Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch - Liao Yiwu - E-Book

Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

Spannende und unmittelbare Einblicke in das wahre China von heute. Der Friedenspreisträger Liao Yiwu hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den kleinen, den unterdrückten Leuten in China eine Stimme zu geben. Als »Sprachrohr der Gesellschaft« ist er im Land unterwegs und bringt die Menschen zum Erzählen. Während Liao Yiwu in seinem hoch gelobten Buch ›Fräulein Hallo und der Bauernkaiser‹ sein Augenmerk auf den Zusammenprall politischer Wirklichkeit mit jahrtausendealten Traditionen richtete, berichtet er nun eindrücklich von der chinesischen Gegenwart. Eine Gemüsehändlerin, ein Restaurantbesitzer oder ein Anwalt kommen genauso zu Wort wie Nichtstuer, Geldeintreiber, Spieler, Säufer und Mörder. Spannende und unmittelbare Einblicke in das wahre China von heute. »Ein unbeirrbarer Chronist und Beobachter, der Zeugnis ablegt für die Verstoßenen des modernen China.« Aus der Begründung der Jury zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

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Seitenzahl: 760

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Liao Yiwu

Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch

Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann

FISCHER E-Books

Inhalt

Vier Lehrmeister (Vorwort des Autors)Diao Bu’er, ein Spieler in GlaubensfragenHei Niu, die illegale ProstituierteDai Fenghuang, die Dongdong-TänzerinZhou Bandao, der Sichuan-KochJiang Fuqing, der RestaurantbesitzerChi Fu isst SäuglingssuppeLiu Changwu, ein unverheirateter MalerZhang Xiaowen, die GemüsehändlerinRolex, der HaschischforscherZhao Bogu, eine neue Art von VagabundWei Gengxiao, ein Anwalt für MordfälleWan Rendi, Buchhändler des zweiten MarktesZhou Erhuang, ein Nichtstuer aus BeijingDer alte Zeng, der professionelle GeldeintreiberXiaoling, die LesbierinChen Lan, eine ErdbebenmutterZhao Dahu, Dichter vom Boden der GesellschaftHu Niu, zum Abschuss freigegebenMu Di, der DrogenabhängigeHu Xiaosong, Besitzer eines Fahrrads mit BeiwagenYingmenkou, ein »freigestellter Arbeiter«Li Mingkai, der Performance-KünstlerGao Ma, der SäuferZhou Zhongling, der SpielerWang Yu, ein Gu-Qin-Meister des Sichuan-StilsWang Shufen, die alte AmmeZuo Changzhong, der AusbrecherWei Xi, Hauptangeklagter bei den Hua-FällenLu Renbiao, der GattinnenmörderZhao Miaomiao, der Gefängnisirre

Vier Lehrmeister (Vorwort des Autors)

Ich bin am 19. Tag des sechsten Monats nach dem chinesischen Bauernkalender geboren. Nach dem, was die alten Leute sagen, ist das der Tag, an dem Boddhisattva Guanyin, die Retterin aus Kummer und Not, die Erleuchtung erlangt hat. Ein großer Tag. Doch direkt darauf folgte die fürchterliche Hungersnot von 1959 bis 1962, und landesweit verhungerten zig Millionen Menschen. Mein längst verstorbener Vater hat mir einmal erzählt, mit gut einem Jahr sei mein Körper voller Ödeme und mein kleines Glied ganz durchsichtig gewesen, selbst zum Weinen hätte mir die Kraft gefehlt. Zum Glück habe ein alter Arzt der chinesischen Medizin am Niushikou in Chengdu mich von der Schwelle des Todes zurückgeholt und mir mein kleines Leben gerettet. Mein Vater erzählte weiter, durch die Behandlung des alten Arztes seien zuerst die Geschwüre weggegangen und anschließend habe er für ergänzende Nahrung gesorgt. Schließlich habe man mich über mehrere Monate hinweg jeden Morgen und jeden Abend über einen Eisentopf gehalten, in dem alle möglichen Kräuter köchelten, und mir das gelbe Wasser, wie das die chinesische Medizin nennt, Tropfen für Tropfen aus dem Körper gepresst.

Auf diese Weise wurde der Hunger mein erster Lehrmeister, er hat mich meine ganze Kindheit über verfolgt; und obwohl er meine Entwicklung nachhaltig beeinflusste, ich in allem hinterher war und noch mit vier Jahren Schwierigkeiten mit dem Laufen hatte, so hat er doch meinen Geschmack geschärft und schlussendlich die Art und Weise meines Schreibens bestimmt.

Ich war gerade in die Volksschule gekommen, als die Kulturrevolution ausbrach und die Familie auseinandergerissen wurde. Meine Mutter ist mit mir und meiner kleinen Schwester aus Yanting, einer Kleinstadt im Norden von Sichuan, auf eigene Faust nach Chengdu gezogen, wo sie bei einer jüngeren Schwester ihrer Mutter, der Frau eines ehemaligen Bürokraten der Guomindang, unterkam. Darauf folgten unzählige weitere Umzüge und unzählige Überprüfungen – ich erinnere mich, ich war neun Jahre alt, als meine Mutter mitten in der Nacht als angeblich flüchtige Grundbesitzerin zur Polizeistation vor Ort gebracht und verhört wurde. Von da an waren mir diese typisch chinesischen Bezeichnungen »Schwarzwohner« und »Schwarzer Haushalt« in die Seele gebrannt, sie wurden mein zweiter Lehrmeister. Noch viele Jahre später stand ich unter der Kuratel dieses strengen »Zuchtmeisters«. Um die Schande, mit der ich geboren war, abzuwaschen und auch, um diesen Lehrer-Schüler-Komplex, in dem sich alle möglichen Gefühle der verschiedensten Lebensabschnitte vermischten, in Ordnung zu bringen, habe ich mich freiwillig noch viel tiefer sinken lassen und bin noch mit einer Vielzahl von »Schwarzwohnern aus Schwarzen Haushalten« in Kontakt gekommen – die Intelligenz unseres Landes definierte sie oder uns als die »schweigende Mehrheit«.

Ich ernannte mich selbst zum »Aufnahmegerät der Epoche«, schrieb die »Gespräche vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft«[1] und traf damit den Nerv des offiziellen China. Sie kamen gar nicht auf die Idee, den besonderen Hintergrund des Autors als eines »Schwarzwohners aus einem Schwarzen Haushalt« in Rechnung zu stellen, auch wenn ich bereits öffentlich bekannt hatte: Dieses Buch ist ein Buch voller Narben und »ohne jede Scham«. Bei all dem Blut, all dem Leid und all der Schande können Leute wie wir nur überleben, wenn wir jede Scham fallen lassen. Nur so, in der Geschäftigkeit von Kakerlaken, können wir ein normales Leben führen.

Mein dritter Lehrmeister war die Obdachlosigkeit. Unter dem Ansturm der Kulturrevolution wurde meine Familie in alle Himmelsrichtungen zerstreut, ich selbst verkam zu einem Penner, sprang auf Wagen auf, aß, ohne zu zahlen und ohne zu arbeiten, lebte von Kinderarbeit, fälschte Reisepapiere und Behördenstempel, trieb mich auf den Fernstraßen in den Bergen herum, hauste in den Strohhütten von Verwandten, die in ihren Bauerndörfern in bitterster Armut lebten – das Einzige, was ich zum Glück nicht machte, war betteln und stehlen. Da ich meine Zeit mit Nichtstun verbrachte, bin ich nach dem Ende der Kulturrevolution viermal durch die Aufnahmeprüfung für die Universität gefallen. Beim fünften Mal kam ich auf Empfehlung des offiziellen Schriftstellerverbandes ohne Prüfung in die Schreibklasse der Universität Wuhan, doch weil ich mir in jungen Jahren auf meinen Wanderschaften schlechte Angewohnheiten zugelegt hatte, bin ich ständig angeeckt und schließlich von der Schule geflogen – der Stimulus dieser unablässigen »Erziehung im Ausnahmezustand« hatte in mir eine Dichternatur reifen lassen, die etwas von einem streunenden Köter hatte. Während der gesamten 80er Jahre, also während der gesamten Zeit meiner Jugend, habe ich mich im Land herumgetrieben, so wie die modernen Literaten im Westen eine Generation zuvor, ich habe Gedichte geschrieben, Lesungen veranstaltet, mich herumgeprügelt und inoffizielle Publikationen herausgebracht. Dies alles hat auf verschiedenste Weise meinem späteren Leben und Schreiben seinen Stempel aufgedrückt.

Parallel zur Nacht des großen Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens las ich dann das Gedicht »Massaker«, und wie ich in diesem Gedicht ausrief: Chinesen haben kein Haus. Unser Haus ist eine warme Sehnsucht. In diesem Wunsch lasst uns sterben! und mich so gegen die absolute innere wie äußere »Obdachlosigkeit«, die mein dritter Lehrmeister mir aufzwang, auflehnte, zeigte mein vierter Lehrmeister, das Gefängnis, zur rechten Zeit sein blutiges Eisengesicht. Der Ort, an dem ich verhaftet wurde, nannte sich »Rindhornbucht«. Der Staat hatte an den Enden dieser Bucht zuvor zehn bis zwanzig Polizisten in den Hinterhalt platziert, wackere Bullen; aus dem Ganzen hätte man einen Lehrfilm machen können über Einkreisung und Unschädlichmachung von Topkillern. Die großartige Aktion zur Aufnahme eines neuen Schülers des Lehrmeisters Gefängnis übertraf alle meine Erwartungen. Es folgte eine Leibesvisitation, und ich war noch nicht wieder zu mir gekommen, als ich, dieser schlechte, mit literarischen Ambitionen vollgestopfte Student, auch schon auf dem Flur des Untersuchungsgefängnisses zu Boden gedrückt und bis auf die Haut ausgezogen wurde. Der Leser mag nun meinen, ich hätte mir das in Klippschulen übliche Education-Board eingehandelt – dem war nicht so, man fuhr mir mit Essstäbchen im Anus herum und suchte da drin nach etwas, was da nicht hineingehörte.

Was daraufhin geschah, steht in meinem Buch Für ein Lied und hundert Lieder[2]. Um mich meinem vierten Lehrmeister nachhaltig dankbar zu zeigen, der den Dichter in mir zum Zeugen komprimierte, werde ich in alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses mein »neues Leben« nicht mehr vergessen. Ich bin dem Gefängnis dankbar, es hat mich von morgens bis abends mit so vielen verschiedenen Menschen zusammengesteckt, mit zum Tode Verurteilten, mit Konterrevolutionären, mit Menschenhändlern, mit einem Bauernkaiser, mit großen Räubern und Schwindlern – es sei, so der Rechtsabweichler und Dichter Liu Shahe, eine besondere Fügung, dass die Richtung meines Schreibens auf diese Weise von Grund auf umgekehrt worden sei.

Das Gefängnis war mein letzter Lehrmeister, und obwohl schon viele Jahre seit meiner Entlassung vergangen sind, lebe ich immer noch in einem großen unsichtbaren Gefängnis. In meinen Träumen bin ich immer auf der Flucht, wenn ich aufwache, habe ich Krämpfe. In meinen Träumen schreie ich: Ich will nicht Chinese sein!, aber ich muss doch in diesem Bett schlafen, und das Bett steht in China. Ich bin versessen darauf, anderen gute Ratschläge zu geben und Pläne für ihren illegalen Grenzübertritt zu spinnen, ich selbst aber sitze immer nur da und schwelge in dem Gefühl, ein »ideologischer Verbrecher« zu sein. Die Unbezähmbarkeit meiner Gedanken, die Unbezähmbarkeit meiner Füße und die unausweichlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei haben mir zwei Scheidungen und über zehn Ablehnungen von Ausreiseanträgen eingebracht. Ob mein Vaterland aus übergroßer Liebe so besorgt ist, der streunende Köter könnte nicht wiederkommen, wenn er erst einmal weg ist? Oder sollten die Beamten der Sondereinheit, die mich seinerzeit verhaftet haben, auf einmal für Ein- und Ausreise zuständig sein und tiefere Anhänglichkeiten für ihre ehemaligen Häftlinge empfinden? Ich bin mir da nicht sicher. Ich habe nur das Schreiben, und neben dem Schreiben wieder nur das Schreiben. Wenn ich nicht schreibe, ist mein Leben leer, öde, oberflächlich, ohne Erinnerung und kommt einem langsamen Selbstmord nah; und das Schreiben ist Mühsal, eine endlose Mühsal.

Wieder sind ein paar Jahre im Flug vergangen, die Geschichten vom Bodensatz der Gesellschaft sind eine nach der anderen fertig geworden oder werden gerade fertig. Immer wieder sage ich mir: Hör auf! Willst du kein Zuhause? Selbst ein verdammter streunender Köter hat einen Platz, wo er hingehört. Aber das ist das Leben; dieser Kraft, die einen vorantreibt, dieser von oben kommenden, unsichtbaren Kraft kann man nicht entkommen.

Doch in diesem Augenblick legen sich mir all die Freunde und Feinde, die meinen Werdegang begleitet haben, um die Schultern wie das Licht einer Wintersonne.

Ich danke meinem ersten Lehrmeister, dem Hunger – auch wenn es mir heute an nichts fehlt, ist mit dem Fortschreiten der Zeit meine Sorge um die Welt tiefer geworden, und der Hunger nach Freiheit brennt heftiger als jeder Hunger des Körpers.

Ich danke meinem zweiten Lehrmeister, dem Schwarzwohnen – als »Schwarzwohner« war ich über 20 Jahre von den Behausungen der Menschen abgeschnitten und habe in meinen eigenen vier Wänden oft genug meine »vorläufige Aufenthaltsgenehmigung« vorzeigen müssen. Dieses ohnmächtige Gefühl der Erniedrigung ist immer wieder der Nährboden für mein Schreiben gewesen und hat mich dem Gefühl nach und in Wirklichkeit mit den Massen auf dem Bodensatz der chinesischen Gesellschaft auf die gleiche Stufe gestellt.

Ich danke meinem dritten Lehrmeister, der Obdachlosigkeit – wieder sind ein paar Jahre vorübergerauscht, in denen ich kein festes Dach über dem Kopf hatte, monatelang nicht aus den Kleidern gekommen bin, vor allem nicht aus den Socken, ich durfte die Schuhe gar nicht mehr ausziehen, hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Alter noch mit den Jungen auf der Piste sein würde. Aber auch das ist das Leben – waren denn die alten Grundbesitzer, zu denen ich für ein Interview über Berge und Täler gewandert bin und die viel stärker waren als ich und ein Leben lang nicht aus ihren Bergnestern herausgekommen sind, nicht genauso ausgebeutet und schlechter behandelt worden als Schweine und Hunde?

Und ich danke meinem vierten, letzten Lehrmeister, dem Gefängnis – nach einem halben Leben in der Umerziehung tue ich längst, was die Umerziehungsorgane verlangten, ich habe mich vollständig umgekrempelt und bin von Grund auf ein neuer Mensch geworden. Um mich diesem Lehrmeister erkenntlich zu zeigen, habe ich als nunmehr »berühmter Bauchladenschriftsteller«, der der Polizei eine Menge Kopfzerbrechen bereitet, mit übermenschlicher Energie gut 300 »Unterdrückte« ausfindig gemacht und mit ihnen ein China dokumentiert, das sonst für immer im Dunkeln geblieben wäre.

Diao Bu’er, ein Spieler in Glaubensfragen

Am Nachmittag des 13. April 2010 schlendere ich durch den Yu’er-Park in der Altstadt von Dali, wo ich meinem alten Freund Diao Bu’er, den ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe, in die Arme laufe. Ich bin ziemlich überrascht.

Wir verbeugen uns, setzen uns hin und erzählen einander, wie es uns so ergangen ist. Meinen guten Diao Bu’er mit seiner miesen Visage hat der Weg des Glaubens durch alle Höhen und Tiefen geführt. Nach dem ganzen Begrüßungshallo fällt mir ein, dass seine beiden Eltern Professoren waren. Die kultivierten Kreise, in denen sie lebten, haben ihn von klein auf geprägt, Mitte der 90er Jahre hat er die Universität abgeschlossen und die ihm zugewiesene Arbeit bei der Redaktion eines Zeitungsverlags in Chengdu angetreten; im Handumdrehen war er frisch verheiratet und eigentlich am Ziel seiner Wünsche, als er das Foto einer Falun-Gong-Übung mit dem einer normalen Qigong-Übung verwechselte: Es prangte an der linken Ecke der Unterhaltungsseite, übte einen »schlechten gesellschaftlichen Einfluss« aus und brachte ihm natürlich die Suspendierung und eine Untersuchung ein.

Auf dem Tiefpunkt seines Lebens lernte er mich kennen, seinen »reaktionären Saufkumpan«. In dem Sommer damals hat er oft mitten in der Nacht vor den sieben Stockwerken gestanden und mit seiner scheppernden Stimme, die klang wie ein kaputter Gong, geschrien: »Lass uns was essen und trinken gehen!«, was regelmäßig erschrockene Nachbarn auf den Plan rief: »Müsst ihr hier rumgeistern?«

Doch eines Tages stand in aller Herrgottsfrühe nicht er, sondern seine Frau vor dem Haus und erzählte, Diao Bu’er sei nicht nach Hause gekommen, ob ich eine Ahnung hätte, wo er geblieben sei? Ich hatte die Augen noch nicht richtig auf, konnte keinen klaren Gedanken fassen und schlafwandelte noch. Und dann sagt mir viele Jahre später derselbe Diao Bu’er im brandenden Sonnenlicht von Yunnan, er schlafwandle noch immer. Die hastigen Gäste auf dieser Welt seien alle Schlafwandler.

Er war so durcheinander, dass er eine Religion nach der anderen hinter sich ließ, ohne sich wirklich vom Glauben trennen zu können.

LIAO YIWU:

Hast du dich immer noch nicht für einen Glauben entschieden?

DIAO BU’ER:

Doch, ich bin Christ.

LIAO YIWU:

Und davor?

DIAO BU’ER:

War ich Lamaist.

LIAO YIWU:

Und davor?

DIAO BU’ER:

Chinesischer Buddhist, die Sekte vom Reinen Land.

LIAO YIWU:

Und vor dem Reinen Land?

DIAO BU’ER:

War ich Daoist.

LIAO YIWU:

Und wieder davor?

DIAO BU’ER:

Die Bahai-Sekte.

LIAO YIWU:

Und wieder davor?

DIAO BU’ER:

Davor habe ich mit Feuereifer den Koran studiert und hätte beinahe auch daran geglaubt.

LIAO YIWU:

Und wieder davor?

DIAO BU’ER:

Davor war ich schon einmal Christ.

LIAO YIWU:

Und davor?

DIAO BU’ER:

Habe ich mich mit dem Bai-Volk herumgetrieben, ihre Tempel besucht, Räucherkerzen angezündet und vor ihren Göttern Kotau gemacht. Du weißt so gut wie ich, dass in den paar hundert Benzhu-Dorftempeln[3] in der Ebene von Dali zwischen dem Cang-Berg und dem Erhai-See Tausende von regionalen Göttern verehrt werden. Religion, Geschichte, Mythologie, Volkslegenden – am Himmel und auf der Erde gibt es alles, was das Herz begehrt. Es ist wie eine Götzenversammlung und wirkt ein bisschen wie die Parlamente im Westen. Aber etwas hat mich geschafft damals, stell dir vor, irgend so ein kleines Tempelchen von zehn Quadratmetern und alles voller Pilger, man kann sich überhaupt nicht mehr rühren, aber auf den Schreinen ist alles pickepacke voll: der Drachenkönig der Vier Meere, die Türgötter der fünf Daos, Laozi, Konfuzius und Guanyin. In einem Tempel wurden über fünfzig Götter verehrt, die haben auf der Vorderseite des Schreins gar nicht alle Platz, also biegt man sie um die Ecke; wenn man da reinkommt, ist man von Göttern umzingelt.

LIAO YIWU:

Wo kommen denn diese Götter alle her?

DIAO BU’ER:

Das war ein ganz abgelegenes Fischerdorf, jedes Jahr aufs Neue ist hier der Roman Die Reise in den Westen[4] der Hit, in sämtlichen Familien kann man die Namen der Unsterblichen aus dem Effeff herunterrappeln: der Affenkönig Sun Wukong, das Schwein Zhu Bajie, die Mönche Xuanzang und Sha Wujing, der Jadekaiser, die Mutter der Westens, der barfüßige Unsterbliche, die achtundzwanzig Sternbilder … es ist einfach viel zu viel, selbst Wu Cheng’en, der Autor des Romans, wird zu den erleuchteten Unsterblichen gerechnet …

LIAO YIWU:

Aber das ist doch nicht viel, im Lohan-Tempel in der Kreisstadt Xindu drängen sich fünfhundert Lohans, und nicht einer wird ausgelassen.

DIAO BU’ER:

Pro Gott ein Räucherstäbchen und einen Kotau, da braucht man ja zwei Stunden, bis man fertig ist.

LIAO YIWU:

Kann man denn nicht für alle Götter zusammen ein Räucherstäbchen anzünden und einen Kotau machen?

DIAO BU’ER:

Man darf sich doch die Riten für die Götter nicht so einfach machen! Ich widme einem einzigen Gott sogar immer drei Räucherstäbchen und drei Kotaus.

LIAO YIWU:

Da wird einem doch schwindlig, oder?

DIAO BU’ER:

Man schwitzt wie ein Schwein. Es ist wie im Fitnesscenter.

LIAO YIWU:

Du hast ein erfülltes Leben.

DIAO BU’ER:

Ich weiß wirklich manchmal nicht mehr, wo mir der Kopf steht.

LIAO YIWU:

Du bist auch schon abgemagert bis auf die Knochen.

DIAO BU’ER:

Bei dem großen Erdbeben in Sichuan damals war ich noch dünner, ich habe ausgesehen wie eine Mumie. Einmal bin ich nach Xiaguan gepilgert, am helllichten Tag, da hat mich ein plötzlicher Wirbelwind von einem Augenblick auf den anderen hochgerissen und über zehn Meter durch die Luft gewirbelt. Ich knallte in den Staub und habe mir beinahe den Steiß gebrochen. Aus Schaden wird man klug, ich fand, ich sollte noch mehr Kotaus machen, ich war noch nicht umsichtig genug, das war bestimmt ein Gott gewesen, der sich vernachlässigt gefühlt hat. Deshalb habe ich mich, um alle Götter gleich zu behandeln, und auch, um mich nicht zu Tode zu schuften, von den Benzhu-Tempeln der Bai abgewandt.

LIAO YIWU:

Wegen eines einzigen Augenblicks gleich alles über den Haufen geworfen?

DIAO BU’ER:

Es reichte.

LIAO YIWU:

Das klingt ein bisschen voreilig.

DIAO BU’ER:

Voreiligkeit ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Der Glaube, das ist wie eine Heirat, ganz am Anfang hofft jeder, dass man zusammen alt wird und für immer ein Herz und eine Seele bleibt, aber das Ende vom Lied ist, dass die Scheidungsraten von Tag zu Tag steigen. Bei den normalen Nach-Siebziger- und Nach-Achtziger-Familien ist es schon nicht schlecht, wenn sie zwei, drei Jahre halten.

LIAO YIWU:

Ich habe erlebt, dass eine Familie nach knapp vierzehn Tagen auseinanderbrach.

DIAO BU’ER:

Ich habe sogar erlebt, dass man sich direkt nach der Hochzeit hat scheiden lassen, wie im Theater. Deshalb sind jetzt Ehen auf Probe in Mode, so wie insgeheim auch der Glaube auf Probe.

LIAO YIWU:

Der Vergleich hinkt. Bei einer Ehe auf Probe wohnt man zusammen, aber wer wohnt bei einem Glauben auf Probe zusammen?

DIAO BU’ER:

Da wohnt man mit den jeweiligen Göttern zusammen. Wenn man innerlich bewegt bleibt, wenn einem der Glaube bleibt, dann bis dass der Tod euch scheidet.

LIAO YIWU:

Götter können nicht mit Menschen zusammenwohnen, geschweige denn mit ihnen ins Bett gehen.

DIAO BU’ER:

Deshalb wird das mit dem Glauben ja auch immer schwieriger.

LIAO YIWU:

Ich habe eher den Eindruck, das mit dem Glauben fällt dir immer leichter.

DIAO BU’ER:

Ich bin Sternzeichen Zwilling, ich habe Blutgruppe B, ich bin empfindlich und hin und her geworfen wie eine Kalebasse auf dem Wasser, ich folge mit Haut und Haaren der Strömung. Ich sehne mich nach Vertrautheit, aber ich fürchte mich vor Bindungen. Frauen können das noch, die suchen sich einen Mann und schlagen Wurzeln, aber Männer, Männer sind Gesellschaftstiere, die können nur mit Hilfe übernatürlicher Kräfte Wurzeln schlagen.

LIAO YIWU:

Die übersinnlichen Kräfte sind im islamischen Fundamentalismus am stärksten, etwa bei den Taliban in Afghanistan, die haben sogar einen über zweitausend Jahre alten großen Bamiyan-Buddha in die Luft gejagt.

DIAO BU’ER:

Den hätte ich mir sowieso nicht ansehen können. Aber die Moscheen in der Altstadt und in der Umgebung von Dali, die habe ich mit Respekt betrachtet. Es gab Tage, da bin ich den Cang-Berg rauf und auf den Friedhof der Moslems, dort habe ich laut aus dem Koran vorgelesen, bis es mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper gejagt hat. Mohammed sagt, ihr müsst das Seil Allahs ergreifen, ihr dürft euch nicht spalten …

LIAO YIWU:

Du Weichei …

DIAO BU’ER:

Ich habe mich von Grund auf geändert. Habe ein ernstes Gesicht aufgesetzt, wie ein richtiger Moslem, habe morgens, mittags und abends gebadet, morgens, mittags und abends Richtung Mekka gebetet und aus dem Koran vorgetragen. Außerdem habe ich ein ums andere Mal ein Gottesdiensttagebuch geschrieben, die schönsten Stellen habe ich bei den Gebetsstunden meiner Freunde vorgetragen.

LIAO YIWU:

Lass hören, ich bin ganz Ohr!

DIAO BU’ER:

Ein junger Imam sang Texte aus dem Koran, laut und mit schöner Stimme, und rief damit die Gläubigen von überall her zur Moschee. Unentwegt brachen Blitze durch die Regen- und Rauchschleier der dunklen Altstadt … gut zehn Minuten später begann der Gottesdienst, ein alter Imam führte den Vorsitz, sang wie immer aus dem Koran, aber seine Stimme war heiser. Die Moslems mit ihren weißen Kaftanen und Turbanen warfen sich immer wieder zu Boden, riefen gemeinsam Allah, und ein heftiges Murmeln antwortete. Meine Kehle war ganz trocken, es war, als würde ich das vor mir sehen: wie die Moslems in Scharen ihre Heimat verlassen, auf den Meeren herumirren und in den letzten Zügen gen Westen um Wasser beten. Die alte und raue Stimme klagte wieder und wieder: »Wahrer Gott, gib uns Wasser. Taufe uns. Sättige unseren Durst, jetzt und in Ewigkeit.«

LIAO YIWU:

Gar nicht schlecht.

DIAO BU’ER:

Das war nicht nur nicht schlecht, ich bin sogar in Tränen ausgebrochen.

LIAO YIWU:

Na, dann hättest du dir ein islamisches Mädchen suchen und ganz darin aufgehen sollen.

DIAO BU’ER:

Ja, aber eines Tages habe ich ein paar Leute in ein islamisches Restaurant eingeladen, es gab jede Menge Gerichte, der Chef von dem Laden hat über das ganze Gesicht gestrahlt. Der Schnaps machte ein paarmal die Runde und mir fiel auf einmal ein alter »Bebilderter Koran« ins Auge; er lag auf einem Tisch in der Ecke, ich nahm ihn in die Hand und blätterte darin, eigentlich wollte ich bei der Gelegenheit meinen Freunden ein paar Zeilen erklären und etwas gegen ihre feindliche Haltung gegenüber Osama Bin Laden tun, da stürmte der lokale Verschnitt von Bin Laden herein, riss mir den Koran aus der Hand und schrie: »Nicht anfassen!« Auch seine Frau reagierte umgehend und kam mit hocherhobener Schaufel heraus, bereit, mir eins überzubraten. Betrieben die so ihr Restaurant? Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

LIAO YIWU:

Hast du Alkohol getrunken? Orthodoxe islamische Restaurants verkaufen keinen Alkohol; sie reden nicht davon, aber innerlich verachten sie Leute, die betrunken sind.

DIAO BU’ER:

Verstehe. Deshalb haben sie nie etwas zu trinken gewagt, als die Gläser hochgingen. Aber waren er, er und er das wert? Aber, aber, aber mussten die das machen? Egal, wenn etwas nicht geht, muss man ihm aus dem Weg gehen. Also auf Nimmerwiedersehen Islam, auf Nimmerwiedersehen Wüste, heiliger Krieg und Kamele.

LIAO YIWU:

Auch wieder ziemlich empfindlich.

DIAO BU’ER:

Aber ich war auch ziemlich verletzt. Da öffnet man sich, kriecht zu Kreuze, und dann treten einem die wilden Esel ins Gesicht. Um mich davon zu erholen und meine Freunde das Ganze möglichst rasch vergessen zu lassen, habe ich mich am Weibao-Berg in die Einsamkeit zurückgezogen.

LIAO YIWU:

Auf dem heiligen Boden des Daoismus?

DIAO BU’ER:

Der hat noch mehr Stil als der Qingcheng-Berg in Sichuan, und auch mehr diese Aura von Unsterblichkeit, so viele steile Felsen, wie es da gibt, und wilde Tiere und Vögel und von Menschen kaum eine Spur. Die Höhle des langen Frühlings, die ich bezog, liegt gerade so im Nabel des Weibao-Bergs, der Erdodem fließt hier gemächlich direkt aus den fünf Organen und sechs Eingeweiden der Erde; wenn man sich an diesen unsichtbaren Odem dranhängt, Schnaps trinkt, in den Klassikern liest, schläft, früh aufsteht, meditiert, sich durch Atemübungen verjüngt, sich richtig ins Zeug legt und alle Widrigkeiten der Welt fahren lässt, dann kann man das spüren: »Das Dunkle des Dunklen, das ist das Tor zum Wunderbaren …«[5]

LIAO YIWU:

Und da wären noch: »Große Gestalt ist ohne Form, große Musik ist ohne Ton, große Fülle scheint leer …«[6]

DIAO BU’ER:

Das Leben im Taiji ist in der Höhle des langen Frühlings sorgfältig mit dem Daodejing abgestimmt.

LIAO YIWU:

Ich kenne den Daomeister dort, er ist wirklich innerlich frei und von Herzen einfach und gut.

DIAO BU’ER:

Deshalb habe ich ihn als Meister angenommen.

LIAO YIWU:

Aber er nimmt nicht jeden.

DIAO BU’ER:

Man darf etwas nur tun, wenn man ehrlich daran glaubt. Das war es, was ich wollte, diese große innere Freiheit.

LIAO YIWU:

Ich habe auch auf dem Weibao-Berg gewohnt, ich weiß, dass es da oben ein paar Dutzend daoistische Tempel gibt und eine ziemlich verwirrende Anzahl von Schulen.

DIAO BU’ER:

Richtig, richtig, ganz wie es in den Gongfu-Romanen steht, die Zheng- und Xie-Schule, das sind verschiedene Wege. Mein Daomeister gehörte zur Zhengyi-Dao-Fraktion[7], er steht in einer Linie mit Chang Chunzi, oder wie er auch heißt: Qiu Chuji[8], und legt Wert auf Herzensbildung und Erziehung; außer ihm ist da noch die Lü-Fraktion, die von Lü Dongbin, einem der Acht Unsterblichen[9], ins Leben gerufen worden ist; und dann die Tianshi-Fraktion an der Südseite des Berges, sie beruft sich auf den Himmlischen Lehrer Zhang Daoling[10] aus dem zweiten Jahrhundert der westlichen Zeitrechnung als ihren Ahnherrn, er war viele Jahre überall im Land auf Wanderschaft gewesen und hatte viele Dinge auf den Straßen und Gassen aufgenommen, so etwa die Herstellung der Unsterblichkeitspillen, das Zeichnen von magischen Symbolen, das Gottspringen[11], das Fangen und Freilassen von Dämonen und so weiter und so fort.

LIAO YIWU:

Und dann noch allerlei Hokuspokus.

DIAO BU’ER:

Richtig, richtig. Diesen Yin-Yang-Meistern fällt das Haar über das halbe Gesicht, sie verstehen sich besonders auf Aas und Gebeine, damit ziehen sie Nachtfalter, Frösche, Riesenschnaken und Spinnen an; und wenn ihnen was an dir nicht passt, dann treiben sie üble Scherze mit einem. Die von ihnen gezähmten Tierchen kommen abends, wenn das Yang-Qi der Sonne sich allmählich zurückzieht, nach und nach aus ihren Verstecken.

LIAO YIWU:

Um was zu tun?

DIAO BU’ER:

Um das geistige Qi der Menschen aufzusaugen und so die Menschen zu vergiften.

LIAO YIWU:

Was für Symptome bekommt man da?

DIAO BU’ER:

Man wird schläfrig. Tagelang ist man ziemlich runter. Manchmal bekommt man auch leichtes Fieber. Wenn man nicht rechtzeitig das Gift ausscheidet, dann kann das ans Leben gehen.

LIAO YIWU:

Und wie scheidet man das Gift aus?

DIAO BU’ER:

Du vertreibst die Viecher in einem Umkreis von hundert Metern.

LIAO YIWU:

Nachtfalter, Frösche, Riesenschnaken und Spinnen?

DIAO BU’ER:

Und Fledermäuse, Tausendfüßler, Geckos und anderes Getier, alles in allem wohl eine ziemliche Masse von Arten.

LIAO YIWU:

Wie hält man die Giftigen und Nichtgiftigen auseinander?

DIAO BU’ER:

Die Giftigen sehen ziemlich extrem aus. Faustgroße Nachtfalter, Frösche, groß wie Suppenschalen, die Riesenschnaken mittelfingerlang und die Tausendfüßler messen gut anderthalb Ellen. Wenn du eins von den Viechern siehst, schlag es auf der Stelle tot, verbrenn es, und tu auch die Asche weg. Einerseits wirst du das Gift los, andererseits lässt der Yin-Yang-Meister dein Qi frei.

LIAO YIWU:

Kein Wunder, dass die Moskitos und die Spinnen auf dem Weibao-Berg so groß und fett sind, bisher habe ich immer gedacht, das sei wegen der guten Lebensbedingungen.

DIAO BU’ER:

Der Schlagabtausch zwischen den verschiedenen Fraktionen findet in der Natur statt, vermutlich ging das in der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen[12] vor über zweitausend Jahren oder noch früher los. Kein Wunder, dass Laozi sich auf einmal rücklings auf einem schwarzen Ochsen sitzend über den Hangu-Pass zurückziehen wollte.

LIAO YIWU:

Aber du hast dich jetzt schon zurückgezogen.

DIAO BU’ER:

Ich schimmelte am ganzen Körper, wenn ich einen fahren ließ, roch es nach Moos.

LIAO YIWU:

Bist du auch ganz oben gewesen, am Pavillon der Himmelsmutter? Die beiden Daoistinnen dort sollen schon seit Jahrzehnten nicht mehr vom Berg heruntergekommen sein.

DIAO BU’ER:

Die Leute aus den Dörfern schicken ihnen manchmal was rauf, sie müssen nicht vom Berg runter; rundherum sind alles Schluchten. Sie senken und heben den Kopf, ein gutes Dutzend Unsterbliche begleitet sie. Sie sehen gut, sie sind fit, und sie fühlen sich nicht einsam, sie haben keine Mühe, eine Nadel einzufädeln. Ich stand mit ihnen auf gutem Fuß, ich hatte gerade die Eingebung, zu ihnen nach oben zu ziehen, als die hundert Jahre alte Alte mich auf einmal fragte, ob der Vorsitzende Mao schon zum Himmel aufgestiegen und ein Unsterblicher geworden sei. Ich sagte, der Vorsitzende Mao hat nicht an das Dao geglaubt. Sie sagte, wie? Nicht an das Dao glauben? Er sei ein Dämon gewesen, dem kein Backenbart wächst. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »In den Bergen ist ein Tag wie hundert Jahre in der Welt« – das ist zwar nicht ganz falsch, aber es war wirklich unmöglich, mit ihnen zu reden.

LIAO YIWU:

Du weißt nicht, was du willst.

DIAO BU’ER:

Deshalb musste ich aus den Bergen weg, ich war erst dreißig, mein Weg war noch lang.

LIAO YIWU:

Und so hast du dich vom Daoismus verabschiedet? Ich habe in der Altstadt von Dali einmal zwei Schüler des alten Dao-Meisters gesehen, einer hat auf das Studium der Magie, der andere auf Wirt umgelernt.

DIAO BU’ER:

Das heißt nicht umlernen, das Herz des Dao ist in jedem Beruf. In der Nähe des Friedhofs auf dem Cang-Berg bin ich zufällig einem anderen Schüler meines Meisters begegnet, er hatte sich in eine Hütte zurückgezogen, stammte vom Wudang-Berg, hatte Hunderte von kanonischen Büchern studiert und großen inneren Gewinn aus Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus gezogen und auch im Schattenboxen den Gipfel der Vollkommenheit erreicht. Wir bedauerten, uns nicht schon früher begegnet zu sein, wir haben drei Tage und drei Nächte nur geredet, die Lust, uns gemeinsam aufzumachen und »auf den Wolken zu reisen«, wie wir sagen, wurde dadurch ganz groß. Um das Reisegeld zusammenzubekommen, haben wir uns den ganzen Tag in der Yangren- und der Volksstraße in der Altstadt von Dali herumgetrieben, uns an Langnasen auf Kneipentour gehängt und Schüler akquiriert für das »Orthodoxe Schattenboxen vom Wudang-Berg«.

LIAO YIWU:

Das war internationaler Trend.

DIAO BU’ER:

Deshalb hat es auch nur eine Woche gedauert, und wir hatten ein paar Dutzend zusammen, alles Langnasen. Unser Unterrichtsraum war ein Wiesenhang, wir teilten die Zeit ein, eine Stunde zwanzig Kuai. Das war ein Leben, wie im Lied: Klar die Wolken, der Himmel weit, der wilde Kranich und die Wolken frei.

Wenn wir so weit geübt hatten, kletterten wir weiter den Hang hinauf, zu seiner Hütte, haben Tee getrunken, etwas zu essen gemacht, und natürlich, wenn die Langnasen mitwollten, mussten sie noch mal was abdrücken.

Nach ein paar Monaten hatten wir ein paar Zehntausend zusammen. Ich war insgeheim ziemlich aufgeregt und dachte, die Zeit ist reif, etwas mehr von der Welt zu sehen, doch da machte mein Kollege einen »Fehler«.

LIAO YIWU:

Hat er einen Ausländer falsch angepackt und ihm ein Bein gebrochen?

DIAO BU’ER:

Ja, mit dem Schwanz, und er hat den Bauch von einer Ausländerin dick gemacht.

LIAO YIWU:

Was soll denn das für ein Fehler sein!

DIAO BU’ER:

Ein ziemlich hochgradiger. Er hat ihr Schattenboxen beigebracht – bis ins Bett; und dann ist er ein paarmal auf den Wolken und dem Nebel geritten, und natürlich hat er dabei auch ausgesät. Na, macht nichts, wo ein Chinese hinsät, da wächst was, egal in welchem Winkel der Welt.

LIAO YIWU:

War das Mädchen hübsch?

DIAO BU’ER:

Die sind doch alle blond und haben blaugrüne Augen, da kann man schön und hässlich gar nicht auseinanderhalten, Ausländern geht das mit den chinesischen Mädchen ja nicht anders. Der Knackpunkt war, wo hatte ein Daoist, rein und durch Nichthandeln handelnd und in Nebel und Wolken gehüllt, auf einmal eine derart affenhafte Virilität her? Er hat es doch keiner Schwarzen vom Äquator und auch keiner Eskimofrau im ewigen Eis besorgt, ausgerechnet mit einer Schwedin treibt er es. Gibt es in Schweden daoistische Tempel?

Nein.

Gibt es dort Daoisten?

Auch nicht.

Vielleicht gibt es eine schwedische Ausgabe des Daodejing, aber diese kleinen Sprachen können ja nur ein paar Leute lesen.

LIAO YIWU:

Was du sagst, verstehe ich auch nur halb.

DIAO BU’ER:

Dann hast du Wasser im Kopf. Damals hatte ich auch Wasser im Kopf. Er hatte längst vor, sich zu verkaufen und auszuwandern, aber ich tappte völlig im Dunkeln. Auch wenn Schweden ein bisschen kalt ist, so hat es doch die beste Sozialversicherung der Welt, die Kinder werden alle vom Staat unterhalten, also hat er »in den Westen geheiratet« und auf »westlicher Daoist« gemacht, und dann jeder Schuss ein Treffer, alles für eine bessere Zukunft – und drei Jahre später waren drei »kleine westliche Mischlingsdaoisten« da. Heute hat er fünf Mäuler zu Hause, alle tragen das schwarze Daoistenornat, alle binden sich den Daoistendutt und reisen jetzt wirklich auf den Wolken, leicht und frei!

LIAO YIWU:

Du bist wohl neidisch.

DIAO BU’ER:

Ein bisschen.

LIAO YIWU:

Besser, der Neid brennt, als jemand anderen nachgeäfft. Es gibt immer mehr Chinesen, die ins Ausland heiraten.

DIAO BU’ER:

Ich habe meinen Glauben, auch wenn ich ihn oft wechsle, so ist es mir doch jedes Mal ernst.

LIAO YIWU:

Zwischen Glauben und der Gründung einer Familie liegt kein Widerspruch.

DIAO BU’ER:

Aber mit dem Glauben eine Frau abschleppen und dann auswandern, das ist ein bisschen mies.

LIAO YIWU:

Na, das ist in China doch gerade große Mode, und es wird weiter in Mode bleiben. Wenn du nicht zugreifst, dann sind deine besten Jahre fürs Heiraten vorbei, dann hast du gar keine Gelegenheit mehr, mies zu sein.

DIAO BU’ER:

Du hast eine sehr schlechte Meinung von den Leuten.

LIAO YIWU:

Mein Freund Wang Lixiong sagt eine Auswanderungswelle voraus, das ist die neue »gelbe Gefahr«, das wird bald so kommen, auf diesem Stückchen Erde wird alles, was Beine hat, rennen. Und wenn du nicht rennst, wirst du früher oder später vor der Stampede davonlaufen. Du willst nicht mies sein, du hängst an dem Ort, an dem die Gebeine deiner Vorfahren ruhen, du versuchst alles, um hierzubleiben? Dann bleibt dir am Ende nichts anderes übrig, als zu verhungern und zu verdursten. Denn jeder Fluss, jeder Zoll des chinesischen Territoriums, jedes einzelne Getreidekorn wird verseucht sein. Trümmer kann man wieder aufbauen, aber nicht die Natur und die Menschen, die von der Kommunistischen Partei so nachhaltig verseucht worden sind.

DIAO BU’ER:

So eine Panikmache hätte dich zu Maos Zeiten den Kopf gekostet. Im Grunde geht die Auswanderungsbewegung ja in beide Richtungen, in Yunnan, vor allem in Dali, Lijiang bis rauf nach Shangrila wohnt auch eine ganze Menge Ausländer. Das ist wohl auf den Einfluss der Missionare vor hundert Jahren zurückzuführen.

LIAO YIWU:

Die haben aber wohl nicht die chinesische Staatsangehörigkeit?!

DIAO BU’ER:

Keine Ahnung. Insgesamt gibt es in der Altstadt von Dali alle möglichen Ausländer, die einen haben sich dort in den letzten zehn Jahren keinen Zentimeter wegbewegt, andere haben Geschäfte aufgemacht oder sind drogenabhängig, manche kriegen überhaupt den Arsch nicht hoch und verballern ihre Sozialhilfe.

Als ich den Daoismus aufgegeben habe, bin ich in der Nähe des Erhai-Tores mit einem kleinen Kreis der Bahai-Sekte in Kontakt gekommen. Wie ich hörte, dass es sich dabei um eine relativ lässige neue Lehre handelt, der in Teheran geborene Baha’ullah[13] ein später Anhänger unter anderen von Buddha, Jesus und Mohammed war, alle möglichen Sekten und Lehren miteinander versöhnte und der Welt die große Harmonie bringen wollte, aber vor gut hundert Jahren selbst verfolgt worden ist, da hat mich das sofort emotional gepackt. Anschließend habe ich an einer ihrer Haus-Schulungen teilgenommen. Und dann habe ich eine enge Verbindung zu einer Glaubensgenossin aus Deutschland aufgebaut.

LIAO YIWU:

Wart ihr im Bett miteinander?

DIAO BU’ER:

Du bist ganz schön direkt, oder!?

LIAO YIWU:

Das ist doch eine einfache Schlussfolgerung, wo du doch diesen starken Stimulus von deinem daoistischen Mitbruder bekommen hast.

DIAO BU’ER:

Du bist einfach ein finsterer Bursche. Ja, ich wollte mit ihr ins Bett, aber ich habe es nicht geschafft.

LIAO YIWU:

Warum nicht?

DIAO BU’ER:

Sie hatte einen Missionarskomplex. Oder sie wandelte in der Asche der westlichen Missionare von vor hundert Jahren und betrachtete China als den letzten Ehrenort Gottes, sie war hierhergekommen ganz Selbstlosigkeit und Hingabe.

LIAO YIWU:

Großartig.

DIAO BU’ER:

Wir bildeten eine verschworene Gemeinschaft. Ich hatte ihr gerade einen ehrlichen Heiratsantrag gemacht – da meinte sie, gut, dann gehen wir zusammen in die alten Wälder in den Bergen, wir streuen die Saat der Frohen Botschaft aus, und am Ende werden wir dort gemeinsam unsere letzte Ruhe finden.

Wie, sagte ich, nicht nach Deutschland zurück?

Ja, sagte sie, nicht nach Deutschland zurück.

Ich fiel auf der Stelle in eine Gletscherspalte. Mich schauderte innerlich, ihr ganzer Sex-Appeal war verschwunden, ich fühlte mich seifig.

LIAO YIWU:

Und dann?

DIAO BU’ER:

Nichts dann. Ich habe mich viel zu sehr geschämt, um ihr unter die Augen zu treten.

LIAO YIWU:

Erhaben und gemein, vor dem Bett stellt es sich ein.

DIAO BU’ER:

Ja, ein Scheiß stellt sich ein. Wir sind einfach in einem grundverschiedenen Umfeld großgeworden.

LIAO YIWU:

Dann red halt nicht dauernd vom Glauben!

DIAO BU’ER:

Ich kann auch mitspielen, jederzeit, aber über die Pässe der Seele komme ich nicht weg; ich glaube noch immer an die Existenz eines höheren Wesens, ob man das nun Gott nennt oder Buddha, ist mir gleich.

LIAO YIWU:

Das ist dir gleich? Deshalb glaubst du so in der Gegend herum!

DIAO BU’ER:

Ich bin ein paarmal den Hühnerkrallenberg rauf und wieder runter, ich bin unter dem Huashou-Tor in mich gegangen. Denn im In- und Ausland wird das Ende der Welt für 2012 vorausgesagt, die Menschheit muss einmal untergehen; dann bricht die Zeit des Maitreya-Buddha an. Die wenigen glücklichen Überlebenden werden zu Kindern werden, sie werden Felle haben wie die Tiere und in der Wildnis leben.

LIAO YIWU:

Ich habe auch am Huashou-Tor gewohnt. Pian Shan, Ma Zui, Lao Xiong und andere Künstler aus Guizhou sind dort ins Kloster gegangen.

DIAO BU’ER:

Das hatte ich auch vor. Mein Gesicht war tränenüberströmt. Ich habe lange auf den Knien gelegen und habe Sifa, den Meister des Fangguang-Tempels, um die Tonsur angefleht.

Der Meister sagte, bleib erst einmal eine Weile als Laienbruder hier, wenn es sein soll, dann wirst du bleiben, wenn nicht, dann nicht. Das Resultat war schlimm, man musste vor fünf in der Früh aufstehen und entweder den ganzen Tag den Handlanger spielen oder den ganzen Tag Sutren lesen.

LIAO YIWU:

Bist du wieder abgehauen?

DIAO BU’ER:

Wenn es sich hätte vermeiden lassen, wäre ich nicht abgehauen. Als ich über den Laienbruder hinaus war, war ich erst ein kleiner Novize, anschließend kamen vier Jahre hartes Studium, dann wurde man Mönch und bekam die Erlaubnis, den Berg zu verlassen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. War das nicht zum Verrücktwerden? Ein Glück, dass der Hühnerkrallenberg so eine aufgeschlossene Gegend ist, Mahayana und Hinayana gehen hier ganz ungezwungen miteinander um, die Mönche der Han-Gebiete und die Lamas aus Tibet waren oft nicht auseinanderzuhalten und hielten im gleichen Tempel ihre Zeremonien ab. Alle waren eine große Familie, und ich bin dann im Gefolge von zwei lebenden Buddhas vom Hühnerkrallenberg zum Xili-Fluss rüber und habe im lamaistischen Zhiyun-Tempel gewohnt.

LIAO YIWU:

Du warst doch kein ordentlicher Mönch, wie hast du dort wohnen können?

DIAO BU’ER:

Die Tibeter nehmen das nicht so genau, ich hatte auf jeden Fall eine Glatze, trug eine Kutte und habe mich da eingenistet. Der tibetische Buddhismus verbietet auch kein Fleisch oder Fisch, nicht wenige lebende Buddhas heben auch gerne einen. Die ganze Stadt jagt wie verrückt nach der »Himmelstänzerin«, aber bei ihnen heißt sie Dakini[14]. Wenn beide Seiten sich mögen, dann lernt man einfach vom sechsten Dalai Lama[15], einem ehemaligen lebenden Buddha, der noch heute für seine Liebeslieder bekannt ist, tritt in den Laienstand zurück und gründet eine Familie.

LIAO YIWU:

Das ist die Endphase des buddhistischen Weges, diese Art des Glaubens passt zu dir[16].

DIAO BU’ER:

Aber sie haben die Wiedergeburten des Dalai und des Karma-Kagyü, auch wenn beide nach Indien geflohen sind, die brauchen nur zu husten und sämtliche Tibeter gehorchen. Am 14. März 2008 haben die sonst so lockeren Tibeter sich auf einmal mit der Kommunistischen Partei angelegt.

Ich soll zur Clique des Dalai einen klaren Trennungsstrich ziehen?

Auf keinen Fall!

Ich soll in den Tempeln die Rote Fahne mit den fünf gelben Sternen aufhängen?

Auf keinen Fall!

Also kam es zu Demonstrationen, es wurde geschossen, es floss Blut, Hunderte von Lamas und Nonnen starben einen grausamen Tod. Ich als Han-Chinese steckte den ganzen Tag mit den tibetischen Lamas zusammen, die inneren Widersprüche des Volkes wurden schlagartig zu einem Konflikt zwischen uns und dem Feind. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf, ich war ja von der Polizei nicht als chinesischer Verräter oder Spitzel verhaftet worden, und machte mich in Nacht und Nebel davon.

LIAO YIWU:

Du bist ein Chamäleon.

DIAO BU’ER:

Mach mich nur fertig, du hast ja recht. Ich werde das alles beichten, Jehova beichten.

LIAO YIWU:

Ich kann mich erinnern, dass du dich schon vor ein paar Jahren hast taufen lassen, danach hast du aber ein paar ziemliche Haken geschlagen.

DIAO BU’ER:

Ich bin zum christlichen Glauben zurückgekehrt. Aus dem Internet weiß ich, dass sich viele herausragende Intellektuelle haben taufen lassen und zum Herrn bekehrt haben, ihnen wurden die Sünden vergeben. Yuan Zhiming, Zhang Boli, Yu Jie, Wang Yi – und kürzlich auch noch Chai Ling, die Führerin der Studentenunruhen von ’89.

LIAO YIWU:

Und du hängst dein Fähnchen wieder in den Wind?

DIAO BU’ER:

Ich bin derselbe Jahrgang wie Yu Jie und Wang Yi. Sie sind unbeirrbar, so wie ich auch.

LIAO YIWU:

Du hast schon an so viele »Götzen« geglaubt, du wirst dich noch einmal taufen lassen müssen, wenn du mit deiner unrühmlichen Vergangenheit wirklich brechen willst.

DIAO BU’ER:

Ich habe tatsächlich daran gedacht, aber im Christentum gibt es keinen Präzedenzfall dafür, dass sich jemand hätte zweimal taufen lassen.

LIAO YIWU:

Dann lass dich in einer anderen Gegend taufen, das wird keiner erfahren.

DIAO BU’ER:

Gott weiß alles. Komm, lass mich in Ruhe, ich werde mich nicht von dir vom rechten Weg abbringen lassen, du Teufel in Menschengestalt!

Hei Niu, die illegale Prostituierte

Man sieht sofort, dass die einundzwanzigjährige Hei Niu einen halben Kopf größer ist als ich, ein Pferdegesicht hat und die Schultern eines Ochsen, niemand, der für den Strich geeignet wäre.

Aber sie ist eine Prostituierte im wahrsten Sinne des Wortes, außerdem hat sie beste Verbindungen und verdient nicht schlecht. »Ich bin ein Mausgeist, ich schlüpfe überall durch, das kann ich gut«, sagt sie lachend, und ihr Gesicht strahlt in der Sonne, »das hat damit zu tun, dass meine Familie seit Generationen im Bergbau gearbeitet hat.«

Ich bin erst einmal etwas verwirrt, und dann frage ich sie aufs Geratewohl, ob sie die jüngst so häufigen Grubenunglücke wahrgenommen hat. Sie schüttelt den Kopf.

Und die Dürre im Südwesten?

Erneutes Kopfschütteln.

Das war Ende März 2010 – ich bin wie ein müdes Tier im Käfig, habe mich gerade von den Anordnungen der Polizei freigemacht und bin aus dem unter einer Dunstglocke versinkenden Chengdu in das hohe und weite Lijiang gekommen, hier bin ich ein paarmal auf und ab, habe mich ein paarmal volllaufen lassen, habe ein paarmal über die Stränge geschlagen, dann haben mich ein paar Freunde, alles Herumtreiber wie ich, dazu gebracht, mir dieses Fräulein Hei Niu aus dem Nordosten mal vorzuknöpfen: »Die musst du gesehen haben!«

Förmliche Begrüßung, Preisverhandlung, Zahlen und dann in die hinterste Gasse, ein Gasthaus am Wasser, ein Zimmer. Die Abendsonne scheint durch das Fenstergitter, groß und rot und violett, was sehr obszön wirkt. Doch ich ziehe mich im letzten Augenblick zurück, denn auch wenn ich die Tarnungen der Kultur abgestreift habe, so bringe ich dieses direkte »Zur-Sache-Kommen« nicht über mich.

LIAO YIWU:

Wir sind noch keine fünf Minuten hier und schon die Hosen runter, das ist mir zu pornographisch und zu hauruck.

HEI NIU:

Ich bin aus dem Nordosten. Die Leute im Nordosten kommen schnell zur Sache.

LIAO YIWU:

Und ich komme aus Sichuan. Die Leute in Sichuan sind nicht so schnell.

HEI NIU:

Hast du Hemmungen? Haha, schau dich nur an, dir bricht ja der kalte Angstschweiß aus!

LIAO YIWU:

Du bist mir vielleicht eine Nummer!

HEI NIU:

Zu viel der Ehre.

LIAO YIWU:

Ehrlich gesagt, mit einer Nummer wie dir, das macht mir keinen Spaß.

HEI NIU:

Bin ich dir etwa nicht hübsch genug?

LIAO YIWU:

Dein Gesicht und deine Beine sind zu lang, sieht ein bisschen skurril aus. Dabei fällt mir auf einmal eine Metapher des tschechischen Autors Kundera ein – sie hob am Bettrand beide Beine in die Luft wie die Soldaten im Schützengraben ihre Mausergewehre.

HEI NIU:

Meine Beine mögen ein bisschen zu lang sein, dafür habe ich große Brüste. Und was ist mit dir? Alt und hutzelig, wie das Monster aus dem All bei Harry Potter. Wenn wir zusammenlegen, dann wird ein Stück daraus, auf was stehst du denn?

LIAO YIWU:

Lass bleiben.

HEI NIU:

Abreiben? Gut, wenn es nur das ist, das können wir auch machen, welcher Körperteil soll es denn sein, das kriegen wir schon hin.

LIAO YIWU:

Ich sagte, lass bleiben.

HEI NIU:

Ach so, lass bleiben? Nein, nein, der Mensch muss doch eine Arbeitsmoral haben. Wir zählen, bis hundert kannst du es dir noch einmal überlegen.

LIAO YIWU:

Ich werde es mir bestimmt nicht überlegen.

HEI NIU:

Dreihundert für den Schuss und kein Fen retouribus, so sind die Regeln.

LIAO YIWU:

Schlimm genug.

HEI NIU:

Wir sind hier in Lijiang, die Hauptstadt der amourösen Abenteuer, nach Lijiang sehnt sich das ganze chinesische Volk, alles ist hier teurer als anderswo, und die Beziehungen flippiger.

LIAO YIWU:

Aber die Preise für Hühnchenfleisch sind hier niedrig; in der Qixing-Straße gibt es ein paar Dutzend sogenannter Friseursalons, da kostet ein Schuss gerade mal hundert.

HEI NIU:

Hundert? Hm, vielleicht bei einem Stand der Schwestern von den Naxi hinter dem Markt.

LIAO YIWU:

Das hat mir ein wandernder Dichter namens Zhao Dahu selbst erzählt.

HEI NIU:

Du kennst Zhao Dahu?

LIAO YIWU:

Wir sind seit gut zehn Jahren befreundet, ihn habe ich auch mal interviewt.

HEI NIU:

Sehr interessant, ich bin mit ihm auch gut befreundet. Der Chef von der Bar 38 ist ein guter Bekannter von ihm, dort hat er sich durchgefressen und -gesoffen, und wenn er voll war, hat er rumkrakeelt. Ich war auf Freier aus, sein Gesicht hat mich abgestoßen, aber seine Stimme hat mir gefallen. Später ist er dann durchgedreht, hat im Suff die Kuh fliegen lassen und sich die Schickse vom Wirt gegriffen, da haben sie ihn übel zugerichtet, er wäre fast draufgegangen.

LIAO YIWU:

Davor haben sie ihm in einer Bar in Lhasa zwei Rippen gebrochen.

HEI NIU:

Er hat sich hier in Lijiang zwei, drei Monate durchgeschlagen, ist als Sänger aufgetreten, hat Gedichte vorgetragen, und wenn er ein bisschen was hatte, ist er bei mir aufgekreuzt. Der war voll witzig und voll locker, wollte mich unbedingt auf einen Schaufensterbummel schleppen, ob ich wollte oder nicht, der hat mir alle möglichen Klunker um den Hals gehängt, obwohl, war alles nur Modeschmuck. Wenn er beim Sex richtig in Fahrt war, konnte er auf einmal auf die Bremse treten, sich splitterfasernackt auf den Kopf stellen und so Zeug zum Besten geben wie »Wir-sind, wir-sind-die-Berg-ar-bei-ter-kinder«!

LIAO YIWU:

Er kommt aus Pingxiang in Hunan, er stammt wirklich von Bergarbeitern ab.

HEI NIU:

Ich komme aus Fuxin in Liaoning, auch eine Bergarbeiterfamilie. Nach dem, was die aus der Generation meines Großvaters so erzählen, war da früher im Umkreis von fünfhundert Quadratkilometern alles richtig fetter Boden, die schwarzglänzenden Kohlebrocken türmten sich nur so; das waren richtige Halden, richtige Flüsse, vor dem Haus, hinter dem Haus, man brauchte nicht mal zu graben, man ist regelrecht drüber gestolpert, überall gute Sachen, die man in Geld verwandeln konnte. Wenn es heiß war und die Sonne ein bisschen zu sehr runterbrannte, haben sich die offenliegenden Flöze selbst entzündet, das gab grünliche Flammen, die tanzten und schlingerten, das muss von weitem ausgesehen haben, als schwinge einer die Pferdepeitsche. Deshalb heißt die Kohle ja auch schwarzes Gold. Von den drei Ostprovinzen über Hubei, Shanxi und Innere Mongolei zieht sich das durch den Boden bis rauf auf die russische Seite, nach Sibirien, gut fünfhundert Kilometer, nichts als schwarzes Gold, Öl und Erdgas. Das ist das Konto, das der alte Himmelsvater für uns angelegt hat, ein Guthaben, das sich über Hunderte von Millionen Jahren durch die Veränderungen im Boden angesammelt hat, wenn das alles in der Region geblieben und langsam gehoben und genutzt worden wäre, die Tage des Reichtums wären wohl nie zu Ende gegangen. Aber dann sind die Japaner gekommen, haben uns mit dem Gewehr im Anschlag zum Eisenbahnbau gezwungen, die Kohle wurde zügeweise weggeschafft, Tag und Nacht, ohne Pause; dann kam die Guomindang und am Ende die Kommunistische Partei. Blaue Fahnen, weiße Fahnen, rote Fahnen, die Herrscher kamen und gingen, unsereins kam nicht zur Ruhe, über Generationen nicht, und als an der Erdoberfläche nichts mehr zu finden war, wurde gegraben, als in geringer Tiefe nichts mehr zu holen war, wurde tiefer gegraben, als auch dort nichts mehr war, ging es bis in die hintersten Ecken, erst hob man die Erde drei Ellen, dann dreiunddreißig Ellen, schließlich hundertdreiunddreißig Ellen aus …

LIAO YIWU:

Und dann?

HEI NIU:

Nichts mehr. Alles hohl und alles leer. Die Straßen sind ständig eingebrochen, es gab Stollen- und Wassereinbrüche und Schlagwetterexplosionen – es sind zwar nicht so viele Leute umgekommen wie bei dem großen Erdbeben bei euch in Sichuan, aber es waren genug, um einem Angst zu machen. Deshalb haben dann auch alle, die ein bisschen flexibel im Kopf waren, die Beine in die Hand genommen und sind weg, in alle Herren Länder.

LIAO YIWU:

Wann bist du weggegangen?

HEI NIU:

Vor gut drei Jahren.

LIAO YIWU:

Machen die zu Hause sich keine Sorgen?

HEI NIU:

Wir telefonieren ab und zu.

LIAO YIWU:

Zhao Dahu und du, ihr seid echte proletarische Vagabunden. Ich habe ein paar Zeilen von ihm im Kopf, pass auf:

Himmel, nimm dein Kind zurück!

Boddhisattva, nimm Zhao Dahu zurück!

Gestern Nacht im Traum lag Mutter wieder weinend vor mir auf den Knien.

Sie ist mir mit dem Messer nach, im Schlaf wollt’

sie mich fesseln, in die Klapse bringen.

Dort stand ein Drahtbett, drauf eine Schicht Matsch,

eine alte Gitarre mit einer zerrissenen Saite.

Und ich verdammter Kerl fandauf der Straße einen Tausender.

HEI NIU:

Ich habe keinen Streit mit meinen Leuten. Ich bin ihre Tochter. In diesen Zeiten sind es die Töchter, die Gold wert sind, nicht die Söhne. Zhao Dahu, ein Sohn, und dann auch noch ein Dichter, das ist eine Nummer, den will geschenkt keiner haben.

LIAO YIWU:

Falsch. Nach jahrtausendealter Tradition sind in China nur die männlichen Nachkommen etwas wert, sie ernähren die Familie, sie setzen den Stammbaum fort.

HEI NIU:

Falsch. Heutzutage hat sich das geändert. Mir sind noch zwei ältere Brüder geblieben und mein Herr Papa, drei kräftige Mannsbilder, alle arbeitslos. Die Gruben sind erschöpft, in den drei Provinzen im Osten hat ein Großteil keine Arbeit, alleine in meiner Gegend sind das hunderttausend Bergleute, die haben seit Generationen im Bergbau gearbeitet, und auf einmal haben sie nichts mehr zu tun, die kann man nicht von einem Tag auf den anderen ummodeln, also hocken sie zu Hause herum, saufen und ziehen über ihre Alte her. Von wegen

»Schachtgesichter, die Möse einer Puffmarie,

Sohlenschlamm, des Teufels Kotbatterie,

nichts ist so schwarz wie Zhu Rongji.«[17]

LIAO YIWU:

Wieso Zhu Rongji?

HEI NIU:

Als er die Bühne betrat, hat er die Staatsbetriebe umgemodelt und uns damit die Reisschale zerschlagen. Ach, ein paar billige Knittelverse und die Alte vollmaulen, mehr bekommen die Scheißkerle nicht hin. Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir Frauen ran.

LIAO YIWU:

Und was machen?

HEI NIU:

Animiermädchen. Die Animiermädchen in den Nachtklubs, den Diskos, den Frisörläden, den Pediküre- und Massagesalons, den Saunabädern und den Hotels und wo nicht alles in der Stadt und in der Umgebung, die kommen unisono aus Bergarbeiterfamilien, und da sind nicht nur junge Mädchen dabei, auch die Tanten, selbst die reiferen Mütter, sie müssen nur glauben, dass sie ein bisschen nach was aussehen, schon sind sie hier. Einige räumen zu Hause auch die Zimmer aus, machen einen Spielsalon auf oder einen Puff, die wollen keine Ausreden mehr, die wollen sich nicht mehr verstellen, direkt, nach der Nummer, Geld her und ab dafür.

LIAO YIWU:

Und die Polizei?

HEI NIU:

Die tut so, als tue sie was, fertig. Verdammte Scheiße, wenn alle gezwungen sind, sich zu verkaufen, was willst du denn da machen? Aufpassen, dass sie einem nicht in irgendeiner dunklen Ecke ein Loch in den Bauch machen.

LIAO YIWU:

In den Zeitungen heißt es immer, das sind »Geburtswehen einer sich umbildenden Gesellschaft«.

HEI NIU:

Früher haben die Mannsleute im Nordosten an den Traditionen festgehalten. Es war absolut tabu, dass ein Mädchen sich in der Öffentlichkeit sehen ließ, es durfte nicht mal zu Hause zu sehr ein Auge auf die Jungs draußen werfen, da wurde regelmäßig zum Messer oder Stock gegriffen und die Lösung des Ganzen konnte einem ans Leben gehen. Und heute? Na spitze, da steigen sie selbst auf das Fahrrad mit Beiwagen und bringen ihre Frauen über sechzehn und unter dreißig, vierzig keuchend und schnaufend auf den Sexmarkt, stapfen draußen bei beinharter Kälte genauso gut wie im Frühling herum, trampeln mit den Füßen, halten Maulaffen feil und warten, dass die Frauen mit den Scheinen rüberkommen.

Ich selbst bin mit siebzehn von der Schule weg und habe die ersten Schritte ins Leben versucht. Nichts zu machen, die jungen Dinger und auch älteren Frauen aus anderen Familien haben zusammengehockt wie Süßkartoffeln im Lehmofen, da lässt sich die eigene Haut besser verkaufen; aber bei mir war der älteste Bruder in der Grube geblieben, der zweit- und drittälteste waren noch ledig, also blieb nichts anderes übrig, ich musste »für den Vater in den Krieg«, wie die Hua Mulan[18] im Märchen.

Ich zog mir ein paar modische Klamotten an; meine beiden Brüder haben mich in einen Nachtklub gebracht, an der Rezeption ein bisschen mit dem Manager rumgemauschelt, dann waren sie weg. Damals war ich schon einsfünfundsiebzig groß und hatte mich als Model gemeldet, aber ich habe noch nie viel Selbstvertrauen gehabt und unbewusst die Achseln hochgezogen und einen Buckel gemacht, deshalb haben sie mich nicht genommen. In meiner ersten Nacht habe ich tausend rangeschafft, eigentlich waren achthundert schon gut, aber der Freier war schon älter, außerdem von außerhalb, als der mein langes Gesicht und das halb rotgetränkte Bettlaken um meinen Unterleib gesehen hat, das hielt er nicht aus, er hat mir am Ende noch zweihundert Trinkgeld draufgegeben. Als er raus ist, hat er sich nochmal umgedreht und gefragt, wie alt ich bin – zwanzig, habe ich gesagt. Er meinte, seine Tochter sei auch zwanzig. So ein Scheißkerl.

LIAO YIWU:

Und das hat deinen Leuten zu Hause nichts ausgemacht?

HEI NIU:

Die wollten ihren Anteil, ich bekam sechshundert. Ich kam da raus und hab mir den Bauch gehalten, aber meinem zweitältesten Bruder haben die Hände gezittert, als er das Geld in Empfang nahm, der Drittälteste hat gerufen, was haben wir für ein Glück, dass unsere Hei Niu so groß ist, die ist wie ein Bäumchen rüttel dich, da muss man nur schütteln. Ich war so außer mir, dass ich zu weinen anfing: Dir helf ich schütteln! Wie oft willst du denn schütteln kommen?

Als wir nach Hause kamen, haben die drei Mannsbilder sich volllaufen lassen, die waren richtig in Hochstimmung. Vater jammerte was von: Wir drei hier haben uns mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, wir haben gejapst wie die Esel, so fertig waren wir, und haben doch in einer Woche nicht so viel heimgebracht wie Hei Niu in einer halben Stunde, das Mädel ist Gold wert.

LIAO YIWU:

Was für ein Satz!

HEI NIU:

So wird bei uns halt geredet.

LIAO YIWU:

Aber das konnte doch nicht lange gutgehen.

HEI NIU:

Alle Familien haben ihre Haut zu Markte getragen, die Konkurrenz ist immer schlimmer geworden, und mit den Preisen war es wie mit den Grubenunglücken, die fielen ins Bodenlose. Um sich nicht von den Kapitalisten ausbeuten zu lassen, haben wir uns oft zusammengetan und die Freier außerhalb des Kohlereviers gesucht, den Preis ausgehandelt und sie mit nach Hause genommen. Als das länger so ging, waren die Nachtklubbesitzer nicht gerade begeistert, haben Geheimgesellschaften angeheuert, irgendwelche Schlägerbanden, die nannten sich »Die Äxte« und hatten ihr Imponiergehabe aus irgendwelchen Filmen. Das Ende vom Lied war: Die Kerle konnten es nicht mit uns aus dem Revier aufnehmen, wir waren an die zehntausend und haben die paar hundert Heinis fertiggemacht, die sind gelaufen wie die Hasen, und am Ende haben wir auch noch aus ihrer Bude Kleinholz gemacht. Sie haben die 110[19] angerufen, die wollten die Rädelsführer verhaften, aber ein pensionierter Gewerkschaftsvorsitzender ist für uns eingetreten, da gab es kein Vertun, der warf eine lange Liste mit den Namen der Arbeitslosen auf den Tisch, und die Sache war erledigt. Da haben die vielleicht dumm aus der Wäsche geguckt!

Bei meinem Job machen sich die Kerle alle aus dem Staub, jetzt passt eine alte Frau auf meine Tür auf. Wenn es jemand aus der Gegend war, den ich kannte, dann waren fünfzig, hundert abgemacht, fix, bei einem Fremden wurde das je nach Gusto geändert, dann war es einmal, zweimal so viel. So habe ich mich ein knappes Jahr durchgeschlagen, dann lief der Konkurrenzkampf heiß, in der Nachbarschaft haben die sich um die Freier geprügelt, da waren sogar Messer und Schusswaffen im Spiel, die Leute haben sich nachts nicht mehr ins Revier getraut.

LIAO YIWU:

Dann waren nicht nur die Kohlevorkommen, sondern auch die Freiervorkommen versiegt.

HEI NIU:

Da war nichts mehr zu machen, also hab ich wohl oder übel meiner Familie den Rücken gekehrt und ab nach Süden. In Beijing habe ich kein Bein auf die Erde gekriegt, das Gebiet ist zu groß, der Konsum zu hoch, und es gibt zu viele Leute. Also weiter in den Süden. Ich hatte von einer ganzen Reihe von Leuten gehört, wie es hier bei euch in Chengdu aussieht, also nichts wie hin, nach ein paar Tagen fand ich es ganz ok dort, der Strom zog in die Metropolen, essen, trinken, spielen, die Freier und was rauchen, das alles lief wie am Schnürchen. Dann fand ich im Gebiet vom Südtor in Chengdu einen Job in einem Nachtklub, als die mich sahen, war die Freude groß. War schon komisch. Ich habe erst später begriffen: Im Norden war jemand wie ich, groß gewachsen und mit langem Gesicht, keine Seltenheit, aber hier in Chengdu, wo die Mädels alles so niedliche, adrette Dinger sind, fiel ich offenbar mehr als auf. Da war ein gutmütiger Aufpasser, der sah, dass ich deswegen beunruhigt war, und meinte, da ich es ja sicher nicht darauf angelegt hätte, hier die Witzfigur zu sein, könne er mich in der Vorstadt irgendwo vorstellen, da könnte ich mein Glück machen.

LIAO YIWU:

In Chengdu wirst du Schwierigkeiten haben, einen Mann zu finden, der es mit dir aufnehmen kann.

HEI NIU:

Stimmt. Die in der Vorstadt waren im Durchschnitt noch kleiner als die in der Stadt. Ich bin nach Shuangliu, und habe in dem Haufen von den Mädchen da gestanden wie ein Kranich unter Hühnern. Also habe ich ihnen wohl oder übel was vom Pferd erzählt, ich hätte »meinen Job als Model in der Hauptstadt an den Nagel gehängt« … Erst als der Boss so richtig neugierig geworden ist, hat er zugesagt, dass er es mit mir eine Woche probieren will.

LIAO YIWU:

Musstest du denn unbedingt in deinen »alten Beruf« zurück?

HEI NIU:

Mit allem anderen kommt zu langsam Geld rein. An der Tür stehen, Füße massieren, Rücken massieren, bedienen, da kommen im Monat gerade mal tausend Kuai zusammen, in der Probezeit sogar nur die Hälfte, da wird man nur mit Mühe und Not satt.

LIAO YIWU:

So wie du gebaut bist, hättest du auch keine Mühe, Säcke zu schleppen.

HEI NIU:

Ich bin kein Mann. Außerdem, so mitten in der Menge, das halte ich nicht aus, andererseits, zu Hause haben ja noch meine Leute auf mich aufgepasst, aber allein auf der freien Wildbahn, das ist sehr schwierig. Oft haben die anderen schon ein paar Gänge hinter sich und ich habe noch nicht einen ergattert. Einmal hat so eine Gruppe von Gästen Mädchen bestellt für ein Bad im Holzzuber, die sollten sich langsam mit ihnen einweichen[20] lassen. Das Wasser in den Zubern war gelblich grün und hatte einen seltsamen Geruch, angeblich sollen die da gut zwanzig Tinkturen aus der chinesischen Medizin reingerührt haben, zur Stärkung des Yang, also der Potenz, und zur Verlängerung des Lebens.

LIAO YIWU:

Sicher ein altes »Familienrezept« des Chefs.

HEI NIU:

Woher weißt du das?

LIAO YIWU:

Das ist heute Mode, in der Oberschicht, in der Unterschicht, überall machen sie Reklame für »Familienrezepte zur Verlängerung des Lebens«.

HEI NIU: