Raphael - Mortimer M. Müller - E-Book

Raphael E-Book

Mortimer M. Müller

4,8

Beschreibung

Mein Name ist Raphael. Ich bin äußerlich menschlich, tatsächlich aber ein Vampir. Ein Erzvampir, um die Dinge beim Namen zu nennen. Sie denken, die Menschen sind die Krone der Schöpfung? Falsch gedacht! Wir Erzvampire lenken das Schicksal der Welt, wurden bereits vor Jahrtausenden als Hüter des Gleichgewichts ernannt – und das aus gutem Grund. Manche Unsterbliche kennen nur die Sprache der Gewalt. Andere treibt die Gier nach Macht in den Wahnsinn. Einige schrecken auch nicht davor zurück, Weltkriege zu entfesseln. Und vom drohenden Zeitenwandel will ich gar nicht erst anfangen. --- Ich sehe schon, so wird das nichts. Also alles der Reihe nach. --- Persönlich und pointiert erzählt Raphael von epischen Feindschaften, skurrilen Begebenheiten, sinnlichen Momenten und räumt mit allen Vorurteilen gegenüber Blutsaugern auf. Denn in Wahrheit sind Erzvampire vor allem eins: Die Beschützer der Menschheit ... --- Zum Inhalt: Der Rat der Unsterblichen, angeführt von den acht Erzvampiren, überwacht die Menschheit und sorgt für die Wahrung des Gleichgewichts. Einer von ihnen ist Raphael. Während die Menschen das Potenzial zur Massenvernichtung erlangen und sich dem Informationszeitalter nähern, tauchen beunruhigende Zeichen auf. Unsterbliche verschwinden, düstere Prophezeiungen beginnen sich zu erfüllen und der Rat droht auseinanderzubrechen. Als sich auch noch übermächtige Wesen den Erzvampiren entgegenstellen wird klar: Der Zeitenwandel hat begonnen!

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ZU DIESEM BUCH

Sie denken, die Menschen sind die Krone der Schöpfung und die Herrscher des Planeten? Falsch gedacht! Das Geschick der Sterblichen liegt in den Händen von übersinnlichen Wesen. Der Rat der Unsterblichen, angeführt von den acht Erzvampiren, überwacht die Menschheit und sorgt für die Wahrung des Gleichgewichts. Einer von ihnen ist Raphael. Auf pointierte Weise schildert er seine Erlebnisse seit dem Zweiten Weltkrieg, erzählt von epischen Feindschaften, skurrilen Begebenheiten und sinnlichen Momenten.

Während die Menschen das Potenzial zur Massenvernichtung erlangen und sich dem Informationszeitalter nähern, tauchen beunruhigende Zeichen auf. Unsterbliche verschwinden, düstere Prophezeiungen beginnen sich zu erfüllen und der Rat droht auseinanderzubrechen. Als sich auch noch übermächtige Wesen den Erzvampiren entgegenstellen wird klar: Der Zeitenwandel hat begonnen!

Mortimer M. Müller schreibt seit seiner Jugend Lyrik, Kurzgeschichten und Romane in den Genres Thriller, Fantastik und Satire. Daneben ist er in den kreativen Bereichen Gesang und Fotografie aktiv. Er arbeitet und studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Sein Kitzbühel-Thriller KABINE 14 wurde für den Friedrich-Glauser-Preis 2014, Sparte Debütroman, nominiert.

Mehr Informationen finden Sie unter:

http://blog.mortimer-mueller.at

Weitere Romane des Autors sind in Vorbereitung.

meinem „kleinen“ Bruder Wendelin

der eifrigste Leser und mein schärfster Kritiker

Personen & Geschöpfe

... die Erzvampire

Michaela ~ Trägerin des Chakra

Luzifer ~ Herrscher der Unteren Welt

Gabriel ~ mein streitbarer Bruder

Raphael ~ das bin wohl ich

Eva ~ meine fröhliche Schwester

Israfil ~ meine ängstliche Schwester

Uriel ~ mein verfressener Bruder

Azrael ~ ein Kapitel für sich

... einige Ratsmitglieder

Fenris ~ das Oberhaupt der Werwölfe

Hel & Rhea ~ seine Gefährtinnen

Oberon ~ der König der Elben

Gladwin, Taranis & Lêyron ~ die drei Elbenfürsten

Kronos ~ der oberste Dämon

Huldra ~ eine Anführerin der Trolle

... andere Unsterbliche

Yvaine ~ zweite Tochter von Lêyron

Leandra ~ jüngste Tochter von Gladwin

Quetzal ~ der südliche Kriegsdrache

Tyrann ~ ein Feuerkobold

Yeti ~ ein Waldtroll

Cerberus ~ Torwächter der Unterwelt

Paracelsus & Demokrit ~ Alchimisten in Atlantis

Loreley ~ eine Banshee

Morb ~ der älteste lebende Ghul

Ying & Yang ~ Anführer der Irrwesen

Baal ~ ein wirklich fieser Dämon

Hunabka ~ ein mächtiges Wesen

... relevante Sterbliche

Natascha ~ eine bezaubernde Menschenfrau

... außerdem Öhrchenfeen, Irrwichte, Nachtalben und andere zwielichtige Geschöpfe.

Es blitzt ein Tropfen Morgentau im Strahl des Sonnenlichts; ein Tag kann eine Perle sein und ein Jahrhundert nichts.

Gottfried Keller

Inhaltsverzeichnis

Unsterblichkeit

Der Rat der Unsterblichen

Kriegsdrache & Kubakrise

Yeti

Luzifers Hochzeit

Blutfehde

Zahnschmerzen

Der Erzvampir

Virus

Zu Besuch in Atlantis

Mein kleiner Bruder

Tschernobyl

Friedhofsgeflüster

Das Feenschloss

Das 10te Millennium

Ratlos

Sonnenwind

Knoblauchgulasch

Alte Bekannte

Die Weissagung der Feen

Baal

Schuld & Sühne

Der Zeitenwandel

Unendlichkeit

(1)

Unsterblichkeit

Gestatten, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Raphael. Ich bin äußerlich menschlich, tatsächlich aber ein Vampir. Ein Erzvampir, um die Dinge beim Namen zu nennen. Was Sie hier vor sich sehen, sind die geballten Informationen meiner Erinnerung. Ein Gedächtnis, das Jahrtausende umfasst. Ein Rückblick auf überirdische Wesen, magische Momente und epische Feindschaften, von denen kaum ein Mensch etwas ahnt.

Aber alles der Reihe nach.

Ich bin unsterblich. Das mag Sie nicht überraschen. Trotzdem eine kurze Anmerkung zu dem irreführenden Begriff »Unsterblichkeit«. Dieser meint in der gebräuchlichen Form und gemäß dem universellen Grundsatz Nichts währt ewig, nichts vergeht völlig keineswegs, dass wir nicht sterben können, sondern nur, dass wir niemals Alterungserscheinungen zeigen. So sind wir zwar schwer, aber doch totzukriegen. Erst vor wenigen Jahrhunderten wurde uns diese Tatsache vor Augen geführt, als Iva, eine von uns Ältesten, in einen heimtückischen Hinterhalt geriet und dabei ihr Leben ließ.

Ich finde es faszinierend, welch seltsame Blüten das ewige Leben treibt. Die einen werden von ihm hinweggerafft, verstört und verängstigt von den rasanten Veränderungen der Welt, betrübt durch den unvermeidlichen Tod aller derjenigen, die einst Teil ihres Lebens waren. Andere, die Charakterlosen, schwanken zwischen himmelhohen Jauchzern und tiefschwarzen Depressionen. Manche, die Unersättlichen, suchen fortwährend nach Lust und Vergnügen. Nicht wenige, vor allem Exhibitionisten, Infantile, Tyrannen und Sadisten, streben nach beständig mehr Macht und nur ein ganz kleiner Teil von uns Unsterblichen ist über all diese Verhaltensweisen erhaben.

Bevor Sie die falschen Schlüsse ziehen: Nein, ich assoziiere mich nicht mit der zuletzt genannten Gruppe. Doch nehmen wir Erzvampire unter den Unsterblichen eine Sonderstellung ein. Wir sind zwar nicht die ältesten, wohl aber mächtigsten Wesen auf diesem Planeten. Schon vor Jahrtausenden wurden wir als Wächter ernannt und stiegen zu den Hütern des Gleichgewichts auf. Es ist wenig verwunderlich, dass wir und unsere Handlungen schon in den ältesten Aufzeichnungen der Menschen aufscheinen. Auch viele historische Bauwerke tragen unsere Handschrift.1

Falls Sie sich fragen, wie wir mit den Belangen der sterblichen Menschen umgehen: Bis vor rund dreihundert Jahren haben wir offensiv in ihr Geschick und ihre Entwicklung eingegriffen. Erst mit der Charta von Atlantis sind wir in den Hintergrund getreten, um die Menschen sich selbst zu überlassen. Gelegentlich waren Eingriffe unvermeidlich, Stichwort: Weltkriege, in Summe zeigte sich aber, dass die Menschheit ohne den Einfluss von uns Unsterblichen eine enorme Kreativität und Erfindungsgabe entwickelte, die sich bald unserer Kontrolle entzog. Kann sein, dass wir früher hätten einschreiten sollen. Mittlerweile ist es offensichtlich, dass die Entwicklung auf ein nahes Ziel hinsteuert, das dieses Zeitalter beenden wird.

Weshalb ich das alles schreibe? Um diese Frage zu beantworten, will ich einerseits auf die dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre und andererseits auf ein treffendes Zitat hinweisen, das gerade in der heutigen, schnelllebigen Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnt: Erinnerungen sind die Wesen der Unsterblichkeit.

Davon abgesehen bleibt nicht mehr viel Zeit. Es ist ratsam, den globalen Wandel entsprechend zu würdigen – mit einer umfassenden Datenbank aus den letzten zehn Jahrtausenden.

Nicht, dass Sie denken, dies hier ist schon alles. Es ist bloß ein Sandkorn, ein Auszug, ein Gedankenfragment aus den wenigen Jahren seit dem letzten Weltkrieg.

Aber schließlich muss man irgendwo anfangen.

1 Ihnen ist nicht zufällig die Tempelanlage von Göbekli Tepe ein Begriff? Sie war unsere erste Manifestation in der Menschenwelt, ein regelrechter Tummelplatz für Unsterbliche, und diente uns als Treffpunkt und Versammlungsort. Hier haben wir monumentale Feste gefeiert, fulminante Spiele abgehalten und tabulose Orgien veranstaltet – ach ja, da waren wir noch jung!

(2)

Der Rat der Unsterblichen

Den zweiten Weltkrieg hatte keiner von uns ignorieren können. Spätestens mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mussten wir einsehen, dass die Menschheit eine neue, tödliche Schwelle überschritten hatte. Sie besaß nun das Potenzial zur Massenvernichtung und Zerstörung unseres Planeten.

So wunderte es mich nicht, dass ich wenige Tage nach dem Waffenstillstand zwischen Japan und den USA eine Einladung von Michaela erhielt, in der sie mich um die Teilnahme an der Sitzung des Rates bat. Als Ort der Verhandlung hatte meine große Schwester die Wüste Gobi ausgewählt. In letzter Zeit mussten wir unsere Treffpunkte immer umsichtiger wählen, da einerseits die Zahl der Menschen beständig anstieg und andererseits ihre Fortschritte in Wissenschaft und Technik immens waren.2

Auf die Sekunde zum verabredeten Zeitpunkt landete ich vor dem unterhöhlten Felsmassiv bei Dalandsadgad. Michaela hatte ein Tarnfeld um die Höhle gelegt. Entweder sie fürchtete ungebetene Gäste oder sie wusste etwas, das ich noch nicht wusste – was nicht verwunderlich gewesen wäre; meistens wusste Michaela alles zuerst.

Gemächlich trottete ich durch einen der Stollen in das unterirdische Gewölbe hinab. Eile war keine geboten, denn nicht alle meiner unsterblichen Kollegen waren so pünktlich wie ich.

Umso verblüffter war ich, als ich die Höhle betrat und mir ein mehrstimmiges, mentales »Endlich!« entgegenschlug. Der Rat war bereits vollzählig. Michaela, die wie immer den Vorsitz innehatte, saß rechts, Luzifer3 ihr gegenüber am anderen Ende der Grotte. Während Gabriel und Israfil bei Michaela Platz genommen hatten, waren Uriel und Eva an Luzifers Seite gerückt. Azrael war wie üblich nicht auffindbar.

Zwischen meinen Geschwistern hatten sich die Vertreter der anderen Unsterblichen niedergelassen. Die Liberalen auf der einen Seite: der Elbenkönig und seine drei Fürsten, die fünf Stammeshäuptlinge der Trolle sowie alle vier Urdämonen. Die bbb4- Fraktion markierte die andere Seite: Fenris mit seinen beiden Gefährtinnen und die sieben herrschenden Dunkelalben. Wie immer waren die Frauen des Werwolfes in Menschengestalt erschienen, Fenris hingegen war dem Erscheinungsbild des Wolfes treu geblieben.5

»Du kommst spät«, sagte Michaela trocken.

Ich zwirbelte meinen schneckenhausförmigen Schnurrbart. »Spät? Ich bin keine irdische Minute in Verzug.«

»Wir warten seit einer irdischen Stunde.«

Kurz, aber wirklich nur kurz, erwog ich, ob sich Michaela mit mir einen Scherz erlaubte – doch war sie nicht die Person, die mit anderen Späße trieb. Mein Blick fiel auf Gabriel. Augenblicklich wusste ich Bescheid.

»Hast du nichts Besseres zu tun, als Botschaften an Geschwister zu fälschen?«, fuhr ich ihn an.

»Ich?« Gabriels Miene war die reinste Unschuld. »Wie kommst du denn darauf?«

Michaela ließ keine Eskalation zwischen uns zu. Irgendwie schade, denn ich hätte bereits eine wunderbare Erwiderung auf Gabriels Missetat bereitgehalten.6

»Schluss«, sagte sie bestimmt. »Tragt eure kindischen Reibereien woanders aus.«

Wir schwiegen, doch insgeheim ahnte ich, dass Gabriel nicht besänftigt war. Seine letzte Niederlage vor einigen Jahren brannte ihm wohl nach wie vor auf der Seele.

»Da wir nun vollzählig sind«, begann Michaela, »zunächst eine kurze Erklärung, weshalb ich den Rat einberufen habe. Jeder von euch hat die dramatischen Entwicklungen in den letzten Jahren mitverfolgt und den Abwurf der beiden Atombomben registriert.«

Uriels Mund klappte auf. Er schien etwas entgegnen zu wollen, behielt seine Meldung jedoch für sich.

»Auch konnte ich in den vergangenen dreißig Jahren mehrere beunruhigende Zeichen ausmachen, die auf einen baldigen Umbruch des Zeitalters hindeuten. Darunter fallen Veränderungen der Energiestruktur des Weltenflusses, emotionale Instabilitäten zwischen Unsterblichen, eine Zunahme mentaler Störungen sowie die vermehrte Aktivität von Geistwesen.«

»Das kann ich bestätigen«, meinte Oberon, der König der Elben. »Diese Zeichen sind auch uns nicht verborgen geblieben.«

Michaela nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Meiner Erkenntnis nach dürfte der Zeitenwandel zwischen dem Jahr 2010 und 2030 des gängigen Menschenkalenders stattfinden. Das deckt sich auch mit der Weissagung des Hunabku.«

»Weissagung des Hunabku?« Fenris grollte geringschätzig. »Noch nie davon gehört.«

»Hunabku galt für die menschliche Kultur der Mayas als Göttervater«, erklärte Eva. »Er soll es gewesen sein, der ihnen das Wissen über Sonnenzyklen und das Sternensystem vermittelt hat.«

»Soll?«

»Hunabku ist ein Mythos menschlicher Fantasie.« Michaelas Stimme war sachlich wie immer. »Ich vermute, dass ein mächtiger Dämon hinter diesem Namen steht.«

Ein düsterer Schatten huschte durch den Raum. Alle wussten, wer gemeint war.

»Ich bin der Ansicht«, fuhr Michaela fort, »dass der Zeitenwandel eng mit dem Schicksal der Menschen verknüpft ist, vielleicht durch ihr direktes Zutun eingeleitet wird.«

»Ein dritter Weltkrieg?«, fragte ich.

»Möglicherweise. In jedem Fall ein weltumspannendes, sich innerhalb weniger Jahre vollziehendes Ereignis, das uns genauso betreffen wird, wie die Sterblichen. Aus diesem Grund müssen wir einen gemeinsamen Entschluss fassen, wie wir uns gegenüber dieser Entwicklung verhalten.«

Ein sprachliches und mentales Raunen hob an. Schlussendlich war es Luzifer, der das Wort ergriff: »Wie sicher ist dieser Zeitenwandel?«

Das Flüstern der anderen verstummte, als ihm Michaela einen unnahbaren Blick zuwarf. In der Mitte ihrer Stirn erglühte das Chakra wie ein Sonnenfunken.

»Zweifelst du an meinem Urteilsvermögen?«

Luzifer erwiderte ihren Blick gelassen. »Keineswegs.« Die Farbe seiner beiden Hörner wechselte von einem düsteren Rot zu einem hellen Grün. »Ich will mich nur vergewissern, dass wir keinen Beschluss fassen, der mehr negative Auswirkungen auf das Gefüge der Welt hat, als es ohne unser Zutun geschehen würde.«

»Ich bin mir sicher«, entgegnete Michaela kühl, »dass Millionen sterben werden und die menschliche Zivilisation, wie sie derzeit existiert, ausgelöscht wird, wenn wir nichts unternehmen. Oberon hat mir bereits vor Jahren die gleichen Befürchtungen mitgeteilt und Hunabku sah es ähnlich. Zudem deuten alle Zeichen darauf hin – es sei denn, du bist im Besitz anderer Informationen?« Ihre Augen bohrten sich in Luzifer, wie das Schwert in den bemitleidenswerten Damokles.7

Luzifer betrachtete Michaela noch einen Moment mit verengten Pupillen, schüttelte dann den Kopf und blickte zu Boden.

Niemand konnte sagen, was zwischen Luzifer und Michaela, den beiden ältesten Vampiren, vorgefallen war. Faktum war, dass sie sich seit Jahrtausenden gegenseitig mieden und eine stille Vereinbarung bestand, wonach Luzifer nur selten die Menschenwelt besuchte und Michaela so gut wie nie in die Untere Welt reiste.

»Wann gibt’s was zu essen?«, fragte Uriel.

Diese Bemerkung brach den Bann.

»Ich stimme Michaela zu, was Ausmaß und Zeitpunkt des Umbruchs betrifft«, sagte Oberon. »Aufgrund der zahlreichen Hinweise können wir davon ausgehen.«

»Ja«, meinte Kronos, das Oberhaupt der Dämonen, mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme.

»Wir geben klar Schiff«, kam von Huldra, der Sprecherin der Trolle8.

Fenris murmelte Unverständliches und die Dunkelalben schwiegen wie üblich. Damit war Luzifers Einwand vom Tisch.

Michaela warf einen Blick in die Runde. »Gibt es Vorschläge, wie wir vorgehen sollen?«

Oberon erhob sich. »Wir sind gemäß der Charta von Atlantis der Ansicht, dass es uns nicht zusteht, die Menschen in irgendeiner Form zu beeinflussen. Unserer Meinung nach müssen die Sterblichen ihre Probleme selbst lösen. Wenn das in ein neues Zeitalter führt, dann soll es so sein.«

Fenris stieß ein hartes, bellendes Lachen aus, verstummte aber, als ihm Michaela einen scharfen Blick zuwarf.

»Fahre fort«, wandte sie sich an Oberon.

»Wir schlagen folgende Strategie vor: Weitgehender Rückzug aus der Menschenwelt sowie Ausweitung und bessere Absicherung der Gebiete von Atlantis. Der Kontakt zwischen den Welten sollte auf ein Minimum reduziert werden. Ferner sind wir für die Evakuierung einer ausgewählten Anzahl von Menschen, etwa im Fall eines atomaren Krieges.«

»Lächerlich«, sagte Fenris; und diesmal ließ er sich von Michaelas verärgert aufblitzenden Augen nicht beeindrucken. »Warum die Zerstörung des Planeten in Kauf nehmen, wenn wir es verhindern können?«

Dieses Argument hatte etwas, fand ich.

»Ich sehe nur eine einzige logische und sinnvolle Alternative«, fuhr Fenris fort. »Wir müssen die Menschen dazu bringen, vernünftig zu werden. Notfalls mit Gewalt.«

»Damit du deinen Machthunger und Blutdurst stillen kannst?«

Schlagartig verdunkelte sich die Höhle, ein eisiger Luftzug strich über unsere Häupter und ich vernahm das metaphysische Knistern energetischer Kompressionen. Es war Gladwin, der mächtigste der Elbenfürsten, der gesprochen hatte. Furchtlos blickte er dem Werwolf entgegen.

»Nimm das zurück, Elb!«, fauchte Fenris und seine Augen nahmen die Farbe glühender Kohlen an. Der Werwolf war – wie viele seiner Art – ein vollblütiger Choleriker, der mit seinen Wutausbrüchen jeden Fußballtrainer in den Schatten gestellt hätte. Hinzu kam, dass Fenris und Gladwin seit jeher verfeindet und bereits des Öfteren aneinander geraten waren. Sie hassten sich mehr, als unter den verschiedenen Arten von Unsterblichen ohnehin üblich.

»Aus!«, donnerte Michaela. Eine etwas unglückliche Wortwahl, wenn man Fenris’ derzeitige Gestalt berücksichtigte. Michaela warf Fenris und Gladwin einen durchdringenden Blick zu. Ihr Chakra9 erglühte erneut, kräftiger als zuvor. Mit einer Bewegung ihres Arms vertrieb sie die Dunkelheit und Kälte aus der Höhle und zerschmetterte den bedrohlich gewachsenen Ball negativer Energien.

»Gladwin und Fenris, haltet euch an die Regeln des Rates, sonst werde ich euch der Sitzung verweisen.«

Die Angesprochenen schwiegen. Gladwin löste den Blick von seinem Widersacher. Einem aufgebrachten Werwolf weiter in die Augen zu sehen, wäre auch ziemlich töricht.10 Bei Fenris dauerte es eine Weile, bis das Glühen in seinen Augen verblasste. Er ließ sich auf seine Hinterläufe zurücksinken und stieß ein letztes, kehliges Knurren aus. Ich hatte die dunkle Ahnung, dass Fenris die vorherige Beleidigung nicht auf sich beruhen lassen und, früher oder später, auf Rache sinnen würde.

»Wir haben nun zwei sehr verschiedene Standpunkte vernommen«, meinte Michaela so ruhig, als hätte es keine Differenzen gegeben. »Ich will euch einen weiteren Vorschlag unterbreiten. Völlige Kontrolle der Menschen empfinde ich nicht als adäquates Mittel, um unserer Aufgabe als Hüter des Gleichgewichts gerecht zu werden.«

Fenris konnte es bei diesen Worten nicht lassen, ein abfälliges Fauchen von sich zu geben.

»Ebenso wenig halte ich davon, die Menschen in ihrem Drang nach Selbstzerstörung gewähren zu lassen. Vor allem deshalb, weil wir bekanntlich nicht nur Wächter, sondern auch die Beschützer der Menschheit sind. Daher lautet mein Vorschlag: Umfassende Überwachung der menschlichen Entwicklung durch niedere Elementarwesen und maskierte Unsterbliche, um im Ernstfall rechtzeitig angemessene Maßnahmen zum Schutz des Planeten und der menschlichen Spezies setzen zu können.«

»Die Charta von Atlantis sieht eindeutig vor, dass wir keine direkten Eingriffe in das Geschick der Menschen vornehmen«, wandte Oberon ein.

»Mag sein. Aber damals gab es weder Atomwaffen, noch hat sich ein Ende des Zeitalters abgezeichnet. Auch könnte ich mir vorstellen, dass direkte Eingriffe, wie es bereits die Weltkriege gezeigt haben, nicht nötig sein werden.«

»Dennoch müssen wir darüber abstimmen«, meinte Oberon, der seinerzeit die treibende Kraft der Charta von Atlantis gewesen war.

»In Ordnung.« Michaela nickte. »Wer ist dafür, der Menschheit einer umfassenderen Kontrolle sowie Überwachung zu unterziehen und im Fall einer weltweiten Gefährdung indirekte Maßnahmen wie Einflüsterung oder Gemütsdämpfung zu setzen?«

Wie üblich wurde das Votum auf mentalem Weg durchgeführt. Wie üblich enthielten sich die Trolle ihrer Stimmen. Wie üblich wurde Michaelas Antrag angenommen. Nur Oberon und seine Fürsten stimmten dagegen. Danach folgte eine lautstarke Debatte über die Einzelheiten zu Michaelas Vorschlag, auf die ich hier nicht näher eingehen will.11

Die Ratssitzung zog sich über dreißig irdische Stunden, war also außergewöhnlich kurz. Sie endete mit dem Beschluss, die Tarn- und Schutzvorrichtungen in Atlantis zu verbessern. So wurde unter anderem festgelegt, dass das telekinetische Quantengitter verfeinert werden sollte, um selbst dem direkten Treffer eines atomaren Sprengkopfes standhalten zu können.

Schlussendlich, als alle Fragen geklärt waren, folgte die traditionelle Verabschiedung von Michaela: »Lebt wohl und bis zur nächsten Katastrophe.«

Fenris und seine beiden Gefährtinnen waren die ersten, die die Sitzung verließen. Diesmal aber nicht so spektakulär wie gewöhnlich. Rhea und Hel verwandelten sich in zwei Feuer speiende Drachen, nahmen Fenris zwischen sich und entschwanden durch einen aufklaffenden Felsspalt.

Kronos und seine drei dämonischen Begleiter erhoben sich wie ein Mann und stiegen hinab in die Untere Welt. Die Urwesen waren Kolosse aus Muskeln und rötlichem Fleisch, ausgestattet mit Raubtiergebissen und Klauenhänden. Lilith, die einzige Frau unter ihnen, besaß diesmal vier Arme.12

Nach den Dämonen folgten die Trolle, welche die unterirdische Halle im Gänsemarsch und unter den lautstarken Befehlen von Huldra13 durch den Haupteingang verließen. Als ich mich ihnen anschließen wollte, sandte mir Michaela eine kurze, unhörbare Nachricht, die mich dazu veranlasste, noch einen Moment in der Höhle zu warten. Sobald die anderen den Ort der Ratssitzung verlassen hatten, nahm mich Michaela beiseite.

»Raphael, ich habe eine Aufgabe für dich. Zuerst wollte ich sie Gabriel anvertrauen, aber meinem Gefühl nach bist du die bessere Wahl.«

Ich blieb stumm und gab Michaela auf telepathischem Weg mein Einverständnis.

»Du sollst in ein Land reisen, das demnächst im Zentrum des menschlichen Interesses stehen wird. Bist du bereit dazu?«

Ich lächelte, als mir Michaela die Aufgabe mitteilte. »Selbstverständlich. Ich liebe Kirchen.«

2 Trotz verschiedener Vorsichtsmaßnahmen, wurden unsere Treffen bereits vor Jahrtausenden von den Menschen beschrieben – so nannten ihn die alten Sumerer Anunna, den »Göttlichen Ältestenrat«. Bis heute konnte ich nicht in Erfahrung bringen, welcher Unsterbliche die Tatsache unserer Herrschaft den Menschen verraten hat – allerdings tippe ich auf Eva (aus Mitleid), Gabriel (aus Dummheit) oder Fenris (aus Bosheit).

3 Er ist kein gefallener Engel (Engel gibt es nicht mehr), sondern der älteste von uns Brüdern.

4 blutrünstig, blasiert, blöd

5 Genau genommen müsste es ja heißen: Der Rat der ausgewählten Unsterblichen. Letztendlich waren einige unsterbliche Geschöpfe, beispielsweise Geistwesen, Feen, Kobolde oder Ghule, nicht eingeladen.

6 Schon mal unter zehn Tonnen uranhaltigem Gestein begraben worden? Das juckt unerträglich.

7 Entgegen der Legende kam er nicht mit dem Leben davon, sondern wurde von Dionysios Schwert geköpft, als sich eine Stubenfliege auf dem Knauf der Waffe niederließ; und nein, das mit der Fliege war Gabriels Idee, nicht meine.

8 Die meisten Trolle beherrschen selbst mental nur ihre eigene Sprache, die im Wesentlichen aus fünf verschiedenen Grunz- und drei Rülpslauten besteht.

9 Dieses Chakra, von den Sterblichen auch Drittes Auge genannt, ist eine Art Energiequelle, welche Michaela mit enormer Macht ausstattet und sie zur unangefochtenen Leiterin des Rates werden lässt. Niemand von uns übrigen Geschwistern, auch kein anderer mir bekannter Unsterblicher, hat ein solches Chakra.

10 Ich erinnere mich an einen Fall, als ein römischer Cäsar ausgerechnet bei einer öffentlichen Rede diesen Fehler beging und nach seinem plötzlichen Ableben von einem unsterblichen Doppelgänger gemimt werden musste. Nach wenigen Wochen war Gabriel mit den Nerven am Ende und wir mussten seine, respektive Julius’ Ermordung inszenieren.

11 Ich glaube nicht, dass es von Interesse ist, welchen und wie vielen Elementargeistern, an welchen Orten und in welchem Zeitraum, zu welchem Zweck und in welchem Zustand, Aufgaben zuteilwurden und wie oft – nämlich siebenundzwanzig Mal – Uriel erfolglos nach einer Unterbrechung der Diskussion zwecks Nahrungsaufnahme verlangte.

12 Ich erinnere mich an ein blamables Erlebnis, als sie mich verführen wollte und ich angesichts ihrer neun anschwellenden Brüste meine Männlichkeit nicht in den Griff bekam. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie es nicht herumerzählt hat.

13 »Ma-harrsch, ihr Teddybären!«

(3)

Kriegsdrache & Kubakrise

Su Excelencia!«

Es war Pédro, ein junger Priester der Kathedrale, der mit Tränen in den Augen auf mich zugestürmt kam und sich schluchzend vor mir auf die Knie warf.

»Las americanos…«

Ich strich Pédro übers Haupt und gebot ihm, sich zu erheben.

»¿Qué ha pasado? – Was ist geschehen?«, erkundigte ich mich, obwohl ich klarerweise längst wusste, was vorgefallen war.

Pédro schluchzte noch lauter und es währte einige Sekunden, bis er, unterbrochen von weiterem Geplärre und Geheule, folgenden Satz zusammenbrachte: »Ein… plärr… Flugzeug der… snief… Amerikaner wurde… heul… abgeschossen.«

»Aha.«

»Jetzt… jammer… drohen die Amerikaner mit einem Atomkrieg!«

Ich tat unglaublich erschrocken und murmelte: »Oh mein Gott…« Am liebsten hätte ich den larmoyanten Pédro mit einem kräftigen Fußtritt aus der Kirche befördert.

»Wir… wimmer… brauchen Euren Beistand, Exzellenz!«

Das war meine Gelegenheit, dem Geflenne des jungen Geistlichen zu entkommen.

»Ja, du hast recht.« Ich trat einen Schritt zurück. »Verkünde überall, dass in einer halben Stunde ein außerordentlicher Gottesdienst stattfindet. Mit dem Beistand des Herrn werden wir den Dämon des Krieges bändigen!«

Pédros feuchte und gerötete Augen waren voller Zweifel. »Meint Ihr tatsächlich, Exzellenz, dass…«

»Wo bleibt dein Vertrauen zu Gott?«, donnerte ich. »Hat er uns in den letzten Jahren nicht vor jedem Unglück bewahrt?«14

Pédro senkte hastig den Blick und murmelte: »Sí, naturalmente…«

»Dann tu, was ich dir gesagt habe.«

Pédro nickte ergeben und hastete aus der Basilika.

Von dem nichts ahnenden Tor befreit, konnte ich mich den wirklich dringenden Problemen widmen. Ich wandte mich um und eilte in die Sakristei der Kathedrale zurück.

»Lagebericht!«, brüllte ich, sobald ich über die Schwelle des Vorzimmers und durch das unsichtbare Elementenkraftfeld getreten war.

Ein bläulicher, meterlanger Blitz zuckte durch den Raum, orangerote Flammen züngelten aus dem felsigen Untergrund und eine winzige, strahlend helle Gestalt löste sich von der gegenüberliegenden Wand und torkelte auf mich zu.

»Die Kraft Quetzals ist um zehn Äonen gestiegen«, berichtete Tyrann, der Feuerkobold, und erhob sich aus den verlöschenden Flammen. »Noch hat er nicht aktiv in den Energiefluss eingegriffen.«

Ich nickte und wandte mich Niplukk zu.

»Kennedy hält ein Pläuschchen mit gaaanz wichtigen Persönchen«, sagte die in der Luft schwebende Öhrchenfee und wedelte mit ihren riesigen, muschelförmigen Lauschorganen. »Ich glaube nicht, dass er sich bald entscheiden wird, die Emotiönchen sind zu geradlinig. Chruschtschow schweigt und hört sich die Standpünktchen seiner Generälchen an. Aber auch bei den Rüsschen spüre ich keine akute Gefahr.«

»Na hoffentlich.« Ich sah mich nach meinem dritten Diener um. Der namenlose Irrwicht15 sagte nichts, torkelte orientierungslos durch den Raum und knallte gegen einen Wandschrank, sodass sämtliches Geschirr ein verängstigtes Klapper-Konzert anstimmte.

»Irrwicht – hierher!«

»Irrwicht, Irrwicht«, keifte das Ding und wackelte in meine Richtung. »Ich habe einen Namen, ich heiße Bo!«

»Du bist ein Irrwicht, du besitzt keinen Namen.«

»Mein Name ist Bo!«

»Das stimmt nicht. Irrwichte sind…«

»Nein!« Die schrille Stimme des Irrwichts glich dem Pfeifen eines Schnellzugs. »ICH-HEISSE-BO!!«

Irrwichte sind launisch, eigensinnig, verschlagen, orientierungslos, stur, vergesslich, eitel – aber es gibt eine

positive Eigenschaft, die all diese negativen Aspekte auszugleichen vermag.

»In Ordnung, Bo«, sagte ich derart gleichmütig, dass selbst der Irrwicht die unausgesprochene Bedrohung registrieren musste. »Wie sehen die kommenden Stunden aus?«

Auch wenn Irrwichte sonst keine hilfreichen Fähigkeiten besitzen – ihre seherische Gabe, besonders was kurzfristige Ereignisse anbelangt, ist außergewöhnlich.

»Goldig!« Der Irrwicht verzog seine rissigen Lippen zu einem Grinsen. »Ein goldfarbener Sonnenuntergang geleitet uns in den windstillen und lauen Abend. Die Vögel zwitschern, das Meer ist ruhig und die Menschen tanzen fröhlich und ausgelassen durch die Straßen.«

»Kein Krieg? Keine Bomben?«

»Neeeiiin!« Der Irrwicht plusterte sich auf, wie ein Käuzchen im Winter. »Die großen Schiffe haben sich zurückgezogen, wonnevolle Ruhe liegt über der Stadt und der zarte Duft nach Ananas, schäumendem Meerwasser und frisch gemähtem Gras treibt durch die Gassen wie ein milder Hauch von…«

»Danke, das genügt.«

Ich warf meinen Dienern einen strengen Blick zu. »Für euch alle gilt: Meldet mir jede markante Änderung oder Verschärfung der Situation. Solange das nicht der Fall ist, möchte ich ungestört bleiben.«

Tyrann, der Feuerkobold, verbeugte sich höflich und diffundierte in einem Flammenball. Niplukk salutierte keck, verwandelte sich in einen weiß glühenden Kometen und fuhr durch die Zimmerdecke der Sakristei.

»Äh…«, begann der Irrwicht.

»Raus!«, brüllte ich mit solchem Stimmaufwand, dass die Wände der Kirche wackelten. Einen Augenblick später war der Irrwicht verschwunden.

Ich nahm telepathischen Kontakt zu Michaela auf. Sie hatte nichts Neues zu berichten. Ihre Diener bestätigten im Wesentlichen bloß, was ich von meinen Gehilfen bereits erfahren hatte. Auch waren Michaelas simple Manipulationsversuche, wie Einflüsterung, Zeichensetzung oder Aggressionsabsorption, bislang ohne Erfolg geblieben.

Alles in allem war ich nach unserem Gespräch nicht unbedingt von einer Entspannung der Lage überzeugt. Allein das Auftauchen von Quetzal, dem Südlichen Kriegsdrachen, sprach dagegen. Deshalb beschloss ich meine Studien zum MKA16 fortzuführen, mit dessen Hilfe ich, wenigstens theoretisch, jede abgeschossene Atomwaffe noch vor dem Einschlag in seine Elementarteilchen zerlegen konnte.

Als ich gerade über eine geeignete, geistige Alarmvorrichtung nachsann, erschien unvermittelt Tyrann im Zimmer.

»Quetzal hat auf das Energienetz der Auseinandersetzung zugegriffen«, sagte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.17

Niplukk und der Irrwicht hatten ebenfalls Gestalt angenommen. Offenbar war ihnen, im Gegensatz zu mir, die Erschütterung des Weltengitters nicht entgangen.

»Bo!«, brüllte ich dem Richtung Kellertreppe davonirrenden Irrwicht zu. »Komm her!«

Das Wesen warf mir einen schiefen Blick zu. »Bo? Wer ist Bo?«

»Irrwicht!«, donnerte ich.

»Is’ ja schon gut«, quäkte die Leuchtknolle und näherte sich mir in Schlangenlinien. »Immer diese Hektik, nie kann man sich…«

Meine Stimme dröhnte durch die Sakristei, als wäre die erste Atombombe soeben über unseren Köpfen detoniert. »WAS SIEHST DU?«

Für einige Atemzüge herrschte gespenstische Stille.

»Ich… sehe nichts.« Die Stimme des Irrwichts war kaum mehr als ein Hauch. »Es ist, als wäre überall undurchdringlicher Nebel.«

Das hatte ich befürchtet. Somit war erneut alles offen, die Beilegung des Konflikts zwischen Russland und den USA ebenso wahrscheinlich, wie ein weltumspannendes, atomares Armageddon.

Im diesem Moment erklang ein scheues Klopfen an der Tür der Sakristei und ich vernahm Pédros verunsicherte Stimme: »Exzellenz?«

Der junge Geistliche musste eine dringliche Mitteilung haben oder aber große Furcht empfinden, sonst wäre er kaum über den äußeren Bannkreis an meine Tür gelangt.

»Ja, Pédro?«

»Die… Kirche ist voll«, murmelte der Priester. »Die Menschen… haben Angst. Sie sagen, dass… die Amerikaner die Bombe gezün...«

»Ich komme in einer Minute«, unterbrach ich Pédro und wandte mit dem Feuerkobold zu. »Tyrann, du musst Quetzal dazu bringen, seine Aufmerksamkeit auf die Kathedrale zu richten.«

»Wie soll ich…«

»Bewirf ihn mit Feuerbällen, kneif seinen Schwanz, kitzle seine Fußsohlen – ist mir egal. Hauptsache, es funktioniert.«

Tyranns Dämonengesicht erschlaffte wie ein aufgehendes Soufflé im Eisschrank. Quetzal herauszufordern, war in der Mehrzahl der Fälle tödlich. Doch wagte der Kobold keinen Einwand. Er nickte stumm und entschwand in einem blauen Flammenmeer.

»Niplukk, ich möchte, dass du ständigen mentalen Kontakt zu mir hältst. Sollten die Amerikaner oder Russen eine Entscheidung treffen, will ich das augenblicklich erfahren.«

Die Öhrchenfee schrumpfte auf die Größe eines Glühwürmchens und verbarg sich in meinem Hemdsärmel.

»Was ist mit mir?«, quietschte der Irrwicht.

Ich ignorierte die leuchtende Riesenkartoffel und warf mir das Gewand für die anstehende Messe über. Bevor ich die Sakristei verließ, sandte ich Michaela eine kurze Botschaft, in der ich ihr meine geplante Vorgehensweise mitteilte.

Pédro hatte mit seiner Angabe, die Kirche sei voll, etwas untertrieben. Die Kathedrale platzte aus allen Nähten. Die Menschen standen dicht gedrängt wie die Sardinen im Öl, hockten auf Fenstersimsen, Statuen und selbst auf der Messorgel. Zweitausendsiebenhundertachtunddreißig Menschen konnte ich zählen. Das war ein neuer Rekord, seitdem ich vor zwanzig Sonnenzyklen die Funktion des Bischofs übernommen hatte.

Ich trat hinter den Altar, streckte die Arme aus und warf einen ehrfürchtigen Blick zur Decke der Basilika empor. Es dauerte wenige Atemzüge, bis die nervösen Stimmen in der Halle verklangen und Pédro mit zwei weiteren Gottesdienern hinter mich trat.18

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen«, hob ich an und vollzog das christliche Kreuzzeichen. »Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters. Dieses Zeitalter kann Krieg und Vernichtung oder Frieden und Erneuerung bedeuten. Die Entscheidung darüber fällt in wenigen Minuten.«

Ich wählte meine Stimme so, dass sie kräftig und überzeugend klang und die gesamte Kathedrale erfüllte. Ein Raunen lief durch die Menge, als meine letzten Worte verklungen waren.

»Ja, die Gefahr ist groß«, sprach ich weiter. »Der Dämon des Krieges sitzt in unserem Nacken. Er ist nah, sehr nah.«

Als wäre dies das Stichwort gewesen, spürte ich die Annäherung eines mächtigen Wesens. Tyranns Annäherungsversuche schienen erfolgreich gewesen zu sein.

»Wir müssen alle zusammenhalten, unsere Gebete für Frieden und unseren göttlichen Glauben vereinen, um dieses Ungeheuer zu vertreiben.«

Ein rot glühender Feuerball brach durch die Decke der Kathedrale, brauste durch das halbe Kirchenschiff und zerplatzte über dem Elementenkraftfeld der Sakristei. Tyrann war Quetzal nur um Feenflügelbreite entronnen, denn im selben Moment manifestierte sich der gewaltige Schädel des Kriegsdrachen im Dachbereich der Basilika. Die Menschen in der Kirche hatten weder den Feuerball wahrnehmen können, noch konnten sie den Drachen sehen. Allerdings fühlten sie die Veränderung des energetischen Gefüges, denn abermals wurde furchtsames Gemurmel laut und nicht wenige Blicke wanderten zum Kirchendach.

Sieh an, Raphael, nahm der Kriegsdrache telepathischen Kontakt zu mir auf. Du steckst also hinter diesem heimtückischen Angriff.

Heimtückischer Angriff? Ich mimte das Unschuldslamm. Davon weiß ich nichts.

Laut sagte ich, an die Menschen in der Kirche gewandt: »Nehmt euch an den Händen und wir werden eine machtvolle Botschaft an den Heiligen Vater schicken, diesen Krieg nicht geschehen zu lassen.«

Raphael, tadelte Quetzal. Was soll das werden?

Da fühlte ich, wie Niplukk Zugang zu meinem Bewusstsein verlangte.

Die Botschafterchen sind zusammengetroffen und sprechen miteinander, teilte mir die Fee mit. Keiner will nachgeben.

Es wurde knapp. Verdammt knapp. Ich musste Michaela mehr Zeit verschaffen.

Ich verstehe deine Gelüste, den bevorstehenden Krieg in vollen Zügen zu genießen, sandte ich an Quetzal. Leider würde ein Atomschlag den Planeten und seine Bewohner massiv in Mitleidenschaft ziehen, gewissermaßen auch uns Unsterbliche gefährden. Deshalb ersuche ich dich, von einer Beeinflussung des Energiegefüges Abstand zu nehmen.

Quetzal lachte. Es war ein ganz und gar freudloses Lachen, ohne jegliches Verständnis oder Mitgefühl.

Deinen Rang als Wächter in Ehren, Raphael, aber du solltest wissen, dass ich deine Bitte nicht erhören werde.

Und wenn es keine Bitte war?

Drohst du mir etwa?

Schlagartig halbierte sich das Licht in der Kathedrale, was mit einem vereinten Aufschrei der versammelten Menschen kommentiert wurde.

»Der Moment ist gekommen«, sagte ich laut und faltete die Hände zusammen, wie im Gebet. »Vater im Himmel, wir bitten dich um Beistand in dieser schweren Stunde. Hilf uns, den Kräften Satans zu widerstehen und den drohenden Konflikt zwischen Russland und den USA zu verhindern. Wir sind voller Zuversicht, dass…«

Während ich diese Litanei zum Besten gab, galt meine energetische Aufmerksamkeit Quetzal und dem Gebäude der Kathedrale. In wenigen Augenblicken würde sich der Kriegsdrache zurückziehen. Ich hatte also keine Wahl.

Das ist keine Drohung, teilte ich Quetzal mit. Ich habe etwas Besseres.

Ein bläulich funkelndes, vibrierendes Netz reinster Energie flammte an der Innenseite der Kirchenwände auf. Es handelte sich um ein multigravimetrisches, subelementares Fangnetz – das stärkste, das ich jemals geschaffen hatte.

Quetzal fauchte verblüfft und riss den Kopf zurück. Eine Schockwelle brandete durch die Kathedrale, zahlreiche Personen wurden zu Boden geschleudert, die übrigen wandten sich kreischend zur Flucht. Eilig sandte ich einen Schwall beruhigender Endorphine in das Kirchenschiff. Noch durften die Menschen das Gotteshaus nicht verlassen.

»Bleibt!«, donnerte ich. »Gegen die Allmacht Gottes verblasst die Stärke des Dämons!«

Die Menge stockte und folgte meinem Blick zur Decke der Basilika. Fauchende Blitze wirbelten um Quetzals verzerrtes Gesicht, das nun auch für Menschen sichtbar geworden war.

Ich werde dein Bannschild zerfetzen, grollte Quetzal mit einer Stimme, als würden Gebirge zusammenbrechen. Die Erschöpfung in seiner Stimme entging mir aber nicht. Glücklicherweise hatte der Kriegsdrache noch nicht ausreichend Stärke aufgenommen, um gegen mein Energienetz zu bestehen. Er war gefangen, steckte mit seinem Schädel in der Kirche fest, wie eine Maus in der Mausefalle.

Das wird dir nicht gelingen. Trotz der energetischen Belastung schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. In diesem Raum wirst du deine Macht nicht vermehren können. Hier will niemand den Krieg.

Quetzal brüllte, rasend vor Zorn, und bemühte sich abermals, den Kopf aus der unsichtbaren Schlinge zu ziehen – doch das Fangnetz hielt.

»Dämon!«, rief ich so laut, dass sich alle Blicke auf mich richteten. »Ich befehle dir im Namen Gottes, deine schändliche Tätigkeit einzustellen und zurück in die Hölle zu fahren!«

Du hast die Wahl, Quetzal. Entweder hier für Jahrzehnte gefangen bleiben – denk dabei an die zahlreichen, kriegerischen Auseinandersetzungen, die du in dieser Zeit versäumst – oder dein Versprechen, dich von dem jetzigen Konflikt zurückzuziehen.

Es folgte eine derart atemlose Stille, dass die plötzliche Leere selbst mir einen kribbelnden Eishauch über den Nacken jagte.

In Ordnung. Ich verspreche es. Aber dein Handeln wird ein Nachspiel haben.

Diese Drohung bereitete mir keine Sorgen. Mit einer dramatischen Geste löste ich das Fangnetz um Quetzals Schädel. Der Kriegsdrache stieß einen letzten, ohrenbetäubenden Schrei aus und verschwand in einem bläulichen Nebel aus feinen Kristallen, die wie Schneeflocken von der Kirchendecke zu Boden sanken.

Ich geduldete mich einige Sekunden, bis wirklich alle Menschen in der Kirche das Geschehen realisiert hatten.

»Der Dämon ist besiegt«, sagte ich mit fester Stimme. »Es wird kein Krieg stattfinden.«

Um meine Worte zu unterstreichen, ließ ich den Blick wirken, was vollkommen ausreichend war, um die menschliche Meute zu überzeugen. Beispielloser Jubel hob an, den ich, zugegeben, genoss, wie ein wärmendes Sonnenbad im Frühling.

»Está imenso!« – Er ist unermesslich!

»Un profeta!« – Ein Prophet!

»Milagro!« – Wunder!

»El Mesías!« – Der Messias!

Das waren nur einige der euphorischen Rufe, die an mein Ohr drangen. Ich senkte zwar dankend das Haupt, wusste aber aus eigener Erfahrung, wie trügerisch diese Liebesbekundungen waren. Im ersten Moment waren die Menschen voller Lob und Dankbarkeit, im nächsten warfen sie dich auf einen lodernden Scheiterhaufen.

Offenbar stehen sie vor einer Einigung, drang Niplukks Stimme in meinen Geist. Die Atomwäffchen sollen aus Kuba und der Türkei abgezogen werden.

Wenn Niplukk das Wort offenbar benutzte, gab es kaum noch Zweifel. Beruhigt führte ich den Gottesdienst zu Ende und zog mich unter fanatischem Jubel der Menschen in die Sakristei zurück. Von Niplukk erfuhr ich, dass Papst Johannes Paul entscheidend an der Einigung der beiden Großmächte beteiligt gewesen war; nicht weiter verwunderlich, hatte er doch tatkräftige Unterstützung von Unsterblichen erhalten.

Tyrann zeigte sich nicht mehr. Er war wohl eingeschnappt, dass ihm mein Auftrag um ein Haar das Leben gekostet hätte. Den Irrwicht schickte ich nach einer unerhörten Wortmeldung19 auf den Friedhof zurück, wo ich ihn gefangen hatte. Und schlussendlich ergriff ich die Gelegenheit, Pédro von seiner Sentimentalität20 zu erlösen. Ich lockte ihn in die Sakristei, saugte ihn bis zum letzten Tropfen aus und verbrannte seine Überreste zu einem Häufchen Asche.21 Sein Blut war zwar nicht das Beste, aber es füllte meine strapazierten Energiereserven auf.

Am nächsten Morgen war meine Aufgabe abgeschlossen. Russland und die USA hatten eingelenkt, das energetische Gefüge fand sein Gleichgewicht wieder und die Truppenverbände begannen den Abzug.

Nach Rücksprache mit Michaela beschloss ich, mir den längst überfälligen Urlaub zu gönnen. Ich erhob mich in die Lüfte, klaubte zwei hübsche Kubanerinnen von der Straße, ließ Zigarren, Marihuana und die Catedral de La Habana unter mir zurück, und wandte mich nach Norden.

Es wurde Zeit für ein wenig Abkühlung.

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