18 Gefangene - Liao Yiwu - E-Book

18 Gefangene E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

»Hinter Gittern wurde ich zum Schriftsteller.«Liao Yiwu Während seiner Haftzeit sammelt Liao Yiwu – ausgezeichnet mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – die Geschichten von Inhaftierten. Diese stammen sowohl aus den unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft als auch aus verschiedenen Jahrzehnten und Epochen der chinesischen Geschichte. Ähnlich wie Alexander Solschenizyn dokumentiert er so den Horror im »größten Gefängnis der Welt«. Er gibt einen Querschnitt durch die Gesellschaft und versammelt die Geschichten zu einer alternativen Historie Chinas. »18 Gefangene« erzählt aber nicht nur von 18 Biographien oft politischer Häftlinge, sondern auch von 18 Ausbrüchen. Denn 18 Mal gelingt die Flucht über die Berge oder über das Meer: Freiheitsliebe, Erfindungsgabe und schierer Überlebenswille sind stärker als jede politische Unterdrückung.

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Seitenzahl: 699

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Liao Yiwu

18 Gefangene

Fluchtgeschichten aus China, dem größten Gefängnis der Welt

 

Aus dem Chinesischen von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann

 

Über dieses Buch

 

 

Gefängnisse spiegeln die Wahrheit über eine Gesellschaft, indem sie ihre Kehrseite zeigen. Die Eingekerkerten erzählen ihre Gegengeschichte. Während seiner Haftzeit sammelt Liao Yiwu ihre Lebensläufe zu einer alternativen Historie Chinas. Ähnlich wie Alexander Solschenizyn dokumentiert er den Horror im »größten Gefängnis der Welt«. 

»18 Gefangene« erzählt aber nicht nur von 18 Biographien oft politischer Häftlinge, sondern auch von 18 Ausbrüchen. Denn 18 Mal gelingt die Flucht über die Berge oder über das Meer: Freiheitsliebe, Erfindungsgabe und schierer Überlebenswille sind stärker als jede politische Unterdrückung.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Liao Yiwu ist einer der entschiedensten Kritiker Chinas. 1958 in der Provinz Sichuan geboren, wuchs er als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er ein Gedicht über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wofür er inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2009 gelang ihm nach langen Jahren in Haft die Flucht, seither lebt er in Berlin. Er wurde mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. »Für ein Lied und hundert Lieder« war der erste Band seiner Gefängnisbücher, zuletzt erschienen die Romane »Wuhan« sowie »Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs«.

Inhalt

[Widmung]

Orwell-Geschichte

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

1 FANG HE

Der Weg ins Gefängnis

Der Ausbruch

Erneut im Netz

Illegal über die Grenze

2 YANG JINIAN

Suche nach der Urteilsschrift

Der Schafdieb

Vier zusätzliche Strafen

Zurück in der Heimat

Das Gefängnis ist mein Zuhause

3 Fang Naoke

Vorbereitung auf den Tod

JIANG

Ein Possenstück

4 WANG MIN

Sex-Mantous

Die Verführung

Alles kniet vor Madame

Mir hat sie nichts getan

5 LU DACHUN

Den Eisenfuß nach Peking plattgelaufen

Schlitzohr und Schlawiner sind die gleiche Brut

Frieden und Wohlstand, doch das Unrecht Volkes Leid

6 GU ZHENG

Prolog

In den Osten nach Japan

Ma Jinsan

Zusammenarbeit und Untersuchung

Gefangennahme und Haft

Erschaffung eines Spions

Experte der Spionageabwehr

7 HERR ZHOU

Ein unabhängiges Königreich

Kampf auf Leben und Tod

Der Sieger war der König, der Verlierer Bandit

8 LIANG HAN

Training der »Eisernen Eier« im Knast

Die Frau des Klinikchefs

Das Fräulein im Friseursalon

9 MINGDE

Vergangenes ist wolkengleich

Zum ersten Mal in den Knast

Ein Vagabund auf Wanderschaft

Zum zweiten Mal in den Knast

Die Welt ist nichts als Illusion

10 HE JIADONG

Die revolutionären Massen

Der Spionage verdächtig

Bauerntölpel machen Kohle in der Stadt

Die rote Gelddruckmaschine

Der Roman Liu Zhidan

11 YU DONGSHAN

Erste Gefangennahme

Zweite Gefangennahme

Dritte Gefangennahme

Auf ewig Gefängnis

Heraufbeschwören einer unheilbaren Krankheit

12 TANG CUNLI

Kontrolle und Umerziehung durch Arbeit

Der Himmel hungert

Erneute Verhaftung im Gefängnis

Gestrandet in Taiwan

13 YANG DINGQING

Wehrdienst

Der Lebensretter

Auf dem Hinrichtungsfeld

Große Mutterliebe

14 ZHANG GUANGTIAN

Hu Feng, bürgerlicher Name Zhang Guangren

Verrückt geworden

Von Verbrechern geschlagen

15 LIU DE

Einsiedelei und Erinnerung

Der Literaturkurs

Verhaftet und verurteilt

Schicksalsergeben

16 LÜ YU

Aus dem Gefängnis entlassen

Der Aufstieg

Geschluckt

Ich bin nicht tot

17 ZHANG ZIGE

Erinnerung an die Kampagne gegen Rechtsabweichler

Im Untersuchungsgefängnis

Gefängnis Nr. 2 der Provinz Sichuan

Umerziehung in der Grube

Schlagwetter

Die Grabrede des Menschenfressers

Schurken unter den Gefangenen

18 LIU SIXIANG

Staatlicher Heiratsschwindel

8000 Frauen aus Hunan kommen nach Xinjiang

Kommunismus der Liebe

Die Hochzeitsnacht

FLUCHTBIBEL FÜR HONGKONG

Ein Ort von idealem Feng-Shui

Warum heimlich über die Grenze?

Die Mittelroute, die Westroute, die Ostroute

Auf einen Zug aufspringen

DAS ZWEITE MASSAKER

Anhang

Todesurteile für 13 politische Gefangene und hohe Zeitstrafen für 10 weitere.

Meiner Verlegerin

Monika Schoeller

1939–2019

Nachdem ich mich im Juli 2011 von China bis nach Deutschland ins Exil durchgeschlagen hatte, hieß mich Monika mit Geschenken willkommen, Orwells 1984, übersetzt ins Chinesische von Dong Leshan[1], einem berühmten Gefangenen Mao Zedongs, sowie fünf CDs mit deutschen Kinderliedern. Heute, einige Jahre später, ist meine Tochter Mayi zehn Jahre alt und mit Monikas Kinderliedern aufgewachsen. 1984 liegt auf meinem Schreibtisch und motiviert mich bis heute, mit Wahrheiten und den Mitteln der Literatur gegen Lügen und Tyrannei anzukämpfen.

Prolog

»Ein Schriftsteller muss im Gefängnis gewesen sein.«Entstehung und Therapie der Gefängniskrankheit

監獄病

1

Weil ich 1989 in der Nacht des Tian’anmen-Massakers vom 3. auf den 4. Juni[1] ein Langgedicht mit dem Titel Das Massaker schrieb, kam ich für vier Jahre ins Gefängnis, mein Leben war wie von einem Schwertstreich in ein Davor und ein Danach geteilt. Davor war ich ein anerkannter junger Dichter gewesen, der fasziniert das Reich des Spirituellen erkundete und für Politik nichts übrig hatte; danach war ich ein politischer Gefangener, gehörte zum Bodensatz der Gesellschaft[2] und wurde ein Experte für Gefängniserzählungen. Bis heute werde ich, inzwischen seit Jahren im Exil, von vielen westlichen Lesern als »politischer Gefangenenschriftsteller«, ein Schriftsteller wie Alexander Solschenizyn in der ehemaligen Sowjetunion, gesehen.

Im Laufe der Zeit war ich mit mehr als zwanzig zum Tode verurteilten Gefangenen von früh bis spät zusammen gewesen und hatte jedes Mal wieder hilflos dabei zugesehen, wie sie aus der Gefängniszelle gebracht wurden, um erschossen zu werden. – Vor ihrer Exekution war ich jeden Tag noch von diesen »Todgeweihten« erbarmungslos mit Unmengen von Details über ihre Fälle überschüttet worden. – Das war schrecklicher als die Gehirnwäschen durch die Kommunistische Partei, auch wenn ich es eigentlich nicht hören wollte, ich musste zuhören.

Und genau das ist nun schon mein halbes Leben die Quelle meines schriftstellerischen Zeugnisablegens. Deshalb sage ich immer wieder: »Ein Schriftsteller muss im Gefängnis gewesen sein.«

Ich saß während vier Jahren in vier Gefängnissen. Im dritten Jahr sagte ein Aufseher, der gerne las und viel nachdachte, eines Herbsttages zu mir: »Das Gefängnis ist die Kloake der chinesischen Gesellschaft, ist man da erst reingefallen, soll man nicht glauben, je wieder als Mensch sauber rauszukommen.«

Damals saß ich tief in der Hocke wie ein Hund am Boden, Vorderpfoten auf den Knien. Der Aufseher fuhr fort: »Im Knast sitzen bedeutet Scheiße fressen, und hast du sie einmal gefressen, kannst du sie auch ein zweites und ein drittes Mal fressen. Deshalb hatte ich es auch schon mit verdammt vielen Wiederholungstätern zu tun, der verrückteste von allen ist gleich fünfmal hier eingefahren.«

Ich fühlte mich wie der letzte Dreck, nur zu gern hätte ich gesagt: »Friss du doch erstmal diese Scheiße.« Aber als ich aufsah, fiel mir sein Elektroschlagstock ins Auge und ich antwortete stattdessen: »Aber da waren doch sicher keine politischen Gefangenen drunter?«

»Doch, auch. Hier gibt es eine Menge Konterrevolutionäre, die zum zweiten, zum dritten Mal eingefahren sind. Die sind wie süchtig danach, den Staat zu stürzen.«

Ich stand auf.

»Hock dich wieder hin.«

»Nein.«

»Hock dich, das ist ein Befehl.«

»Ich muss mal.«

»In Ordnung, danach hockst du dich aber wieder hin.«

Der Aufseher pfiff munter vor sich hin, während er auf mich wartete. Um dieser Strafe irgendwie zu entkommen, hatte ich mir etwas Schlaues zurechtgelegt: »Scheiße fressen ist eigentlich gar nichts, im alten China haben berühmte Ärzte regelmäßig Diagnosen über Krankheiten gestellt, indem sie Exkremente verkostet haben, das gehörte zu einem bunten Leben der fünf Geschmäcker dazu. In der Frühlings- und Herbstperiode[3] vor über 3000 Jahren waren die Staaten Wu und Yue im Süden miteinander im Krieg und der Führer des unterlegenen Staates Yue, König Gou Jian, wurde gefangen genommen und eingesperrt. Als der Führer des siegreichen Staates Wu, König Fuchai, bettlägrig wurde, aß der herbeigerufene Gou Jian zum Beispiel von seiner Scheiße, legte mit einem Lächeln die Hände vor der Brust zusammen, um sich respektvoll zu verbeugen, und sagte: ›Die Krankheit wird bald vorüber sein, großer König, meine Glückwünsche.‹«

Ich erinnere mich noch, wie der Aufseher seine Mausaugen taubeneigroß aufriss und erst nach einer halben Ewigkeit antwortete: »Und du bist Gou Jian, was? 099, krank bist du, sonst nichts.«

 

Erst viel später wurde mir klar, dass ich wirklich krank war, ich litt an der sogenannten »Gefängniskrankheit«. Jeder Gefangene, egal ob politisch oder nicht, erkrankt über den langen Zeitraum hinweg irgendwann schwer an diesem Leiden. Zumindest solange er nicht alles Gewöhnliche hinter sich lassen kann und zum Weisen wird oder von Gott auserwählt. Weil es so lange keine Gelegenheit zur körperlichen Liebe gibt, sind sexuelle Funktionsstörungen im Gefängnis an der Tagesordnung, und die dadurch hervorgerufene Geilheit, die Lügen und die Gewalt wuchern im fleischlichen Körper, in dem die Hormone verrückt spielen, und wandeln sich allmählich in eine unkontrollierbare Gemütsverfassung extremer Unterdrückung aller Gefühle oder plötzlicher emotionaler Ausbrüche. Und wer kann sehen, dass du krank bist? Merkst du es selbst?

Gleich nach der Entlassung aus dem Gefängnis traf ich meine Ex-Frau nach langer Trennung wieder und hatte noch während der ersten Umarmung einen vorzeitigen Samenerguss. Kurz darauf ließen wir uns scheiden und ich kehrte aus der Metropole Chongqing, aus der Gebirgsstadt Fuling am Jangtse, in das Flachland von Chengdu zurück, wo ich bei meinen betagten Eltern, so eng es dort war, unterkroch. Ich konnte es kaum erwarten, meine Komplizen, die gut zwei Jahre früher entlassen worden waren, anzurufen. Ich war einmal ein Held gewesen, meine Tonkassetten, auf denen ich aus Protest gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens mein Gedicht rezitierte, hatten sich in über 20 Städte verbreitet. Glücklicherweise wurde mein Fall erst neun Monate danach aufgeklärt und ich gefasst, hätten sie mich in flagranti erwischt, wäre es mein Ende gewesen. So war ich gerade noch davongekommen, die Henker allerdings standen weiterhin auf der Bühne und niemand wagte, mich öffentlich zu begrüßen. Aber hätte es nicht wenigstens ein privates Willkommensessen geben können? – Nein, auch das nicht, nicht einmal meine Anrufe wurden entgegengenommen.

Deng Xiaoping[4], der im Hintergrund nach wie vor die Strippen zog, hatte nämlich auf seiner berühmten Reise in Chinas Süden in der Sonderverwaltungszone Shenzhen angemerkt, dass »Armut kein Sozialismus« sei. Daraufhin waren die ehemals vaterlandsliebenden Massen scharenweise zur Profitjagd ausgezogen und ich, an dem die Zeit vorübergegangen war, war herabgesunken zum Hundehaufen auf dem Bürgersteig, dem jeder, kaum dass er ihn sah, ausweichen wollte – das ließ in mir eine unaussprechliche Wut aufsteigen, die nirgendwohin aus konnte, und als ich schon drauf und dran war, aus purer Enttäuschung auf die Wände ringsum einzutrommeln, klingelte das Festnetztelefon zu Hause, ich hob ab und am anderen Ende hieß es ohne Umschweife: »Sie sind raus? Kommen Sie zu mir, jetzt gleich.«

Wie sich herausstellte, war es ein hochangesehener Lehrer aus den literarischen Kreisen der 1980er Jahre. Ein im Ausland wie zu Hause bekannter, bedeutender Vertreter der sogenannten »Rechten« hatte er unter Mao Zedong im Gefängnis gesessen und später das Gedicht Ein Geist wandert auf chinesischer Erde[5] veröffentlicht. Meine Wut war mit einem Schlag dahin, dafür durchströmten mich Gefühle voller Wärme.

Doch dann die Überraschung: Nachdem ich den ganzen Weg bis zum Wohnblock der Chinesischen Vereinigung für Literatur- und Kunstschaffende so gerannt war, dass ich bei meinem Eintreffen erstmal Luft holen musste, saß der geschätzte Lehrer, früher gegen jedermann gleichermaßen liebenswürdig, aufrecht da und regte sich nicht, das Gesicht voller Verachtung. Seine Frau stand an seiner Seite, und als ich mich ihm schließlich mit dem gebührenden Respekt näherte und nach seinem Befinden erkundigte, stellte er mich unvermittelt zur Rede:

»Ich habe gehört, Sie waren im Gefängnis von Chongqing ein Tyrannenboss, haben Neuankömmlinge gezwungen, Ihnen den Schwanz zu lecken …«

»Das, das – wer sagt das?«

»Egal, wer das sagt, ein politischer Gefangener, wie kann der so was tun?«

»Wer hat es gesagt?«

»Ihr Mithäftling Sowieso.«

Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen und machte auf der Stelle kehrt nach Hause, wo ich aus einer Küchenschublade ein Springmesser hervorkramte, es einsteckte und diesen Sowieso anrief, der, als er abhob und meine Stimme hörte, sofort auflegte. Obwohl ich ziemlich pleite war, rief ich mir ein Taxi und fuhr direkt zur Wohnung von Sowieso. Als auf mein Klopfen niemand reagierte, hämmerte ich mit der Faust gegen die Tür, doch weiterhin keine Reaktion. Ich ließ mich im Treppenhaus nieder, um zu warten. Nach drei Stunden tauchte der Kopf seiner Mutter auf und ich brüllte: »Ihr Sohn soll kommen!«

»Wozu?«

»Etwas klären.«

Ich schoss hoch, bekam jedoch die alte Dame nicht mehr zu fassen, die sich bereits wieder zurückgezogen hatte. Keinen Augenblick später war eine 110er Polizeistreife da, ich wurde mitgenommen und der Ortspolizei des Bezirks übergeben, in dem meine Eltern wohnten. Auf der dortigen Polizeiwache wurde ich einen Tag und eine Nacht eingesperrt. Als der nächste Abend dämmerte, steckte ich das Messer erneut ein und nahm meinen Rachefeldzug wieder auf. Diesmal brauchte die alte Dame keine Polizei, sie teilte mir lediglich durch die Tür mit, Sowieso sei längst über alle Berge, ganz im Sinne des Appells des alten Deng sei er ausgezogen, um Geschäfte zu machen.

 

Weitere Jahre später hatte ich schließlich meine Gefängnisautobiografie beendet, deren Manuskript zweimal beschlagnahmt worden war, das dritte erst brachte ich durch, das asoziale Verhalten jedoch, das mir aus dem Gefängnis geblieben war, tobte noch immer in mir. Beim Maler Li Huasheng[6], zu Hause in der Kuangasse im Westtor-Viertel von Chengdu, kam es zum offenen Streit mit Sowieso, der einmal mein Freund gewesen war, und der Streit artete schnell aus in gegenseitige Beleidigungen. Der andere war ein schwerer Brocken aus dem chinesischen Nordosten, er näherte sich mir über den Tisch wie eine tiefschwarze Wolke; ich griff mir, ohne weiter nachzudenken, eine Flasche Wein, zerschlug sie mir nichts, dir nichts an der Tischkante und stieß mir nichts, dir nichts möglichst hoch in den Schatten hinein. Es war nur noch ein schauerlicher Schrei zu hören, er hielt sich den Hals und fiel. Es fehlte nicht viel und ich wäre zum Mörder geworden.

Er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo man sein Leben rettete, seinen Hals mit einem guten Dutzend Stichen nähte. Himmel und Erde war Dank, hatte es nicht die Schlagader getroffen. Alles redete nach Kräften auf ihn ein, bis er von einer Anzeige bei der Polizei absah und nichts noch Größeres daraus wurde. Im Nachhinein machte ich mir Gedanken darüber, wie tief meine Feindschaft zu ihm geworden war. Ich wäre, selbst wenn zu Boden gerungen, kaum verprügelt worden, denn vermutlich wäre er, hätte er seine Faust erhoben, sofort von den anderen zurückgezerrt worden. Als später Liu Xiaobo[7] davon erfuhr, sagte er mir auf den Kopf zu:

»Lieber Liao, was ist los mit dir? Im Gefängnis wolltest du zweimal dich selbst umbringen, zum Glück ohne Erfolg, draußen wolltest du zweimal jemand anders umbringen, zum Glück ohne Erfolg. Die Selbstmordversuche im Gefängnis gehen auf das Konto der Polizei, aber hier draußen?«

»Geht es auf das Konto von diesem Scheißkerl!«

»Wie das?«

»Er ist auf mich losgegangen.«

»Und du konntest nicht ausweichen?«

»Warum zur Hölle hätte ich ausweichen sollen?«

»Du bist wirklich krank, mein lieber Liao, wenn du wegen solcher Scheiße wieder im Gefängnis landest, worin unterscheidest du dich dann von den Menschen, über die du schreibst?«

»Wen meinst du?«

»Zum Beispiel den, der seine Frau getötet und zerstückelt hat.«

Das traf mich wie ein Schlag. Die Geschichte des Mörders seiner Frau, deren Leiche er zerstückelt und Stück für Stück aufgegessen hatte, hatte ich mir gezwungenermaßen zigmal angehört. Dieser Kerl schien kaum zu schlafen, und wenn doch, ohne die Augen zu schließen. Auch mich quälte später urplötzlich ein feuchter Traum, in dem Sex und Mord in eins gingen, als ich aus dem Traum erwachte, hatte ich am ganzen Körper Gänsehaut. Aufgeschrieben habe ich die Geschichte, um den Kerl endlich hinter mir zu lassen, er sollte mir zumindest nicht mehr dauernd im Traum erscheinen. Aufzeichnen und Schreiben sind insofern für mich eine sich lang hinziehende seelische Therapie.

2

1992 im tiefsten Winter – beim Hofgang nach dem Abendessen schneite es in der Dämmerung dicke weiße Flocken – drehte ich noch im dritten Gefängnis der Provinz Sichuan mit Li Bifeng meine Runden im Hof der zweiten Brigade, der die Größe eines Basketballfeldes hatte. Wir gingen schnell, schon nach kurzer Zeit stieg von unseren Köpfen heißer Dampf auf. Rundum schlenderten und unterhielten sich die Gefangenen zu zweit, zu dritt, zwei Gefangene betrachteten alles, Schulter an Schulter, aus dem Abseits ganz nah bei der Hofmauer und der verbotenen Plattform im ersten Stock, auf der sich die Zentrale und die Wachen befanden. Ohne Durchgangserlaubnis war es keinem Gefangenen gestattet, dort hinaufzugehen. Ein wenig weiter kam die Hauptmauer um den gesamten Gefängniskomplex mit elektrischem Stacheldraht und danach eine steil aufragende Ummauerung um das gesamte Gefängnisgelände; höher und steiler als diese Ummauerung war zuletzt eine schier endlose Bergkette, die uns eingesperrte Menschen selbst noch vom kaum einsehbaren Himmel trennte.

Die beiden Gefangenen begannen plötzlich, noch immer Schulter an Schulter abseits, zu streiten. Der schemenhafte Bergschatten schwankte im dichten Schneetreiben, die mit Gewehren bewaffneten Wachen befanden sich im ersten Stock. Die beiden stritten mit gesenkter Stimme. Einer von ihnen war ein Menschenhändler, er hatte das Bett unter mir; der andere hatte sein Bett über Li Bifeng, er war ein Gangster der ganz üblen Sorte.

»Eine Portion fehlt.«

»Gar nichts fehlt.«

»Du scheißt mich an.«

»Du presst mich aus.«

»Krieg ich sie noch?«

»Wofür?«

»Dafür …«

Der Satz war noch nicht verklungen, schon saß der Menschenhändler mit seinem Hintern am Boden und brachte von Krämpfen geschüttelt kein Wort mehr heraus. Der miese Gangster hob seelenruhig die Hand und rief: »Meldung an die Leitung, sein altes Leiden ist zurück, ich bring ihn auf die Krankenstation.«

Die Wache winkte: »Verstanden.«

Weil ich zwinkern musste, hatte ich die Bewegung seiner Faust nicht verfolgen können; Li Bifeng hatte alles gesehen: »Ein Blitz, das war’s. Schneller als Bruce Lee.« Danach wollte er wissen: »Hast du eine Ahnung warum?«

»Ja, hab ich. Das war an einem Wochenende, ich hatte mir nach dem Mittag die Decke über den Kopf gezogen, weil ich schlafen wollte, da kam der miese Gangster zu unserem Abteil, er suchte den Menschenhändler im Bett unter mir. Als er niemanden sonst sah, kramte er ein Feuerzeug mit einem Bild von einer schönen Frau hervor, klick, klack, brannte es und man sah nur noch, wie die Kleidung, der BH und auch das Unterhöschen sich nacheinander verflüchtigten, bis sie völlig nackt war und man ihre Brustwarzen und selbst das Schamhaar genauestens erkennen konnte. Der Menschenhändler war hin und weg. Die beiden machten auf der Stelle einen Deal, der Menschenhändler hat sechs Portionen Fleisch für das Feuerzeug mit der Schönen zugesagt.«

»Wir bekommen im Gefängnis zweimal die Woche Fleisch, sonst gebratenen Kohl oder geschmorte Kartoffeln, gerade einen Löffel für jeden, die paar Brocken Fleisch gelegentlich füllen nicht mal einen hohlen Zahn … und der Menschenhändler war bereit, drei Wochen am Stück ganz auf Fleisch zu verzichten? Wahnsinn.«

»Danach konnte der Menschenhändler nicht mehr an sich halten, er war wie von Sinnen, kaum hatte er Zeit, war er im Bett, mit der linken Hand klick, klack, mit der rechten holte er sich wie verrückt einen runter. Anfangs war er ungeübt, er kam zu spät, nachdem er sich den Daumen verbrannt hatte, stellte er eine Schüssel Wasser ans Bett, um mittels Abkühlung sofort auf Notfälle reagieren zu können. Ein anderes Mal brannte er ein schwarzes Loch in die Bettdecke, fast hätte das zu einem Feuer geführt. Dafür musste er vor der versammelten Mannschaft mit Verbeugung und Kotau bezahlen, um einer Meldung nach oben zu entgehen. – Irgendwann, das Feuerzeug war fast leer, hatte der Menschenhändler so viel Erfahrung mit dem Wichsen gesammelt, dass er wusste, er musste solange streicheln, bis er etwas spürte, dann Klick-Klack, Klick-Klack, und die Gäule gingen durch, die Nackte tauchte auf, kein Finger war verbrannt, und genau da, genau an diesem Punkt, verdammte Scheiße, erlosch das Feuer für immer. Auch er war völlig ausgelaugt, vor seinen Augen drehte sich alles, trotzdem musste er sich für die Nachtschicht anstellen, eine letzte Fleischportion hätte er eigentlich noch abgeben müssen, aber als es soweit war, konnte er nicht an sich halten und aß sie mit Tränen in den Augen selbst …«

»Gut, sehr gut.«

»Was heißt ›gut‹? Er hatte jetzt zwar was gegessen, aber er hat beschissen und damit Regeln verletzt.«

»Was heißt schon ›Regeln verletzt‹? Muss man deswegen gleich derart geschlagen werden? Was, wenn er jetzt tot wäre?«

»So wenig unser Leben wert ist, sind wir Gefangenen nicht leicht totzuschlagen.«

 

Chinesen sind insgesamt nicht totzuschlagen. Seit die Kommunistische Partei an der Macht ist, hat sie unzählige politische Bewegungen losgetreten, und bei jedem kleinsten Anlass starben bis zu einer Million einen grausamen Tod, während der Großen Hungersnot 1959 bis 1962 verhungerten zig Millionen, am Ende jedoch liegt die chinesische Bevölkerung immer noch bei über einer Milliarde. Und das im weltweit größten Gehirnwäschegefängnis, dessen Ex-Chef Mao Zedong war, selbst ein perverser Gefängniskranker, der die Gewalt liebte. Er schloss für Jahrzehnte die Türen nach außen und riegelte das Land ab. Die Volksmassen im Land brauchten bei jeder Reise, jedem Familienbesuch, jeder Übernachtung irgendwo, selbst beim Zusammentreffen von Ehepartnern nach längerer Trennung, eine Bescheinigung mit offiziellem rotem Siegel von Organisationen und Einheiten vor Ort, andernfalls konnte man verpfiffen, mitten in der Nacht kontrolliert und aufgegriffen werden und vom unsichtbaren ins sichtbare Gefängnis wandern.

In gleicher Weise ist der heutige Gefängnischef Xi Jinping ein gewaltverliebter, perverser Gefängniskranker, der sich anmaßt, über Hu Jintao, Jiang Zemin und Deng Xiaoping[1] hinweg direkt Mao Zedongs brennende Fackel weiterzutragen. Er stiehlt und nutzt westliche Internettechnologien, um von neuem ein abgeriegeltes Land der verschlossenen Tür zu schaffen, in dem sich jeder bedroht fühlt. Sein sogenannter »chinesischer Traum« besteht darin, die ganze Welt mit technologischen Mitteln in ein unsichtbares chinesisches Gefängnis zu verwandeln. – Mao Zedong und Xi Jinping wussten bzw. wissen beide nicht, was sie tun, wenn sie wie der miese Gangster und der Menschenhändler, von denen ich oben erzählt habe, aus einer unkontrollierbaren Gier heraus ihre Geschäfte machen, bescheißen und dann Gewalt anwenden. Sie wissen nicht, dass sie an der Gefängniskrankheit leiden. Es ist, wie Jesus am Kreuz sagte: Gott, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Vielleicht würde Xi Jinping sagen, ich weiß wohl, was ich tue: Die gut eine Million Uiguren in Xinjiang sperre ich in Konzentrationslager zur Umerziehung, um unsere Grenzen zu schützen und den Terrorismus zu bekämpfen; Bürger aus anderen Ländern wie Gui Minhai, Li Bo und Lin Rongji lasse ich in Thailand und in Hongkong entführen und über die Grenze hierher verschleppen, um Pornografie und illegale Schriften auszurotten. Ich, der Vorsitzende Xi, bin schließlich so groß, so ruhmreich, so ohne Fehl und Tadel, in der Liebe und der Familie so standhaft und unerschütterlich treu wie der diktatorischen Macht, wie könnte ich euch da ein Xi Jinping und seine Liebschaften durchgehen lassen? In den gleichen Sack gehört der Lump Liao Yiwu, von dem ich gehört habe, er habe sich im Gefängnis den Schwanz lecken lassen. Ist er nicht auch aufgesprungen, hat ein Springmesser eingesteckt und ist auf Rachefeldzug gegangen?

Deshalb habe ich der Regierungschefin der Sonderverwaltungszone Hongkong, Carrie Lam, Befehl gegeben, das »Gesetz zur Auslieferung flüchtiger Straftäter« zu korrigieren und die grenzüberschreitende Entführung zu legalisieren. Das rechtfertigt sich aus gerechter Empörung im Rahmen der Proletarischen Revolution. Habt ihr in Hongkong dagegen etwas einzuwenden? Rottet euch ruhig zusammen und geht auf den Straßen demonstrieren, ihr seid gerade mal sieben Millionen, ich aber kontrolliere mit meiner eigenen Hand 1,4 Milliarden. Das steht in keinem Verhältnis, oder?

3

In meinem Buch Die Kugel und das Opium, mit den schriftlichen Interviews mit Opfern des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens, das den Maler Wu Wenjian und den Dichter Li Bifeng mir freundschaftlich verband, kamen wir zum ersten Mal auf die Gefängniskrankheit zu sprechen und jeder wusste sofort, was gemeint ist.

Wu Wenjian hatte vor meiner Flucht aus China noch zwei Ölgemälde mit Panzern, die Menschen überrollen, verkauft und dabei ordentlich Kasse gemacht. Daraufhin konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen, mich zu einer gemeinsamen Reise mit der Hochgeschwindigkeitsbahn von Peking nach Tianjin einzuladen, in einem Luxushotel zu übernachten und die Nacht durch zu zechen und zu reden – Leute, die von den Hintergründen keine Ahnung hatten, dachten gleich, es gäbe Geheimnisse, irgendwelche großen Geschichts-, Gegenwarts-, Widerstands-, Charta- oder ähnliche Erzählungen.

Weil wir beide zudem als politisch heikel und böswillig galten, sollten wir, obwohl nicht in der Weise heikel und böswillig wie ein Zhao Ziyang, ein Bao Tong, eine Ding Zilin oder auch ein Liu Xiaobo, denen man auf Schritt und Tritt folgte, trotzdem immerhin qualifiziert sein, von der Nationalen Sicherheit beschattet und abgehört zu werden. – Jedenfalls waren davon unsere konterrevolutionären Kumpel überzeugt, weshalb sie nur davor oder im Nachhinein etwas von unserer Unternehmung erfahren haben oder erfahren mussten, um uns unvermeidlich zu warnen: »Seid vorsichtig.« Lediglich Li Bifeng machte sich lustig: »Vorsichtig, Scheiße, wenn zwei Single-Knackis die Nacht durch zechen und reden, geht es sowieso immer nur um Sex.«

Damit traf er genau ins Schwarze, ich war zutiefst beschämt. Tatsächlich war unser Gespräch an jenem Abend nicht zum Anhören, ein Angriff auf jeden guten Geschmack. Noch als wir stockbesoffen waren, hatte ich es gewohnheitsmäßig heimlich aufgenommen. Ich wäre dabei nie auf die Idee gekommen, dass viele Jahre später Wu Wenjian einiges davon niederschreiben würde, darunter einen Abschnitt mit dem Titel »Sex im Gefängnis«, aus dem ich das Folgende herausgreifen möchte:

Einmal sagte ein Gefangener auf Schicht zu mir, der is’ echt der Enkel einer Amme, ich hab ihn gefragt, warum er seit einer Weile zu der großen Katze so nett is’ und ihr ständig zu fressen gibt. Gestern, ich hab mich nach Mittag kurz hingehauen, is’ das Vieh auf meine Decke gesprungen und aus ihr is’ so ein klebriges Zeug rausgelaufen, als ich genauer hinseh’, is’ es Sperma, verdammte Scheiße. Ich sagte, das kann doch nicht sein, die Muschi einer Katze ist doch nichts, wenn er seinen Schwanz da reinstecken will, beißt die den doch ratzfatz ab, und ergänzte, und wenn die schreit, das hört doch jeder. Der Kumpel fragte leicht ungehalten, warum soll ich lügen? Die Katze is’ groß, also is’ auch ihre Muschi nich’ klein, und sie is’ rollig, wenn man sich richtig anstrengt, bekommt man ihn schon rein. Außerdem is’ die Katze brav, geschrien hat se noch nie. Ich sagte, trotzdem, eine Katze ist kein Mensch, wie macht man das denn, die Katze spielt doch nicht mit. Einfach is’ es nich’, schau. Der Kumpel setzte sich aufrecht auf ein Bett und erklärte, mit links hältst du die Vorderpfoten, mit rechts die Hinterpfoten, dann so. Während er erklärte, führte er die Bewegung mit beiden Händen mit aller Kraft Richtung Unterleib vor. Alle im Abteil brachen in schallendes Gelächter aus, ich sagte, das sieht voll professionell aus, Mann. Mach du hier bloß nich’ einen auf nix wissen, Spund Wu, ging er auf mich los.

Zwei Tage später schlugen sie vor, die Katze zu schmoren, und diskutierten, wie die Katze zu töten sei. Sie sollte, bevor sie etwas merkte, mit einem Stock einen Hieb auf den Kopf bekommen, mit dem ersten Schlag musste sie tot sein, denn wenn eine Katze erst was merkt, schlägst du sie nicht mehr tot und so weiter. Und tatsächlich wurde die Katze von den Brüdern geschmort. Aus meinem Abteil der »dumme Soldat« hatte sich ein paar Brocken vom Katzenfleisch geschnappt und futterte sie, während er zu mir sagte: Iss-ach (isste auch was)? Iss gutt nä, wie Hase. Ich sagte, iss du nur, Geficktes is’ für mich nix. Die arme Katze, erst von den Kerlen missbraucht, dann getötet und am Ende das Fleisch mit Suppe gegessen. Menschen sind wirklich was zum Abgewöhnen.

Li Bifeng hat Ähnliches beschrieben, wobei in seinem Dokumentarroman Flügel des Himmels an die Stelle der missbrauchten Katze ein missbrauchtes Schwein tritt:

Ich habe mal mit eigenen Augen zwei Gefangene die Wette eingehen sehen, in einer Stunde fünfmal ihre Handflinte abschießen zu können, der Einsatz war eine Zigarette der Marke Feicui. Und du liebe Güte, einer kam wirklich vor aller Augen ganze fünfmal zum Schuss, bis nur noch Wasser kam. Dummerweise rauschte jedoch, nach einer Meldung und bevor die Feicui-Zigarette vergeben war, der Abteilungskader der Gefängnisverwaltung heran. Beide wurden in einen Minikerker gesperrt. Nach einem halben Jahr bohrte sich der Sieger mit seinem fünfmaligen Abschuss der Handflinte in einer Stunde, sich mit beiden Händen an der Wand stützend, aus dem pechschwarzen Kerker wieder hervor.

 

Im ersten Gefängnis der Provinz Sichuan gab es bei der Logistiktruppe eine Schweinezucht außerhalb des inneren Rings, einer, den die Verwaltung für besonders brav hielt, war mit der Aufgabe betraut, die Schweine zu füttern. Eines Nachmittags rief die Truppe zur Generalversammlung, alle Gefangenen waren zur Stelle, nur der Schweinehirt fehlte. Also zog ein Gefängnispolizist los, ihn zu holen. Und dann das, kaum im Stall hörte er ein eigenartiges Grunzen. Als sein Blick dem Geräusch folgte, sah der Polizist, wie der Schweinehirt mit einer Hand den Schweineschwanz hoch- und mit der anderen das Hinterbein festhielt, mit fest geschlossenen Augen und halb in der Hocke kraftvoll seine Möhre in das Schwein stieß und zurück holte, rein, raus, und damit das Schwein zum Grunzen brachte, ein ähnliches Geräusch drang aus dem Mund des Schweinehirten.

»Cao Genbao, was treibst du Hundebastard?«

»Hämmere bisschen, gleich kommt’s.«

»Du traust dich vielleicht was, am helllichten Tag im Schweinestall ficken, dann erwisch’ ich dich dabei und du scherst dich nicht mal drum, machst einfach weiter.«

Tatsächlich war es unter Gefängnisinsassen zur Umerziehung durch Arbeit nicht unüblich, Schweine genauso wie Männer zu ficken, unter normalen Umständen kümmerte das auch niemanden. Dieser Strohkopf jedoch dachte, irgendsoein dahergelaufener Sträfling wolle sich über ihn lustig machen, weshalb der mit einem üblen Tritt bäuchlings niedergestreckt wurde.

Als nächstes wurde er der Versammlung vorgeführt und, nachdem er als umerziehungsresistent vor der versammelten Mannschaft ausreichend kritisiert und fertig gemacht worden war, für mehrere Monate in einen Minikerker gesperrt. Aufgrund des äußerst schädlichen Einflusses, hieß es auf Gefängnisseite, müsse ein höheres Strafmaß her. Dass es jedoch dazu nicht kam, lag daran, dass es keine Handhabe gab, eine Strafe festzulegen: für »Unzucht von Haustieren« oder »Unzucht mit Haustieren« gibt es in China noch kein Gesetz, das man zur Anwendung hätte bringen können …

Wu Wenjian und Li Bifeng sind jünger als ich, ihre Gefängnisstrafzeit aber ist länger als meine, ihre Aufzeichnungen aus dem Inneren dieses Irrsinns machten auch auf mich natürlich größten Eindruck. Als jedoch die beiden die Dutzende nach typischen Sichuaner Gerichten benannten grausamen Folterarten in meinem Buch Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen und die Geschichten »Noch ein Kind und schon Verbrecher« und »Zum Tode verurteilt« in diesem Buch über Chinas »Archipel Gulag« gelesen hatten, machte das auch auf sie, wie sie selbst lobten, »den größten Eindruck«.

1957 wurde Yang Jinian, als ein verbrecherisches Kind im Alter von elf Jahren, weil aufgedeckt worden war, dass er ein Schaf gestohlen hatte, zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Doch er rannte wieder und wieder fort und jedes Mal wurde die Strafe höher, bis er 34 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte, bevor er schließlich nach Hause entlassen wurde. Dort war er allerdings inzwischen ohne Familie, alle seine Angehörigen waren in der Großen Hungersnot von 1959 bis 1962 verhungert. Auch gab es an seinem Heimatort niemanden mehr, der sich noch an ihn erinnerte. Deshalb kehrte er den weiten Weg bis zum Gefängnis zurück, heulte von außerhalb der hohen Mauern nach Vater und Mutter, doch es war kein Hineinkommen mehr.

Li Bifeng sagte, er habe selbst einmal gesehen, wie Yang Jinian vor dem Gefängnistor kniete und Kotau machte, die Obersten anflehte, ihn für den Rest seines Lebens weiter zum sozialistischen Projekt der Umerziehung durch Arbeit beitragen zu lassen. Später ging er nach Peking, um an eine höhere Instanz zu appellieren, und wurde in seinem gemieteten Zimmer im Pekinger Wohnbezirk Maizidian von irgendjemandem bei lebendigem Leibe verbrannt.

 

Wu Wenjian, Li Bifeng und jeder in diesem Buch war eine gewisse Zeit mein Psychiater. Während wir in diesen so abnorm scheinenden dialogischen Erzählungen uns das Elend schilderten, es verulkten und noch darin wetteiferten, errang ich für mich zuletzt sogar eine Art schamfreien Überlegenheitskomplex. – Vielleicht war ich unter allen Gefangenen dieses diktatorischen Imperiums, dessen Kontrollnetz bis in die letzten Winkel des Landes reicht, derjenige, der am meisten Glück hatte. Und mit diesem »Glück« meine ich nicht, dass ich durch glückliche Umstände nach Deutschland fliehen konnte und dadurch zu Freiheit, zu Ehren, zu Liebe und zu einer Familie gekommen bin, sondern, dass ich mir, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, und im Grunde auch schon während ich noch im Gefängnis heimlich schrieb, der »Gefängniskrankheit« deutlich bewusst geworden war, die jedes Selbstwertgefühl zerstört:

Im Gefängnis konnte ich keine ruhmreiche Rolle spielen. Mein Status war gering, meine soziale Reputation ebenfalls nicht besonders, für eine Einzelzelle war ich nicht qualifiziert. Länger in einer Großraumzelle eingesperrt, in der sich kleine Fische und große Drachen mischten, musste ich mich, um zu überleben, wohl oder übel mit zahlreichen schlechten Angewohnheiten infizieren …

Gestern Abend lud mich mein Freund Li Yadong zum Feuertopfessen ein. Als wir an der Südtorbrücke vorbeikamen, lehnte ein Bettler am Geländer und masturbierte in aller Öffentlichkeit. Ich blieb stehen und hatte meinen Spaß daran, er war völlig weggetreten. Meinem Freund Li kam fast das Kotzen. Der kampfunerprobte Bücherwurm packte mich und wollte gesenkten Kopfes nichts wie weg. Ich drehte mich, unwillig zu gehen, nochmal um und murmelte: »Das sieht man nicht oft auf offener Straße.«

Der gute Li musterte mich eine ganze Weile, bevor er meinte: »Du bist so unerschütterlich robust, so robust, dass es schon krank ist.«

»Wieso denn krank? Ich futtere dir bei einer Mahlzeit drei große Schalen weg wie nix.«

»Schwein.«

Ich muss zugeben, ich lebte tatsächlich wie ein Schwein. Erst schlief ich ewig bis halb elf, sprang kurz unter die kalte Dusche, trainierte meine Muskeln, danach konzentrierte ich mich ausschließlich aufs Essen. Arme Leute sind so, selbst wenn der Himmel einstürzt, müssen sie sich noch den Bauch vollschlagen. Ich konnte nicht krank werden, denn in diesem Schweinestall-Land brauchte man eben den Magen eines Allesfressers. Aber den eisernen Magen eines Augenzeugen bekommt man nicht durch Denken, das ist pure Peristaltik …

Meine Maxime beim Schreiben lautet: »Schweinehaar zeigt sich nur am Schwein.« Um etwas eingehend und genau zu verstehen, musst du quälen wie eine Fliege und, weil deren Gesumme derart nervtötend ist, dich in Acht nehmen vor schlagenden Händen. Aber die schmutzige Arbeit ist dir naturgegeben, denn wie ein Arzt in alter Zeit erkennst du, indem du von den Exkrementen eines Menschen kostest, die chronischen Leiden dieser Zeit …

Das war meine persönliche Quintessenz und Erkenntnis aus meinem Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen, damals war ich gerade dreißig, Sexhunger und Impotenz legten sich allmählich, aber die Empfindlichkeit, die Depressionen, die Paranoia und die Gewalt, die daraus resultierten, verfolgt, vergessen, verachtet und verlacht zu werden, waren mir in den Körper gedrungen und fast schon ein integraler Teil des Blutes, Teil meines Wesens, geworden. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: »Schreiben hilft entgiften.«

Im Gefängnis wie draußen habe ich Hunderte von Erzählungen festgehalten, um die Mehrzahl der Protagonisten dieser Erzählungen musste man sich mehr sorgen als um mich, sie mussten mehr erdulden als ich, waren oftmals paranoider und schamloser und umso weniger zu retten und zu kurieren. – Indem ich die Traumata, die vernichtenden Niederlagen und die Gefängniskrankheiten anderer auskundschaftete und auspresste, wurde meine Gefängniskrankheit leichter und leichter, bis mit einem Mal Liebe und Mitleid wieder ihren Platz in mir fanden.

方和

1FANG HE

Gefängnisausbruch und Flucht nach Hongkong

Am 5. Juli 2011 setzte ich, nachdem ich mit Hilfe des Untergrunds durch Bestechung mit einem ordentlichen Batzen Geld illegal über die Grenze von China nach Vietnam gelangt war, von dort meine Flucht nach Deutschland fort. Einige Zeit später, am Vorabend des 11. September, flog ich von Berlin nach New York, um in Amerika mit der englischsprachigen Ausgabe meines Buches Gott ist rot durch etwa 20 Städte auf Lesereise zu gehen. Einen der Protagonisten dieses Buchs, Fang He, konnte ich in San Francisco, zu Hause bei Feng Congde[1], persönlich kennenlernen. Feng Congde gehörte nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 zu den 21 landesweit meistgesuchten Straftätern, er konnte jedoch von der Hongkonger Untergrundbewegung »Operation Yellowbird« heimlich über die Grenze geschafft werden. Tja, so unterschiedlich bei uns dreien der zeitgeschichtliche Hintergrund auch war, hatten wir alle gleichermaßen einen Exilstatus, weshalb wir uns wohl auf Anhieb gut verstanden.

Fang He, ein Schrank von einem Mann, war sechzig, aber noch fit wie ein Turnschuh und voller Energie und Lebensfreude. Im Sitzen, im Stehen, im Gehen, er und ich redeten pausenlos. Dabei sprangen wir so munter von Thema zu Thema, dass mir erst acht Jahre später das ganze Ausmaß unserer Verworrenheit bewusst wurde. Als in Hongkong über zwei Millionen Menschen gegen das Auslieferungsgesetz nach China auf die Straße gingen, suchte ich die Dateien der Gespräche heraus, um zu sichten, was sich lohne, zu verschriftlichen. Beispielsweise kamen wir gleich zu Anfang ohne jede Vorrede direkt zur Sache: »Noch Jahre, nachdem ich raus war, hab ich von der Flucht geträumt – irgendwann hab ich mal jemand anderen gefragt, der auch im Gefängnis war, und er träumte tatsächlich nahezu dasselbe, du schlägst mit Händen und Füßen wie mit Flügeln, immer weiter, auch wenn du gar keine Kraft mehr hast, schließlich stürzt du ab, hast Wadenkrämpfe und steckst Kopf voran in einer Erdspalte, und am Ende wirst du geschnappt. Durch diesen Schreck bin ich im gleichen Augenblick wach geworden, und den Traum hatte ich wieder und wieder. Wie ist das bei dir? Hm?«

Danach ist zehn Minuten lang nichts zu hören. Denn wir waren unterwegs, mein Aufnahmestick steckte in der Hosentasche, und weil Fang He mit Riesenschritten dahinlief, konnte der Stick nicht aufnehmen. Eine Durchsicht meiner Notizen ergab die Schilderungen vom 1. Oktober als eine zentrale Schlüsselstelle. Wir saßen in einem Zimmer im ersten Stock, das klein war wie ein Hamsterkäfig, weshalb Fang He immer wieder vorschlug, nach draußen zu gehen. Ich machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen, sondern befragte ihn nach meinem vorbereiteten Muster, und er antwortete durchaus darauf, trotzdem sprudelte unser Gespräch auch hier ohne Punkt und Komma dahin, sprang wieder munter hin und her, je nachdem, was uns gerade einfiel.

Alles in allem dauerte es gute drei Wochen, bis ich die nachfolgende Geschichte geordnet und herausgeschält hatte, die so hoffentlich ihrem Erzähler auch gerecht wird.

Der Weg ins Gefängnis

FANG HE: 1966 begann die Kulturrevolution, der Vorsitzende Mao nahm am Platz des Himmlischen Friedens in Peking vom Stadttorturm aus insgesamt achtmal eine Parade der Roten Garden ab und trieb damit den Personenkult um ihn immer weiter seinem Höhepunkt zu. China war damals ein Volk von 800 Millionen Menschen, Die Worte des Vorsitzenden Mao Zedong, auch die »Mao-Bibel« genannt, wurden jedoch in über drei Milliarden Exemplaren gedruckt, im Schnitt gab es also für jeden vier Exemplare, und man musste Die Worte wie am Schnürchen auswendig herunterbeten können. Doch damit nicht genug, gab der Vorsitzende Mao, der sich angewöhnt hatte, die Nacht zum Tag zu machen, mit dem Jahr 1969 regelmäßig um Mitternacht »Neueste oberste Direktiven« heraus, die »Zentrale Gruppe Kulturrevolution« schrieb sie auf der Stelle nieder und gab sie weiter, und das gesamte Volk, sowieso im Dauerfieber, musste bei allem noch mitten in der Nacht aus den Betten kriechen, sich anziehen, in Reih und Glied aufstellen und kollektiv lauschen. Danach wurden Gongs und Trommeln geschlagen und alles paradierte durch die Straßen, um den einen Satz oder die zwei, drei zu feiern, die der hochehrwürdige Herr von sich gegeben hatte und die die Nacht nicht hatten abwarten können, Sätze wie: »Ihr müsst euch um die Angelegenheiten des Staates kümmern«, oder: »Ihr jungen Menschen, die ihr voller jugendlicher Kraft seid, inmitten einer Zeit der Hoffnung, wie die Sonne frühmorgens um acht, neun Uhr, die Hoffnung ruht auf euren Schultern« – und wehe dem, der es wagte, nicht mit allen anderen aus dem Bett zu springen und zu jubeln, der war sofort ein Konterrevolutionär.

Auf der anderen Seite stand ich, 21 Jahre, im zweiten Jahr an der Uni, ein Riesenkerl von eins fünfundachtzig, ich liebte Sport und schlief so tief und fest, dass ich jedes Mal ganz wirr im Kopf war, wenn ich so hart aus den Träumen gerissen wurde, was mich ungemein verdross, aber äußerlich musste ich mir ein Lächeln abringen. Am meisten Sorgen machte mir, ich könnte im Schlaf reden, das wäre einer Selbstoffenbarung gleichgekommen. Hätten Kommilitonen das gehört, wäre ich erledigt gewesen.

Ich war also schon reichlich dumm dran, aber es gab einen, der stellte sich noch dümmer an als ich. – Wir waren in einem Wohnheimzimmer zu sechst, und wir beide hatten einen ähnlichen Familienhintergrund. Meine Familie kam aus Hongkong, seine aus Indonesien. Als patriotische Auslandschinesen waren wir in den 1950er Jahren dem Ruf des Ministerpräsidenten Zhou Enlai gefolgt und zurückgekehrt, wir beide waren sogar ungefähr gleich groß. So wurden wir die besten Freunde, er war an der ganzen Uni der einzige Freund, mit dem ich über alles reden konnte. Er war Fußballtorwart in der Unimannschaft, flink wie eine Katze, und nicht wenige Mädchen waren insgeheim in ihn verliebt. Unglücklicherweise hatte er es noch mehr mit dem Schlafen als ich, er legte sich hin und schnarchte wenige Sekunden später wie Donnerhall, womit er den allgemeinen Unmut der Kommilitonen auf sich zog.

Eines nachts begannen die Lautsprecher am Trainingsplatz der Uni wieder mal um Mitternacht urplötzlich ihren Höllenlärm und wir schlüpften einer nach dem anderen in die Klamotten und standen auf, er jedoch schnarchte seelenruhig weiter. Deshalb machte der Kommilitone vom unteren Bett ein Mordstrara, verpasste ihm sogar mit aller Kraft ein paar. Er schoss völlig orientierungslos hoch und brabbelte noch ganz im Schlaf den Satz: »Es hat der Kaiser wieder seinen Goldmund aufgetan!«

Du lieber Himmel! Das konnte ihn Kopf und Kragen kosten. Die Kommilitonen scharten sich um den Übeltäter, der gegen den Vorsitzenden Mao auf solche Weise gewütet hatte, und zerrten ihn von seinem oberen Bett herunter, selbst aus dem Nebenzimmer kamen sie angerannt, und alle gemeinsam schleppten sie ihn zum Trainingsplatz, wo sich immer mehr Leute dazugesellten. Bald traf auch der mit Gewehren bewaffnete Ordnertrupp der Volksbefreiungsarmee ein. Das war im Herbst 1969, in der Spätphase der Kulturrevolution, als an jeder Hochschule Arbeiter und Militärs stationiert waren, die das Kommando innehatten und das Revolutionskomitee bildeten. Die Massen waren damals extrem aufgewiegelt, ich weiß nicht, wie viele von ihnen auf ihn einschlugen und eintraten, am Ende ersetzten Stöcke die Hände und Füße, es prasselte wie Regen und Donner auf ihn ein. Er war ein trainierter Spitzensportler, konnte mehr einstecken als andere Leute, er schützte mit beiden Händen seinen Kopf und rollte sich über den Boden hin und her. Aber irgendwann rollte er langsamer und zuletzt bewegte er sich gar nicht mehr. Als schließlich die Leute herandrängten, die ihn aufsammeln wollten, konnte ich in der rabenschwarzen Dunkelheit noch eine Frau ausmachen, die ihn mit beiden Händen an den Haaren packte und seinen Kopf gegen einen Ziegelstein knallte. Das ging zu weit, ich konnte nicht mehr an mich halten und brüllte: »Lasst ihn in Ruhe! Sonst stirbt er!«

Im nächsten Augenblick begannen sich Himmel und Erde für mich zu drehen, ich hatte selbst einen Stock von hinten an den Kopf bekommen und ging bewusstlos zu Boden.

Als ich die Augen wieder öffnete, befand ich mich in einem blickdicht isolierten Minibus; beim nächsten Öffnen in einem blickdicht isolierten Raum. Leute kamen herein, leuchteten mit ihren Taschenlampen hin und her, dann brachten sie mich zu einem Verhör. Einige Tage danach gab es bei uns zu Hause eine Durchsuchung, bei der einiges beschlagnahmt wurde. Mein Tagebuch sowie Texte, die ich heimlich geschrieben, nach Hongkong mitgenommen und dort unter Pseudonym veröffentlicht hatte, Zeitungen und Zeitschriften, die mir Verwandte aus Hongkong mitgebracht hatten, alles fiel ihnen in die Hände. Das war ein echtes Desaster, denn während mein Mitgefühl für einen Konterrevolutionär ursprünglich nur ein Problem des Klassenstandpunkts gewesen war, war ich durch diese Hausdurchsuchung selbst zum aktiven Konterrevolutionär aufgestiegen. Ich weiß noch, dass ich nach dem Tag, an dem ich mitgenommen worden war, 21 wurde und meine Mutter jede Menge Zeug vorbereitet hatte, das ich gern aß, sie wartete und wartete, aber wer nicht kam, war ich. Also fuhr sie zur Uni und fragte nach mir, doch niemand verriet ihr etwas.

 

Jahre später erzählte Mutter von damals, sie hatte den ganzen Heimweg über geweint, war voller Sorge, verzweifelt, aber es war zu spät für Reue. Man muss sich mal überlegen: Meine Familie war vor den Opiumkriegen[1] nach Südostasien ausgewandert, zu jener Zeit waren die Chinesen, die ins Ausland gingen, allesamt Arbeiter, nach Südostasien, Indonesien, Malaysia, in die USA, selbst nach Mexiko, überallhin gingen sie, man kann das als eine erste chinesische Auswanderungswelle bezeichnen. Die Generation meines Großvaters väterlicherseits trieb dann schon Handel, später war mein Vater in ganz Südostasien unterwegs und hat recht profitabel Kautschuk und Erze verkauft, wodurch er einiges auf die Seite legen konnte. Ich wurde 1948 in Singapur geboren, kurz darauf ließen wir uns in Hongkong nieder. Damals hatte die Kommunistische Partei gerade die Nationalpartei besiegt, China befreit und eigentlich wollten sie sich auch unbedingt Hongkong einverleiben, die Propaganda der Einheitsfront war entsprechend heftig, man log, dass sich die Balken bogen, es war noch übler, als der Spruch dieses Goebbels: Eine Lüge muss nur hundertmal wiederholt werden, dann wird sie zur Wahrheit[2].

Mein Vater las Tag für Tag die von der Kommunistischen Partei finanzierten und herausgegebenen Zeitungen Wen Wei Po und Ta Kung Pao, und mit der Zeit ließ er sich davon fangen. Am 6. Nationalfeiertag des neuen China ging er den Verlautbarungen endgültig auf den Leim, er wollte zurück in die Heimat, bei Revolution und Aufbau mithelfen. Mutter machte ihm deswegen eine Riesenszene, es ging die ganze Nacht durch, doch er liebte sein Land nun wie besessen und ließ am Ende sogar die Familie dafür zurück, er ging alleine, blieb fürs erste in Kanton und wurde Abteilungsleiter in der Verkehrsbehörde. Er fuhr im Fernverkehr durchs Land, was zwar anstrengend war, ihm jedoch das Gefühl gab, sein langgehegter Wunsch, dem Land seiner Vorfahren etwas zurückgeben zu können, werde wahr. Später wurde er etwas bodenständiger und kam schließlich nach Hongkong zurück, um resolut Mutter und uns drei Kinder zu sich zu holen.

Anfangs war man den patriotischen, aus dem Ausland zurückgekehrten Chinesen gegenüber recht freundlich; auch 1957 während der Anti-Rechts-Bewegung[3] passierte meinem Vater nichts. Erst mit der Kulturrevolution 1966 ließ man in der Organisation nicht mehr davon ab, dass er zugeben müsse, ein von Amerika und Chiang Kai-shek[4] geschickter Agent zu sein. Mein Vater tobte, unsere Familie habe in Hongkong ein Haus, ein Auto und ein Boot besessen, zurückgekommen sei er auf den Ruf des Ministerpräsidenten Zhou hin, um den Sozialismus mit aufzubauen. Das wiederum brachte die Volksmassen in noch größere Rage, eine öffentliche Kritikversammlung wurde einberufen, um mit ihm abzurechnen, er wurde verprügelt ohne Rücksicht auf Verluste und meine ganze Familie wurde mit reingezogen. Vergangenes Jahr ist mein Vater in Hongkong gestorben, kurz vor seinem Ende sagte er noch, die größte verdammte Dummheit seines Lebens sei es gewesen, denen auf den Leim und in die Heimat zurückzugehen; Mutter, die an seiner Seite wachte, hätte gern hinzugefügt, auf den Leim gegangen bist du dir schon selbst, und du hast auch mich gleich mit reingezogen, aber sie verkniff es sich.

 

Die Welt kennt kein Mittel gegen Reue, meine Eltern steckten im Pech fest. Trotzdem wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen, auch ihr Sohn könne im Gefängnis landen. Damals waren alle öffentlichen Sicherheitsorgane, Staatsanwaltschaften und Volksgerichte lahmgelegt, weder gab es Gerichtshöfe noch irgendwelche Gerichtsverfahren. Wer aufgegriffen wurde, wurde in einen dunklen Raum gesperrt, jemand von der Öffentlichen Sicherheit führte eine einzige behördliche Vernehmung durch und ab ging es in ein verdammt riesiges Gefängnis.

LAO WEI: Wie viele Wachpostenreihen hintereinander gab es?

FANG HE: Drei, glaub ich. Die Ummauerung war sehr hoch, die Drahtverhaue waren in großen Rollen gedreht, und auf der Mauer waren nicht nur die elektrisch, es gab außerdem Eisennägel, Glasscherben, Eisenzwicken, Stahlklingen und anderes mehr. Es hieß, das Gefängnis war während der Qing-Dynastie[5] gebaut worden und seit über einem Jahrhundert ist dort nie jemand ausgebrochen. Ich kam gleich in Einzelhaft, mein Verbrechen wog zu schwer.

LAO WEI: Wie lange?

FANG HE: Wie lange am Ende, hab ich vergessen. Ich erinnere mich nur noch, dass es mitten im Winter war, und obwohl es in Kanton nicht schneit, war es wirklich kalt, auf dem Zementboden lag eine dünne Schlafmatte, der Zementboden selbst stand unter Wasser und war von weißen Schimmelflecken überzogen. »Rückfeuchten« nennt sich das. Nur mit einer dünnen Bettdecke zugedeckt war ich die ganze Nacht über stocksteif, wenn ich am Morgen aufwachte, war ich fast zur Leiche gefroren. Und es gab Bettwanzen, eine an der anderen, hatte ich nichts zu tun, fing ich sie, so ging das Tag für Tag. Essen gab es im Gefängnis zweimal am Tag, zwei Maisbrötchen mit salzig eingelegtem Rettich, die Maisbrötchen stanken faulig, unter normalen Umständen hätte man die garantiert nicht runtergebracht, aber damals konnte ich alles schlucken. Ging es gar nicht anders, konnte ich sogar Scheiße fressen.

In der Provinz Kanton gibt es Kakerlaken, die eine Nummer kleiner sind als Kakerlaken anderswo, ihre Flügel und der Schwanz sind ganz glänzend, und die sind manchmal nachts zu mir hereingeflogen und auf Futtersuche in die Latrine abgetaucht. Als ich die erste entdeckte, war ich hoch, bevor ich irgendeinen Gedanken fassen konnte, fischte nach ihr, pulte sie aus dem Panzer wie eine Erdnuss aus der Schale, warf sie in den Mund und kaute, dann kehrte ich unter meine Decke zurück, wo ich ein Auge noch eine Weile offen hielt, denn wenn nochmal eine hereinkam, wollte ich mich sofort wieder drauf stürzen. Ich war unfassbar, unfassbar hungrig. Selbst die Bettwanzen habe ich zu essen versucht, aber da würgte es mich sofort endlos und mir stießen wie einem Wiederkäuer Wogen von Magensaft auf, mir war so was von hundeelend. Im Vergleich dazu waren die Kakerlaken echt nicht schlecht, ich hab einige von ihnen verspeist.

LAO WEI: Gleich wird mir schlecht.

FANG HE: Was ist denn da dabei? Du bist ja vielleicht zimperlich.

LAO WEI: Wie hast du denn so allein die Zeit rumgebracht?

FANG HE: Ich habe Die Worte des Vorsitzenden Mao auswendig gelernt. Während der Kulturrevolution hatte sogar im Gefängnis jeder sein Büchlein zur Hand, ich konnte sie schon rückwärts hersagen, und wenn ich nichts zu tun hatte, spielte ich mit mir selbst ein Quiz oder Schriftzeichenraten. Eines Tages kam aber noch jemand in meine Einzelzelle, Yuan hieß er, war grade dreißig, stammte aus einer anderen Gegend des Landes, und er war zu meiner Verblüffung schon Universitätsprofessor, hatte in der Sowjetunion studiert. Wir unterhielten uns auf Russisch, viel über Geschichte und Literatur, die Politik allerdings ließen wir fein säuberlich außen vor. Achje, das ist so unglaublich lang her, ich hatte ihn schon fast vergessen, aber eines unserer Gespräche hat sich in mein Gedächtnis tief eingegraben:

Was hast du verbrochen?

Konterrevolution.

Genau wie ich.

Könnte man für irgendwas Freiheit eintauschen, was würdest du hergeben?

Weiß nicht. Geld hab ich nicht.

Du hast einen Körper.

Ich säg mir ein Bein ab. Der Weltrekord einer Amerikanerin im 100-Meter-Sprint liegt bei 11 Sekunden, diesen Rekord hab ich schon mal eingestellt, meine Beine haben also verdammt was drauf. Auch beim Hochsprung, ich bin schließlich eins fünfundachtzig groß, da kann ich schon eins sechsundneunzig überspringen. Du?

Ich würde wohl mehr hergeben, meine Beine können mit deinen nicht mithalten, ich würde mir also beide Beine absägen. Auch im Rollstuhl kann man weiterleben … Nur ist Freiheit so billig nicht zu haben …

Dann reiß ich mir noch ein Auge raus. Du?

Ich nehme beide.

Reicht immer noch nicht, Freiheit ist mehr wert als das …

Dann geb ich zusätzlich ein Ohr, ein Nasenloch, eine Niere…

So kann man aber sterben.

Solange ich nur fürs erste nicht sterben müsste, solange ich nur nochmal ins Ausland könnte, ein paar Züge Freiheit atmen, dann sterben …

Der Wahnsinn, ich konnte nicht mehr! Meine Tränen schossen wie nach einem Dammbruch. Ich hatte ihn nie mit »Professor« angeredet, doch jetzt nannte ich ihn »Herr«, das sagte ich nur zu jemandem, vor dem ich allerhöchsten Respekt hatte. Während der Kulturrevolution durfte man niemanden mit »Herr«, »Fräulein« oder »Frau« anreden, tat man es, war man sofort ein Bourgeois, was einen auf der Verbrechensskala eins raufrücken lassen konnte. Aber ich spürte tief in mir eine solche Bewunderung für diesen Menschen, diesen unbeugsamen Gelehrten, der in seinen Händen nicht genug Kraft hatte, um ein zappelndes Huhn zu verschnüren, für die Freiheit jedoch zu allem bereit war. Wir unterhielten uns weiter, redeten die ganze Nacht lang Chinesisch und Russisch durcheinander und, höchst erstaunlich, lief die Gefängnispolizei zwar vor der Tür auf und ab, doch niemand rief uns zur Ordnung. Der Herr war bereits verheiratet und hatte Kinder, am Ende sagte er mir seine Heimatadresse.

Am nächsten Morgen schloss ein Gefängnispolizist sehr früh auf und holte ihn zum Verhör, und, niemals hätte ich das erwartet, kaum war er ein paar Minuten fort, knallten nebenan zwei Schüsse, er war hingerichtet worden! Ich hörte gerade noch ein »aah, aah« von ihm und mir sträubten sich im Moment alle Haare am Körper. In meinem Kopf rotierte ein einziger Gedanke: »Ich muss raus hier, ich muss raus hier!«

Der Ausbruch

Ich verbrachte ein paar weitere Tage in größter Furcht und Unruhe, bis ich endlich aus der Einzelzelle in den Großknast verlegt wurde. An sich war das ein Kerker für zehn, aber es waren gut zwanzig Leute reingepfercht. Es war echt eng. Schlafen konnten wir nur schichtweise, dabei lagen die einen auf dem Boden, andere lehnten an der Wand. Der Mensch ist schon wirklich ein erstaunliches Wesen, er kann selbst unter den unerträglichsten Bedingungen noch an eine Wand gelehnt schlafen und sogar schnarchen. Klos gab es im Großknast nicht, in der Einzelzelle hatte es immerhin eines gegeben, stattdessen hier nur einen Holzkübel, der für jede Art von Geschäft herhalten musste … Unter den Gefangenen gab es sowohl kleine Fische als auch große Drachen, es gab Diebe und Einbrecher, Raufbolde und richtige Verbrecher. Die Konterrevolutionäre jedoch waren in jener Zeit überall in der Mehrheit. Und je mieser die Umstände, desto rastloser der Geist, die Konterrevolutionäre wisperten Mund an Ohr in aller Heimlichkeit von einem zum anderen, bis zuletzt ein kollektiver Ausbruch verabredet war.

Anfangs wollten auch noch alle weg, als es am Ende drauf ankam, gerieten einige ins Wanken, sie fanden das Risiko zu groß, so dass sich zuletzt zwölf tatsächlich auf den Weg machten.

Das Gefängnis erschoss von Zeit zu Zeit Leute, und einmal kam uns dann der Zufall zu Hilfe, die Gefängnispolizei zog aus unserer Zelle Gefangene raus, die eine Leiche wegtragen sollten, und weil der Tote vermutlich ein gewisses Ansehen hatte, gab es dafür einen Sarg aus dünnen Brettern. Diese Gelegenheit ließ sich ein Schlaukopf nicht entgehen, er steckte einen Sargnagel ein, kleinfingerdick und eine gute halbe Hand lang; mit diesem Sargnagel begannen wir nun in einer Ecke zu stochern, eisern jeden Tag, bis nach einer langen Zeit schließlich durch den Spalt im Zement zwei alte Steine sichtbar wurden. Jetzt stocherten wir in den Spalt zwischen den Steinen, das war härter als die Zementschicht auf der Wand, wir schoben schon höchste Panik, es könnte zu Ende sein, trotzdem stocherten wir weiter, immer im Wechsel, es war wie bei Alexandre Dumas’ Grafen von Monte Christo, aber dort gab es nur einen anderen, wir waren viele und umso stärker.

LAO WEI: Hat euch niemand verpfiffen?

FANG HE: Damals war es so, dass über jedem ein und derselbe Topfdeckel schwebte, hätte uns jemand verpfiffen, wäre das für uns alle der Tod gewesen, vorher jedoch hätten wir den Verräter erwürgt. Wir sangen immer zu bestimmten Zeiten, wie von einem Wecker alarmiert, im lauten Chor Die Worte des Vorsitzenden Mao, um die Geräusche in der Zelle zu übertönen. Nach etwa weiteren zwei Wochen lockerte sich der erste alte Stein in der Mauerecke und ließ sich rausziehen. Nun gab es aber zwischen der Mauer und der folgenden Außenmauer einen Abstand und man konnte mit dem Nagel kaum weitermachen, wir hätten etwas zum Stemmen gebraucht. Doch außer dem Nagel hatten wir nichts. Trotzdem war jedem klar, dass Aufhören keine Option mehr war, also hängten wir uns noch mehr rein, immer weiter im Schichtbetrieb. Die Außenmauer schien wie aus Gusseisen, mit jedem Kratzen wurde der Nagel kürzer und eine Hand brachte nicht mehr genug Kraft drauf, also ritzten wir wild mit beiden Händen. Es war zum Verrücktwerden, niemand wusste ja, wie dick die Mauer war …

Doch irgendwann löste sich auch in der Außenmauer ein Stein! Ich konnte gerade noch ›Stop‹ rufen, wäre es sonst von außen entdeckt worden, wäre das unser Ruin gewesen. Der innere und der äußere Stein hatten die Größe einer Suppenschüssel bzw. einer Fischplatte, aber in jenen Hungerjahren gab es in ganz China keine hundert Dickwänste mehr, der Vorsitzende Mao galt noch als einer der dicksten, deshalb konnten wir uns alle, wenn wir Schultern und Bauch einzogen, durch diese vermaledeiten Löcher quetschen, auch wenn es uns den Kopf presste wie der Goldreif den Affenkönig Sun Wukong[1]. – Weil gerade tiefe Nacht war, meinte jemand, wir sollten sofort loslegen.

Ich sagte: Das geht nicht, nachts werden wir schwerer bewacht als tagsüber, die Drahtverhaue auf den Mauern stehen überall unter Strom, außerdem gibt es Polizeistreifen mit Wolfshunden, Abhauen geht nur am Tag.

Der andere darauf: Du bist verrückt, wie soll das denn am helllichten Tag gehen?

Ich: Wir verschwinden beim Mittagsschlaf, der Vorsitzende Mao hat alle Chinesen angewiesen, nach Mittag zu schlafen, da werden gerade die vom Gefängnis keine Ausnahme machen, oder?

 

LAO WEI: Ist das auch aus seinen Worten?

FANG HE: Definitiv. Und definitiv hatte Gott bei der Sache seine Hand im Spiel, denn am nächsten Tag begann es nur wenige Minuten nach dem Mittagsschlafläuten platschend zu regnen. Laut Wettervorhersage sollte ein Taifun folgen. Deshalb sprang ich auf und sagte: Wir dürfen nicht länger warten! Da auf einmal bekam es allerdings die Hälfte der Leute mit der Angst, auf einmal fanden sie das Risiko zu groß.

Ich sagte: Ihr dürftet auch in Schwierigkeiten geraten, wenn ihr nicht abhaut.

Sie darauf: Sobald ihr draußen seid, schreien wir, so können wir vielleicht für uns noch was rausschlagen.

Ich sagte: Besser machen wir euch auf der Stelle platt.

Alle, die fort wollten, warfen den anderen bitterböse Blicke zu, einer hantierte auffällig mit dem Sargnagel. Daraufhin meinten sie: Is gut, is ja gut, wer wollte nicht in die Freiheit, es sei nur so, dass sie schon zu schwach seien, wahrscheinlich würden sie nach wenigen Schritten zusammenbrechen und griffe man sie so auf, bedeutete das garantiert ihr sofortiges Ende.

Ich sagte: Also gut, wenn wir durch die Löcher durch sind, müssen wir noch über einen großen Hof und über eine Mauer, dafür brauchen wir mindestens zehn Minuten. Zehn Minuten, danach macht, was ihr wollt.

 

LAO WEI: Und wenn sie früher gerufen hätten?

FANG HE: Diese Leute damals waren nicht gerade die hellsten. Vor allem aber waren wir zwölf Ausbrecher groß und noch immer gut bei Kräften und wir waren voller Überzeugung, dass wir es schaffen konnten, damit gelang es uns, die Schwachen einzuschüchtern. Ich sagte zu ihnen: Denkt daran, dass auf Ausbruch wie auf Mord der Tod steht, wenn man sich auf euer Wort nicht verlassen kann und ihr früher schreit, müssen wir wohl oder übel wieder reinkriechen und werden euch einem nach dem anderen den Hals umdrehen.

 

LAO WEI: Wie wurde die Zeit gemessen?

FANG HE