Die Herren der Wüste - Mortimer M. Müller - E-Book

Die Herren der Wüste E-Book

Mortimer M. Müller

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Beschreibung

Arkeen ist Karawanenführer. Seine Berufung ist keine leichte Bürde - Banditen, Sanddrachen, Stürme und die Kadrass, eine kriegerische Insektenrasse, fordern ihren Tribut. Die erlebten Verluste haben Arkeen in einen verbitterten, hartherzigen Menschen verwandelt, der nur eine Liebe kennt: die Wüste. Eines Tages führt Arkeen eine bunt zusammengewürfelte Truppe durch die große Sandwüste. Darunter befinden sich ein Gelehrter aus den Gelblanden, Bogenschützinnen und Krieger, ein Druide, ein Feuerkobold und selbst eine Mümmelfrau. Bald wird offensichtlich, dass nicht alle Weggefährten das sind, was sie zu sein vorgeben. Doch damit nicht genug: Düstere Zeichen kündigen das Erwachen der Wüstengötter an ... DIE HERREN DER WÜSTE - KARAWANE ist der erste Teil eines fantasiereichen Wüstenepos. Der zweite Band erscheint voraussichtlich Anfang 2020.

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2019

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ZU DIESEM BUCH

Arkeen ist Karawanenführer. Seine Berufung ist keine leichte Bürde – Banditen, Sanddrachen, Stürme und die Kadrass, eine kriegerische Insektenrasse, fordern ihren Tribut. Die erlebten Verluste haben Arkeen in einen verbitterten, hartherzigen Menschen verwandelt, der nur eine Liebe kennt: die Wüste.

Eines Tages führt Arkeen eine bunt zusammengewürfelte Truppe durch die große Sandwüste. Darunter befinden sich ein Gelehrter aus den Gelblanden, Bogenschützinnen und Krieger, ein Druide, ein Feuerkobold und selbst eine Mümmelfrau. Bald wird offensichtlich, dass nicht alle Weggefährten das sind, was sie zu sein vorgeben. Doch damit nicht genug: Düstere Zeichen kündigen das Erwachen der Wüstengötter an …

DIE HERREN DER WÜSTE – KARAWANE ist der erste Teil eines fantasiereichen Wüstenepos. Der zweite Band erscheint voraussichtlich Anfang 2020.

Mortimer M. Müller schreibt seit seiner Jugend Kurzgeschichten und Romane in den Genres Thriller, Fantastik, Unterhaltung und Satire. Daneben ist er begeisterter Sportler, Waldliebhaber, Sonnenanbeter sowie in den kreativen Bereichen Gesang, Film und Fotografie aktiv. Er arbeitet an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Sein Kitzbühel-Thriller KABINE 14 wurde für den Friedrich-Glauser-Preis 2014, Sparte Debütroman nominiert.

Mehr Informationen finden Sie unter:https://blog.mortimer-mueller.at

Weitere Romane des Autors sind in Vorbereitung.

Für alle träumenden Kriegerinnen

Hauptpersonen

Arkeen

Karawanenführer in der großen Sandwüste

Ashida

Arkeens Schwester, entführt von Banditen

Bogoran

Söldner und Schwertkämpfer

Eglan

Gelehrter aus den Gelblanden

Quendor

Arkeens Bruder, Händler in Warnack

Menschliche Reisende

Geolinsa

Anführerin der Bogenschützinnen

Palwin

Reisender aus Warnack

Sansuun

Sohn von Scheich Thorim, Stadtbewohner

Senashad

Bogenschützin und Hexe

Usgard

Druide, ausgebildet in Nörd

Nichtmenschliche Reisende

Bazibb

Feuerkobold, im Dienste Quendors

Finmedra

Bogorans Laufechse

Kimlin

Mümmelfrau aus dem Mümmelhain

Lischa

Morganafee

Mahishaa

Widerschein und Konkubine

Winshoa

Arkeens Sonnensperber

Sonstige Personen

Chaspa

Druide, im Dienste Quendors

Gelber Drache

Berüchtigter Wüstenbandit

Fürst Narabb

Oberhaupt von Schaar

Jola

Arkeens Großmutter

Minhara

Arkeens Mutter

Nana

Konkubine aus Warnack

Rassuf

Arkeens Onkel, Beamter in Schaar

Tarekk

Arkeens Vater

Über die Welt

Die Wüstenlande werden gemäß der alten Sprache als Arkeen bezeichnet. Magie ist weit verbreitet, Hexen und Druiden bestreiten damit ihren Lebensunterhalt. Herausragende Fähigkeiten besitzen jedoch nur manche Widerschein, die als Magierinnen tätig sind. Es gibt zwei Monde, den Blutmond und den größeren Fahlmond. Ein Fahlmond-Zyklus wird Fahle genannt und dauert acht Tage, eine Periode des Blutmonds entspricht vierzig Tagen. Über den Tag (oder die Nacht) werden ab Sonnenaufgang bzw. Sonnenuntergang zwölf Stunden gezählt, der Beginn der siebten Stunde kennzeichnet Mittag / Mitternacht, das Ende der zwölften Stunde Sonnenuntergang / Sonnenaufgang. Als Zahlungsmittel werden Kreuzer, Taler und Gulden verwendet. Hundert Kreuzer entsprechen einem Taler, hundert Taler einem Gulden. Gewöhnlich bestehen Eigennamen aus dem Vornamen, der Geburtsstadt sowie dem Namen der Mutter (bei Töchtern) oder des Vaters (bei Jungen), z. B. Arkeen al Warnack djin Tarekk.

Aus dem Archiv der Sandfestung Rongar Faserschilfrolle, datiert mit 600 nach den Götterkriegen

Am Anfang war der Krieg.

Götter der Wüste, Tag und Licht.

Götter der Meere, Nacht und Finsternis.

Wo sie sich trafen, verbrannte Feuer die Welt.

Blutig rot ward der Mond.

Wasser brodelte.

Erde bebte.

Alles Leben erlosch.

Dunkelheit trog Helligkeit, stahl die Glut des Lichts.

Wüstengötter erhoben sich, schmetterten das Dunkel hernieder.

Im Schatten die Sterne zerbarsten, Scherben wie Himmelsregen.

Der Tag brach an, die Sonne glomm.

Sand zerschmolz zu Glas.

Aus den Scherben erwachte das Leben.

Seelenglut erfüllte die Welt.

Das Dunkel floh in die Nacht.

Verborgen im Elfenbein ruht es.

Wartet und lauert.

Die Wüstengötter schufen das Dreihorn.

Verborgen im Spiegel ruhen sie.

Warten und wachen.

Karte der Wüstenlande

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Land Arkeen, Südtor

Warnack

zwischen Warnack und Gulehm

Gulehm

zwischen Gulehm und Kunahn

Kunahn

zwischen Kunahn und Schaar

Schaar

Glaswüste, Dreihorn

Nachwort

3500 Jahre nach den Götterkriegen
Prolog
Sandwüste zwischen Warnack und Gulehm

Die Kamele waren unruhig. Keines fraß oder hatte die Augen geschlossen. Das Leittier stand noch immer auf allen vieren. Schlug man gegen seine Schenkel, um es zum Niederknien zu bewegen, blökte es und hob seinen Kopf zum Himmel. Die Nüstern witterten, die Ohren zuckten, streng riechendender Schweiß bedeckte das Fell, obgleich die Hitze des Tages längst verblasst war.

Tarekk berührte die Schnauze des Leittiers. Sie war kühl, zu kühl – auch dies ein Zeichen innerer Unruhe. Das Kamel war nervös und bereit zur Flucht. Aber Flucht wovor?

Eine Stunde war vergangen, seitdem sich die Sonne hinter die ockerfarbenen Dünen gesenkt hatte. Erste Sterne blitzten am schwarzblauen Himmel. Die sanfte Brise des Tages war abgeklungen, es war so windstill, wie es nur sein konnte. Noch fieberte der Sand durch den vergangenen Hitzetag, aber in drei, vier Stunden würde er kühl und schwer gegen die Wärme der Lagerstätten drängen.

Stand man auf den höchsten der sandigen Erhebungen, die das Lager Richtung Süden begrenzten, konnte man den gewundenen Lauf des Sandwassers erkennen. Nirgendwo in der Wüste war eine Bewegung auszumachen, nirgendwo zeigten sich Anzeichen von Leben.

Tarekk konnte nicht sagen, was die Kamele verunsicherte. Keine verräterische Sandschwade, kein Geräusch außerhalb des Lagers, kein verdächtig ölartiger Geruch und auch nicht die geringsten Vorboten eines Sandsturms.

Der Karawanenführer blickte sich nach den beiden Wachen um. Sie standen auf ihren Posten an der Düne, knapp außerhalb des Lichts der Lagerfeuer, aber in Rufweite und ihre Schemen vor dem funkelnden Sternenhimmel klar zu erkennen. Ein weiterer Krieger hatte sich zu ihnen gesellt. Gemeinsam sangen sie im Dreigesang, das Abendlied.

Tarekks vorheriger Rundgang hatte keine Auffälligkeiten ergeben. Ebenso war der magische Bann, den der Druide Usgard um das Lager gelegt hatte, still und unsichtbar. Es gab nichts, das eine Gefahr darstellte.

Dennoch war da etwas, das den Kamelen Angst einjagte. Es mochte sich um den verblassenden Lufthauch eines Sanddrachen handeln, konnte aber genauso gut eine unentdeckt gebliebene Saugschlinge sein.

Tarekk winkte Bogoran, einem Söldner. Der Krieger war für den Schutz des Lagers zuständig und Anführer der sechsköpfigen Truppe aus Soldaten, die sie seit Warnack begleitete. Bogoran reiste schon derart lange mit Tarekk, dass sie inzwischen mehr als nur Freunde waren. Der Karawanenführer hätte ohne zu zögern sein Leben in die Hände des Kriegers gelegt.

»Du möchtest, dass ich noch einen Rundgang mache«, stellte Bogoran fest, noch ehe Tarekk etwas sagen konnte.

»Ja. Die Kamele sind unruhig. Achte auf Bohrlöcher und Schleifspuren.«

»Vielleicht liegt es am Blutmond. Er ist voll und steht tief.«

Tarekk blickte nach Süden. Über den Dünen zeichnete sich das weinfarbene Rund gegen die Düsternis ab, wie ein funkelndes Kohlenstück in einem fast erloschenen Schmiedefeuer. Der Himmelskörper würde heute Nacht allein bleiben. Sein Begleiter, der milchig weiße Fahlmond, war zurzeit nur über Mittag als schmale Sichel im Nordosten zu sehen.

»Möglich«, erwiderte Tarekk. »Aber mir ist es lieber, wir können die unangenehmen Alternativen ausschließen.«

Bogoran nickte und marschierte auf den Rand des Lagers zu. Die Griffe der beiden gebogenen Klingen ragten über seine Schultern. Im Gegenlicht der Lagerfeuer wirkten sie wie zusätzliche Gliedmaßen; präzise und tödliche Gliedmaßen, wie der Karawanenführer wusste.

Tarekk schritt an den schwach lodernden Kameldungfeuern vorbei und betrachtete die Menschen, die auf Fellen oder Stofftüchern saßen und letzte Bissen Fladenbrot, Brei und Datteln verzehrten. Sie hatten sich am Rand des ausgetrockneten Wadis unter dornigen, violett belaubten Wüstenakazien niedergelassen. Der aus Sandsteinblöcken zusammengesetzte Ziehbrunnen in der Mitte des Lagers war die einzige Wasserstelle. Durch die Nähe des Sandwassers gab es in der Gegend ausreichend Zisternen und unbefestigte Quellen, sodass man jeden Tag seine Wasservorräte auffrischen konnte.

Die Karawane bestand aus fast dreißig Reisenden, noch ohne die Krieger. Gewöhnlich vermied es Tarekk, Gruppen von mehr als zwanzig Personen durch die Wüste zu führen. Es war gefährlich, wenn man den Überblick verlor oder der Trupp, der überwiegend im Gänsemarsch unterwegs war, zu lang wurde. Aber die Reisenden aus den Gelblanden waren sehr in Eile gewesen und hatten Tarekk das Doppelte des üblichen Solds geboten. Auch wollten sie nur bis Gulehm in der Gruppe bleiben und von dort mit einer anderen Karawane weiter nach Rongar. Also hatte sich Tarekk zu einer Ausnahme durchgerungen. Die zusätzlichen Gulden konnte er gut gebrauchen. Vor allem, da er nicht nur für sich selbst Verpflegung kaufen musste, sondern auch für drei weitere hungrige Mäuler zu sorgen hatte.

»Papa!« Arkeen kam aus dem Zelt gestürmt. »Quendor hat das letzte Stück Spiegelkuchen gegessen!«

»Petze!«, brüllte sein Bruder aus dem Inneren.

Arkeen wandte sich um. »Vielfraß!«

»Jammerlappen!«

»Fettwanst!«

»Weichei!«

»Hört auf!« Tarekks Stimme war schneidend. Seine beiden Söhne verstummten. Der Karawanenführer gewahrte das Glitzern in Arkeens smaragdgrünen Augen. Sein jüngerer Sohn trug den Namen des Landes: Arkeen war eine alte Bezeichnung aus der Götterzeit. Viele Söhne der Wüste erhielten diesen Vornamen, der Glück bringen sollte und den Charakter stärkte. Was sein Wesen anging, schien es Tarekk manchmal, als wäre Arkeen die Personifizierung der rauen und wilden Eigenheiten des Landes.

»Benehmt euch gefälligst«, fuhr Tarekk mit gedämpfter Stimme fort und trat hinter Arkeen ins Zelt. »Ihr könnt euch nicht so verhalten, als wären wir unter uns. Denkt an die anderen Reisenden, denkt an die Wüste. Es kann gefährlich sein, laut herumzuschreien. Außerdem ist euer Verhalten kindisch.«

Tarekk wandte sich Quendor zu. Sein älterer Sohn war vor kurzem neunzehn geworden. Leider verhielt er sich wie fünfzehn. Außerdem stimmte es, was Arkeen behauptete – Quendor war mit einem ausgesprochen guten Appetit gesegnet. Das sah man ihm auch an. Im Gegensatz zu seinem vier Jahre jüngeren Bruder Arkeen, der schlank und sehnig wie sein Vater war, besaß Quendor die pummelig wirkende Statur eines wohlgenährten Stadtbewohners.

»Es stimmt also, was Arkeen behauptet.« Tarekk war die leere Stofftasche am Boden nicht entgangen.

Quendor senkte den Kopf. »Ich hatte großen Hunger.«

»Pah«, entfuhr es Arkeen. »Du wolltest nur nicht, dass ich den Kuchen bekomme, so wie es abgemacht war!«

»Zankt ihr euch schon wieder?« Ashida schob die Plane beiseite und lugte ins Zelt. Mit vierzehn war Tarekks Tochter die Jüngste der Familie. Der Karawanenführer fand, dass sie reifer und vernünftiger war, als seine beiden Söhne zusammen. Dazu besaß sie hervorragende Fertigkeiten in der Waffenkunst. Im Fechten war sie Quendor überlegen, Arkeen ebenbürtig, und mit Pfeil und Bogen konnte sie so gut umgehen wie ein Eliteschütze aus Warnack.

»Quendor hat den Spiegelkuchen aufgegessen«, beschwerte sich Arkeen.

»Der war sowieso ungenießbar«, entgegnete Ashida. »Habt ihr den Blutmond gesehen? So dunkel hab ich ihn noch nie erlebt.«

»Er ist schon aufgegangen?« Arkeen hatte die Untat seines Bruders augenblicklich vergessen und eilte mit Ashida nach draußen.

Tarekk wandte sich Quendor zu.

»Ja, ich weiß, was du sagen willst«, kam ihm sein Sohn zuvor. »Aber ich hatte wirklich Hunger. Zwei Mahlzeiten sind mir zu wenig. Besonders, wenn die Portionen so … dürftig sind.«

»Wir reisen durch die Sandwüste, die Shahakeen«, erwiderte Tarekk. »Wir sind nicht in Warnack. Hier muss man mit seinen Vorräten haushalten. Es kann jederzeit etwas geschehen, das uns zwingt, einen anderen, längeren Weg einzuschlagen oder für mehrere Tage zu rasten.«

»Ich mag nicht hungern.« Quendor verschränkte die Arme. »Ich wünschte, ich wäre in der Stadt geblieben.«

Tarekk seufzte leise. Mittlerweile teilte er Quendors Ansicht. Sein ältester Sohn war, im Gegensatz zu Arkeen und Ashida, nicht für das Wüstenleben geschaffen. Schon als Kleinkind hatte er übermäßig unter Sonne und Hitze gelitten, war quengelig und kränklich gewesen. Tarekk konnte nicht sagen, woher diese Empfindsamkeit kam. Er selbst lebte in der Wüste, liebte die Wüste. Wie sein Vater und Großvater hatte er den Beruf des Karawanenführers ergriffen. Seine Frau war ebenso Wüstenbewohnerin gewesen, auch wenn sie aus der Bradakeen, der Schlammwüste im Südwesten des Landes stammte.

Hab Geduld mit ihm, rief sich Tarekk die Worte seiner Frau in Erinnerung. Quendor wird seinen Weg finden. Minhara hatte ihren Sohn nie für sein Anderssein getadelt oder ihn deswegen weniger Liebe spüren lassen.

Deine Frau war klüger als du, dachte Tarekk und seufzte erneut. Sie war nicht nur intelligent, sondern auch stets optimistisch gewesen. Nie hatten die Beschwernisse des Wüstenlebens ihre Lebensfreude oder ihren Humor mindern können. Außerdem hatte sie ein diplomatisches Geschick besessen, das es mit jedem Fürstengesandten aufnehmen konnte. Er sollte sich ein Beispiel an ihr nehmen.

»Falls wir einer entgegenkommenden Karawane begegnen«, meinte Tarekk, »kannst du mit ihr zurück nach Warnack. Du musst uns nicht bis Schaar begleiten.«

»Ich werde es mir überlegen.«

»Tu das. Bis es so weit ist, schau nach den Kamelen. Sie müssen gefüttert werden.«

»Was?« Quendor riss empört die Augen auf. »Heute ist Arkeen dran!«

»Wer hat den Spiegelkuchen gegessen?«

»Schon gut.« Quendor ließ den Kopf hängen und schlurfte aus dem Zelt.

Tarekk ließ sich auf einem Fell nieder, zog seinen Trinkschlauch heran und gönnte sich einige Schluck Wasser. Er war nicht besonders hungrig, daher kaute er ein paar getrocknete Feigen und aß ein Stück Fladenbrot. Am Ende seiner Mahlzeit nahm er die Karte der großen Sandwüste zur Hand. Das Ziegenleder war alt und brüchig und die feinen, schwarz gezogenen Punkte, Linien und Buchstaben nur undeutlich zu erkennen. Tarekk kannte die östliche Shahakeen wie die Tragtaschen seines Kamels. Er brauchte keinen Plan, um sich zurechtzufinden. Die Karte diente ihm als gedankliche Stütze, als Hilfsmittel, um seine Eingebungen zu ordnen; und sie half ihm dabei, seine Trauer unter Kontrolle zu halten, besonders in Momenten wie jetzt, wenn seine Erinnerungen gleich dem Blutmond über die Dünen stiegen und mit frostigen Fingern nach seinem Bewusstsein tasteten.

Er hatte Fehler begangen. Tödliche Fehler. Blind war er gewesen, hatte Minharas Warnung ebenso ignoriert, wie sein mahnendes Gewissen. Als Konsequenz war sie nun tot. Er selbst hatte seine Frau getötet. Er trug die Schuld daran, dass sie nicht mehr an seiner Seite weilte. Er war kein guter Mensch. Diese Chance hatte er verspielt. Er war ein Verräter. Ein Mörder. Er verdiente den Tod.

»Papa!« Arkeen kam ins Zelt gestürmt. »Ashida hat …«

Arkeen verstummte und kniff die Augenbrauen zusammen. »Alles in Ordnung?«

Tarekk nickte eilig und wischte sich die Tränen von der Wange. Es hatte keinen Zweck, seinen Verfehlungen und seiner verstorbenen Frau nachzutrauern, schon gar nicht nach all den Jahren. Was geschehen war, war geschehen und ließ sich nicht rückgängig machen. Die Wüstengötter waren ihm nicht beigestanden, als der Tod Minhara viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte. Aber sie hatten ihm drei Kinder geschenkt. Drei Kinder, auf die er mehr als stolz sein konnte. Welcher Karawanenführer vermochte von sich zu behaupten, drei gesunde, intelligente und wissbegierige Nachkommen aufwachsen zu sehen?

Tarekk lächelte, als er Arkeens verwirrten Gesichtsausdruck registrierte.

»Ja, es ist nichts. Was wolltest du über Ashida sagen?«

»Sie hat Bogorans Laufechse gestreichelt.«

»Finmedra hat nicht nach ihr geschnappt?«

»Nein. Erst als ich mich auch genähert habe, ist sie zurückgewichen.«

»Beeindruckend. Selbst ich darf sie nicht berühren. Dabei reisen Bogoran und ich seit zehn Jahren zusammen.«

»Seit zwölf Jahren«, erklang eine tiefe Stimme und Bogorans hart geschnittene Gesichtszüge erschienen in der Zeltöffnung.

»So wie du das betonst, waren es zwölf sehr lange Jahre.« Tarekk schmunzelte.

Bogoran zuckte die Schultern. »Es war eine gute Zeit.«

»Hast du den Rundgang beendet?«

»Ja. Keine Auffälligkeiten. Das Lager ist sicher.«

»Gut. Wie ich höre, sind die Wachen mit dem Abendgesang fertig. Wer übernimmt die erste Schicht?«

»Enzachiel und Maelmonn.«

»Kannst du sie noch einmal instruieren?«

»Du traust dem Frieden nicht. Oder liegt es an Usgards magischem Bann?«

»Nein. Nenne es eine Eingebung, eine innere Stimme. Wie auch immer.« Tarekk warf Arkeen einen kurzen Blick zu. »Die Nacht ist ruhig und wird es auch bleiben. Danke für deine Mithilfe.«

Bogoran verschränkte als Zeichen, dass er verstanden hatte, die Finger seiner beiden Hände und verließ das Zelt.

Tarekk betrachtete die Krummschwerter auf dem Rücken seines Freundes. Es handelte sich um Schwarzklingen, geschmiedet aus dem härtesten bekannten Metall, dem Dunkelstahl des Berges Dorn. Die Schwerter waren erstklassige, in Kröll gefertigte Qualität, die Griffe mit Drachenhaut überzogen und damit ein kleines Vermögen wert. Bogoran legte die Waffen nur beim Baden und zum Schlafen ab – doch selbst da befanden sie sich in Griffweite.

Tarekk überlegte, ob er sich eine ähnliche Vorsichtsmaßnahme angewöhnen sollte. Die Zeiten waren weder friedvoll noch sicher. Besonders das zunehmend aggressive Verhalten der Kadrass bereitete ihm Sorgen. Früher hatte es kaum Übergriffe der Insekten gegeben, schon gar nicht so weit außerhalb ihrer Höhlen im Zentrum der Steinwüste. Mittlerweile wurden alle zwei, drei Perioden Angriffe der Kadrass gemeldet, bis hinunter nach Harm und im Norden Richtung Abronn. Nicht selten ließen dabei Menschen ihr Leben.

»Was ist mit den Wachen?« Arkeens smaragdgrüne Augen leuchteten. Tarekk kam es vor, als läge über den Pupillen seines Sohnes ein heller Schimmer. War es möglich, dass er von dem Akazienbier getrunken hatte? Nein, das konnte nicht sein, schließlich hatte es ihm Tarekk verboten.

»Nichts«, entgegnete Tarekk. »Ich möchte nur sichergehen, dass sie die Anweisungen befolgen.«

»Keine Gnome? Keine Trolle? Kein Sandsturm?«

»Nein. Kannst du nachsehen, ob Quendor die Kamele gut versorgt hat?«

Arkeen sah ein wenig enttäuscht aus. Augenscheinlich wäre es ihm nicht unrecht, wenn sich in die Eintönigkeit der Reise etwas Abwechslung gesellt hätte, selbst wenn dies Gefahr bedeuten mochte.

Tarekk lächelte erneut. Ganz der Vater, dachte er, als er seinem Sohn nachblickte. Bis auf die Augen.

Ein schmerzhafter Stich in der Brust ließ Tarekk das Gesicht verziehen. Ja, die Augen hatte Arkeen von Minhara. Weder Quendor noch Ashida hatten die faszinierende Farbe ihrer Pupillen geerbt, die bei den Bewohnern der Bradakeen, der Schlammwüste, am häufigsten zu finden war. Es ging die Legende, dass jenes strahlende Smaragdgrün das Geschenk eines wilden Bergdrachen war, der damit Kriegern aus Ombra für seine Befreiung danken wollte. Angeblich verhalfen die Augen zu einer besseren Sicht bei Nacht und ermöglichten es, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Ob das den Tatsachen entsprach, wusste Tarekk nicht. Er hatte Minhara mehrmals auf die Legende angesprochen. Ihre Antwort hatte stets in einem milden Lächeln bestanden.

Tarekk erhob sich. Seine Gedanken waren schon wieder abgeschweift. In eine Richtung, die er nicht gutheißen konnte. Es war einige Perioden her, dass ihn sein Vergehen und Minharas Verlust derart belastet hatten. Weshalb die Erinnerungen erneut in seine Gedanken drängten, konnte er nicht sagen. Vielleicht lag es am Blutmond, vielleicht aber auch an seiner inneren Anspannung. Das ungewöhnliche Verhalten der Kamele wollte ihm nicht aus dem Kopf.

Tarekk trat aus dem Zelt, blickte zu den Sternen auf und atmete tief durch. Er würde noch einmal durch das Lager marschieren und auf die Dünen steigen. Womöglich war Bogoran etwas entgangen. Vielleicht blieb er ein paar Stunden bei den Wachen. Schlaf fand er in nächster Zeit ohnehin keinen. Er wollte nicht, dass die Kinder seine Unruhe und Besorgnis mitbekamen. Arkeen und Ashida würden kein Auge zudrücken und wären morgen früh müde, gereizt und unaufmerksam. Das konnte in der Wüste fatale Folgen haben. Solange es keine fassbaren Hinweise auf eine Bedrohung gab, wollte er seine Gedanken für sich behalten.

»Tarekk?«

Hinter dem Karawanenführer war einer der bunt gekleideten Reisenden aus den Gelblanden erschienen. Wenn sich Tarekk richtig erinnerte, lautete sein Name Zunkaar. Er war der Anführer der fandrinischen Gruppe, ein Goldhändler. Tarekk vermutete, dass er mit dem Fürsten von Rongar über mehr Schürfrechte verhandeln wollte. So viele Ohrringe und Ketten, wie der gelbhäutige, kräftig gebaute Glatzkopf trug, hatte er wohl sämtliches Gold für sich beansprucht.

»Wie lange wird es noch dauern, bis wir Gulehm erreichen?«

Zunkaars Stimme erinnerte an feinen Sand, den der Wind gegen die Wände eines Zeltes blies – ein lispelndes Rauschen und Wispern, monoton und gleichförmig, aber auch von stiller Kraft durchdrungen. Die Aussprache des Gelbländers war klar, wirkte jedoch etwas gestelzt. Vermutlich hatte er die gemeine Sprache Arkeens in einem Gelehrtenhaus studiert.

»Drei Tagesmärsche, sofern es keine Verzögerungen gibt.«

»Welche Verzögerungen?«

»Ein Sturm beispielsweise.«

»Wurde hier in der Gegend ein Sanddrache gesichtet?«

»Nein. Wenn es so wäre, hätten wir andere Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Aber die Wüste ist unberechenbar.«

Zunkaar verzog das Gesicht. »Führe uns sicher und schnell durch diese gelbe Hölle. Wenn wir wie geplant am Abend des achten Tages in Gulehm eintreffen, erhältst du zwei weitere Gulden.«

Tarekk stutzte. Hatte Zunkaar seine Aussage als Bestechungsversuch interpretiert? Das war nicht beabsichtigt. Tarekk hatte hohe moralische Ansprüche, was seine Tätigkeit als Karawanenführer anbelangte. Ein vor Beginn der Reise vereinbarter Lohn galt als besiegelt. Tarekks Ehre gebot es, den Irrtum richtigzustellen.

»Das ist nicht nötig. Du hast mich bereits bezahlt. Ich werde euch so gut und rasch durch die Wüste führen, wie alle anderen.«

Zunkaar hob die Augenbrauen. »Ich hoffe, du versuchst nicht …«

Tarekk entdeckte eine gebeugte Gestalt, die in Schlangenlinien auf sie zu eilte. Zunkaar sog empört die Luft ein, als ihn der Mann, der mit einer hellbraunen, knöchellangen Kutte bekleidet war, anrempelte und zur Seite stieß. Es war Usgard.

»Der Bann ist in Schwingung geraten«, keuchte der Druide. Seine Augen wirkten verklärt, der geflochtene Bart zitterte. »Er summt wie ein Bienenschwarm.«

»Also nähern sich Menschen.« Tarekk war nicht sonderlich überrascht. Es geschah immer wieder, dass man auf der viel begangenen Route zwischen Warnack und Gulehm auf andere Reisende oder Karawanen traf. Manche bevorzugten den nächtlichen, angenehm kühlen Marsch. Vermutlich würden die Wachen in wenigen Augenblicken Bewegungen in der Wüste und eine bläuliche Verfärbung des derzeit noch unsichtbaren Bannkreises melden.

»Ja.« Usgard nickte. »Aber ich spüre noch etwas anderes, einen mentalen Einfluss.«

»Magie?«

»Könnte sein. Allerdings …«

Usgard verdrehte die Augen und brach lautlos zusammen. Mehrere Herzschläge lang starrten Tarekk und Zunkaar auf die reglose Gestalt. Der Goldhändler war der Erste, der die Sprache wiederfand.

»Was zum Blutmond hat das zu bedeuten? Tarekk?!«

Der Karawanenführer wandte sich wortlos um, hastete in das Zelt zurück und gürtete seinen Säbel. Tarekk spürte seine bedrohliche Ahnung Gewissheit werden. Es war unwahrscheinlich, dass Usgard ausgerechnet jetzt die Kräfte verlassen hatten. Wer immer sich näherte, kam nicht in friedlicher Absicht. Es gab keinen ehrbaren Grund, einen Bannkreis zu brechen.

»Bogoran!«, brüllte Tarekk, als er aus dem Zelt stürmte, und ignorierte Zunkaar, der ihm mit weit aufgerissenen Augen den Weg vertrat und zu einer erbosten Wortmeldung ansetzte.

»Tarekk, was ist …?!«

Der Karawanenführer schob den Goldhändler beiseite und gewahrte Bogoran, der sich im Laufschritt näherte. Dicht auf den Fersen folgte ihm ein sandgelber, eineinhalb Meter hoher und acht Meter langer Schatten – Finmedra, Bogorans Laufechse.

»Der Bann wurde gebrochen«, sagte Tarekk. »Usgard ist bewusstlos.«

Bogoran nickte stumm. Er benötigte keine weiteren Erklärungen. Der Krieger wusste, was diese Aussage bedeutete und welche Maßnahmen zu treffen waren. Er schwang sich auf den Rücken seines Reittiers, griff in eine der Ledertaschen der Echse, zog ein gewundenes Drachenhorn hervor und blies hinein. Ein lang gezogenes, dröhnendes Brööö! hallte durch das Wadi.

Tarekk empfand einen Anflug von Hilflosigkeit. Wie konnte das geschehen? Seit Jahrzehnten hatte es auf der Route zwischen Warnack und Gulehm keine Überfälle mehr gegeben. Banditen, Wegelagerer und nomadische Beduinen wagten sich nicht in das Gebiet, das regelmäßig von Patrouillen der Stadtfürsten durchkämmt wurde. Andernfalls hätte Tarekk auch niemals seine Kinder mitgenommen, schon gar nicht alle drei.

Tarekks Blick fiel auf die Sanddüne, über der die tiefrote Scheibe des Blutmonds schwebte. Die Wache war nicht mehr da. Tarekk wandte den Kopf, sah zu Bogorans zweitem Krieger empor – und bemerkte gerade noch, wie der Mann taumelte und zu Boden ging.

Bogoran brüllte auf und preschte in Richtung der Dünen davon. Die vier übrigen Soldaten kamen mit gezogenen Schwertern angelaufen und eilten hinter der Laufechse her. Stimmen wurden laut. Die Reisenden hatten sich von ihren Lagerfeuern erhoben. Einige näherten sich Tarekk, gestikulierten mit den Armen und redeten auf ihn ein.

Der Karawanenführer sah sich um. Wo blieben seine Kinder? Sie wussten doch, dass sie augenblicklich zu ihm kommen sollten, wenn Bogorans Horn erklang.

Zwei Atemzüge später erblickte er sie. Arkeen lief voraus, dicht gefolgt von Ashida und Quendor. Sein älterer Sohn hielt ein Schwert in der Hand und drängte sich zu Tarekk durch.

»Runter damit«, fauchte der Karawanenführer und drückte Quendors Waffe zu Boden. »Egal was passiert, lasst die Klingen stecken und bleibt dicht hinter mir.«

Quendor murmelte Unverständliches. Sein Antlitz war fahl und auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen. Anders Arkeen und Ashida: Mit leuchtenden Augen verfolgten sie das Geschehen und diskutierten mit den Umstehenden die Ursache des Alarmrufs.

Jemand stieß einen Schrei aus. Bebende Finger deuteten in Richtung Blutmond. Auf der rötlich schimmernden Düne waren verhüllte Gestalten erschienen, zwölf oder dreizehn dunkle, gebeugte Schemen aus Schwärze. Alle saßen sie auf Laufechsen, ebenso finster wie ihre Reiter.

Tarekks Finger verkrampften sich um den Griff seines Schwertes. Dies erklärte das Verhalten der Kamele. Laufechsen, speziell männliche Exemplare, verströmten einen strengen Geruch, den empfindliche Tiere noch Hunderte Meter entfernt wahrzunehmen vermochten. Nur weibliche Reptilien, wie es Bogorans Finmedra war, konnte man halbwegs problemlos gemeinsam mit Kamelen führen.

Normale Banditen ritten nicht auf diesen mächtigen Schuppenkreaturen. Echsen waren teuer in der Anschaffung, benötigten eine aufwendige Pflege und mussten sorgsam erzogen werden. Dafür waren sie nicht nur Reittiere, sondern auch hervorragende Kämpfer und konnten es durchaus mit zwei oder drei gerüsteten Kriegern aufnehmen. Selbst wenn alle dreißig Mitglieder der Karawane fähig und geschult gewesen wären, eine Waffe zu führen, hätten sie einen Kampf gegen die Echsen und ihre Reiter verloren.

»Hört mich an, Reisende«, erklang eine tiefe, volle Stimme von der Höhe der Düne herab, so laut, dass sie die Rufe und das Geschrei im Lager übertönte. »Mein Name ist Gelber Drache.«

Beinahe schlagartig wurde es still. Jeder der Umstehenden hatte diesen Namen bereits vernommen. Auch Tarekk war er nicht unbekannt. Gelber Drache war einer der berüchtigtsten – und grausamsten – Wüstenräuber in Arkeen.

»Wer ist euer Anführer?«, donnerte die Stimme.

Ich wünsche, ich wäre es nicht, dachte Tarekk. Eine der unangenehmen Aufgaben eines Karawanenführers war es, Verhandlungen zu führen, wenn dies während der Reise notwendig wurde; selbst oder gerade dann, wenn es um das Leben aller Reisenden ging.

»Ich bin Tarekk al Bahaad djin Sandigor«, rief Tarekk, straffte seinen Oberkörper und trat einige Schritte auf die Düne zu. »Ich führe diese Karawane durch die Wüste.«

Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass ihm Arkeen folgen wollte. Der Karawanenführer schüttelte den Kopf und deutete seinem Sohn, bei den übrigen Reisenden zu bleiben. Egal was geschah, Tarekk durfte keine Angst zeigen und sich nicht ablenken oder verunsichern lassen. Den Erzählungen nach waren es am ehesten Mut und Selbstvertrauen, mit denen man den blutlüsternen Raubmörder besänftigen konnte.

»Dann hört mein Angebot«, rief Gelber Drache. »Sorgt dafür, dass mir alle Reisenden ihre Taler und Gulden, sämtliches Geschmeide, Ringe, Edelsteine und magische Artefakte, die sie bei sich tragen, übergeben. Wenn sie dies tun und niemand Gegenwehr leistet, verspreche ich, euch allen das Leben zu schenken.«

Lüge!, drang es in Tarekks Gedanken. Jedes Kind in Arkeen wusste, dass Gelber Drache bei seinen Überfällen niemals ein Menschenleben schonte. Aber hatte er eine andere Wahl, als auf das Angebot einzugehen?

Er warf einen Blick zu Bogoran, der einige Schritte entfernt auf dem Rücken von Finmedra saß und seine Krieger um sich versammelt hatte. Der Söldner nickte und führte eine Hand zum Ohr. Dies war das Zeichen dafür, dass Tarekk das Angebot annehmen sollte, ohne weitere Verhandlungen oder den Versuch, die Banditen zu überrumpeln. Wenn Bogoran ein solches Verhalten vorschlug, war es der einzige Weg.

»In Ordnung«, erwiderte Tarekk. »Wir werden tun, was Ihr verlangt.«

Drei der Banditen ritten die Düne hinab. Die Echsen waren schnell und geschmeidig. Ihre Beine schienen kaum den Boden zu berühren. Sie fegten so leichtfüßig über den Sand, als handle es sich um festen Stein. Die Kamele in der Karawane wurden unruhig. Einige scheuten, warfen den Kopf zurück, zerrten an ihren Leinen oder versuchten, trotz ihr Beinfesseln mehr Abstand zwischen sich und die Echsen zu bringen.

»Ihr habt es gehört«, sagte Tarekk an die Reisenden gewandt. »Wenn ihr leben wollt, holt eure Wertsachen und übergebt sie den Reitern.«

»Nein!«, brüllte Zunkaar, das Gesicht zur Grimasse verzerrt. »Tarekk, du hast uns verraten!«

»Ich habe nichts …«

»Du bist mit diesen Räubern im Bunde! Sie wussten, dass wir kommen!«

Tarekk sah, dass Zunkaar seine Leibgarde – zwei stattliche, in dunkles Leder gehüllte Hünen – um sich geschart hatte. Einer der beiden riss den Arm hoch und deutete auf den ersten Echsenreiter. Im nächsten Augenblick stieß dieser einen gurgelnden Schrei aus, griff sich an die Brust und kippte seitlich von seinem Reittier. Zunkaars Leibwächter hob den anderen Arm. Diesmal sah Tarekk, wie sich ein schlankes, schwarzes Etwas vom Unterarm des Mannes löste und auf den zweiten Reiter zuschoss. Die Echse des Kriegers zischte, bäumte sich auf und wurde von dem Geschoss in die Flanke getroffen.

Es war, als ergieße sich das flüssige Gestein des Feuerkelchs in das Wadi. Menschen schrien und stoben auseinander. Helle Klingen blitzten im Licht der Feuer. Die Reiter auf der Düne stießen ein wildes Gebrüll aus, stürmten den sandigen Hang hinab. Pfeile regneten auf das Lager hinab. Einer von Zunkaars Leibwächtern wurde getroffen und ging zu Boden. Tarekk griff nach seinen Kindern, bekam aber nur Arkeen zu fassen. Er entdeckte Quendor ein paar Schritte entfernt. Tarekk eilte auf ihn zu und zerrte seinen jüngeren Sohn hinter sich her, der sich heftig widersetzte.

»Lass mich los!«, schrie Arkeen und wand sich in seinem Griff wie eine Schlange. »Ich will kämpfen!«

Auf der Düne entflammte ein Feuer.

Einen Herzschlag lang war Tarekk davon überzeugt, dass der Blutmond selbst zu brennen begonnen hatte. Aber so war es nicht. Einer der Reiter hatte sich nicht mit den anderen in Bewegung gesetzt. Er kauerte stumm auf seiner Echse. Zwischen seinen Händen erglomm ein rötlich wogendes Licht. Eine Magierin!

Zunkaar brüllte, wedelte mit seinen fleischigen Armen und sprang auf und nieder, als seine bunten Kleider Flammen fingen. Sein Brüllen ging in ein überschnappendes Kreischen über, als seine Haut begann, Blasen zu werfen. Funken flogen zur Seite, ein paar landeten auf Arkeens nacktem Unterarm. Dieser schrie auf, schlug um sich. Blaue Flammen züngelten bis zu seinen Fingern, brannten ihm die Haut vom Fleisch. Tarekk riss seinen Sohn zu Boden, griff in den Sand und warf diesen auf Arkeens Arm. Das Feuer erlosch, nicht aber Arkeens Schreie.

»Arkeen!«, brüllte Tarekk und packte seinen Sohn an der Schulter. »Sieh mich an! Der Schmerz ist Teil von dir, du kannst ihn beherrschen.«

Arkeens Blick klärte sich, seine Schreie wandelten sich in ein Wimmern. Tarekk zog ihn in die Senkrechte, eilte auf Quendor zu. Sein älterer Sohn hielt das Schwert so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Tarekk gab Quendor eine Ohrfeige. Bevor sich dieser von seiner Überraschung erholen konnte, schlug ihm Tarekk die Klinge aus der Hand. Unbewaffnet blieb Quendor vielleicht am Leben, aber mit einem erhobenen Schwert wurde er garantiert erschlagen.

»Wo ist Ashida?«, fuhr Tarekk seinen Sohn an. In Quendors aufgerissenen Augen lag bodenlose Furcht, aber weder Erkennen noch Verständnis.

Tarekk erblickte sie. Ashida stand nur zehn Schritte entfernt. Sie spannte ihren Bogen.

Woher hat sie ihn?, dachte Tarekk entsetzt. Er wollte seiner Tochter in den Arm fallen, aber diese hatte bereits angelegt und ließ die Sehne vorschnellen. Der Pfeil fegte durch die brodelnde Nacht und bohrte sich in das Auge einer angreifenden Echse, die wie vom Blitz getroffen zusammensackte.

Ein anderer Wegelagerer stürmte mit seinem Reittier auf Ashida zu. Tarekk wurde von zwei panischen Reisenden angerempelt, stolperte und musste Arkeen loslassen. Er brüllte Ashida eine Warnung zu, doch sie ging im allgemeinen Tumult unter. Der Reiter preschte voran, neigte sich von seinem Sattel und griff nach Ashida. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, ließ ihren Bogen fallen. Mit einem Ruck zog der Angreifer das heftig zappelnde Mädchen auf den Rücken der Echse. Er warf Ashida vor sich über die geschuppte Haut seines Reittiers und jagte auf die Düne zu.

Tarekk, Arkeen und Quendor hasteten los. Doch der Karawanenführer kam nicht voran. Sein linkes Bein bewegte sich nicht so, wie es sollte.

Tarekk blickte zu Boden, sah einen schmalen Holzschaft und eine blutig schimmernde Eisenspitze. Der Pfeil steckte in seinem Oberschenkel, hatte den Muskel glatt durchschlagen. Seltsamerweise verspürte er keinen Schmerz; zumindest die nächsten drei Atemzüge lang.

Eine Woge brennender Pein explodierte in seinem Rücken. Die Qualen waren dermaßen überwältigend, dass Tarekk nicht einmal schreien konnte. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper und stürzte seitlich zu Boden. Hinter ihm ragte eine menschliche Gestalt empor. Sie hielt ein schwarzes, gebogenes Schwert in Händen. Von der Spitze der Waffe tropfte Blut. Tarekk erblickte das hämische Grinsen im Gesicht des Mannes. Er kannte dieses Antlitz, sehr gut sogar.

Wieso?, wollte er fragen, brachte aber bloß ein unverständliches Stöhnen heraus.

Die Gestalt wandte sich um, verschwand aus seinem Blickfeld. Tarekk fiel auf den Rücken. Weshalb bekam er keine Luft? Er musste husten und der Geruch verbrannten Fleisches drang in seine Nase. Von den Lagerzelten züngelten helle Flammen. Tarekks Gesichtsfeld verengte sich, wurde unscharf, er schmeckte Blut. Schatten neigten sich zu ihm herab. Nein, es waren keine Schatten, es waren Dämonen. Die Geister seiner Vergangenheit.

Minhara? – Ich bin bei dir, mein Liebster.

Was ist mit unseren Kindern? Sind sie in Sicherheit? – Alles wird gut. Sie warten auf dich.

Aber ich habe gesehen … Ashida! Ich muss … – Bleib liegen. Es geht ihr gut.

Aber … – Entspann dich. Du hast lang genug gekämpft. Es ist Zeit, zu schlafen.

Nein! Ashida! Bitte, rette sie!

Die Schatten neigten sich tiefer. Doch Tarekk erhielt keine Antwort. Die Sterne blitzten und funkelten, alle Schreie und Geräusche verklangen.

Es wurde still.

Völlig still.

Siebzehn Jahre später
Land Arkeen, Südtor

Der heiße Wind brachte den herben, ungezähmten Duft der Sandwüste mit sich. Arkeen atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Die grünen Hügel, sanft gewellten Felder und sprudelnden Bäche im Tal Eliebron waren zweifellos faszinierend. Sein Bruder Quendor nannte das Tal sein zweites Zuhause. Arkeen hingegen fühlte sich nirgends so wohl wie inmitten windgepeitschter Sanddünen. Nur hier konnte er die ungezügelte Weite genießen, die ausgedörrte Einsamkeit und den trockenen, heißen Wind, der die Haut umschmeichelte wie eine giftige Schlange. Die Wüste übte eine weit größere Anziehung auf ihn aus, als beispielsweise das Meer. Die stürmische, unstete See, der trügerische Untergrund, die Gefahren auf und unter der Wasseroberfläche – sie machten ihm Angst. Hingegen waren es die Monotonie und Ewigkeit der Wüste, die er liebte. Er scheute keinen mächtigen Sandsturm, ängstigte sich nicht vor Banditen, den Kadrass oder tückischen Wüstengnomen. Die Wüste war wie für ihn geschaffen. Er fürchtete sie nicht, er verehrte sie. Sie war seine Heimat.

Arkeen hielt das Kamel an und blinzelte in die Sonne. Die sechste Stunde neigte sich seinem Ende zu, es ging gegen Mittag. Direkt vor ihm erhob sich das mächtige Südtor am höchsten Punkt des Hügelkamms zwischen Sandwasser und den letzten Ausläufern der Blutzungen. Seit mehr als fünfhundert Jahren markierte es den Beginn der Wüstenlande. Hundert Meter maß es in der Breite, achtzig in der Höhe. Die gewaltige Öffnung ließ den Betrachter winzig und unbedeutend erscheinen. Diese Empfindung wurde durch das verwendete Baumaterial noch verstärkt. Der Halbbogen war aus dem glasartigen Material des Scherbenspiegels errichtet. Obwohl im Außenbereich matt und stumpf geworden, glänzte und funkelte das Tor auf der Innenseite wie ein Wasserbecken im Sonnenlicht. Verzerrte Abbilder der Wüste blitzten auf und vergingen. Arkeen glaubte sich selbst zu erkennen, neben anderen Reisenden, die das Tor durchquerten. Der Wüstenwind brach sich im Bogen, erzeugte Stimmen und Klänge, wo keine waren.

Das Tor war ein Meisterwerk frühzeitiger Architektur. Niemand vermochte zu sagen, wie die Erbauer dieses epochale Bauwerk zusammengefügt hatten, aufrichten und verankern konnten. Tatsache war, dass weder Wind noch Wetter dem Tor etwas anhaben konnten, sah man von der allmählichen Trübung der Oberfläche durch die periodischen Sandstürme ab. Die mannsgroße, gemeißelte Inschrift löste in Arkeen dasselbe Gefühl erhabener Leichtigkeit aus, wie vor zwanzig Jahren, als er sie das erste Mal erblickt hatte. Die Worte entstammten einem Werk des berühmten Dichters und Dramatikers Manderon al Shatar. Die Inschrift lautete:

Geschliffene Kronen aus Drachengebein, umhüllt vom milchigen Trüb der Wüste. Es ruht ein Versprechen auf glutheißen Lippen: Komm, und ich töte dich!

»Faszinierend, nicht wahr?«, erklang eine Stimme.

Hinter Arkeen war ein junger Mann erschienen, ein Gelbländer, was aufgrund der Nähe zu Fandrin keine Überraschung darstellte. Auch seine bunten Kleider, wie sie die Menschen aus dem Süden oft trugen, waren nicht weiter auffallend. Interessant war hingegen, dass der Fremde ungewöhnlich groß und schlank war. Darüber hinaus hatte der Mann – ebenfalls untypisch für einen Fandriner – schulterlange, glatte Haare. Zudem trug er keine Kopfbedeckung. Am seltsamsten aber war das braunrote Muster, das sich über sein Gesicht zog. Die Tätowierung bildete ein symmetrisches, in der Mitte senkrecht geteiltes Bild, das den Eindruck eines zweiten Antlitzes erweckte. Der Fremde saß auf einem Pferd und führte ein weiteres, mit Säcken und Kisten beladenes Tier hinter sich her.

»Es steht geschrieben, dass das Südtor von Widerschein errichtet worden ist. Angeblich haben sie keine technischen Hilfsmittel benutzt. In einigen Quellen wird behauptet, dass sie einen Scherbenmagier beauftragt haben, das Bauwerk zu errichten. Er soll es in nur einer Nacht zuwege gebracht haben.«

Ein Gelehrter, dachte Arkeen geringschätzig. Der Unbekannte gehörte zu jenen Gelbländern, die sich der Erforschung der Welt und ihren Geheimnissen verschrieben hatten. In Arkeens Augen lebten diese Menschen abseits der Realität. Ihr Wissen war wertlos, da ihnen die praktische Erfahrung fehlte. Schickte man sie in die Wüste, waren sie nach zwei Tagen verdurstet, von Saugschlingen gefressen oder hatten ihr Nachtlager auf einem Skorpionnest errichtet.

»Ihr seid Karawanenführer, nicht wahr? Wegen Eurer hellblauen Schärpe.«

Arkeen schwieg und starrte zu dem Halbbogen über seinem Kopf empor. In der Wüste verwendete man keine Höflichkeitsform. Es war üblich, sich zu duzen, auch unter Fremden. Aber davon wusste der Fandriner offenbar nichts.

»Entschuldigt«, fuhr der Gelbländer fort. »Ich habe mich nicht vorgestellt. Ich heiße Eglan, Eglan Dawodaan. Ich bin Gelehrter und Forscher und stamme aus den Gelblanden, wie Ihr sie nennt. Wie ist Euer Name?«

Arkeen hatte nicht vor, mit dem aufdringlichen Kerl ein Gespräch zu beginnen. Aber in der Wüste gebot es die Höflichkeit, seinen Namen zu nennen, wenn man danach gefragt wurde.

»Arkeen al Warnack djin Tarekk.«

»Ah, Ihr heißt wie das Wüstenland. Euer Vater muss ein stolzer Mann sein, da er Euch diesen Namen gab.«

»Lebt wohl.« Arkeen drückte die Fersen in die Flanken seines Kamels und das Tier setzte sich gehorsam in Bewegung.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Arkeen vernahm die Verwirrung in der Stimme des Gelbländers. Natürlich konnte dieser nicht wissen, weshalb sein Gegenüber so reagiert hatte. Vermutlich hielt er Arkeen für einen schweigsamen und kontaktscheuen Wüstenbewohner. Arkeen war es egal, was der Fandriner von ihm dachte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit begegneten sie sich niemals wieder. Die Wüste war groß.

Arkeen warf keinen Blick zurück, aber er lauschte, ob ihm der Gelbländer folgte. Dem war nicht so. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass es sich bei dem Fremden um einen Betrüger oder Taschendieb handelte, aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

Der Fandriner würde nicht bis Warnack gelangen, sofern dies, wie anzunehmen, sein Ziel war. Ausschließlich Narren und Dummköpfe ritten mit Pferden in die Wüste. Selbst wenn es sich nur um einen Dreitagesmarsch wie zwischen dem Südtor und Warnack handelte, war es unwahrscheinlich, dass die Tiere durchhielten. Neben der Gluthitze konnten die häufigen Sandstürme eine tödliche Gefahr darstellen. Pferde gerieten in Panik, inhalierten zu viel des feinen Staubs und erstickten qualvoll. Zudem reagierten sie allergisch auf die Anwesenheit von Wichteln, denen man in der Shahakeen hinter jeder zweiten Sanddüne begegnete. Arkeen war davon überzeugt, dass die Pferde noch vor Warnacks Stadtmauern tot sein würden. Aber das war nicht sein Problem.

Arkeen ließ das Südtor hinter sich, schlug einen Bogen um den Felsabbruch, neben dem die Fluten des Sandwassers glitzerten, und wandte sich nach Westen. Einige Dutzend Schritte entfernt lag die Hütte der Torwächter. Früher war sie ein militärischer Außenposten Warnacks gewesen. In den letzten Jahrzehnten hatte man das Gebäude Schritt für Schritt umgebaut, vergrößert und in einen reichhaltigen Verkaufsladen mit Imbissstube, Kamelunterstand und Übernachtungsmöglichkeit verwandelt. Nur ein einziger Soldat hielt noch die Stellung. Der alte Mann hockte auf einem Schemel vor dem Eingang, zeichnete mit seinem rostigen Säbel Muster in den Sand und beäugte die Eintretenden mit kritischen Blicken. In seiner Mundhöhle blitzte es golden.

Arkeen stieg vom Kamel und trat auf den Alten zu. »Wie geht es deinen Zähnen, Valsunn?«

Der Soldat grinste. Unter seinen breiten Lippen konnte man einen Goldzahn und drei braunschwarze Stummel erkennen.

»Gut, Arkeen, gut. Den letzten eitrigen Backenzahn hab ich mir vor einer Fahle herausgerissen.«

Die Stimme des alten Soldaten war hoch und schrill, sie vibrierte und drohte jeden Moment zu brechen. Arkeen wusste, dass sich Valsunn vor Jahren mit einer Morganafee angelegt hatte. Der Verlust seiner melodischen Bassstimme bekümmerte ihn mehr als der marode Zustand seiner Zähne. Der Krieger war mit seinem rot verbrannten Bein und den zahlreichen schlecht verheilten Wunden kein hübscher Anblick.

Arkeen wusste, dass es um ihn selbst nicht viel besser stand. Sein linkes Ohr war ein vernarbter Stummel. Über sein Kinn zog sich eine hässliche, zentimeterlange Narbe. Die Haut an seinem linken Handrücken und Unterarm war schuppig und verfärbt, dort wo ihn vor siebzehn Jahren das Feuer der Magierin verbrannt hatte. Außerdem ließen ihn die Entbehrungen der Wüste zehn Jahre älter aussehen.

»Was gibt es Neues?«, fragte Arkeen. »Was flüstern die Winde?«

Valsunns Gesichtszüge verhärteten sich. »Schlechte Nachrichten, böse Omen. Vor Kunahn wurde eine Karawane überfallen. Keine Überlebenden.«

»Banditen?«

»Die Reisenden sind zerfleischt worden. Manche Gliedmaßen fanden sich Dutzende Schritte von den zugehörigen Körpern entfernt.«

»Kadrass.«

»Ja, so lautet das Ergebnis der Untersuchung.«

»Das ist bereits der dritte Angriff diesseits der Himmelszungen.«

Valsunn nickte. »Wie es heißt, ist selbst Fürst Makepp beunruhigt. Es könnte sein, dass er die Hilferufe aus Abronn jetzt doch erhört. Einige Städte, allen voran Harm und Jordeen, überlegen einen neuen Feldzug gegen die Kadrasshöhlen.«

Arkeen schüttelte verdrossen den Kopf. Es waren kaum drei Fahlen verstrichen, seit er aus Warnack Richtung Süden aufgebrochen war. Dieser Zeitraum hatte ausgereicht, um die Sicherheitslage im Land erheblich zu verschärfen. Wenn die Kadrass in der Shahakeen ihr Unwesen trieben, wirkte sich das auch auf die Reiserouten aus. Als Karawanenführer war man für seine Leute verantwortlich, vom Verlassen der Stadt bis zum Erreichen des Ziels. Niemand wusste das besser als Arkeen.

»Gibt es Auswirkungen auf die Handelswege?«

»Noch nicht. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei dem Gemetzel in Kunahn um einen Einzelfall handelt. Oder dass die Karawane schlecht gesichert und miserabel geführt war.« Valsunn neigte sein Haupt und fuhr im verschwörerischen Tonfall fort: »Außerdem glauben nicht alle die Theorie mit den Kadrass.«

»Wer soll es sonst gewesen sein? Kein Wesen der Wüste zerfleischt seine Opfer und verstreut die Körperteile in der Gegend.«

»Mümmel.«

Arkeen stieß ein tiefes, hartes Lachen aus. »Wer hat sich diesen Blödsinn ausgedacht?«

»Das fragst du mich? Ich gebe die Informationen nur weiter, ich erfinde sie nicht.«

»Nun gut. Gibt es sonst Neuigkeiten?«

»Vor den Toren Warnacks wurden zwei Trolle gesichtet. Der Rat hat fünfzig Gulden auf ihre Ergreifung ausgesetzt.«

»Ein kleines Vermögen. Was will die Stadt mit den Trollen?«

»Angeblich ein Abkommen mit Fandrin. Es heißt, dass gelbländische Gelehrte die Wesen untersuchen wollen.«

Arkeen erinnerte sich an seine Begegnung am Südtor. Er warf einen Blick in die Runde, konnte den tätowierten Fandriner aber nirgends entdecken.

»Ich hole mir Proviant und reise dann weiter. Vielleicht komme ich in zwei, drei Perioden wieder vorbei.«

Arkeen warf Valsunn einen Taler zu, den dieser geschickt auffing und in seinem Ranzen verschwinden ließ. Der Karawanenführer trat in den Laden, erstand Fladenbrot, getrocknete Datteln, Feigen, Boxenkraut und erneuerte seinen Vorrat an Dörrgemüse, Hafer und Hirse. Ausnahmsweise genehmigte er sich ein warmes Sandfinken-Omelette, gewürzt mit rotem Pfeffer. Während seiner Reise durch Eliebron hatte er diese Delikatesse schmerzlich vermisst.

Arkeen verstaute die Vorräte in den Seitentaschen am Rücken seines Kamels und begab sich hinter den Laden, wo eine munter plätschernde Quelle aus dem Gestein brach und in Richtung Sandwasser floss. Er befüllte seine Wasserschläuche und wandte sich nach Nordwesten.

Arkeens Brust schwoll an, als er den letzten Hügel erklomm und sich das Dünenmeer der Shahakeen vor ihm öffnete.

Endlich, dachte er. Willkommen daheim!

Warnack

Der erste Eindruck, wenn man die Stadt betrat, waren die zahlreichen Menschen. In einem unablässigen Strom passierten sie das sandsteinerne, mit Ornamenten und bunten Mosaiken verzierte Osttor. Darunter waren Reisende wie Arkeen, wohlhabende, in Seidenkleider gehüllte Stadtbewohner, Bauern, die auf dem Weg zu den Feldern am Rand des Sandwassers waren, gerüstete Soldaten, eilig voranschreitende Bedienstete, Menschen aus Fandrin und sogar zwei groß gewachsene, hellhäutige Jäger aus den Schattenlanden schoben sich durch die Menge.

Die Straßen in diesem Teil der Stadt waren schmal und staubig, aber erfüllt von Leben. Neben der Schar an Passanten boten Verkäufer ihre Waren feil, Kinder stürmten schreiend durch die Seitengassen und kleine Reptilien jagten die Mauern entlang. In den Hauseingängen flatterten Hühner, Ziegen meckerten und über den Köpfen der Fußgänger wurden Fenster aufgerissen und Teppiche ausgeklopft. Kamele und ihre Reiter schoben sich durch die Masse, umschwirrt von unzähligen Fliegen. Daneben ruckelten und quietschten geführte Leiterwagen durch den Strom geschäftiger Leiber. Hie und da war auch ein hellhäutiger Wüstenkobold oder sogar ein Mümmel auszumachen.

Warnack beanspruchte für sich den Titel der lebenswertesten Stadt in Arkeen – und war mit rund fünfhunderttausend Einwohnern die zweitgrößte Metropole im Land. Neben einem fortschrittlichen Kanalsystem, den geringen Steuern, kostenlosen Angeboten für die Bürger und dem demokratischen Regierungsstil, brauchte man für das Bestreiten des Lebensunterhaltes nur wenig Geld. Die Wohnungen waren erschwinglich, Nahrungsmittel preiswert, die Stadtbrigade allgegenwärtig und so straff organisiert, dass es kaum diebische Übergriffe gab. Es verwunderte Arkeen nicht, dass sich Quendor hier niedergelassen hatte.

Nach mehr als einer Stunde im dichten Getümmel erreichte Arkeen die südlichen Gebiete der Stadt. Die Wege wurden breiter, die Menschen weniger, die Gebäude prunkvoller. Im Norden und Osten von Warnack fand man vorwiegend Lehm- und Ziegelbauten. Hier, im Nobelviertel der Stadt, gab es aufwendig errichtete Holzhäuser, kunstvoll mit Glas verzierte Anlagen und prachtvolle Steinvillen.

Arkeen näherte sich einem Gebäude, das mit seinen vier Türmen wie eine Burg im Miniaturformat wirkte. Er stieg von seinem Kamel, schulterte zwei der Tragetaschen und trat auf den Eingang zu.

Als er sich gerade zu fragen begann, weshalb ihm noch kein Bediensteter entgegeneilte, loderte hinter einer verzierten Sandsteinsäule eine rote Flammenzunge auf. Der feurige Speer wurde länger und breiter, fegte direkt vor ihm über den weiß gepflasterten Pfad. Arkeen wurde von einem Schwall Hitze getroffen und stolperte zurück. Nur mit Mühe konnte er den Impuls unterdrücken, herumzufahren und schreiend das Weite zu suchen. Der strenge Geruch glühenden Metalls lag in der Luft.

»Bazibb, lass das!«, brüllte Arkeen.

Hinter der Sandsteinsäule stolzierte eine kniehohe und gänzlich haarlose Gestalt ins Licht. Der Feuerkobold besaß eine tiefrote Hautfarbe, überlange Arme und nach oben gezogene Spitzohren, die unablässig in Bewegung waren. Die meisten Kobolde hier in Warnack waren Wüstenkobolde und wurden im Haushalt eingesetzt. Vereinzelt gab es auch Berg- oder Waldkobolde, beispielsweise bei den Steinmetzen oder in der städtischen Gärtnerei. Soweit Arkeen wusste, war Bazibb im gesamten Südviertel der einzige Vertreter seiner Art; einer Art, die besonders durch kleine Gemeinheiten auffiel.

»Ups, du bist’s.« Bazibb grinste.

Am liebsten wäre Arkeen zu seinem Kamel zurückgelaufen, hätte einen Wasserbeutel geholt und über dem Haupt des Feuerkobolds entleert. Aber er warf Bazibb nur einen grimmigen Blick zu, schritt mit erhobenem Haupt an ihm vorbei und klopfte an die Eingangstür, die prompt aufgezogen wurde.

»Arkeen.« Die Falten auf dem Gesicht des alten, glatzköpfigen Mannes verzogen sich zu einem Lächeln. »Wohlbehalten zurückgekehrt. Du siehst gestresst aus.«

»Es ist nichts, Chaspa.« Arkeen deutete hinter sich. »Bazibb.«

»Verstehe.« Chaspas Züge verdunkelten sich. »Ich werde Quendor erzählen, wie du unsere Gäste empfängst«, sagte er mit drohend erhobener Stimme.

»Ach was.« Bazibb grinste noch breiter. »War alles nur ein Missverständnis. Nix für ungut, Arkeen.«

Der Karawanenführer ignorierte den Kobold und folgte Chaspa in das Innere des Hauses. Sie durchquerten den Vorraum und traten an zwei grimmig blickenden Leibwächtern vorbei. Der größere von ihnen, ein Hüne mit einer schiefen Nase und rabenschwarzen Locken, hieß Pelanos und war seit zehn Jahren im Dienste Quendors. Arkeen und der Riese nickten sich zu, als sich ihre Blicke begegneten. Insgeheim fragte sich der Karawanenführer, weshalb sein Bruder immer mehr Krieger um sich scharrte. Mittlerweile mussten es sieben oder acht Söldner sein, die Quendors Anwesen bewachten. Sein Bruder war zwar reich und besaß einigen Einfluss in der Stadt, aber derart viele Leibwächter wirkten auf Arkeen übertrieben und weckten in ihm die Vermutung, dass Quendor, wie viele Mächtige, allmählich paranoid zu werden begann.

Vor dem Karawanenführer erschien ein Bediensteter, der sich verbeugte und ihm einen Becher mit dampfendem Kräutertee anbot. Anschließend marschierten sie in das geräumige Wohnzimmer, das mit seinen feinen Teppichen, erlesenen Wandmalereien, vollgestellten Vitrinen und polierten Möbelstücken jedem Palastzimmer zur Ehre gereicht hätte.