie das Mobiltelefon in ihre Umhängetasche gleiten.

Bianca spürt einen schmerzhaften Stich zwischen ihren Beinen, presst die Oberschenkel zusammen. In den letzten Minuten hat sie ihren inneren Verletzungen keine Beachtung geschenkt; oder der Empfindung von klebriger Feuchtigkeit in ihrem Höschen. Doch beides ist da, zweifellos, so zweifellos wie die Striemen auf ihren Händen. Genau genommen spürt sie die Wunden bei jedem Schritt, jeder Bewegung, als befände sich in ihrer Vagina ein kleiner, hässlicher Fremdkörper mit Stacheln. Ein Tampon mit Stacheln.

Vielleicht ist dort tatsächlich etwas.

Der Gedanke lässt in Bianca ein Gefühl von Ekel und Furcht aufsteigen. Kann es sein, dass ihr Peiniger etwas in ihr zurückgelassen hat? Wie ein Andenken oder ein Markenzeichen? Etwas, damit sie niemals vergisst, was er ihr angetan hat? Als ob sie das jemals könnte.

Biancas Finger zittern erneut. Sie möchte sich die Kleider vom Leib reißen, jetzt auf der Stelle, nachsehen, ob da etwas in ihr steckt oder sie bloß Wahnvorstellungen hat. Zuerst in meine Wohnung, denkt sie.

Im Augenwinkel bemerkt Bianca dick eingemummte Passanten, die sich ihr am Bürgersteig nähern. Unwillkürlich verkrampft sie sich, aber die Unbekannten beachten sie nicht weiter, schreiten vorbei. Zwei dunkle Pkw brummen die Straße entlang, es folgen ein Radfahrer und ein KleinLkw.

Bianca registriert, dass die Stadt bevölkerter ist, als sie zunächst angenommen hat. Es scheinen immer mehr Menschen und Fahrzeuge zu werden; als hätten sie irgendwo einen geheimen Produktionsort und würden von diesem ausgespien wie Drohnen von einem Bienenstock. Bianca mag es nicht, dass so viele Menschen in ihrer Nähe sind und die Anzahl beständig zunimmt.

Es sind nicht viele Menschen.

Doch, sind es!

Bianca spürt, wie Wut in ihr emporsteigt. Wut über sich selbst. Weshalb bereitet ihr die Nähe fremder Personen Unbehagen? Liegt es an dem gestrigen Vorfall? Oder war sie schon immer soziophobisch veranlagt?

Ein anderer Gedanke manifestiert sich in ihrem Geist: Warum bin ich alleine aufgewacht? Diese Tatsache erscheint ihr nun äußert seltsam. Ein Mann – vielleicht dieser Georg, von dem der Unbekannte an der Tür gesprochen hat – vergewaltigt sie und lässt sie dann unbeaufsichtigt in seiner Wohnung zurück. Das klingt mehr als eigenartig. Weshalb hat er sie nicht irgendwohin gebracht, zum Beispiel in ein Hotelzimmer, und sie dort zurückgelassen, damit sie den Tatort nicht wiedererkennt? Oder hat er schlicht nicht damit gerechnet, dass sie sich so früh von den K.-o.-Tropfen erholt?

Auf der anderen Seite: Sie kann nicht mit Sicherheit sagen, ob sich ihr Peiniger in derselben Wohnung an ihr vergangen hat, in der sie aufgewacht ist. Ob es überhaupt seine Wohnung ist. Ob er Georg heißt. Noch immer weiß sie viel zu wenig. Vielleicht ist es besser, sie marschiert nicht gleich zu der Adresse, die sie im Kalender gefunden hat. Vielleicht ist es vernünftiger, zunächst etwas anderes zu tun.

Geh zur Polizei. Erzähl den Beamten, was passiert ist.

Dieser Gedanke ist ihr bereits in der Wohnung gekommen. Nun ist er drängender, präsenter.

Werden sie mir glauben?

Zeig ihnen die Striemen an deinen Unterarmen. Führe sie zu der Wohnung. Sie werden dir helfen.

Bianca ballt die Hände zu Fäusten. Sie wendet sich dem nächsten Passanten zu, der an ihr vorbeigeht, einer Frau mittleren Alters, die einen teuer aussehenden Mantel mit Kapuze trägt.

„Entschuldigen Sie bitte.“

Die Frau sieht nicht einmal in Biancas Richtung. Sie blickt stur geradeaus, beschleunigt ihre Schritte und verschwindet hinter der nächsten Hausecke. Der kalte Wind treibt Bianca höhnisch die Haare ins Gesicht.

Habe ich etwas falsch gemacht?, denkt sie verwirrt.

Du bist in der Wiener Innenstadt, erwidert eine Stimme in ihrem Kopf. Was hast du erwartet?

Sie versucht es ein weiteres Mal – ein junger Mann Mitte zwanzig mit auffälligem Schnauzer und einer schwarzen Brille auf der Nase.

„Entschuldigen Sie, ich habe eine Frage.“

Der Mann wird langsamer, wirft ihr einen wenig erfreuten Blick zu. Er überlegt, ob er mich ignorieren soll. Nicht abwarten, gleich nachhaken!

„Ich suche die nächste Polizeidienststelle. Können Sie mir sagen, wo ich die finde?“

Der Unbekannte bleibt stehen, mustert Bianca flüchtig, dann deutet er nach links. „Polizeiinspektion auf der Brandstätte. Immer geradeaus, hinterm Stephansdom vorbei und dann noch hundert Meter. Kannst du nicht verfehlen.“

„Danke.“ Bianca versucht zu lächeln, aber ist sich nicht sicher, ob es ihr gelingt.

Der junge Mann nickt, mustert sie ein weiteres Mal ohne Regung im Gesicht, dann setzt er seinen Weg fort.

Biancas Herz pocht, als sie sich in die angegebene Richtung in Bewegung setzt. Wird man mich untersuchen?, denkt sie. Schließlich behaupte ich, missbraucht worden zu sein.

Ja, aber die Untersuchung wird kein Polizeibeamter vornehmen, sondern eine Frauenärztin.

Damit kann ich leben. Dann weiß ich auch, ob tatsächlich etwas in mir steckt.

Der Gedanke lässt Bianca die Zähne zusammenbeißen. Ihr wird abermals bewusst, wie wenig sie von dem weiß, was vorgefallen ist. Da sind bloß jene düsteren Bilder der Vergewaltigung, der muskulöse, grunzende Schatten über ihr, der nicht einmal ein Gesicht besitzt.

Biancas Hände zittern abermals. Sie vergräbt sie in ihren Manteltaschen. Ich werde mich erinnern, denkt sie. Und dann kann der Scheißkerl was erleben!

3. fehler

Von außen wirkt die Polizeiinspektion unscheinbar. Rötlichbraune Marmorsteinplatten und jede Menge Glasfenster, die dringend einer Reinigung bedürfen. Zwei blaue Schilder mit dem weißen Schriftzug Polizei als einziger Hinweis, dass sich hinter der Glastür eine Dienststelle der Bundespolizei befindet.

Bianca steht auf dem Bürgersteig direkt vor dem Haupteingang. Sie möchte eintreten, aber ihre Beine weigern sich, die letzten Schritte zu tun. Als wären sie an den Asphalt genagelt. In ihrem Hinterkopf hopst eine kleine, kreischende Gestalt auf und ab. Sie verkündet mit schriller Stimme, dass Bianca im Begriff ist, einen gewaltigen Fehler zu begehen.

Ich habe Angst, begreift Bianca. Eine Höllenangst vor dem, was passieren könnte.

Was ist das Schlimmste, das du dir ausmalst?

Dass er mich denunziert. Dass er die Vergewaltigung so darstellt, als hätte ich es gewollt.

Du bist verletzt. Er hat dich mit K.-o.-Tropfen betäubt. Beides kann man nachweisen.

Ja, aber …

Willst du, dass er ungestraft davonkommt?

Nein, natürlich nicht.

Dann beweg deinen hübschen Hintern, Schisserling!

Bianca kneift für einen Moment die Augenlider zusammen. Mit einem Ruck setzt sie sich in Bewegung, zieht die Eingangstür so energisch auf, dass sie um ein Haar ihr Gleichgewicht verliert. Dahinter ein Empfangsbereich. Eine Polizeibeamtin mittleren Alters, die bei ihrem Eintreten aufblickt. Harte Gesichtszüge, doch ein warmes Lächeln auf ihren Lippen.

„Guten Tag.“ Der Blick der Polizistin ist forschend. „Was kann ich für Sie tun?“

Bianca schluckt. „Ich … möchte etwas melden. Ein Verbrechen.“

Die Züge der Frau bleiben unbewegt, das Lächeln so unerschüttert, als wäre es festgefroren. Bloß ein Blitzen in ihren Augen lässt erahnen, dass sie Bianca verstanden hat.

„Um welche Art von Verbrechen handelt es sich?“

„Ich bin … Ähm, also …“

Im Hintergrund gehen zwei Polizeibeamte vorbei. Einer von ihnen lacht und schlägt dem anderen auf die Schulter. Er blickt nicht in Biancas Richtung, doch seine Gesichtszüge sind klar zu erkennen: Geschwungene Wangenknochen, eine breite Nase, buschige Augenbrauen, ein markantes Kinn, dazu ein gepflegter Dreitagebart, der …

Er! Er ist es! Schlagartig erhält der dunkle Schatten ein Gesicht. Der kauende Mund in der Küchenzeile. Die Männergestalt im Badezimmer.

Bianca spürt, wie sich sämtliches Blut aus ihrem Gesicht verabschiedet. Sie möchte den Blick abwenden, doch kann es nicht, auch dann nicht, als die beiden Polizeibeamten am Ende des Ganges verschwinden.

„Ist Ihnen nicht gut?“ Die Stimme der Empfangsdame. Sie klingt verzerrt und gedämpft, als würde sie durch eine Nebelwand dringen.

Er ist es, wiederholt ihr Verstand wie ein Mantra. Dieser Mann hat mich vergewaltigt!

Bianca geht einen Schritt rückwärts. Dann noch einen.

„Hallo?“ Jetzt klingt die Stimme eindeutig alarmiert.

Bianca wirbelt herum und stürmt aus der Polizeiinspektion. Sie wendet sich nach rechts, läuft ein paar Schritte, wechselt in einen raschen Trab, wirft einen Blick zurück. Die Tür der Polizeiinspektion bleibt geschlossen, niemand folgt ihr.

Bianca wird nicht langsamer. Weiter. Auf keinen Fall stehenbleiben. Sie erreicht eine Freifläche. Direkt vor ihr eine große, mit Gold verzierte Uhr auf einem überdachten Quergang, der zwei Gebäude miteinander verbindet. Eine Gruppe Japaner oder Chinesen steht davor und knipst mit ihren Handys. Auch jetzt läuft Bianca geradeaus, linst über ihre Schulter. Keine auffälligen Personen hinter hier, weder die Empfangsdame noch uniformierte Polizeibeamte.

Bianca hält inne. Was, zum Henker, war das gerade? Ist der Typ, der mich missbraucht hat, tatsächlich ein Polizeibeamter? Habe ich ihn verwechselt, ist die Panik mit mir durchgegangen? Nein, dafür sind ihre Eingebung und die Erkenntnis zu mächtig. Es musste so sein, ein Irrtum war ausgeschlossen. Wenn der Scheißkerl Polizist ist, dann … Verdammt, was soll ich tun?!

Orientiere dich, überlege, entscheide und handle!

Bianca konzentriert sich auf ihre Atemzüge, wie sie es in ihrem Yogakurs gelernt hat.

Ich mache Yoga?

Still! Nicht ablenken!

Sie konnte nicht zurück, zumindest nicht in diese Polizeistation. Es würde unangenehme Fragen geben, schließlich hatte sie das Gebäude fluchtartig verlassen. Und falls ihr Peiniger auftauchte … Nein, sie konnte nicht sagen, wie sie reagieren würde.

Also was jetzt?, denkt Bianca. Eine andere Polizeiinspektion? In meine Wohnung? Die Stadt verlassen? Sie konnte aufs Land fahren, in die Steiermark zum Beispiel. Dort hatte sie einen Onkel, der …

Onkel Herbert, genau. Der Bruder meines Vaters. Besitzt eine Landwirtschaft. Wir haben uns immer gut verstanden. Wahrscheinlich ist er es, der mir die Whatsapp-Nachricht geschickt hat.

Nein. Bianca presst die Lippen aufeinander. Ich werde nicht flüchten. Ich will wissen, wer der Scheißkerl ist, und ich werde ihn anzeigen. Aber zuerst muss ich in Ruhe nachdenken.

Bianca entdeckt eine Stiege. Sie marschiert darauf zu, steigt empor. Friedmann-Platz steht auf einer Hinweistafel. Das klingt gut. Auch hier ist der Boden mit großen Pflastersteinen bedeckt. Die Gegend kommt ihr bekannt vor. Sehr sogar. Sie blickt sich um, geht zaghaft weiter. Vor ihr eine spitz zulaufende Gebäudeecke. Darüber ein prätentiöses Gewerbeschild.

Smartmeet Cocktail Bar. Bianca legt den Kopf schief. Ein Déjà-vu in ihrem Geist, eine Erinnerung, die aus dem Unbewussten emporsteigt, an die Oberfläche drängt …

„Guten Abend, schöne Frau.“ Sein Lächeln ist breit und einnehmend. Buschige Augenbrauen tanzen über attraktivmännlichen Zügen. „Darf ich mich zu dir setzen?“

„Wenn du mir ein überzeugendes Argument nennst.“ Bianca kann das kokette Grinsen auf ihren Lippen spüren.

„Ich beobachte dich schon eine Weile.“ Er lehnt sich gegen die Mauer, verschränkt die Arme. „Du sitzt hier ganz allein und trinkst deinen … Grüntee, oder was immer das ist. Ein wenig traurig, findest du nicht?“

„Nope. Ich mag es, allein zu sein.“

„Rote Weste, enge Jeans, sexy Stiefel – ich glaube, du erhoffst dir etwas.“

„Sexy Stiefel?“ Sie kichert. „Ich erhoffe mir jedenfalls keinen notgeilen Macho ohne Tischmanieren.“

„Ich habe Tischmanieren, versprochen! Darf ich dir einen Drink spendieren?“

Bianca spürt, wie ihre Empfindungen miteinander ringen. Leider gewinnt ein höchst eigenwilliger Trieb, den sie in manchen Situationen gern abschalten würde.

„Wir kennen uns zwar nicht, aber du darfst.“