Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand - Liao Yiwu - E-Book

Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

Bis heute wirken die Folgen des Massakers vom 4. Juni 1989 am Platz des Himmlischen Friedens in der chinesischen Wirklichkeit nach. Liao Yiwu versammelt dazu bislang unveröffentlichte Texte. Er schreibt über den bisher nicht identifizierten Mann, der sich allein, mit Einkaufstüten in den Händen, einem Konvoi von Panzern der Volksbefreiungsarmee in den Weg gestellt hat und damit zur Ikone des Widerstands wurde. Er erzählt von dem Leben seiner Knastbrüder und veröffentlicht erstmals Briefe, die er damals aus dem Gefängnis an seine Frau schrieb, ohne sie je abgeschickt zu haben.

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Yiwu Liao

Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand

Texte aus der chinesischen Wirklichkeit

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortDie letzten Augenblicke im Leben Liu XiaobosAus dem Leben meiner GefängnisbrüderBriefe aus dem GefängnisVorwort zu den gesammelten Gedichten von Liu Xiaobo und Liu XiaGedichte Liu Xiaobos an Liao Yiwu

Vorwort

Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 zog die chinesische Regierung über 200000 Mann der Volksbefreiungsarmee zusammen, rückte gegen Beijing vor, kreiste es ein und richtete ein Massaker von ungeheuren Ausmaßen an, das international für Entsetzen sorgte. Über die bis heute nicht geklärte Anzahl der Opfer besteht Uneinigkeit. Regierungssprecher Yuan Mu hat am 6. Juni verlautbart, nach »ersten Schätzungen« liege die Zahl der Toten bei nicht ganz 300. Die Schätzungen des chinesischen Roten Kreuzes und der Organisatoren der Studentenbewegungen belaufen sich nach einer seinerzeitigen Inspektion von über 100 Beijinger Krankenhäusern auf 2600 bis 3000 Opfer.

Das Weiße Haus sprach 2014 nach Einsicht entsprechender Dokumente von 10454 Opfern und 40000 Verletzten.

Ende 2017 sprachen die National Archives von England nach Einsicht entsprechender Dokumente von mindestens 10000 Opfern unter der Bevölkerung.

 

Am Vormittag des 5. Juni 1989, Ströme von Blut waren geflossen und die Luft knisterte, stellte er sich allein den Panzern entgegen – ein Niemand, ein Mann wie du und ich, stand in der Mitte des breiten Chang’an-Boulevards, vor sich mehr als 18 Panzer vom Typ 59. Der vorderste Panzer versuchte, an ihm vorbeizukommen, aber er wusste das zu verhindern, indem er hin und her sprang; als die Panzerkolonne schließlich bremste und stehen blieb, nutzte er die Gelegenheit, stieg auf den Panzerturm, verhandelte kurz mit dem Fahrer, der sich für einen Augenblick sehen ließ, und zog sich zurück – als die Panzer erneut vorrückten, stellte er sich ihnen erneut in den Weg. Gerade, als es nicht mehr vor und zurück ging, erschienen drei unbekannte Gestalten auf dem Plan und schafften ihn weg, als würden sie eine Barrikade forträumen.

Viele westliche Journalisten, die aufgrund des »Kriegsrechts« im Beijing-Hotel festgehalten wurden, haben mit riesigen Teleobjektiven den Vorgang heimlich aufgenommen. Doch den Hauptdarsteller der Szene kannte niemand. Der Name Wang Weilin tauchte zum ersten Mal im englischen »Sunday Express« auf, einer kleinen regionalen Zeitung, die überhaupt keinen Korrespondenten in Beijing unterhielt, aber die Schlagzeile von Wang Weilin, dem »Tank Man«, ging um die Welt. Auch die Milliardenbevölkerung Chinas hörte davon. »Wang Weilin, der Mann, der vor den Panzern stand« wurde zu einem Symbol für den millionenfachen Widerstand im Land. Aber wie hieß der Mann, der vor den Panzern stand, wirklich? Woher kam er? Wohin ist er verschwunden? Das ist, wie bei so vielen anderen Opfern des Massakers auf dem Tiananmen, bis heute ein ungelöstes Rätsel.

Gemeinhin wird angenommen, dass er an einem geheimen Ort exekutiert worden ist, die drei Männer, die ihn mitgenommen haben, waren offensichtlich Agenten mit einer entsprechenden Spezialausbildung – doch als der Staatsvorsitzende Jiang Zemin von westlichen Medien gefragt wurde, hat er das mehrfach entschieden dementiert. Auch ein anderer Beamter der chinesischen Kommunisten hat festgestellt: »Wir haben keine Möglichkeit, ihn zu finden. Wir haben von den Journalisten seinen Namen bekommen, haben die digitalen Daten gecheckt, aber er war weder unter den Toten noch unter den Inhaftierten zu finden.«

So sind wir auf Spekulationen, auf alle möglichen romantischen Geschichten angewiesen. So soll Wang Weilin nach heimlicher Überfahrt in Taiwan gesehen worden sein, wo er als Archäologe arbeiten und über die Geschichte mit den Panzern nicht anders sprechen soll als über seine stummen Fossilien; dann wieder will man Wang Weilins Eltern gefunden haben, die aber nicht bereit seien, den Verbleib ihres Sohnes preiszugeben.

Die Reihe von Romanen, Gedichten, Rocksongs, Kunstwerken und selbst Werbespots, die diese Geschichte zum Stoff haben, reißt nicht ab; in einem kürzlich erschienenen Roman steht Wang Weilin auf einem anderen Stern an der Spitze von Aufständischen. So nimmt es kaum wunder, dass während des arabischen Frühlings 2011 der libysche Diktator Gaddafi nach der Unterdrückung der oppositionellen Demonstrationen in einer Fernsehansprache sagte: »Das ist kein Spiel hier … jeder, der sich vor einen Panzer stellt, wird zermalmt werden. Die Einheit und Unversehrtheit Chinas ist ein höherer Wert als die paar Leute auf dem Tiananmen.«

Auf diese Weise hat sich Wang Weilin über Zeit und Raum erhoben. Vielleicht wird sich nach weiteren tausend Jahren und nach weiteren unzähligen Neuanfängen der Kreis zurück zum »Klassiker der Berge und Meere« schließen. Damals hätte man Wang Weilin wie Xingtian[1], der die totalitäre Macht des alten Imperiums herausgefordert hat, den Kopf abgeschlagen, doch er hätte nach dem Verlust seines eigentlichen Antlitzes noch immer aufrecht auf der Straße gestanden und, die Brustwarzen als Augen, den Nabel als Mund, mit ausgebreiteten Armen für alle Zeiten Widerstand geleistet. Deshalb heißt es in einem Gedicht des Eremiten Tao Yuanming[2] aus der Jin-Dynastie:

Der Vogel im Schnabel ein Holz

will das Meer damit füllen.

Xingtian tanzt mit Axt und Schild

verliert nie den Kampfeswillen.

Berlin, 4. Juni 2017

Die letzten Augenblicke im Leben Liu Xiaobos

Am Nachmittag des 29. August 2017 erreichte ich Liu Xia auf ihrem Festnetztelefon zu Hause in Beijing, das erste Mal seit Xiaobos Heimgang. Wie schon vor diesem Ereignis stand Liu Xia unter strenger Beobachtung, zwei Tage zuvor hatte die Polizei es ihr schließlich erlaubt, aus Dali im Tausende Meilen entfernten Yunnan nach Hause zurückzukehren.

»Ganze achtzig Tage«, sagte sie später, »bis ich wieder durch diese Tür treten konnte.«

Ich rief laut ihren Namen.

Sie antwortete schwach und kraftlos: Wer?

Liao.

Ach, du, sie lachte auf, stockte und brach in Tränen aus, sie konnte sich auf einmal nicht mehr halten und hörte gar nicht mehr auf.

Auch ich weinte, auf beiden Seiten des Telefons wurde geschluchzt, und es fiel mir schwer, mich zu der Frage durchzuringen: Wie ist er gegangen?

… er hat sich von allen Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern verabschiedet und immer wieder gesagt: »Danke, ich muss jetzt.« So friedlich, so gut. Ich sagte ihm, dass er nicht an das Beatmungsgerät angeschlossen sei, da meinte er ganz klar: »Ach, das weiß ich doch.« Und dann sagte er noch: »Du musst hier raus, raus …«

Ich lehnte an meinem Schreibtisch und weinte. Wie im Traum, wie in einem Trugbild sprach Liu Xia weiter: Er hatte am meisten Angst, dass ich weine, jedes Mal, wenn ich weinte, hat er mich in den Arm genommen, mir über das Gesicht gestreichelt und sich um mich gedreht.

Ich wollte sagen, wenn du da raus bist, werden dich auch Freunde in den Arm nehmen, wenn du weinst, werden sie dir über das Gesicht streichen, Freunde wie Herta Müller. Aber ich habe es nicht gesagt, es hätte keinen Sinn gemacht. Doch einfach weiterzuheulen war auch keine Lösung, und so sagte ich: Du musst auf dich aufpassen, ein neues Leben beginnen.

Ich passe auf mich auf, ich nehme traditionelle Medizin, in ein paar Tagen lasse ich mich im Krankenhaus gründlich durchchecken. Ich falle häufig von einem Augenblick auf den anderen in Ohnmacht, wenn ich dann wieder zu mir komme, weiß ich gar nicht, wie viel Zeit vergangen ist, und stelle fest, dass ich mir hier und dort weh getan habe.

Du musst um deine Ausreise kämpfen, nur so wird Xiaobo Ruhe finden. Vor ein paar Tagen waren Herta mit ihrem Mann und Peter Sillem bei mir, sie machen sich große Sorgen um dich, über einhundert Nobelpreisträger haben für dich und Xiaobo einen Aufruf verfasst, den Herta hier bei mir aufgesetzt hat. Nach chinesischem Gesetz bist du frei.

Nach was für einem Gesetz denn? Wenn es Gesetze gäbe, wäre es nie so weit gekommen, wie es heute ist. Man braucht immer eine Erlaubnis von diesen Leuten.

Du musst noch einen schriftlichen Antrag stellen.

Sie sagen, wir könnten erst nach dem 19. Nationalen Volkskongress darüber reden. Ich habe so ein Gefühl, dass sie mich dann gehen lassen. Es hilft nichts, wenn du Druck machst, du erdrückst mich nur. Aber ich werde kämpfen, mach dir keine Sorgen.

Wie soll ich mir keine Sorgen machen, wollte ich sagen. Aber ich habe es mir verkniffen. Liu Xia am anderen Ende hat das gespürt und schluchzte wieder: Vorher habe ich jeden Monat einen Besuch gemacht, im Gefängnis, da war noch Hoffnung, aber jetzt ist da gar nichts mehr. Im Supermarkt stehe ich herum wie bestellt und nicht abgeholt, vorher habe ich immer darüber nachgedacht, was ich für ihn kaufen könnte, jetzt hat das alles keinen Sinn mehr.

So kannst du aber nicht weitermachen.

Das weiß ich selber. Ich muss langsam wieder zu Kräften kommen, ich werde ein bisschen malen, mich ablenken, ach, dein Akku ist sicher gleich leer.

Ich rufe wieder an.

Wenn du Zeit hast …

In einem nahezu vierzigminütigen Telefonat hatten wir kaum mehr zustande gebracht, als uns gegenseitig die Tränen abzuwischen.

Aber jetzt war es zu spät. Das letzte Mal hatte ich Xiaobos Stimme vor neun Jahren gehört, ich hatte eine E-Mail von ihm bekommen, die »Charta 08« im Anhang hatte offensichtlich einen Virus, weshalb ich nicht wagte, ihn zu öffnen. Zu meiner Verwunderung hat Xiaobo es geschafft, mich anzurufen und mir an den Kopf zu knallen, ob ich »schon unterschrieben hätte«. Während ich brummelnd »Liao Yiwu, Schriftsteller« daruntersetzte, drückte ich auf die Returntaste. Xiaobo schaute auf der anderen Seite nach und kicherte: »Gelatz, Gelatz, Gelatzkopf, danke, Alter!«

Anschließend flog das Ganze auf und er bekam elf Jahre; und wieder anschließend bekam er den Friedensnobelpreis, Liu Xia wurde unter Hausarrest gestellt, die beiden von der Welt abgeschnitten, jeder auf seiner Seite der Mauer. Bis ich Anfang 2014, mittlerweile im deutschen Exil, schließlich über ein internationales Telefon anrief. Liu Xia heulte wie ein Schlosshund, wie in dem oben beschriebenen Telefonat auch bekamen wir kaum mehr zustande, als uns gegenseitig die Tränen abzuwischen.

Aber die beiden Telefonate unterschieden sich doch sehr! Damals war Xiaobo noch bei uns und Liu Xia hatte noch Hoffnung; jetzt war Xiaobo nicht mehr da, wie war er gegangen? Wie konnte sie aus dem Land kommen?

 

Vergangenes rauscht in der Nacht wie ein Fluss, doch Xiaobo, in seinem einsamen Boot, rückt uns in dem folgenden, einmal sehr geheim gewesenen Brief von den Rändern des sternhellen Firmaments ein Stück näher. Damals konzentrierten Herta Müller, Harry Goldstein, Peter Sillem, der gerade den S. Fischer Verlag verlassen hatte, und ich uns gerade auf ihn und Liu Xia, Briefe gingen hin und her und wir kamen mehrmals in verschiedener Besetzung bei mir zusammen. Draußen zwitscherten die Vögel, wir waren in intensive und naive Diskussionen vertieft. Ich sagte: »Die Frage ist doch, geht es um ›Exil‹ oder um eine ›ärztliche Behandlung im Ausland‹?« Herta Müller zögerte einen Augenblick und sagte: »Es müsste wohl besser heißen ›Ausreise für eine ärztliche Behandlung im Ausland‹.«

Liebe Frau Merkel,

es tut mir leid, Sie zu stören, aber ich habe keine andere Wahl.

Der 2010 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilte Nobelpreisträger Liu Xiaobo, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet, hat unlängst unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich gerne in Begleitung seiner Frau in Deutschland einer ärztlichen Untersuchung unterziehen möchte. Wir alle hoffen auf die Unterstützung Ihrer Regierung!

Am 30. März 2017 hat sich Liu Xiaobos Frau Liu Xia, die bis heute als menschliche Geisel unter Hausarrest gehalten wird, mit dem Zug von Beijing in das Kreisgefängnis von Jinzhou in der Provinz Liaoning aufgemacht, um ihrem Mann von ihren klinischen Depressionen, ihrer Herzerkrankung, der unheilbaren Krankheit ihrer Mutter und der elfjährigen Haftstrafe zu berichten, zu der ihr jüngerer Bruder Liu Hui wegen Beihilfe zu einer Straftat verurteilt worden ist. Liu Xiaobo, bis dahin völlig von der Außenwelt isoliert, war schockiert und versank in Schuldgefühlen. Seiner Frau in tiefer Zuneigung verbunden, war es für ihn unerträglich, sie dieser ständigen Tortur ausgesetzt zu sehen, weshalb er, ohne einen Augenblick zu zögern, versprach, mit ihr und ihrem jüngeren Bruder zusammen nach Deutschland zu gehen.

Zuvor hatte er als einflussreichste oppositionelle Führungsgestalt Chinas, die auch die »Charta 08« initiiert und entworfen und viermal im Gefängnis gesessen hatte, stets bekundet, dass er für eine demokratische Zukunft Chinas eintrete und das Land auf keinen Fall verlassen werde …

Liu Xias Gesundheitszustand ist sehr ernst, sie leidet unter Ohnmachtsanfällen, musste deswegen mehrmals in der Notaufnahme behandelt werden, doch bei der ständigen strengen Überwachung durch die Polizei hat sie keine zufriedenstellende Behandlung erhalten können. Schlimmer noch, ihr war es jahrelang nicht erlaubt, irgendetwas davon ihrem einsitzenden Mann zu offenbaren.

Das erste Mal seit vielen Jahren durfte sie nun Liu Xiaobo mitteilen, wie es ihr wirklich geht. Und zu unser aller Überraschung hat er ohne das geringste Zögern beschlossen, gemeinsam mit seiner kranken Frau und ihrem verurteilten jüngeren Bruder das Land zu verlassen. Ich glaube, durch Ihre und die leisen und doch nachdrücklichen Verhandlungen des deutschen Außenministeriums hat Liu Xiaobo mit seiner Frau und seinem Schwager nun eine große Chance, ohne große Probleme nach Berlin zu kommen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:

Vor etwa zwei Jahren hatte Liu Xia den heftigen Wunsch, ihren Mann von einer gemeinsamen Ausreise nach Deutschland zu überzeugen, das hat sie mir mehrmals am Telefon gesagt. Ich selbst habe diesen Wunsch mehrmals an Herta Müller, ihren Mann und Peter Sillem, den mir befreundeten Lektor des S. Fischer Verlages, weitergegeben und wir alle machten uns große Sorgen. Am Nachmittag des 22. März nun kamen wir erneut zusammen, um unser weiteres Vorgehen zu beraten, und kamen schließlich zu der gemeinsamen Überzeugung, dass Liu Xia noch einmal bei der Geheimpolizei, die mit ihrer Überwachung betraut ist, vorstellig werden und die Erlaubnis verlangen solle, »ihrem Mann mitzuteilen, wie es ihr wirklich geht«, und »ihn zu überzeugen, das Land zu verlassen« – auch wenn die Chancen nicht groß waren, dass die zuständigen Behörden in China darauf reagieren würden.

Zu unser aller Überraschung wurde dieser Forderung nach mehrmaligen Eingaben stattgegeben!

Das ist ein unmissverständliches Zeichen: Wenn die chinesischen Behörden mit einer Ausreise Liu Xiaobos nicht einverstanden gewesen wären, so hätten sie ihr, wie gehabt, nicht erlaubt, ihren Mann über ihre wirkliche Lage in Kenntnis zu setzen, und wären auf ihre Forderung nicht eingegangen. Auch hätten sie die internationale Telefonverbindung zwischen ihr und mir, die unter strenger Überwachung steht, unterbrochen und die Verbindung zwischen ihr und der Außenwelt gekappt, um der Bildung von Gerüchten entgegenzuwirken.

Liebe Frau Merkel, vor sieben Jahren habe ich mich selbst zum deutschen Konsulat in Chengdu begeben, um Ihrem Menschenrechtsbeauftragten die chinesische Fassung des Films »Das Leben der Anderen«, die ich illegal auf einem Untergrundmarkt für Raubkopien bekommen habe, für Sie mitzugeben. Später dann haben Sie mir geholfen. Und der früh verstorbene Außenminister Westerwelle hat dazu noch ein öffentliches Statement abgegeben … diese Begebenheiten der Vergangenheit stehen mir immer lebhaft vor Augen und werden auch in meinem im kommenden Jahr erscheinenden Buch mit dem Titel: »Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass« Erwähnung finden. Heute geht es um die Frau von Liu Xiaobo, die Ihre Hilfe noch weit mehr verdient. Der Name Liu Xiaobo ist eine Art Synonym für die chinesische Zukunft … ich bin voller Zuversicht, dass Sie und die deutsche Regierung einen Weg finden werden, mit den chinesischen Kommunisten vermittelnd zu verhandeln, um Liu Xiaobo und die Seinen aus ihrem Käfig zu befreien.

Wir standen nun schon so viele Male in Kontakt, Sie und ich, dass ich Sie nun voller Vertrauen direkt um Hilfe zu bitten wage – dies ist vielleicht der wichtigste Brief meines Lebens, weshalb ich ihn unseren gemeinsamen Freunden, dem Ehepaar Wolf Biermann, zur Weitergabe überantworte.

Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und ich danke Ihnen im Namen von Liu Xiaobo und seiner Frau.

In Erwartung eines Zeichens Ihrerseits.

Ihr sehr ergebener

Exilschriftsteller Liao Yiwu

Berlin, den 22. April 2017

Wir haben diesen Hilferuf über drei Kanäle hinausgeschickt. Der 81 Jahre alte Dichter und Liedermacher Wolf Biermann war dabei die wichtigste Verbindung, Frau Merkel und ich sind mit ihm befreundet und Fans seiner Lieder. Anschließend schrieb ich:

Lieber Wolf Biermann, liebe Pamela,

Liu Xiaobo, mein treuer Freund und einer der wichtigsten politischen Widerstandskämpfer Chinas, hat sich kürzlich dazu entschlossen, wenn möglich, nach Deutschland ins Exil zu gehen.

Ich habe deswegen einen Brief an Bundeskanzlerin Merkel verfasst, in dem ich sie um Hilfe bitte. Ich wüsste niemanden außer Euch, der diesen Brief möglichst schnell an Frau Merkel weitergeben könnte.

Das lässt mich an die Zeilen denken, die Du mir vor sieben Jahren geschickt hast, das Lied »China unter der Großen Mauer«, welches ein Freund mir ins Chinesische übersetzte … und dann saß ich bald danach tatsächlich bei Euch zu Hause am Kamin und lauschte, wie Du es sangst … ganz schön schnell ist die Zeit seitdem vergangen, lieber Wolf Biermann.

Heute ist es an mir, meinem Freund Liu Xiaobo eine helfende Hand nach China zu reichen, doch auch das geht nur durch Deine Vermittlung. Ich hoffe, dass Du und Pamela eines Tages Liu Xiaobo und seine Frau Liu Xia kennenlernen werdet und wir zusammen Musik machen.

Herzlich

Euer Yiwu

Am frühen Morgen des 2. Mai, der Himmel war grau und bedeckt und es fiel ein leichter Regen, ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und war gerade erst in einen tiefen Schlaf gefallen, als es an der Tür läutete. Ein älterer Herr mit weißem Bart tauchte auf, blieb in der Tür stehen und überreichte mir umstandslos einen Brief. Ich drehte mich um und rief meine Frau, die Deutsch versteht, damit sie fragen sollte, um was es sich handelte, doch der Alte hatte bereits auf dem Absatz kehrtgemacht und war verschwunden.

Ich riss das Couvert auf, es handelte sich um die Kopie eines Briefes an die Kanzlerin der Bundesrepublik, Wolf hatte rechts oben in die Ecke mit rotem Stift einen Kommentar hinzugefügt. Es ging mir durch und durch und ich rannte dem Mann hinterher, aber der mir unbekannte Bote war längst spurlos verschwunden.

Es war wie in einer anderen Welt, ich schien wieder in China zu sein – oder in der ehemaligen DDR, wo man Nachrichten lieber persönlich übermittelte, als sie der Post anzuvertrauen …

Liebe Angela,

 

Du siehst, worum es geht … Der tapfere und womöglich derzeit elendste Oppositionelle in China, Liu Xiaobo, läßt uns über Liao Yiwu, unseren gemeinsamen Freund in Berlin, wissen, wie es um ihn im Gefängnis und um seine schwerkranke Frau inzwischen steht.

Mir leuchten die Gründe ein, aus denen Liu Xiaobo sich nach so vielen Jahren Haft dazu durchgerungen hat, sich diesem inzwischen absolut heillosen Konflikt zu entziehen. Lieber als verscharrt in einem Massengrab des Gefängnisses will er nun ein vergleichsweise unpolitisches Leben in Deutschland versuchen. Inkommensurable Kräfte! Liu Xiaobo muß diesen Kampf nun offensichtlich aufgeben, damit er nicht sich und seine Frau aufgibt. Märtyrer stacheln an, aber sie lähmen auch. Das Interesse der chinesischen Führung könnte sein: Es stört ein attraktiver Märtyrer weniger beim Aufbau des Turbo-KZ-Kapitalismus.

Vielleicht können wir es schaffen, daß der Freund von Liao Yiwu wieder etwas zu lachen hat … vielleicht bei uns zu Hause am Kamin in Altona. Pamela hat Liao Yiwu eingeladen, mit uns und den alten Free-Jazzern des Zentral-Quartetts im VEB-Knast Cottbus vor den Wahlen im Herbst ein Benefizkonzert zu geben.

 

Herzlich, Wolf am 27.4.2017