Einöde 12 - Mortimer M. Müller - E-Book

Einöde 12 E-Book

Mortimer M. Müller

0,0

Beschreibung

Nach dem Horror in der Seilbahnkabine in Kitzbühel und den dramatischen Ereignissen auf Teneriffa finden die Überlebenden allmählich in ihren Alltag zurück. Auch die Polizei schließt den Fall ab, sind doch beide Gewaltverbrecher getötet worden. Aber das Böse schläft nicht. Etwas hat überlebt - und verlangt nach grausamer Vergeltung. Im Schatten des Teide auf Teneriffa laufen die Vorbereitungen für den ultimativen Rachefeldzug. Während der Mörder seine Pläne schmiedet und die ahnungslosen Opfer in seinen Bann zieht, gerät der Planet in Aufruhr. Das Böse hat die Urgewalt des Feuers geweckt und in seinem Toben mehren sich die Anzeichen, dass der Menschheit eine Katastrophe bevorsteht ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 237

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZU DIESEM BUCH

Nach dem Horror in der Seilbahnkabine in Kitzbühel und den dramatischen Ereignissen auf Teneriffa finden die Überlebenden allmählich in ihren Alltag zurück. Auch die Polizei schließt den Fall ab, sind doch beide Gewaltverbrecher getötet worden.

Aber das Böse schläft nicht. Etwas hat überlebt – und verlangt nach grausamer Vergeltung. Im Schatten des Teide auf Teneriffa laufen die Vorbereitungen für den ultimativen Rachefeldzug. Während der Mörder seine Pläne schmiedet und die ahnungslosen Opfer in seinen Bann zieht, gerät der Planet in Aufruhr. Das Böse hat die Urgewalt des Feuers geweckt und in seinem Toben mehren sich die Anzeichen, dass der Menschheit eine Katastrophe bevorsteht …

EINÖDE 12 – ENDZEIT ist nach KABINE 14 und 13 GEBOTE der dritte Teil der Zahlentriller-Reihe. Der vierte und letzte Band erscheint voraussichtlich Ende 2017.

Mortimer M. Müller schreibt seit seiner Jugend Lyrik, Kurzgeschichten und Romane in den Genres Thriller, Fantastik, Unterhaltung und Satire. Daneben ist er begeisterter Sportler, Waldliebhaber, Sonnenanbeter und in den kreativen Bereichen Gesang und Fotografie aktiv. Er arbeitet und studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Sein Kitzbühel-Thriller KABINE 14 wurde für den Friedrich-Glauser-Preis 2014, Sparte Debütroman, nominiert.

Mehr Informationen finden Sie unter:

http://blog.mortimer-mueller.at

Weitere Romane des Autors sind in Vorbereitung.

Die beschriebenen Personen, Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

meiner Großmutter Eva

die dafür gesorgt hat

dass ich mich (meistens) anständig benehme

HAUPTPERSONEN

Josef

Briefträger in Saalfelden, Salzburg

Trude

seine Frau

Ferdinand

Architekt aus Wien

Lydia

Ferdinands Schwester

Julius

Psychotherapeut, befreundet mit Ferdinand

Raphael

Doktorand aus München

Sonja

seine Frau, Studentin

Emma

Krankenpflegerin aus Südtirol

Matteo

ihr Ehemann, Chirurg

Bernhard

Kriminalkommissar aus Bayern, Sonjas Vater

Gottfried

Ehemaliger Polizeipräsident, Bernhards Vater

Mathias

Bayerischer Polizeivizepräsident

Sandra

sechzehnjährige Schülerin aus Hamburg

Lorenz

Abiturient aus Hamburg

Lena

Vulkanologin am Helmholtz-Zentrum Potsdam

Patrick

Vulkanologe, Lenas Arbeitskollege

Rolf

Seismologe in Potsdam

Henry

Wetterbeobachter aus Kanada

Inhaltsverzeichnis

Österreich, Salzburg, Saalfelden

Deutschland, München, Untergiesing-Harlaching

Italien, Südtirol, Schlanders

Wien, Hernals

Bayern, Straubing, Polizeipräsidium Niederbayern

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Südtirol, Schlanders

Kanada, Québec, Percé

Kanarische Inseln, Teneriffa, Icod de los Vinos

Wien, Währing

München, Untergiesing-Harlaching

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

München, Justizpalast

Südtirol, Schlanders

Salzburg, Saalfelden

Teneriffa, Icod de los Vinos

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Bayern, Straubing, Polizeipräsidium Niederbayern

Wien, Donaustadt, Seestadt Aspern

München, Obersendling

Teneriffa, nordwestlich des Teide-Massivs

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Südtirol, Schlanders

Teneriffa, Santa Cruz

Bayern, Straubing, Polizeipräsidium Niederbayern

Spanisches Festland, Cádiz

Wien, Hernals

München, Au-Haidhausen, Restaurant Mitani

München, Schwabing-Freimann, Restaurant Tantris

Frankreich, Lyon, Güterbahnhof Sibelin

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Bayern, Irlbach bei Straubing

München, Untergiesing-Harlaching

Schweiz, Zürich

Südtirol, Prad am Stilfserjoch

Salzburg, Saalfelden, Einöde zwölf

Saalfelden, Brandlwirt

Wien, Währing

Bayern, Irlbach bei Straubing

Südtirol, Schlanders

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Helmholtz-Zentrum Potsdam, Institut für Erdbeben- und Vulkanphysik

Kanada, Québec, Percé

München, Untergiesing-Harlaching

Helmholtz-Zentrum Potsdam, Institut für Erdbeben- und Vulkanphysik

Wien, Innere Stadt

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

München, Untergiesing-Harlaching

Teneriffa, Caldera des Teide

Kanada, Québec, Percé

Teneriffa, Caldera des Teide

Puerto de la Cruz, Vulkaninstitut

Südtirol, Schlanders

Salzburg, Saalfelden

Bayern, Straubing, Polizeipräsidium Niederbayern

Helmholtz-Zentrum Potsdam, Institut für Erdbeben- und Vulkanphysik

Südtirol, Schlanders

Saalfelden

Helmholtz-Zentrum Potsdam, Institut für Erdbeben- und Vulkanphysik

München, Flughafen

Helmholtz-Zentrum Potsdam, Institut für Erdbeben- und Vulkanphysik

Südtirol, Meran

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Wien, Hernals

Bayern, Straubing, Polizeipräsidium Niederbayern

München, Untergiesing-Harlaching

Saalfelden, Waldhütte bei Einöde zwölf

Helmholtz-Zentrum Potsdam

Saalfelden, Einöde zwölf

USA, Wyoming, Yellowstone-Nationalpark

Saalfelden, Einöde zwölf

Waldhütte bei Einöde zwölf

Helmholtz-Zentrum Potsdam, Institut für Erdbeben- und Vulkanphysik

Nachwort

Österreich, Salzburg, Saalfelden

Montag, 15. Januar, 10:30 Uhr

Josef Schwarz rieb sich fröstelnd die Hände. Selbst für die mitten in den Alpen gelegene Kleinstadt Saalfelden war es heute ungewöhnlich kalt. Am Morgen hatte das Thermometer minus dreiundzwanzig Grad angezeigt. Die kälteste Nacht in diesem bislang mild verlaufenen Winter.

Josef war ein bekennender Gegner der Klimaerwärmungstheorie. Für ihn war klar, dass die nächste Eiszeit unmittelbar bevorstand. Daher hatte er sein Eigenheim mit Solarzellen, Erdwärme und zwei Windturbinen ausgestattet, sodass Strom und Heizung energieautark liefen. Im Keller bunkerte er Vorräte, mit denen er und seine Frau im Notfall ein Jahr lang auskommen würden, selbst wenn sie ihre Tochter, Großeltern, Onkeln und Tanten aufnehmen sollten. Außerdem besaß er den Jagdschein und hatte genug Munition bei der Hand, um jeder Eiszeit die Stirn zu bieten und eventuelle Plünderer abzuwehren.

Josef betrachtete die meterhohen Schneewände am Straßenrand. Im Zuge des Orkantiefs vor einer Woche war fast ein Meter Neuschnee gefallen. Was die Skigebiete freute, ließ seinen Job zur Schwerstarbeit werden. Josef war Briefträger und für die nordöstlichen, abgelegenen Ortsteile zuständig. Noch drei Tage nach dem Blizzard hatte er sich durch mannshohe Schneewechten zu den verstreut liegenden Gehöften an den Südhängen des Steinernen Meers durchgekämpft. An solchen Tagen vergingen keine fünf Minuten, in denen er sich nicht schwor, den Beruf zu wechseln. Aber bei der momentanen Situation am Arbeitsmarkt gab es nicht viele Alternativen. Er konnte nur das Abitur und ein abgebrochenes Forststudium vorweisen. Abgesehen davon war er Mitte fünfzig; auch das keine guten Voraussetzungen für einen Jobwechsel.

Josef trat zum Wagen und öffnete den Kofferraum. Der Ortsteil Einöde wurde seinem Namen durchaus gerecht. Immerhin hatte er den schlimmsten Teil seiner Tour bald überstanden. Er musste nur noch einen eingeschriebenen Brief zur Nummer zwölf ausliefern. Es war das letzte Haus am Ende der Straße, mehr als einen halben Kilometer vom nächsten Anwesen entfernt. In einem Talkessel gelegen und von dichten Wäldern umgeben, erweckte der nach späthistorischen Gesichtspunkten renovierte und mit unförmigen Anbauten versehene Gutshof den Eindruck eines kleinen, düsteren Schlosses. Selbst wenn man das Gebäude nur als Villa und Zweitwohnsitz eines reichen, exzentrischen Inhabers betrachtete, blieb unverständlich, weshalb die ehemals baufällige Anlage mit solchem Aufwand instand gesetzt worden war; vor allem hier, mitten in der wahrhaftigen Einöde.

Die Frage, wem das Gehöft sowie die umgebenden hundert Hektar Wald und Flur gehörten, war Bestandteil so mancher Wirtshausdiskussion. Die Person, die seit zehn Jahren im Grundbuch eingetragen war – ein gewisser Jonathan Weber –, hatte sich noch nie in der Stadt blicken lassen. Der junge Mann, der bei Verhandlungen oder Gemeindesitzungen als beeidigter Vertreter erschien, ließ niemals Hinweise auf seinen Auftraggeber fallen; zumindest wenn man den Aussagen des Bürgermeisters und der Gemeinderäte Glauben schenken konnte. Es wurde gemunkelt, dass zwischen dem Besitzer von Einöde zwölf und der Gemeindevertretung ein stilles, finanziell gestütztes Abkommen bestand, wonach die wahre Identität des Eigentümers geheim bleiben sollte.

Josef fuhr die schneebedeckte Straße entlang. Das Tal verengte sich immer mehr, bis der Weg von zwei emporragenden, mit knorrigen Kiefern und Fichten bewachsenen Steilhängen umschlossen war. Nach einer Linkskurve öffnete sich die Schlucht und die Straße querte einen kleinen Bach. Zweihundert Meter weiter flachten die Steilwände ab. Sie gaben den Blick auf eine Lichtung frei, hinter der die Ausläufer des Steinernen Meers rasch an Höhe gewannen und gemeinsam mit dem kreisförmig verlaufenden Felsgrat einen natürlichen Kessel formten. Die Straße endete vor dem Gutshof, der unmittelbar am Waldrand errichtet war.

Josef hielt an und stieg aus dem Wagen. Ihm fröstelte und er zog den Zipp seiner Jacke hoch. So malerisch die Lage des Hauses auch war, er fühlte sich immer unwohl, wenn er sich dem Gebäude näherte. Vielleicht lag das an der eigentümlichen Gestaltung des Anwesens und der Geheimniskrämerei um seinen Besitzer, vielleicht daran, dass Postsendungen nie persönlich entgegengenommen wurden. Oder es waren die zahlreichen dunklen Videokameras, deren tote Augen vom Dachfirst herabblickten wie ein Schwarm versteinerter Krähen.

Josef drückte den roten, von einer silbernen Dämonenfratze eingefassten Klingelknopf. Er läutete ein weiteres Mal, aber wie erwartet öffnete niemand. Wer immer der Eigentümer des Gutshofs war, kam selten hierher; oder aber er wollte nicht, dass man von seiner Anwesenheit erfuhr.

Josef warf einen Blick zu den beiden geschlossenen Garagentoren. Es war vorstellbar, dass sich dahinter Fahrzeuge verbargen und ihn jemand durch ein Fenster beobachtete.

Ihm fröstelte erneut. Josef beeilte sich, den Abholschein auszufüllen, und warf ihn in den Postkasten. Als er zurück zum Wagen schritt, meinte er am Waldrand eine Bewegung auszumachen. Eine Sekunde lang war er sogar davon überzeugt, dass es sich um einen Menschen handelte; eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren, die ihm einen schwermütigen Blick zuwarf.

Josef blinzelte und das Trugbild verschwand. Dort war nichts, nur das Weiß und Grün von Schnee, Wald und Einsamkeit.

Josef startete den Motor und ließ Einöde zwölf hinter sich.

Deutschland, München, Untergiesing-Harlaching

Montag, 15. Januar, 16:00 Uhr

»Hier sind wir wieder, meine Prinzessin«, sagte Raphael und öffnete die Tür der Wohnung.

»Prinzessin?« Sonja lächelte. »Als deine angetraute Ehefrau könntest du mich ruhig Königin nennen.«

»Völlig richtig. Also dann, meine Königin, darf ich Sie in dieses bescheidene Heim geleiten und Ihnen ein erbsenfreies Bett für den heutigen Schönheitsschlaf zur Verfügung stellen?«

»Solange du mich morgen in mein angestammtes Schloss bringst, kein Problem.«

»Ich werde mich bemühen. Aber alle deutschen Schlösser sind gerade ausgebucht.«

»Eine neue Bleibe wird vielleicht bald notwendig sein.«

»Du meinst aufgrund von Drillingen?«

»Gott behüte!« Sonja lachte, zog ihre Schuhe aus und ließ sich auf das Sofa fallen. »Ein einzelnes Kind wird schon eine Herausforderung.«

Raphael grinste, legte seine Krücke beiseite und humpelte zur Couch. »Wo du recht hast, hast du recht. Ich würde sagen, wir gehen es langsam an. Eins nach dem anderen. Sozusagen.«

Sonja nickte. »Aber es stimmt. Die Wohnung könnte bald zu klein werden. Na ja, mal sehen.« Sie seufzte, streckte die Beine aus und bettete sie auf die Lehne des Sofas. »Es tut mir leid, dass ich darauf bestanden habe, den Urlaub abzubrechen.«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich verstehe, dass du nicht länger auf Teneriffa bleiben wolltest.«

Raphael ließ sich neben Sonja nieder. Sie kuschelte sich an seine Brust.

»Es war mir einfach zu viel«, flüsterte sie. »Die Erlebnisse. Die Erinnerungen. Ich wollte nur noch weg, nach Hause, zurück in eine vertraute, beschützende Umgebung.«

»Ehrlich gesagt hat mich auch nicht mehr viel auf Teneriffa gehalten, und das nicht nur wegen der Schusswunde am Bein. Davon abgesehen ist die halbe Insel abgebrannt. Auf den Teide hätten wir nicht mehr fahren können. Dabei war das der Ort, den du auf jeden Fall besuchen wolltest.«

»Nach dem Waldbrand hatte ich keine Lust mehr dazu.«

Raphael strich durch Sonjas schulterlange Locken. »Ich bin die nächsten Tage im Krankenstand. Wir könnten uns daheim ein paar schöne Tage machen.«

»Einverstanden. Aber wir unternehmen auch etwas. Nicht, dass wir die Zeit nur im Bett verbringen.«

Raphael grinste. »Wir müssen uns doch um den Nachwuchs kümmern.«

»Das hat keine Eile. Außerdem nehme ich noch drei Tage die Pille.«

»Meine muskelbepackten Spermien finden einen Weg.«

»So dumm wie die sind, schwimmen sie im Kreis.«

»Frechheit.« Raphael begann Sonjas Nacken zu küssen.

»Muss ich meine Männlichkeit unter Beweis stellen?«

»Nur zu.« Sonja lächelte und ließ sich zurücksinken.

»Ich werde dich bewerten. Eins ist tollpatschiger Anfänger und zehn steht für Casanova.«

»Wenn das so ist, will ich zumindest neun Punkte.«

»Das schaffst du nie.«

»Abwarten. Ich hole jetzt das Kokosnussöl.«

»Gleich die schweren Geschütze? Ich bin gespannt.«

»Das will ich hoffen. An dieses Mal wirst du dich noch lange erinnern.«

Italien, Südtirol, Schlanders

Dienstag, 16. Januar, 17:00 Uhr

Emma saß in der Küche. Sie hatte die Zeitung aufgeschlagen, betrachtete die Fotos und Artikel, aber sie las nicht. Ihre Gedanken kreisten um die vergangenen zehn Tage. Zehn Tage, in denen sie einen Freund ebenso verloren hatte wie ihren Ehemann. Zehn Tage, in denen sie mehrmals fast ums Leben gekommen wäre. Zehn Tage, in denen sie neue Freundschaften geschlossen hatte und ihrem Engel begegnet war.

Emma fühlte sich einsam. Das lag nicht an Matteos Abwesenheit. Ihr Mann hatte oft genug Nachtdienste absolviert oder war auf mehrtägigen Kongressen gewesen. Es lag daran, dass er niemals wiederkommen würde. Auch wenn sie ihn letztendlich verabscheut, er nichts anderes als den Tod verdient hatte, war er der Mann an ihrer Seite gewesen. Jetzt war sie allein in ihrem großen Haus; eine frühpensionierte Krankenschwester, verwitwet und kinderlos.

Emma massierte ihr Knie. Die Strapazen der letzten Tage hatten es anschwellen lassen. Sonntagabend, als sie aus Teneriffa zurückgekehrt war, hatte sie sogar überlegt ins Krankenhaus zu fahren. Was sie davon abhielt, waren vor allem die gemischten Erfahrungen während ihres letzten Klinikaufenthalts.

Emma erhob sich und trat ins Bad. Im Spiegel betrachtete sie ihre gedrungene Gestalt, die Falten im Gesicht und ihre graubraunen Haare, die dringend eines Friseursalons bedurft hätten. Für einen Augenblick meinte sie, hinter sich eine zweite Silhouette zu erkennen – groß, weiß und geflügelt.

Emma lächelte. Gabriel war in ihrer Nähe. Aber seine Präsenz ließ nach. Emma spürte, dass er sich bald von ihr entfernen und andere Aufgaben wahrnehmen würde. Das ließ sie traurig werden, verstärkte ihre Einsamkeit. Die einseitigen Zwiegespräche mit ihrem Schutzengel hatten ihr geholfen das Geschehen zu verarbeiten. Sie brauchte jemanden zum Reden, benötigte einen Ansprechpartner, egal ob Mensch, Tier oder höheres Wesen. Andernfalls könnte die Düsternis von ihr Besitz ergreifen, ihr Verstand in einen tosenden Abgrund stürzen.

Entschlossen marschierte Emma ins Wohnzimmer und nahm das Schnurlostelefon zur Hand. Ihr Mobiltelefon hatte sie in Teneriffa entsorgt. Inzwischen wusste sie, dass die Dinger tödlich sein konnten und nur in den seltensten Fällen eine Hilfe waren.

»Hallo Julie? Hier spricht Emma.«

»Emma! Das ist aber schön von dir zu hören. Geht es dir gut? Hast du die nervenaufreibende Gondelfahrt in Kitzbühel verdaut?«

»Wie man’s nimmt. Es gibt viel zu erzählen. Habt ihr in den nächsten Tagen Zeit und Lust vorbeizukommen?«

»Gern. Wie wäre es mit Freitag?«

»Passt gut. Zu Mittag?«

»Einverstanden. Wir freuen uns. Und liebe Grüße an Matteo.«

Emma ahnte, dass sie Julie und François die Wahrheit sagen musste. Sie würde über das sprechen, was geschehen war, allerdings in einer entschärften Version. Ihre Erinnerungen mochten dennoch zurückkehren. Das war auch gut so. Nur durch ein stetes Aufarbeiten konnte sie verhindern, dass sie wurde wie Matteo – völlig wahnsinnig.

Wien, Hernals

Mittwoch, 17. Januar, 10:30 Uhr

»Schau mal, Papa, was ich kann!«

Moritz streckte die Arme über seinen Kopf, beugte sich nach vorn und ging in einen Handstand. Ein paar Sekunden stand er etwas wacklig, doch dann stabilisierte sich sein Körper und er begann mit seinen Händen über den Boden zu gehen. Nach zwei, drei Metern ließ sich Moritz in die Hocke fallen und erhob sich. Sein Antlitz war rot wie eine Tomate, aber er grinste über das ganze Gesicht.

»Super, Moritz!«, sagte Ferdinand, richtete sich im Sofa auf und klatschte Beifall. »Das ist toll.«

»Lydia hat’s mir gezeigt«, ereiferte sich der Zehnjährige. »Als sie jünger war, konnte sie fünf Minuten einen Handstand machen.«

»Das schaffst du auch, ganz bestimmt.«

»Wenn ich groß bin, gehe ich zum Zirkus.«

»Dann musst du aber fleißig üben.«

»Das werde ich, jeden Tag!«

Ferdinand lächelte. Der Verlust seiner Mutter hielt Moritz nicht länger in stiller Traurigkeit gefangen. Stattdessen hatte er eine neue Beschäftigung, ein neues Ziel gefunden. Auch Samuel, der zwei Jahre älter war, ging es besser. Heute Morgen hatte er seinem Vater mit rosigen Wangen berichtet, dass er allein mit Lydias Hund spazieren gewesen war.

Ferdinand wünschte sich, seine Frau Doris hätte erleben können, wie die beiden aufblühten; und seine Tochter Samantha wäre in die Erfahrung des Erwachsenseins gekommen. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten.

Nein, dachte er grimmig. Ich darf meinem schlechten Gewissen nicht mehr Raum gönnen, als unbedingt nötig.

Ferdinand erhob sich von der Couch und marschierte ins Bad. Fast eine Minute lang schaufelte er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er blinzelte, blickte in den Spiegel. Was er sah, verwunderte ihn nicht: ein fahles, eingefallenes Männergesicht mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen. Ferdinand war schon immer eine dünne, asketische Erscheinung gewesen. Aber seit dem Beginn der Ereignisse vor wenigen Wochen hatte er bestimmt drei, vier Kilo abgenommen. Er stellte fest, dass er nicht länger wie Mitte dreißig aussah. Sein Antlitz und seine gebeugte Gestalt ließen ihn eher wie Ende vierzig erscheinen – dabei hatte er die Vierzig erst vor wenigen Wochen hinter sich gelassen. Ferdinand besah sich sein Haupthaar. Es war dunkelbraun und voll, mit einigen weißen Strähnen darin. Ihm kam es vor, als wären die farblosen Haare schlagartig mehr geworden.

Doris hatte stets bedauert, dass bei ihr schon Mitte zwanzig die ersten weißen Haare aufgetaucht waren. Ferdinand hatte auch keine Gelegenheit ausgelassen, sie darauf hinzuweisen oder eine spöttische Bemerkung fallen zu lassen. Sogar am Morgen des Unglücks war ihm ein helles Blitzen in ihrem Haarschopf aufgefallen und er hatte mit gehässiger Zunge angemerkt, dass es keinen Sinn hatte, den fehlenden Schnee auf der Piste mit weißen Haaren zu kaschieren.

Schnee hatten sie an diesem Tag mehr als genug gesehen; in Form eines tödlichen Blizzards, der dazu beigetragen hatte, dass Doris gestorben war. Das Brausen des Sturms, das Schwanken der Kabine und die undurchdringliche, nächtliche Finsternis waren der Grund gewesen, weshalb ...

Ferdinand brach ab und senkte den Blick. Abermals benetzte er sein Gesicht. Das Wasser war kalt, kalt wie geschmolzener Schnee. Ferdinand wollte seine grauenvollen Erinnerungen ausklammern und sich stattdessen auf die jüngsten Bilder konzentrieren – Moritz und Samuel, ausgelassen und vergnügt. Vergeblich.

So geht es nicht weiter, dachte Ferdinand. Er trocknete sich das Gesicht, rieb seine Finger am Nasenbein, schüttelte den Kopf. Er musste dringend etwas unternehmen, wollte er nicht der Verzweiflung anheimfallen. Seine düsteren Gedanken verfolgten ihn während des Tages, in seinen Träumen, ließen ihn unkonzentriert und fahrig werden. Abgesehen davon, dass dieser Zustand nicht geeignet war zwei Kinder großzuziehen, konnte er so auch nicht seiner Tätigkeit als Architekt nachkommen.

Die erste Lösung, die ihm einfiel, war vielleicht keine Lösung, aber zumindest ein Anfang.

Ich muss mit Julius sprechen, dachte er.

Bayern, Straubing, Polizeipräsidium Niederbayern

Donnerstag, 18. Januar, 09:00 Uhr

»Guten Morgen, Bernhard.«

Polizeikommissar Bernhard Lichtenberger blickte von seinem Schreibtisch auf. »Mathias? Was machst du denn hier?«

Der Vizepräsident des Landeskriminalamtes zog die Tür hinter sich zu. »Ich muss mit dir sprechen. Unter vier Augen.«

»Hat es mit ...«

»Nein, keine Sorge. Es sind andere Dinge.«

»Gut.« Bernhard verschränkte die Finger über der Tischplatte. »Leg los.«

»Zunächst möchte ich dich um Verzeihung bitten.«

»So?«

»Wegen Anna.«

Bernhard blieb stumm.

»Ich kann dir nicht sagen, wie leid es mir tut«, fuhr Mathias fort. »Ich habe einen gewaltigen Fehler begangen. Hätte ich sofort reagiert, als Anna nicht abgehoben hat, wäre vielleicht alles anders gekommen.«

Bernhards Antlitz blieb ausdruckslos. »Es wäre zu spät gewesen«, erwiderte er. »Selbst wenn sofort eine Einheit das Haus gestürmt hätte. Aber danke, dass du es angesprochen hast. Ich nehme deine Entschuldigung an. Ich denke, auch Anna wird das tun.«

Mathias runzelte die Stirn, ging aber nicht auf Bernhards letzten Kommentar ein.

»Die zweite Sache betrifft deinen Vater. Nachdem du nicht abgehoben hast, soll ich dir seine Glückwünsche zum erfolgreichen Abschluss des Falls ausrichten.«

»Was du nicht sagst. Er wollte mir gratulieren?«

»Selbstverständlich. Was hast du gedacht?«

»Dass ihm etwas eingefallen wäre, weswegen er mich kritisieren kann.«

Mathias seufzte leise. »Ich verstehe echt nicht, weshalb euer Verhältnis so angespannt ist. Ich kenne Gottfried sehr lange und er ...«

»Du kennst ihn eben nicht so wie ich. Gibt es sonst noch etwas?«

»Ja. Wir hatten gestern Abend Sitzung im Justizpalast. Ich habe einen Vorschlag eingebracht, der einstimmig angenommen wurde.«

»Und zwar?«

»Du erhältst die Medaille für Verdienste um die Bayerische Justiz verliehen.«

»Ist nicht dein Ernst.«

»Doch. Ich weiß, dass du Auszeichnungen nicht leiden kannst, aber ...«

»Gibt es keine Möglichkeit, dem zu entgehen?«

»Du könntest nicht hingehen.«

»Damit alle hinter meinem Rücken reden.« Bernhard warf einen Blick auf das eingerahmte Foto am Tisch. Es zeigte ihn mit seiner ehemaligen Partnerin. Sie standen in Dienstuniform nebeneinander. Anna lächelte und hatte den Daumen emporgereckt.

»Nein, ich werde dabei sein. Anna hätte es so gewollt.«

Hamburg, Wandsbek, Bramfeld

Donnerstag, 18. Januar, 16:00 Uhr

»Hier ist es nett«, sagte Sandra und trat auf die Lichtung.

»Man sieht bis zum See.«

»Kein Mensch in der Nähe«, kommentierte Lorenz.

»Das ist gut.«

»Sei kein Feigling. So oft wie du mir in den letzten Tagen gesagt hast, dass du nicht singen kannst, glaube ich, dass das gar nicht stimmt.«

»Du wirst es schon sehen – oder hören. Na gut, ich pack mal die Gitarre aus.«

Sandra sah zu, wie Lorenz sein Musikinstrument hervorzog und es zu stimmen begann. Keine Frage, ihr Schulkamerad war attraktiv. Gut gebaut, blonde Locken und blaue Augen; wenig verwunderlich, dass sich Michelle in ihn verguckt hatte. Bei dem Gedanken an ihre Freundin umwehte Sandra ein melancholischer Hauch. Auch Michelle hätte dieser Ort gefallen. Er war fast so schön wie der schönste Platz der Welt.

Sandra biss sich auf die Lippen und wischte die beiden Tränen beiseite.

»Ich wär’ dann so weit«, meinte Lorenz und spielte ein paar Akkorde. »Der Text ist in Englisch. Ich hoffe, das stört dich nicht.«

»Nein, lass hören.«

»Ich muss noch mal betonen, dass ...«

»... du nicht singen kannst. Ich hab’s kapiert.«

»Genau. Ähm ... okay, ich fang jetzt an.«

Lorenz stellte sein linkes Bein auf einen gefallenen Baumstamm, legte die Gitarre darüber und fing an zu spielen. Dazu sang er mit einer Stimme, die bei Weitem nicht so schlecht war, wie er behauptet hatte.

I had a dream of you

saw your loving smile

felt what we could do

if we had a while

for us

I saw all the things

made us two unique

love indeed it brings

health against the sick

for us

Why did this happen to you?

Why could he stole you from me?

Why came death so early – my dream, my hope, my ...

Lorenz’ Stimme zitterte, ein Akkord ging daneben und er brach ab. Sandra stand gebeugt da, die Hände zu Fäusten geballt. Tränen perlten ihre Wangen hinab. Es fehlte nicht viel, und sie wäre zusammengebrochen.

Nach einer Weile registrierte Sandra, dass auch Lorenz weinte.

»Wunderschön«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Das Lied hätte Michelle gefallen.«

Südtirol, Schlanders

Freitag, 19. Januar, 14:00 Uhr

»Unfassbar.« Julie schüttelte unentwegt den Kopf. »Das ist das Entsetzlichste, was ich je gehört habe.«

Emma schwieg. Sie hatte nichts mehr zu sagen. Alles, was sie hatte berichten wollen, hatte sie ihren Freunden erzählt.

François erhob sich von seinem Stuhl. Wie auch Julie hatte er das Essen kaum angerührt. Er trat an den Wandschrank heran, in dem silberne und goldene Pokale, Anstecknadeln und Medaillen untergebracht waren.

»Matteo war ein guter Skifahrer«, murmelte François.

»Ein begnadeter Läufer. Erst durch ihn habe ich zu joggen begonnen. Aber ich war nie so diszipliniert wie er. Jeden Tag eine Stunde Sport, das war sein Credo. Manchmal auch zwei. Ich habe ihn mal gefragt, wie lange er das schon so macht. Er hat gemeint, seitdem er zwanzig ist. Vierzig Jahre hat er jeden Tag trainiert. Könnt ihr euch das vorstellen? Vierzig Jahre! Ich wollte von ihm wissen, wie er das zeitlich geschafft hat. ‚Zeit ist genug da‘, war seine Antwort. ‚Man muss sie sich nur nehmen.‘ Das war der Moment, in dem ich erkannt habe, dass er ein Genie ist. Zweifacher Doktortitel, belesen und gebildet, vier Sprachen, eine unglaubliche Auffassungsgabe – und körperlich so fit, wie man es in seinem Alter nur sein kann. Ich habe mir gedacht, wenn er das alles geschafft hat, muss er mehr sein als begabt. Egal, was ich anfasste, ich würde mich nie mit ihm messen können. Für mich war er wie ein großer Bruder. Ich habe es ihm nicht übel genommen, wenn er mich in seiner direkten, rücksichtslosen Art korrigiert hat. Der Dumme lernt von dem Genius, das Schaf duckt sich vor dem Wolf. Ein einziges Mal, ja ein einziges Mal, kam mir der Verdacht, dass etwas nicht mit ihm stimmt.«

Emmas Blick war in die Ferne geschweift, während François seinen Monolog gehalten hatte. Nichts von dem, was ihr Freund erzählt hatte, war ihr neu. Doch jetzt sah sie auf.

»Vor fünf Jahren bei unserer Wüstendurchquerung mit den Tuareg. Erinnert ihr euch an die junge Frau, die uns bewirtet hat? Am letzten Abend, als wir in der Wüstenstadt waren – da hat sie sich verabschiedet und gemeint, dass sie losmüsse, zurück in die Oase, zu einer anderen Karawane. Ich bin in der Nacht aufgewacht, aus dem Zimmer getreten und habe gesehen, wie Matteo mit dem Jeep vor dem Gebäude gehalten hat. Ich dachte, er war in der Wüste um sich die Sterne anzusehen. Bin hin, um ihn zu begrüßen. Als er mich erblickt hat, ist ihm etwas aus der Hand gefallen, eine Glasphiole. Ich habe sie aufgehoben und Matteo gegeben. So genau habe ich nicht hingesehen, aber ich glaubte, dass sich darin ein totes Insekt befand. Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, dass es sich um einen Körperteil handelt; einen weiblichen Körperteil. Für einen Moment hat etwas in Matteos Blick gelegen. Eine gnadenlose Kälte, etwas eiskalt Berechnendes. Ich glaube, wenn ich in diesem Augenblick eine Bemerkung gemacht oder eine Frage gestellt hätte – Matteo hätte mich getötet.«

François verstummte. Er rieb die Hände aneinander, als klebte das Mörderblut an seinen Fingern. Emma erinnerte sich noch gut an jene Nacht in der Wüstenstadt. Es war eine der letzten Gelegenheiten gewesen, bei denen Matteo und sie Sex hatten. Emmas Mitte zog sich zusammen und sie presste die Schenkel aneinander, als sie verstand, was das bedeutete. Matteo hatte sie gevögelt – und war kurz darauf in die Wüste gefahren, um die junge Frau zu überfallen, sie zu vergewaltigen, zu töten und zu verstümmeln. Ihn hatte der Gedanke an das bevorstehende, blutige Vergnügen erregt, das er sich bei einer anderen holen würde. Für Matteo war seine Frau nie mehr gewesen, als ein Mittel zum Zweck, nie mehr als eine Puppe, mit der er machen konnte, was er wollte.

»Will jemand einen Schnaps?« Emma erhob sich. »Ich brauche jetzt einen.«

Kanada, Québec, Percé

Sonntag, 21. Januar, 09:00 Uhr Lokalzeit

Henry Duvall starrte auf das Meer hinaus. Der stürmische Wind zerrte an seiner hageren Gestalt, zerzauste sein Haar. Er empfand es als Ironie des Schicksals, dass gestern zwei Meeresforscher im Sankt-Lorenz-Golf ertrunken waren, nur wenige hundert Meter vom Rocher Percé entfernt. Henry war sich sicher, dass dies das Werk von Geistwesen war, eine weitere Warnung, die wie alle anderen ungehört verklingen würde.

Das Meer schillerte heute grünlich, mit einem Hauch von orange. So viele Farbschattierungen wie in den letzten Tagen hatte er noch nie gesehen. Es war, als wollte das Wasser seine gesamte optische Bandbreite ausspielen. Gelbe Schaumkronen tanzten auf den Wellen. Die Wogen, die weiter unten gegen die Küste schlugen, erzeugten ein tiefes Dröhnen, für das es nicht viel Fantasie benötigte, um es als Grollen mächtiger Wesen zu erkennen.

Noch nie hatte er die Anwesenheit der Spirits so deutlich gespürt wie heute. Sie waren überall, manifestierten sich in sämtlichen Ebenen. Am Himmel tanzten sie als kecke, verschlungene Wolkenformationen, über die Wellen sprangen sie wie Heuschrecken. Die alten Fichten bogen sich mehr als sonst, ihr harziger Duft war erfüllt von Gelächter. Der gerade erst geschmolzene Schnee gab den Boden frei. Darunter schlug eine Trommel; bedächtig, aber kräftiger, als es jedes Menschenwerk zustande gebracht hätte.

In den letzten Tagen war in Henry die Gewissheit gereift, dass es nicht nur Wind und Wasser waren, die sich veränderten. Bei seinen Wetterprognosen hatte er sich stets auf diese beiden Elemente gestützt. Doch was nun geschah, betraf auch die Erde und das Feuer. Heute Morgen beim Einheizen hatte das Zündholz eine Stichflamme produziert und seine Haare versengt. Die massiven Waldbrände in Südeuropa, Argentinien und Australien waren kein Zufall. Sie bildeten einen Teil des Puzzles.

Henry wandte sich dem Rocher Percé zu. Der imposante Kalksteinfelsen wirkte heute noch majestätischer als sonst. Zerrissene Nebelfetzen tanzten um seine senkrechten Wände, wirbelten empor und verbanden sich zu einer hell schimmernden Wolkenkrone. Es war keine Krone für den Felsen, auch nicht für das Meer. Das Zeichen galt einer Einheit, die größer war, umfassender, und die sich in diesem Moment anschickte, die Welt zu verwandeln. Die Ereignisse kamen nicht sporadisch, wie er zuerst gedacht hatte, sie kamen hintereinander, schaukelten sich gegenseitig auf, bis zu einem alles übertönenden, fulminanten Finale furioso.

Ob es eine bessere Welt wird? Henrys langes, dunkles Haar flatterte im Wind, wie das Segel eines im Sturm gekenterten Schiffes.

Vielleicht nicht besser. Aber ein Neubeginn.

Kanarische Inseln, Teneriffa, Icod de los Vinos

Montag, 22. Januar, 09:00 Uhr Lokalzeit