Das fiese Glück - Mortimer M. Müller - E-Book

Das fiese Glück E-Book

Mortimer M. Müller

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Beschreibung

Walter ist Pessimist - und das aus gutem Grund. In seinem Leben läuft alles schief. Er hat kein Glück mit den Frauen, seine Familie will nichts von ihm wissen und in der Arbeit muss er einen albtraumhaften Chef ertragen. Zudem kämpft er mit chronischen Erkrankungen, hat hohe Schulden und wird von seinen Mitmenschen nur zu gern als Sündenbock dargestellt. Kurz: Walter ist zu Recht Pessimist. Doch eines Tages ändert sich alles. Walter mutiert vom Pechvogel zum Glückspilz, wird von positiven Entwicklungen überhäuft. Als er auch noch seiner Traumfrau begegnet, schwebt Walter auf Wolke sieben - aber Das fiese Glück hat ganz eigene Pläne ... Das fiese Glück ist ein humorvoller Unterhaltungsroman für alle, die das Wundern noch nicht verlernt haben.

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ZU DIESEM BUCH

Walter ist Pessimist – und das aus gutem Grund. In seinem Leben läuft alles schief. Er hat kein Glück mit den Frauen, seine Familie will nichts von ihm wissen und in der Arbeit muss er einen albtraumhaften Chef ertragen. Zudem kämpft er mit chronischen Erkrankungen, hat hohe Schulden und wird von seinen Mitmenschen nur zu gern als Sündenbock dargestellt. Kurz: Walter ist zu Recht Pessimist.

Doch eines Tages ändert sich alles. Walter mutiert vom Pechvogel zum Glückspilz, wird von positiven Ereignissen überhäuft. Als er auch noch seiner Traumfrau begegnet, schwebt Walter auf Wolke sieben – aber das fiese Glück hat ganz eigene Pläne …

DAS FIESE GLÜCK ist ein humorvoller Unterhaltungsroman für alle, die das Wundern noch nicht verlernt haben.

Mortimer M. Müller schreibt seit seiner Jugend Lyrik, Kurzgeschichten und Romane in den Genres Thriller, Fantastik, Unterhaltung und Satire. Daneben ist er begeisterter Sportler, Waldliebhaber, Sonnenanbeter sowie in den kreativen Bereichen Gesang, Film und Fotografie aktiv. Er arbeitet und studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Sein Kitzbühel-Thriller KABINE 14 wurde für den Friedrich-Glauser-Preis 2014, Sparte Debütroman, nominiert.

Mehr Informationen finden Sie unter:

https://blog.mortimer-mueller.at

Weitere Romane des Autors sind in Vorbereitung.

gegen die richtig fiesen Momente im Leben

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Kapitel 122

Kapitel 123

Nachwort

»Söringen, kommen Sie in mein Büro.«

Na toll. Ich wusste schon, was Sache war. Wenn mein Chef, Hans-Ulrich Zwieböck, so anfing, bedeutete das einen ziemlichen Scherbenhaufen. Außerdem war klar, dass die Albträume heute Nacht noch nicht alles gewesen sein konnten. Der Tag hatte erst begonnen.

»Walter, mach den Mund zu und beweg deinen Hintern.« Mein Sitznachbar Eduard, die einzige Person in der Abteilung, mit der ich so etwas wie eine freundschaftliche Beziehung pflegte, deutete Zwieböck hinterher. »Wenn du ihn warten lässt, wird es richtig schmutzig.«

Wortlos erhob ich mich und folgte meinem Chef. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Aber ich kannte das Spiel und wusste, was ich zu tun hatte. Einfach den Schwanz einkneifen und demütig alle Schikanen ertragen, denn es würde bestimmt sehr schlimm werden.

»Sie verdammtes Stück Scheiße!«, brüllte mein Chef los. »Was haben Sie sich dabei gedacht?«

Meine Gedanken rasten. Was er wohl meinte? Ich erinnerte mich an keinen Fehltritt, zumindest keinen, den er mitbekommen haben könnte.

»Sie haben mich gestern in der Kantine einen Aufschneider genannt. Sagen Sie, sind Sie noch bei Trost?«

Ach so, das meinte er. Also hatte mich mal wieder einer meiner Arbeitskollegen verpfiffen. Da wären mir auf Anhieb ein paar viel schlimmere Dinge eingefallen. Zum Beispiel, dass ich ihn im Beisein seines Stellvertreters einen unangenehmen Zeitgenossen genannt hatte.

»Ich hätte gut Lust, Sie zu feuern, Söringen«, röhrte Zwieböck weiter und ließ seine mächtigen Schultern kreisen. »Aber so richtig, mit einem Arschtritt und allem was dazu gehört.«

Ich blieb standhaft, saß aufrecht im Besucherstuhl und zuckte mit keiner Wimper.

»Aber«, fuhr Zwieböck fort, »dann würden mir unsere netten Unterhaltungen sicher abgehen. Ein Dreckschwein braucht doch jedes Unternehmen, finden Sie nicht auch?«

Ich wusste, was von mir verlangt wurde. »Natürlich, Herr Zwieböck, wo Sie recht haben, haben Sie recht.«

»Ich habe immer recht!« Zwieböck stolzierte durch sein Büro. »Nun gut, ich bin fertig mit Ihnen. Raus hier, aber dalli, und schreiben Sie bis zum Abend den Bericht, sonst feuere ich Sie doch noch.«

»Welchen Bericht denn?«

»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, auch wenn das schwer möglich ist. Ich meine die Zusammenfassung des Feedbacks zur englischen Übersetzung unserer Hausordnung. Sie haben drei Stunden. Und jetzt fort mit Ihnen.«

Folgsam erhob ich mich und trat aus der Tür. Die hämischen Blicke meiner Kollegen ruhten auf mir. Es gab keine Rückmeldungen zur englischen Fassung unserer Hausordnung. Es existierte auch nur eine deutsche Version. Das bedeutete, ich musste unser Regelwerk übersetzen, dann eine Blitzumfrage durchführen und zuletzt einen mehrseitigen Bericht verfassen, komplett mit Grafiken, Diagrammen und einer Lobeshymne auf unseren Chef. Wahrscheinlich durfte ich ihm morgen das Feedback zur spanischen Hausordnung präsentieren. Es war erst Montag. Also hatte ich noch vier Sprachen vor mir.

Ich frage mich manchmal, wann es begonnen hat. Ob es überhaupt einen Beginn gab oder schon immer so war. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass meine Geburt völlig unspektakulär verlaufen ist. Ich bin hinausgeflutscht, hat sie gesagt, ein rosarotes Etwas, das gleich mal so laut gebrüllt hat, dass sogar der Oberarzt in den Kreißsaal gestürmt ist. Niemand hat mich fallen gelassen. Das war ja meine erste Hypothese. Aber nein, angeblich ist das nicht passiert. Das wäre auch zu einfach, und einfach ist in meinem Leben wirklich nichts.

Meine zweite Theorie betrifft ein Erlebnis in der dritten Klasse, an das ich mich noch so gut erinnern kann, als wäre es gestern gewesen. Die dicke Anna. Sie ist schuld. Ich habe ihr den Schokoriegel gemopst und das hat sie mir übel genommen. Als sie auf mich zugestürmt ist, die fetten Hände zu Fäusten geballt, das glänzende, rote Gesicht eine Teufelsfratze – da habe ich es schon mit der Angst zu tun bekommen. Aber sie hat nicht zugeschlagen. Sie hat mich nicht mal geschubst. Sie hat nur gebrüllt: »Das ist meiner! Ich hab dran gelutscht!« Anna meinte natürlich den Schokoriegel. Mir ist auch gleich ganz anders geworden. Ich bin gerade noch bis zum Klo gekommen. Leider habe ich mich vertan. Es war die Frauentoilette und ich bin mit meiner Lehrerin zusammengestoßen. Dann habe ich gereihert. Auf die Schuhe meiner Professorin. Das fand sie nicht so toll und ich durfte eine Stunde in der Ecke stecken; verdreckt, stinkend und mit verheultem Gesicht.

Ja, so könnte es begonnen haben. Aber wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich danach noch an die eine oder andere schöne Phase in meinem Leben. Mein erstes Mal zum Beispiel. Das war keine typische Jugendliebe, viel Gekicher, unsichere Küsse und keine Ahnung, wo man sein Ding reinstecken sollte. Sie war sechsundzwanzig, ich gerade mal sechzehn. Hat mich angequatscht, als ich aus der Disco gehen wollte. Ich habe einen Witz gerissen und der dürfte ihr gefallen haben. Jedenfalls hat sie laut gelacht und ihre Augen haben zu leuchten begonnen. Dieses Leuchten ist auch nicht mehr verschwunden. Sie hatte eine Wohnung, fünf Minuten entfernt. Ich bin mitgegangen und sie hat mich ins Schlafzimmer gelotst. So schnell habe ich gar nicht schauen können, ist sie nackt vor mir gestanden. Ich fand das momentan ziemlich geil, war überhaupt nicht schüchtern. Lag sicher am Alkohol. Meine restlichen Erinnerungen an diesen Abend sind ein wenig verschwommen. Aber wir haben es getan, mehrmals. Dazwischen war ich mal kotzen auf der Toilette.

Ich bekomme heute noch einen Steifen, wenn ich an diese Nacht denke. Wiedergesehen habe ich sie nie. Ich weiß nur mehr ihren Namen. Er lautete Anna. Irgendwie ein seltsamer Zufall.

»Hallo Schatz! Ich bin daheim.«

Gut, das war eine schlechte Idee. Erstens hatte ich Claudia noch nie Schatz genannt – wir kannten uns erst seit fünf Wochen – und zweitens war es erfahrungsgemäß unklug, den Bosheiten des Lebens an den Kopf zu werfen, dass man zu Hause eingetroffen war. Aber ich hatte mich nun mal hinreißen lassen und damit war die nächste Katastrophe vorprogrammiert.

Ich merkte es an der Stille. Mein wacher Geist kombinierte sofort, dass sie nicht in der Wohnung war. Durch meine unfreiwilligen Überstunden – Zwieböck hatte darauf bestanden, dass ich sämtliche angeschlagenen Hausordnungen mit dem Punkt »Der Chef hat immer recht« ergänzte – war es bereits nach zwanzig Uhr. Claudia sollte mir längst kokett und in Spitzenunterwäsche entgegenlaufen; nicht, dass sie das jemals getan hätte, aber ich meine ja nur.

Dann erkannte ich, dass es gar nicht still war. Ja, freilich röhrte der Kühlschrank, als würde er demnächst wieder die Sicherung herausfliegen lassen (was er eine Stunde später auch tat) und von draußen klang das Rauschen des Abendverkehrs herein. Aber was oder wen ich meinte, war Susi. Meine Ratte galoppierte in ihrem Laufrad, als wäre eine böse Miezekatze hinter ihr her oder als trainierte sie für einen Benefiz-Marathon zur Rettung von Labormäusen.

Somit war alles klar. Ich hatte es vergeigt. Claudia war nicht da, weil sie nie mehr wiederkommen würde. Doch das konnte noch nicht die ganze Hiobsbotschaft sein. Hatte ich ihr von meiner eisernen Reserve erzählt – in Form eines mit zweitausend Euro gefüllten Sockens?

Ich riss den Wohnzimmerschrank auf, aber der Strumpf war noch da; inklusive Füllung. Und die alte Taschenuhr, das letzte Erbstück meiner Mutter? Auch sie lag unangetastet am Nachtkästchen.

Dann traf mich ein Gedankenblitz und ich eilte in die Küche. Am Esstisch lag ein Briefumschlag, der mit einem zerbrochenen Herz und den Worten Bye, bye, du Flasche! verziert war. Ich warf ihn ungeöffnet in den Papiercontainer, riss stattdessen eine Lade auf.

Tatsächlich. Sie hatte ihn mitgenommen. Meine edelste Flasche, einen fünfundzwanzig Jahre alten Cragganmore. Frechheit!

Manchmal denke ich, ich habe es von meiner Mutter geerbt. Sie hat in ihrem Leben viel erdulden müssen. Ihre Eltern starben, als sie noch ein Kind war. Mama wuchs bei ihrem Onkel auf, der sie misshandelt und, wie ich vermute, auch vergewaltigt hat. Dazu führte er ein autoritäres, liebloses Regime im Haus. Meiner Mutter war alles verboten, was Spaß machte. Ins Kino durfte sie das erste Mal mit sechzehn, Fortgehen war ihr bis achtzehn untersagt. Der erste Typ, mit dem sie zusammen war, ließ sie schwanger zurück. Meine Mutter verlor ihr Kind, als sie von ihrem Onkel geschlagen wurde. Immerhin kam der Arsch ein paar Wochen später bei einem Autounfall ums Leben.

Danach gab es ein paar Jahre, die besser gelaufen sind. Mama lernte Gregor kennen, meinen Vater, einen Anwalt mit beeindruckenden Segelohren und einem frechen Grinsen im Gesicht. Das weiß ich aber nur von den Fotos. Er hat meine Mutter betrogen, noch bevor ich geboren wurde. Und zwar gleich mit mehreren Frauen. Mama hat lange nichts gesagt und beide Augen zugedrückt. Dann wollte Gregor die Scheidung. In einer großzügigen Geste hat er meiner Mutter das Haus überlassen; mitsamt den Schulden in der Höhe von mehr als zweihunderttausend Euro.

Klar, dass es meine Mutter bessermachen wollte. Ich durfte alles, von Beginn an, wurde von ihrer Liebe überflutet, um nicht zu sagen ertränkt. In der Pubertät ging mir das bald ziemlich auf den Keks. Ich nahm Abstand und sie versuchte, das mit noch mehr Zuneigung und Hingabe zu kompensieren. Nie hat sie mich kritisiert, wenn ich wieder einmal sturzbesoffen nach Hause gekommen bin. Nur ein einziges Mal ist ihr etwas herausgerutscht, als ich mich auf ihren Lieblingsteppich erbrochen habe.

»Du solltest ins Bett gehen.«

Mama lotste mich nach oben, warf den Teppich in den Müll und brachte mir Kamillentee mit Zwieback.

In ihren Augen muss ich ein rücksichtsloses Ekel gewesen sein. Sie hat mich das nie spüren lassen. Niemals. Ich hätte sie aufheitern sollen, wenn ich sie wieder einmal beim Weinen ertappte. Aber mitten in der Pubertät seine Mutter trösten oder gar umarmen? Das ging nun wirklich nicht.

»Was is’n?«, hab ich gefragt.

Rasch hat sie die Tränen weggewischt und mir ein Lächeln geschenkt. »Nichts, mein Schatz, nichts. Soll ich dir Pfannkuchen backen?«

Ja, so war meine Mutter. Eine wirklich gute Seele, die ihr Wesen fest verschlossen gehalten hat. Ich hätte öfter auf ihre Worte hören sollen. Einer ihrer Sprüche ist mir gut in Erinnerung geblieben: »Glück wird dir im Leben nicht geschenkt. Du hast es – oder eben nicht.«

Leider habe ich zu spät erkannt, wie recht sie mit dieser Aussage hatte.

Ich fischte Claudias Brief aus dem Papiereimer und las ihn doch noch. Im Nachhinein betrachtet keine gute Idee. Die Lösung für ihre boshaften, hämischen Worte war billiger Wodka. Mit Orangensaft natürlich, ich bin kein Unmensch. Das sollte mich auch über den Diebstahl meiner sündteuren Whiskyflasche hinwegtrösten.

Der Alkoholkonsum hatte zur Folge, dass mich die Müdigkeit rascher übermannte als geplant, obwohl Susi weiter emsig und gar nicht leise in ihrem Laufrad herumtollte.

Als es an der Tür läutete, war ich dennoch sofort hellwach.

Einbrecher, drang es in meine Gedanken. Ein Mörder auf der Flucht. Das Sondereinsatzkommando, das mich wegen meines Kaugummi-Diebstahls vor zwanzig Jahren festnehmen will.

Trotz meines hochprozentigen Innenlebens erhob ich mich rasch und fast nicht schwankend. Womöglich bedeutete der ungebetene Besuch gar nichts Schlimmes. Vielleicht hatte sich bloß einer meiner Nachbarn beim Rasieren geschnitten und wollte ein Pflaster. Aber wissen konnte man nie. Mein Blick fiel auf den Wecker am Sofatisch. Gleich zweiundzwanzig Uhr. Reichlich spät für die Belästigung anderer Mitbewohner.

Doch dann vernahm ich Kinderlachen und sofort war alles klar. Die Biester aus Nummer zehn waren zurückgekehrt!

Ich riss die Tür auf, trat mit böse rollenden Augen nach draußen – und mitten in einen Haufen Faulschlamm, den die Nachbarskinder aus der Regentonne gefischt und vor meiner Wohnung abgelegt hatten. Die Übeltäter verschwanden gerade kichernd und gackernd im Gang.

In diesem Moment beging ich den nächsten Fehler. Statt mich mit meinem Schicksal abzufinden, war ich dumm genug, die Verfolgung aufzunehmen. Ich kam bis Tür Nummer sieben. Sie wurde aufgerissen und Frau Schulz stierte hervor, als wäre ich der Weihnachtsmann; oder eher ein besonders hässlicher, verdreckter Krampus, der mit der Rute in der Hand Jagd auf unartige Kinder machte.

»Söringen, Sie Ferkel!«, kreischte Frau Schulz. »Wer soll denn das hier saubermachen?«

»Entschuldigen Sie vielmals. Ich werde natürlich …«

»Selbstverständlich werden Sie! Aber dalli, sonst rufe ich den Reinigungsdienst und Sie zahlen die Rechnung.«

Als ich kehrtmachte, wäre ich um ein Haar auf meiner Faulschlammspur ausgerutscht und hätte einen wenig eleganten, aber sicher schmerzhaften Spagat hingelegt. Aus unerfindlichen Gründen blieb mir dieses Schicksal erspart. Aber der Tag endete erst in zwei Stunden, da konnte noch einiges passieren. Ein Wohnungsbrand zum Beispiel.

Wann es begonnen hat, weiß ich also nicht. Ich kann mich aber an den Moment erinnern, als ich begriff, dass mit mir etwas nicht stimmt.

Das war fünf Tage vor meinem Abitur. Ich bin um vier Uhr morgens von einer Party nach Hause gekommen, sturzbesoffen und theoretisch nicht mehr fähig, einen Menschen von einem Baum zu unterscheiden. Im Gebäude hat Licht gebrannt. Das hat mich in meinem geistig umnachteten Zustand nicht irritiert – bis ich die Polizei- und Krankenwagen vor der Einfahrt erblickt habe. Ich glaube, so schnell bin ich noch nie ausgenüchtert. Mein Blutalkohol muss in wenigen Sekunden durch die Haut verdampft sein.

Ich bin durch die Tür gestürmt, klar im Kopf, aber nicht in meinen Bewegungen. Ich muss wie ein Irrer gewirkt haben, als ich mitten im Zimmer gestanden bin, meine Augen hin und her gerollt sind und mein Mund Laute ausgestoßen hat, die wenig mit menschlicher Sprache gemein hatten. Eine Polizistin ist an mich herangetreten, auf ihrem Antlitz eine Mischung aus Bedrücktheit und Empörung. Sie wollte etwas sagen, aber da wusste ich schon, was Sache ist.

Meine Mutter lag am Fußende der Treppe. Sie war tot. Genickbruch, hat mir später die Polizistin gesagt. Zwischen Mamas Fingern lag noch das Handy. Sie wollte gerade meine Nummer wählen. Ich hätte um Mitternacht daheim sein sollen. Aber zwei Stunden davor hatte sich meine Freundin von mir getrennt – mit den Worten: »Du bist ’ne Flasche. Außer Saufen kanns’de nix.«

Ich hätte meine Mutter retten können. Angeblich war sie nach dem Sturz noch eine halbe Stunde am Leben. Das hat mir später die Polizistin am Revier erklärt. Zuletzt meinte sie noch: »Wer nur Fortgehen und Saufen im Kopf hat, der braucht sich nicht wundern, wenn alles schiefgeht.«

Die ganze Sache war ziemlich verrückt. So viel kumuliertes Pech war nicht normal, wie ich damals fand. Aus heutiger Sicht kann ich sagen: Ich hätte es wissen müssen.

Nein, meine Wohnung fing nicht Feuer. Sobald mir der Gedanke ins Bewusstsein schoss, rechnete ich jede Sekunde damit. Ich kontrollierte den Gasherd – abgedreht –, den Kühlschrank – der ausnahmsweise nicht nach verschmortem Plastik stank – und sämtliche Netzstecker in der Wohnung, aber nirgends gab es Anzeichen für einen Kabelbrand. Auf meiner hysterischen Geisterjagd durch das Apartment kam ich an Susis Käfig vorbei; Susi dreizehn, um genau zu sein. Die Ratte hatte inzwischen fast drei Jahre auf dem Buckel und war damit älter als jede Susi davor. Sie hockte vor ihrem mit Sägespänen ausgestopften Unterschlupf, putzte sich das schwarz-weiß gescheckte Fell und die rosafarbenen Öhrchen.

Wahrhaftig. Susi hatte aufgehört. Sie turnte nicht länger in ihrem Laufrad herum, sondern schmiegte sich in die Sägespäne und blinzelte mir verschwörerisch zu. Dann machte sie kehrt und wühlte sich unter ihre Behausung, bis nur noch die Schwanzspitze zu sehen war.

Erleichtert atmete ich auf. Der Tag war vorbei, für heute musste ich keine Unglücke mehr erwarten.

Ich schnappte mir einen Eimer und Wischmobb, entfernte die Sauerei im Gang und an meiner Wohnungstür. Morgen würde ich mit den Eltern der kleinen Biester sprechen. Erst vor drei Tagen hatten sie mir eine überfahrene, stinkende Kröte in den Postkasten gesteckt, die ich, noch gestresst von der Arbeit, mitsamt den Briefsendungen in die Tüte mit dem Obst und Gemüse getan hatte. Glauben Sie mir, selbst der größte Hunger löst sich schlagartig in Wohlgefallen auf, wenn Ihnen zwischen Zucchini und Äpfeln zwei schiefe Krötenaugen entgegenglupschen.

Als ich mit dem Aufwischen fertig war, gönnte ich mir drei Achtel Rotwein. Das weckte meinen Appetit. Beschwingt trat ich in die Küche und griff nach den Keksen, die ich heute Morgen gekauft hatte. Es waren mit Schokolade überzogene und sicherlich verboten süße Plätzchen, die mir nach dem heutigen Tag gerade recht kamen.

Als ich den ersten Keks in den Mund schob und zu kauen begann, hörte ich es. Susi hatte wieder zu laufen begonnen. Emsig drehte sich ihr Laufrad, das schabende Geräusch vermischte sich mit dem Knirschen und Mahlen in meinem Mund.

Grandios. Einmal mehr war ich dem Unglück in die Falle gegangen. Ich schloss ergeben die Augen – und auf meiner Zunge explodierte ein Brennen.

Das Abitur war nach dem Tod meiner Mutter hinfällig. In den fünf Tagen bis zu den Prüfungen bekam ich mich gerade so weit in den Griff, dass ich ohne Weinkrämpfe die Treppe hinabwanken konnte. Der Alkohol war in dieser Zeit mal wieder mein bester Freund. Sonst hatte ich nicht viele. Genau genommen gar keinen, der es wert gewesen wäre, erwähnt zu werden. Dies lag daran, dass ich unter Alkoholeinfluss dumme Sachen sagte. Zum Beispiel lustig gemeinte Beleidigungen. Oder ich verplapperte mich bei intimen Geheimnissen.

Wenn ich es recht überlege, hatte ich schon einen Freund, eine treue Freundin sogar. Allerdings war sie nicht menschlich. Mit vierzehn, nachdem ich das erste Mal sternhagelvoll heimgekehrt war, bekam ich von meiner Mutter eine Ratte geschenkt. Ich nannte sie Susi; nach meinem früheren Lieblingsfilm Susi und Strolch, aber auch als Anspielung auf die Ratte im Film, die – sehr zu meinem Unmut – als garstiges und hinterhältiges Wesen dargestellt wird. Von Beginn an hegte und umsorgte ich Susi, brachte ihr täglich Leckereien und trug sie regelmäßig mit mir herum. Dennoch lebte sie gerade mal ein halbes Jahr. Dummerweise vergaß ich eines Abends die Käfigtür zu schließen. Am nächsten Morgen war Susi verschwunden. Auf der Suche nach ihr bin ich durch den Garten gestürmt und über Merlin, den pechschwarzen Nachbarskater mit seiner zuckenden weißen Schwanzspitze gestolpert. Das hat mich ziemlich getroffen. Also nicht die Sache mit Merlin oder dem Stolpern, sondern weil das Vieh meine halbzerkaute Ratte auf den Gehweg gespuckt hat.

Wenn ich jetzt daran denke, könnte das der Anfang gewesen sein. Ich meine, wie sollte sich mein Leben positiv entwickeln, wenn ich über einen schwarzen Kater stolpere, der gerade meine einzige Freundin totgebissen hat?

Ich heulte tagelang, bis meine Mutter versprach, mir eine neue Ratte zu kaufen. Das Tier war wie Susi schwarz-weiß gescheckt, besaß ebenso rosafarbene Öhrchen und dieselben kleinen, dunklen Knopfaugen. Ich taufte die Ratte Susi. Susi zwei bekam nach acht Monaten einen aggressiven Hirntumor und starb innerhalb weniger Wochen. Diesmal war es nicht notwendig, meine Mutter lange zu bearbeiten. Am nächsten Tag hockte eine weitere Ratte im Käfig; schwarzweiß gescheckt, mit rosa Ohren und knuffigen, dunklen Knopfaugen. Sie schaffte elf Monate. Bei den Vorbereitungen auf eine Prüfung fiel mir das Deutschwörterbuch aus der Hand und zerquetschte Susi drei, die soeben über den Zimmerboden lief. Susi vier kam auf ein volles Jahr und überlebte sogar meine Mutter. Aber nur um ein paar Tage. Ich vergaß, dass die Ratte anwesend war. Eine Woche nach dem Tod meiner Mutter fand ich Susi lang ausgestreckt auf dem Boden des Käfigs. Sie muss wohl verdurstet sein.

Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis mein angeschwollenes Gesicht wieder menschlich aussah. Trotz einer Überdosis von Antihistaminika glaubte ich fest daran, nun endlich das Zeitliche zu segnen. Aber daraus wurde vorerst nichts. Zwar brannte mein Mund wie Feuer, ich konnte kaum schlucken und meine Zunge fühlte sich an wie die Haut der überfahrenen Kröte, die ich damals zwischen meinen Einkäufen entdeckt hatte, aber immerhin litt ich nicht unter Atemnot und grässlicher Übelkeit.

Als die Beschwerden abklangen, torkelte ich aus dem Bad in die Küche und schnappte mir die Kekspackung. Auf der Rückseite las ich: Enthält Nüsse. Fantastisch. Und ich Dussel hatte mal wieder nicht auf die Zutaten geachtet.

Es war ein schwacher Trost, dass die Kekse in Aktion gewesen waren. Ich hatte nämlich gleich drei Packungen gekauft.

Kurz überlegte ich, die Plätzchen nach und nach an Susi zu verfüttern. Aber wenn ich an das Schicksal von Susi sieben dachte – sie erstickte qualvoll an meinen ersten (und einzigen) selbst gebackenen Honigcräckern – war das keine gute Idee. Daher mussten die Kekse in den Müll und ich ins Bett.

Vor dem Schlafengehen nahm ich ein Schmerzmittel ein; allerdings nicht aufgrund meiner brennenden Mundhöhle, sondern wegen meines Beins. Nach dem Faulschlammausflug vor die Wohnungstür hatte es wieder zu zwicken begonnen. Das Zwicken war einem pulsierenden Schmerz gewichen, der sich vom Oberschenkel bis zur Wade erstreckte. Die letzte halbe Stunde war ich keuchend und stöhnend umhergehumpelt.

Ich setzte mich auf die Bettkante, zog die Socken aus. Es herrschte Stille. Endlich war Susi zur Ruhe gekommen. Mit etwas Fantasie konnte ich sogar ihr Schnarchen vernehmen. Ich blickte auf mein Smartphone, scrollte durch die Gruppen in meinen Kontakten. In der Rubrik Familie befanden sich nur drei Einträge. Weder von meinen Großeltern, noch von meiner Tante oder meinem Cousin hatte ich in den vergangenen Jahren etwas gehört. Meine Anrufe waren stets unbeantwortet geblieben. Aus ihrer Perspektive war das vielleicht eine logische Konsequenz der Ereignisse. Aus meiner Sicht durfte ich das Gleiche behaupten: Selbstverständlich hatte ich auch den Rest meiner Familie verlieren müssen.

Ich sank auf das Kopfkissen, blickte zur Decke empor und atmete tief durch. Eigentlich kein übler Tag. Es hätte viel schlimmer kommen können.

Das Abitur musste also warten; und wartet immer noch. Dafür wurde mir das Haus meiner Mutter überschrieben. Und damit ging es erst richtig los. Ich übernahm nicht nur das Grundstück, sondern auch die Schulden in der Höhe von hundertdreiundvierzigtausend Euro. Meine Verwandten sahen nur das Haus, den großen Garten und einen trinksüchtigen Egoisten, der nicht zur Stelle gewesen war, als seine Mutter auf grausame Weise erstickte.

»So ein dummer Junge«, sagte meine Großmutter und schüttelte den Kopf.

»Eine Schande ist das«, betonte meine Tante und wandte den Blick ab.

»Eing’sperrt g’hörst!«, fauchte mein Cousin und funkelte mich an.

Meine Verwandten zogen vor Gericht – und gewannen. Ich musste das Haus verkaufen, in dem ich fünfzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte. Als meine Familie, die Bank, der Notar, das Beerdigungsunternehmen und der Schätzgutachter zufriedengestellt waren, blieb mir kein Cent. Aber mir blieben Schulden in der Höhe von dreiundsiebzigtausend Euro. Eine ordentliche Summe für einen Neunzehnjährigen.

Freilich musste nun ein Job her. Was tun ohne Abitur und ohne weiterführende Ausbildung? Ich nahm die erstbeste Stelle, die ich kriegen konnte: Straßenfeger. Das war nicht der ideale Job für mich. Der erste nasskalte Arbeitstag und ich bekam eine Lungenentzündung. Mein nächster Job bestand im Austragen von Zeitungen; auch nicht viel besser. Es folgten Hilfsmechaniker, Sanitäter, Fließbandarbeiter, Aushilfs-Pizzabäcker, Ladendetektiv, Zoomitarbeiter, die Anstellung in einem Nachtlokal, als Zauberlehrling, bei der Telefonseelsorge – schlussendlich landete ich in einem großen Werbeunternehmen; als Assistent des Abteilungsleiters für Marketing.

Das war die perfekte Ausgangsposition, um all jene niederen Dienste zu verrichten, die niemand sonst tun wollte. Aber ich habe die Zähne zusammengebissen und gearbeitet. Schließlich brauchte ich das Geld.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass ich auch zehn Jahre später dieselbe Position innehaben und die gleichen sinnfreien Arbeiten erfüllen würde und sich meine Schulden bis dahin nicht verringern sollten – wahrscheinlich hätte ich mir das Leben genommen.

Na gut, das ist gelogen. Ich hätte mich niemals umgebracht. Abgesehen davon, dass ich überzeugter Pessimist bin, bin ich auch ein großer Feigling. Ich habe mich nicht gegen die Anschuldigungen meiner Verwandten zur Wehr gesetzt, nie in der Arbeit aufgemuckt und kein einziges Mal – abgesehen von meinem Kaugummi-Diebstahl in der Schule – etwas Verbotenes oder Illegales getan. Das hätten die perfekten Voraussetzungen für ein unauffälliges, langweiliges und unglückliches Leben sein können; wäre da nicht jener Dienstag Anfang Mai gewesen, an dem mir das Glück zu huldigen begann.

Am Morgen erwachte ich ohne Kopfschmerzen. Ich öffnete die Augen, schloss sie wieder, drückte gegen mein Nasenbein, aber es blieb dabei: kein dumpfes Pochen hinter meiner Stirn, kein schmerzhaftes Ziehen unter meinen Lidern.

Umsichtig setzte ich mich auf, darauf gefasst, jeden Moment von einem Schwall Übelkeit übermannt zu werden. Dann registrierte ich, dass ich mich nicht erinnern konnte – an die horrenden Albträume; an das Gefühl, gefangen und ausgeliefert zu sein; an den schwarzen Schatten, der mich mit rot glühenden Augen verfolgte; an den Empfindungswirrwarr aus Verlust, Trauer und Hilflosigkeit. Hatte ich etwa keine Albträume durchleben müssen?

Ungewöhnlich, dachte ich noch, als ich aufstand, mit den nackten Sohlen auf etwas Hartes, Spitzes trat und mit einem Schmerzenslaut wieder ins Bett fiel.

Das kam davon, wenn man seine eigenen Regeln nicht befolgte. Und meine erste Regel für das Aufstehen lautete: Check die Lage. Oft hatte ich dadurch Unglücke vorausahnen können. Aber wenn man keinen Blick auf den Boden und auf Susis Fraßspuren warf – in diesem Fall Walnussschalen – war einem nicht zu helfen.

Ich erhob mich ein zweites Mal, vorsichtiger jetzt, humpelte ins Badezimmer. Ich sah erstaunlich fit aus. Fast wie aus dem Ei gepellt. Keine dunklen Augenringe, keine geplatzten Äderchen, kein verquollenes Gesicht. Auch das war ungewöhnlich. So ungewöhnlich, dass es mich misstrauisch werden ließ. Ich lauschte, aber Susi war still. Auf Zehenspitzen trat ich zum Käfig und lugte in das kleine Holzhäuschen. Meine Ratte blinzelte, gähnte und streckte sich. Dann wandte sie mir den Rücken zu und schlief weiter.

Zugegeben, ich war verwirrt. Susi war immer vor mir wach. Ob das bedeutete, dass es ihr nicht gut ging? Aber krank hatte sie nicht gewirkt. Ich überlegte, inwieweit ihr Verhalten ein positives Zeichen sein mochte, verwarf den Gedanken aber wieder. So etwas sollte ich gar nicht denken. Das lockte Unglücke an. Sie spürten, wenn ich mich sicher fühlte. Dann kamen sie aus ihren finsteren Löchern gekrochen und fielen über mich her; und zwar meistens nicht allein, sondern im Rudel. In dieser Hinsicht sind Unglücke wie Menschen: Zusammen macht alles mehr Spaß.

Ich verpasste den Bus, aber das war nicht weiter schlimm. Seit Jahren brach ich mindestens eine halbe Stunde früher zur Arbeit auf. Oft war ich deshalb zeitig und vor allen anderen im Büro, aber das war mir lieber, als wenn ich zu spät kam und von meinem Chef zur Schnecke gemacht werden konnte.

Heute war ich nicht der Erste im Haus. Katharina aus der Buchhaltung, Ferdinand vom Marketing und auch Eduard waren schon da. Sie alle blickten mich an, fahl und mit den hervorquellenden Augen einer überfahrenen Kröte. Ich vermutete einen unschönen Pflaumenmus-Fleck an meinem Kinn, wollte kehrtmachen und auf die Toilette stürmen, als Eduard hervorwürgte: »Zwieböck ist tot.«

»Sehr witzig«, meinte ich und fand es überhaupt nicht witzig. Normalerweise hielt sich Eduard aus solchen Dingen heraus. Er schloss sich nicht den Gemeinheiten meiner übrigen Kollegen an. Aber offenbar war es mit seiner Zurückhaltung vorbei. Ziemlich unschön, mir vorzugaukeln, dass mein Chef das Zeitliche gesegnet hatte und …

»Es stimmt. Der Anruf kam vor ein paar Minuten. Er wurde gestern Abend tot in seiner Badewanne gefunden.«

»Hä?«

»Zwieböck hat ins Gras gebissen. Den Löffel abgegeben. Ist hopsgegangen.« Eduards Nase und Oberlippe bebten, so wie stets, wenn er nervös war. Ich musste da immer an ein Kaninchen denken.

»Nicht dein Ernst.«

»Todernst.« Eduard grinste schief und schob seine Brille auf der Nase umher. »Um neun ist Betriebsversammlung. Sie schicken jemanden aus der Chefetage, der uns offiziell informieren wird.«

»Halleluja«, sagte ich und stieß pfeifend die Luft aus.

»Das sind mal Neuigkeiten.«

»Du solltest wissen, dass Ermittlungen laufen.«

»Ermittlungen?«

»Ja. Die Umstände seines Todes sind noch nicht geklärt.«

»Aha.«

»Nach der Betriebsversammlung werden wir von der Polizei einvernommen.« Eduard warf mir einen wachsamen Blick zu. »Ich hoffe, du hast für gestern Abend ein gutes Alibi.«

In diesem Moment machte es klick – das waren die Handschellen, die mir in meiner Vorstellung bereits angelegt wurden. Wer konnte ein stärkeres Motiv haben, Zwieböck umzubringen, als ich? Natürlich niemand.

Die Erkenntnis sickerte in mein Bewusstsein, schön langsam, wie zähes, stinkendes Öl. Das war’s dann. Ende der Fahnenstange. Den Rest meines Lebens konnte ich mir an die Wand einer Gefängniszelle malen.

»Was haben Sie gestern zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr morgens getan?«

»Ich war daheim, habe etwas getrunken, bin schlafen gegangen.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Ja, Susi.«

»Wer ist Susi?«

»Ähm, meine Ratte.«

»Interessant. Sie behaupten also …?«

»Meine Nachbarin hat mich gesehen.«

»Wann war das?«

»Kurz nach zehn.«

»Und danach?«

»Hatte ich ein Gläschen Rotwein und einen anaphylaktischen Schock.«

»Einen was?«

»Allergische Reaktion. Auf Nüsse.«

»Soso. Kann es sein, dass Sie sich unwohl fühlen? Sie schwitzen wie ein Schwein.«

»Es ist heiß hier, finden Sie nicht auch?«

»Ihren Daten entnehme ich, dass Sie allein leben. Stimmt das?«

»Ja. Meine Freundin hat mich gestern verlassen.«

»Soso. Hatten Sie irgendwelche Aversionen gegenüber Ihrem Chef?«

»Nein, wieso sollte ich?«

»Den bisherigen Gesprächen mit ihren Kollegen entnehme ich, dass Sie von ihm regelmäßig schikaniert worden sind. Stimmt das?«

»Schikaniert würde ich nicht sagen. Er war manchmal ein bisschen direkt, das ist alles.«

»Sie hegen also keinen Groll gegen ihn?«

»Freilich nicht. Er war mein Chef.«

»Soso. Gibt es irgendetwas, das Sie mir sagen wollen oder das uns weiterhelfen könnte?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Gut, Herr Söringen, dann sind wir fertig. Aber waschen Sie sich in Herrgottsnamen das Gesicht, Sie glänzen wie eine Speckschwarte.«

»Natürlich, Herr Inspektor, das werde ich sofort tun.«

Ich erhob mich eilig und versuchte, mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Meine Wangen glühten wie Feuer. Vermutlich waren sie rot wie pralle Sommertomaten. Dazu kam, dass meine Unterwäsche durch den Angstschweiß längst durchnässt war und ich dastand wie ein Boxer nach dem Beinahe-k.-o.

»Herr Söringen.« Die dunklen Augen des Ermittlers wanderten meine Gestalt hinab. Er lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr über seinen kahlen, braungebrannten Schädel. »Sie haben einen Fehler gemacht.«

Das Herz rutschte mir in die Hose. Doch was hatte ich erwartet? Ich war ein Unglücksrabe, daran ließ sich nicht rütteln. Vermutlich hatte irgendeiner meiner Kollegen behauptet, mich am Tatort gesehen zu haben. Oder auf dem Ausdruck der englischsprachigen Hausordnung, die womöglich neben meinem toten Chef gelegen hatte, waren meine Fingerabdrücke aufgetaucht. Selbstverständlich schob man mir Zwieböcks Tod in die Schuhe. Vermutlich bekam ich lebenslänglich und durfte mich noch glücklich schätzen, wenn man mich zu einem sadistischen Homo in die Zelle steckte. Ob im Gefängnis Ratten erlaubt waren? Ich hoffte es wenigstens.

Der Polizist verschränkte die Finger. Ein Grinsen wanderte über sein Gesicht.

»Nicht Inspektor. Korrekt lautet es: Kriminalhauptkommissar Magister Peter Schwärzer. Sie können gehen.«

»Wie ist es gelaufen?« Eduard hielt mir einen Becher mit Kakao hin.

»Besser als gedacht.« Ich griff nach der heißen Schokolade und leerte sie in einem Zug. Dabei zitterte meine Hand so stark, dass ich einige Tropfen der braunen Flüssigkeit auf meinem weißen Hemd verteilte. Mein Blutzuckerspiegel musste in den vergangenen Stunden zum Mittelpunkt der Erde abgesackt sein.

»Siehst du, ich hab dir gleich gesagt, es wird halb so tragisch.« Eduard nippte an seinem eigenen Kakao. »Wahrscheinlich war es ja seine Frau.«

»Seine Frau?«

»Jup. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Zwieböck sie betrogen hat. Und das nicht nur einmal. Unter Umständen wusste seine Gattin davon und hat ihn beim Föhnen in der Badewanne ein bisschen unterstützt.«

»Oder es war ein Unfall.«

»Genau. Weil Zwieböck so ein netter Mensch war, dass er nur durch ein unvorhersehbares Ereignis aus dem Leben scheiden konnte. Wie ich von Stephan erfahren habe, hatte unser Chef eine heiße Affäre mit Anna, einer Praktikantin.«

»Diese Anna habe ich nie kennengelernt.«

»Ich auch nicht. War eine andere Abteilung. Aber es gibt ein weiteres Gerücht: Angeblich ist Beweismaterial aufgetaucht, wonach Theresa, unsere Praktikantin von letztem Jahr, von Zwieböck vergewaltigt worden ist. Vielleicht steckt hinter dem Tod unseres Chefs ein raffiniertes Frauenkomplott. Oder es war eine von Roberts Intrigen. Der ist schon lange scharf auf Zwieböcks Position.«

»Vielleicht ist er einfach nur in der Badewanne ausgerutscht. Solche Unglücke passieren, glaub mir.«

»Dir mit Sicherheit, aber Zwieböck? Arschlöcher sterben nicht, nicht so. Übrigens haben wir Feierabend.«

»Feierabend? Es ist erst vierzehn Uhr.«

»Stimmt, aber der stellvertretende Betriebschef hat vorhin mit Robert gesprochen und gesagt, dass wir heimgehen können. Die Befragungen sind beendet und sie brauchen etwas Zeit, um die Abteilung neu zu organisieren.«

»Sag mal, Edi, woher kommt es, dass du alle Informationen und jedes Gerücht immer zuerst erfährst?«

Eduard zupfte an den üppigen Haarbüscheln, die aus seinen Gehörgängen ragten. »Die Ohren, mein lieber Walter, die Ohren. Halte sie offen und ich bin mir sicher, auch du wirst das eine oder andere aufschnappen. Hast du Lust, noch etwas trinken zu gehen?«

»Danke für das Angebot, aber nein. Ich muss von gestern Schlaf nachzuholen.«

»Wieder Albträume?«

»Diesmal nicht. Aber ein unruhiger Abend.«

Eduard grinste und klopfte mir auf die Schulter. »Dann sehen wir uns morgen – vorausgesetzt, sie buchten dich nicht doch noch ein.«

Auf dem Heimweg gingen mir zahlreiche Gedanken durch den Kopf. Neben Zwieböcks mysteriösem Ableben und dem plötzlichen, unerklärlichen Juckreiz in meiner Nase (als Ursache stellte sich später eine Kamikaze-Fliege heraus), beschäftigte mich auch das Gespräch mit dem Inspektor – Pardon, dem Kriminalhauptkommissar. Ich hatte von seinen Gesichtszügen lesen können wie aus einem offenen Buch. Er hielt mich nicht für so unschuldig, wie ich es war. Außerdem war mir nicht entgangen, dass er sich eine Notiz gemacht hatte, als ich den Raum verließ. Wahrscheinlich etwas wie hochgradig verdächtig oder das ist unser Mann! Vielleicht hatte er sich auch notiert: Herr Söringen mit dem Haartrockner im Badezimmer.

Vermutlich hätte ich den Zettel am Boden gar nicht entdeckt, wäre ich nicht in Gedanken versunken gewesen. Möglicherweise lag meine Aufmerksamkeit auch daran, dass gleich daneben eine zerbrochene Whiskyflasche lag – ein Cragganmore, wie mein geschulter Blick sofort erkannte. Definitiv seltsam.

Ich bückte mich und hob den Zettel auf. Es war ein Lottoschein. Mit drei Tipps für die morgige Ziehung. Ich sah mich um, öffnete den Mund, um der vermeintlichen Person, der dieser Schein gehören musste, hinterherzurufen und sie auf ihren Verlust aufmerksam zu machen. Aber da gab es niemanden, den ich hätte ansprechen können. Die Straße war leer. Erst fünfzig Meter entfernt, dort, wo die Fußgängerzone begann, eilten einige Passanten vorbei. Keiner sah in meine Richtung.

Ich hatte seit Jahren nicht mehr Lotto gespielt, schließlich war ich nicht dumm. Als Pechvogel sein Geld beim Glücksspiel hinauszuwerfen, grenzte an Verblödung. Ich war zweifellos der Sohn des Unglücks und ein ausgemachter Feigling, aber für besonders bekloppt hielt ich mich nicht; noch nicht, denn insgeheim war ich davon überzeugt, dass ich früher oder später (eher früher) an einem amüsanten Hirnfehler erkranken und meinen Verstand verlieren würde.

Aber noch war es nicht so weit – oder vielleicht doch, als ich meinen Blick auf den Lottoschein richtete. Kein Zweifel, die Quittung war gültig und für die morgige Ziehung ausgestellt.

Ich malte mir aus, was das bedeuten mochte: Ein fieser Scherz mit einer versteckten Kamera? Ein gefälschter Schein, der mir beim Versuch, ihn einzulösen, böse Scherereien einbringen musste? Oder gar der raffinierte Schachzug eines Unglücks und mir knallte jeden Moment ein Blumentopf auf den Schädel.

Ich riss den Kopf empor – doch da war nichts. Kein Blumentopf, kein Dachziegel, nicht einmal ein herabstürzendes Klavier. Bloß eine weiße Schäfchenwolke wanderte über den blitzblauen Himmel. Sie hatte die Form einer Ratte.

Heute war definitiv ein merkwürdiger Tag.

Als ich die Wohnung betrat, begrüßte mich Susi mit einem Homerun. Sie flitzte aus ihrem Häuschen, rechts durch die Sägespäne, schoss die Holztreppe am Käfigrand empor, fegte über den Kirschenast, hangelte sich die Kokosseile hinab, landete in ihrer Futterschüssel und wieselte zu ihrer Behausung zurück. Dann erhob sie sich auf die Hinterbeine und schnupperte interessiert in meine Richtung.

»Du hast recht«, gab ich zu. »Ich stinke nach Angstschweiß. Also entschuldige mich, ich muss in die Dusche.«

Ich riss mir die Kleider vom Leib, verstreute sie im Gang, betrat das Bad, stieg in die Duschkabine – und erstarrte. Der heutige Tag war außergewöhnlich verlaufen. Fast wollte ich sagen harmlos. Aber das war eine gefährliche Annahme. Jene Tage, die in den lichten Stunden nicht ordentlich für Wirbel sorgten, holten dies gewöhnlich abends nach. Und ich stand gerade in der Dusche; der perfekte Ort, um wie Zwieböck auszurutschen und mir den Schädel einzuschlagen!

Aber so leicht ließ ich mich von der unsichtbaren Bedrohung nicht fertigmachen. Ich ging in den Sumoringerstand, stützte mich seitlich an der Wand ab und duschte in der Geschwindigkeit eines Faultiers. Dadurch verbrauchte ich zwar dreimal so viel Wasser wie üblich, aber immerhin war ich noch putzmunter, als ich eine halbe Stunde später aus dem Bad trat.

Ich fütterte Susi, nahm sie aus dem Käfig und ließ sie eine Weile frei in der Wohnung herumtollen. Während ich zusah, wie sie eine riesige Walnuss von einem Ende des Zimmers zum anderen schleppte, dachte ich an Susi zehn. Das war ein besonders lebhaftes Tier gewesen. Leider zu lebhaft, denn eines Tages war sie nach einem gewagten Sprung im laufenden Mixer gelandet. Ein unschönes Ende.

Ich bugsierte Susi zurück in ihren Käfig. Sogleich steuerte sie das Laufrad an und kletterte hinein. Als meine Ratte loslegte, stellte ich mich innerlich auf eine mittelgroße Katastrophe ein – so hatte die Unglücksmafia mit Sicherheit den gestrigen Noch-nicht-Wohnungsbrand auf ihrer To-do-Liste.

Doch nichts geschah. Auch nach fünf Minuten, in denen ich gebeugt und mit hochgezogenen Schultern dastand, war ich noch am Leben. Susi stieg aus ihrem Laufrad, richtete sich auf die Hinterbeine auf und schenkte mir ein freches Grinsen.

Na gut, dann eben nicht. Ich trank ein Glas Wasser, räumte den Geschirrspüler aus, putzte mir die Zähne – immer gefasst auf das Unfassbare. Doch der Tag endete, ohne dass sich mein Pensum an unglücklichen Begebenheiten erfüllte.

Erst als ich im Bett lag und die Zimmerdecke anstarrte, fiel es mir auf: Ich hatte heute keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken.

Immerhin zwickte am nächsten Morgen mein Bein. Allerdings nicht so quälend wie gewöhnlich, wenn ich die Einnahme meiner Schmerzmittel vergaß. Um zu verhindern, dass ich demnächst wie ein Beinamputierter herumhopste, warf ich beim Frühstück sicherheitshalber zwei Schmerztabletten ein.

In der Arbeit erlebte ich in Echtzeit, wie sich unsere Abteilung binnen fünfzehn Minuten in einen Bienenschwarm verwandelte. Nicht nur, dass alle Mitarbeiter überpünktlich waren, es trafen auch in rascher Folge drei grobschlächtige Möbelpacker, zwei Elektriker, ein Innenarchitekt und vier Anstreicher ein, die sofort ans Werk gingen und die Bude auf den Kopf stellten.

Die Ursache für den Tumult erfuhr ich wenig später von Eduard. Er zog mich beiseite, als ich gerade mit offenem Mund zwei Malern hinterherstarrte, die das DIN-A0-Nacktposter einer vollbusigen Schönheit aus Zwieböcks Zimmer abtransportierten. Das Bild war mir bei den zahlreichen Stelldicheins im Büro meines Chefs nie aufgefallen.

»Sie krempeln die ganze Etage um«, flüsterte Eduard und nahm seine Brille ab. »Neuer Anstrich, bildhaft wie wörtlich. Robert muss gehen, genauso wie Ferdinand. Ihre Büros werden in Kürze geräumt. Dafür wollen sie Julia zur stellvertretenden Abteilungsleiterin ernennen.«

»Woher weißt du das?«

»Die Augen, mein lieber Walter, die Augen. Habe ein bisschen geguckt, als Magister Freudenreich hier durchgestürmt ist. Der hatte Unterlagen im Arm, die Personalliste.«

»Ja und? Wie hast du das alles so schnell erkennen können?«

»Einige Namen waren durchgestrichen, zwei rot markiert und Julia hatte einen Stern. Der Rest entstammt meiner Kombinierwerkstatt.« Eduard tippte sich an die Stirn.

»Hast du auch meinen Namen gesehen?«

»Hab ich. Du bist einer der rot Markierten.«

Ein kalter Schauer rieselte meinen Nacken hinab. Sofort wühlte sich eine Reihe düsterer Szenarien durch meinen Geist. Aber bevor ich mich verrückt machte, sollte ich vielleicht Eduards Meinung einholen. Mit seinen Augen und Ohren war er der fleischgewordene Big Brother.

»Und das heißt?«, fragte ich.

»Keine Ahnung.« Eduard zog die Augenbrauen hoch. »Bin ich Hellseher oder was?«

Es dauerte zwei Stunden und fünfunddreißig Minuten, bis man mich von meiner inneren Folter erlöste.

»Walter.« Eduard suchte meinen Blick. »Du sollst in den Besprechungsraum kommen.«

»Aber da sind doch …«

»Genau. Die Chefitäten haben ein Meeting.«

»Was soll ich dort?«

»Keine Ahnung. Ich hab’s beim Vorbeigehen durch Freudenreichs Sekretärin mitbekommen. Sie wird dich jeden Moment informieren.«

Das Telefon auf meinem Platz klingelte. Es war die Sekretärin und sie sagte genau das, was mir Eduard bereits mitgeteilt hatte.

»Manchmal bist du mir unheimlich, Edi, weißt du das?« Ich musterte meinen Kollegen, erhob mich und strich vergebens über die Falten meines Hemds.

»Die Ohren, mein lieber Walter, die Ohren.«

Es war klar, was mir nun blühte. Der Vorstand würde mich feuern, den letzten Lohn zurückfordern, mein selbst bezahltes Notebook einbehalten, aus der Luft gegriffene Regressforderungen stellen – und mich des Mordes an Zwieböck bezichtigen. Kurz: Ich war so gut wie erledigt.

Bei meinem Eintreten richteten sich sämtliche Augenpaare auf mich. Doktor Flenning, den Personalchef, kannte ich am besten. Er war der Schwiegersohn von Frau Schulz, meiner Nachbarin. Gelegentlich hatten wir auch außerhalb der Arbeit ein paar Worte gewechselt. Daneben saßen drei weitere Personen am Besprechungstisch. Magister Freudenreich, der Vorstandsvorsitzende, Frau Magister Hartwein, die stellvertretende Betriebsleiterin und seine Gnaden Eugen Kohlroß von Niedersulz, der Betriebschef.

»Guten Tag, Herr Söringen.« Doktor Flenning zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Bitte, setzen Sie sich.«

Mein Mund war trocken wie ein Kreidefelsen. Ein Glas Wasser hätte ich jetzt nicht abgelehnt. Oder ein Bier. Nein, am besten Whisky. Von mir aus auch Wodka. Hauptsache, die Kreide wurde weggeätzt.

»Möchten Sie etwas trinken?« Flenning deutete auf die erlesene Auswahl hochprozentiger Getränke, die auf einem Tisch an der Seite standen. »Einen fünfundzwanzig Jahre alten Cragganmore vielleicht?«

»Nein, vielen Dank«, hörte ich mich krächzen. »Ein Glas Wasser wäre super.«

Meine Verwunderung potenzierte sich, als Frau Magister Hartwein aufstand, ein Glas mit stillem Mineralwasser befüllte und vor mir abstellte. Ich schätze, ich habe sie angestarrt wie ein Schaf, das den Wolf am Zaun auf- und abgehen sieht.

»Es tut uns aufrichtig leid, was in Ihrer Abteilung vorgefallen ist«, fuhr Flenning fort. »Wir haben inzwischen einige unerfreuliche Dinge erfahren, delikate Überwachungsvideos gesehen und mussten, wie Sie wohl mitbekommen haben, erste Mitarbeiter entlassen. In einem Fall haben wir auch die Polizei eingeschaltet. Es ist erschreckend, was unter Magister Zwieböck vorgefallen ist, welche Schikanen er seinen Untergebenen auferlegt hat – allen voran Ihnen.«

Mein Mund klappte auf und wieder zu, aber ich wusste beim besten Willen nicht, was ich erwidern sollte. Worauf wollte Flenning hinaus? Welchen schrecklichen Fehler hatte ich begangen? Was war die – zweifellos – bitterböse Pointe, die meinen Rauswurf rechtfertigen sollte?

»Uns ist bewusst, dass Sie keinerlei Ausbildung nachzuweisen haben«, betonte Flenning.

Deshalb werden wir Sie feuern, dachte ich und sackte zusammen wie eine fadenlose Marionette.

»Dennoch haben Sie sämtliche Aufgaben, die Ihnen Zwieböck zugeschoben hat, rasch, professionell und mit erstaunlicher Kreativität und Anpassungsfähigkeit bewältigt. Sie haben einen Werbeslogan ins Russische übersetzt, beim Computerausfall letztes Jahr den Monatssaldo im Kopf ausgerechnet, einen Vortrag über soziale Netzwerke in Betrieben gehalten – mit nur einer Stunde Vorbereitungszeit – und einen Kunden davon überzeugt, dass sein Zwergpudel eine eigene Marketingkampagne benötigt. Kurzum: Wir schätzen Ihre Fähigkeiten, Ihre Loyalität und Ausdauer und möchten Ihnen daher die Position des Abteilungsleiters anbieten.«

In meiner Kehle kletterte ein Kichern empor. Jetzt hatte ich doch glatt verstanden, dass sie mich als Abteilungsleiter haben wollten. Allein die Idee war verrückt. Davon auszugehen, dass mir irgendjemand überdurchschnittliche Fähigkeiten zutraute, und glaubte, dass ich eine Führungsperson sein konnte, grenzte an …

Ich hatte mich nicht verhört. Und es war auch kein Witz. Ich sah es in Flennings Blick, in Hartweins belustigt glitzernden Augen und vernahm es an dem Kommentar seiner Gnaden Eugen Kohlroß von Niedersulz: »Ich glaube, Georg, du musst unser Angebot wiederholen.«

»Nein«, flüsterte ich. »Hab verstanden.«

»Sehr schön.« Flenning lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sofern Sie einwilligen, übernehmen Sie einen Großteil der Aufgaben von Magister Zwieböck, erhalten ein Bruttomonatsgehalt von dreitausendfünfhundert Euro, zuzüglich diverser Sonderzuschläge und Vergünstigungen. Was sagen Sie dazu?«

»Äh …«

»Natürlich ist uns bewusst«, ergänzte Flenning, »dass Sie nach den vergangenen Ereignissen nicht gut auf die Agentur zu sprechen sind. Daher bieten wir Ihnen im Rahmen Ihrer neuen Anstellung eine Woche mehr Urlaub im Jahr sowie die kostenlose Nutzung eines Dienstfahrzeugs, auch für private Fahrten.«

»Nun …«

»Uns ist klar, dass Sie etwas Bedenkzeit brauchen«, fuhr Flenning fort. »Da wir die Umstrukturierung der Agentur rasch abschließen wollen, wäre uns eine Entscheidung bis Ende der Woche recht. Bis dahin erhalten Sie eine außerordentliche Gehaltsprämie über eintausend Euro sowie Essensgutscheine im selben Wert, die Sie selbstverständlich auch behalten dürfen, falls Sie ablehnen.«

»Tja, also …«