Die Kugel und das Opium - Liao Yiwu - E-Book

Die Kugel und das Opium E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

Liao Yiwu dokumentiert in diesem Buch die Geschichten von Opfern und Überlebenden des Tiananmen-Massakers am 4. Juni 1989. Über Jahre führte er heimlich im Untergrund Interviews, die er lange aufbewahrte, um sie jetzt, außerhalb Chinas zu veröffentlichen. Ding Zilin und Jiang Peikun, die die »Bewegung der Mütter von Tiananmen« gegründeten, haben für das Buch eine Liste der Opfer zusammengestellt. Ihre Namen dürfen in China nicht veröffentlicht werden. »Ein chinesischer Schriftsteller, der sprachmächtig und unerschrocken gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt und den Entrechteten seines Landes eine weithin hörbare Stimme verleiht. Liao Yiwu setzt in seinen Büchern und Gedichten den Menschen am Rand der chinesischen Gesellschaft ein aufrüttelndes literarisches Denkmal. Der Autor, der am eigenen Leib erfahren hat, was Gefängnis, Folter und Repression bedeuten, legt als unbeirrbarer Chronist und Beobachter Zeugnis ab für die Verstoßenen des modernen China.« Aus der Begründung für den Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2012

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Seitenzahl: 682

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Liao Yiwu

Die Kugel und das Opium

Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann

FISCHER E-Books

Mit einer Liste von 202 Todesopfern des Massakers auf dem Tiananmen, bereitgestellt von Ding Zilin und Jiang Peikun

Kugeln – OpiumMassaker – Betäubung

 

Opium betäubt und verwischt das Gedächtnis an das Massaker.

 

Selbst Hunde haben ein Gedächtnis, Hunde würden erkennen, wer sie zu Tode gehetzt hat.

 

Das Volk der Chinesen muss nur den gleichen Mut aufbringen wie Hunde und die Mörder, die in ihrer Regierung sitzen, anbellen. Dann werden diese über die Zeit hinweg von den Kugeln von 1989 durchbohrt.

 

Gibt es keine Alternative zu dem Opium des Booms, das die chinesische Diktatur exportiert?

Vorwort

Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 hat die chinesische Regierung über 200000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee mobilisiert, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten niederzuschlagen. Am Platz des Himmlischen Friedens richteten sie ein Massaker an, das die Welt schockierte. Die Zahl der Toten ist bis heute nicht genau erfasst.

Offizielle Stellen sprechen von weniger als 200 »irrtümlich Betroffenen«.

Schätzungen internationaler Menschenrechtsorganisationen und inoffizieller chinesischer Schätzungen zufolge kamen bis zu 3000 Menschen ums Leben.

 

Ehe sie sich versahen, stoben zig Millionen von Bürgern auf Hunderten von Demonstrationen in Dutzenden von Städten auseinander. Alles war zugeklebt mit Steckbriefen, die »politischen Verbrecher« wurden zu Zehntausenden in die Gefängnisse geworfen, während Hunderttausende »politische Flüchtlinge« ihr Heil im Ausland suchten.

 

Das war ein Wendepunkt in der chinesischen Geschichte. Anschließend fiel die Berliner Mauer, und Ost- und Westdeutschland wurden wiedervereinigt. Das rote Sowjetreich brach dröhnend in sich zusammen. Der Kalte Krieg war zu Ende. Eine neue Seite der Geschichte wurde aufgeschlagen.

Die Welt ist ein schmaler Steg

1

Es ist der 2. Juli 2011, zehn Uhr, als ich in der Stadt Hekou in Yunnan über die Grenze gehe. Wie ein Schlafwandler erreiche ich die alten Straßen von Vietnam. Als ich unvermittelt noch einmal auf mein Heimatland zurückschaue, kommt mir ein Lied in den Sinn:

Die Welt ist ein schmaler Steg

keine Angst

man kommt hinüber

Dieses Gedicht ist ein alter Text aus dem Mittelmeerraum; ein alter Fischer, der vor einigen Jahren eine Reise durch China machte und der mir in Lijiang in Sichuan, wo ich ihn traf, auf Anhieb ein Freund war, hat mir beigebracht, es auf Hebräisch zu singen. Wie man sagt, sind viele Juden mit diesem Lied auf den Lippen in die Gaskammern der Nazis gegangen.

Ich bin in keine Gaskammer gegangen. Ich habe die unbarmherzige Hitze von Vietnam durchquert und bin weiter nach Warschau geflogen und schließlich auf einem Flughafen mitten in Berlin gelandet. Ich habe die Zunge herausgestreckt, um die Luft zu schmecken, sie war süß. Die Luft der Freiheit ist süß. Peter Sillem vom S. Fischer Verlag, ein hochaufgeschossener Mann, kam mit offenen Armen auf mich zu. Meine Augen wurden feucht. Wie sollte ich in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht spreche, erzählen, was und wer mir in den vergangenen Jahren begegnet war?

2

Vor dem Massaker am 4. Juni 1989 war ich ein Dichter, der gegen die Tradition rebellierte, besessen davon, mich herumzutreiben, zu prügeln, die Nacht zum Tage zu machen und viel Unsinn zu reden. Ich hatte über 20 offizielle Literaturpreise bekommen und war überzeugt davon, es früher oder später zu einem gewissen Erfolg in der internationalen Literaturszene zu bringen. Und dann wurde ich wegen meiner Gedichte bestraft und saß im Gefängnis. Meine romantische Dichterhaut ist mir bei lebendigem Leibe abgezogen worden. Dann wurde ich aus dem Gefängnis entlassen. Es war, als sei die Welt binnen einer einzigen Nacht auf den Kopf gestellt und ich zum Abfall geworfen worden.

Das Massaker vom 4. Juni ist ein Trennstrich, vorher haben alle wie ein Bienenvolk ihr Vaterland, danach haben alle wie ein Bienenvolk das Geld geliebt. Als aus Gefängnis und Umerziehungslager entlassener Krimineller und ohne Geld war ich eine Unperson. Als ich in meine Heimat zurückkam und meine frühere Frau, meine Eltern, Schwestern und alten Freunde wiedersah, geschah das alles in einer übertriebenen Stille und nicht in solch bewegten Szenen, wie in manchen Büchern beschrieben. Meine Tochter wurde ein halbes Jahr nach meiner Inhaftierung geboren, das Kind, das jetzt über drei Jahre alt war, war außer sich vor Entsetzen, als ich ihm zum ersten Mal meinen kahlgeschorenen Schädel zeigte; es schrie, versteckte sich hinter der Tür und spuckte heimlich aus.

Häftlinge sind Hagestolze, ausnahmslos. Manche bekommen für Jahre oder gar Jahrzehnte keine Frau zu Gesicht, deshalb ist in den Gefängnissen Sex Thema Nummer eins. Dem entgehen auch politische Gefangene nicht, trotz ihrer Ideale und ihrem Verantwortungsgefühl. Der einzige Unterschied ist, dass bei den kollektiven Masturbationsaktionen der Straftäter, die die Zellen in dampfende Sümpfe verwandeln, die Politischen sich entweder taub stellen oder sich zurückziehen. Ich habe mir einmal mit einem Menschenhändler den oberen und unteren Schlafplatz geteilt. Jedes Mal, wenn das Gefängnis uns etwas Gutes gönnte, musste der Kerl sich selbst befriedigen; manchmal waren seine Bewegungen so heftig, dass ich, der ich über ihm lag, es nicht mehr aushielt und gegen das eiserne Bettgestell schlug. Dann hob er den Kopf und brüllte, wobei seine Hand weitermachte: Man muss das Messer schleifen, sonst setzt es Rost an, das solltest du wissen!

Ich rümpfte die Nase. Doch als ich wieder draußen war, war ich auf einmal »eingerostet«. Die Wiedervereinigung mit meiner Frau, die ich so lange ersehnt hatte, war eine einzige Katastrophe, kaum berührten wir uns, war es zu Ende. Meine frühere Frau kroch hoch und sagte kalt: Ich wollte das sowieso nicht, aber wo du doch gerade erst heimgekommen bist, konnte ich es schlecht nicht machen.

Äußerlich hockte ich da wie eine Glucke bei Donner, innerlich jedoch war ich am Boden zerstört. Hastig zog ich mich wieder an. Nach gut drei Monaten haben wir uns nach einem hysterischen Krach scheiden lassen. Die Welt war wirklich eine Hölle, ein Mann mit starkem sexuellen Verlangen, der ständig unter ejaculatio praecox litt, eine verlassene Missgeburt, ein glanzloses politisches Relikt, das nicht aus noch ein wusste.

Die Freunde von früher haben einmal angerufen und dann nicht wieder; sie kamen eigens vorbei, um mich zum Essen einzuladen, dann haben sie sich nicht mehr sehen lassen. Meine Exfrau brachte für einen Nachtclub in Chengdu eine Unterhaltungszeitschrift heraus; sie befürchtete, dass mein kahler Schädel jemanden provozieren könnte, und hat mir eine Perücke gekauft, die ich aufsetzen musste.

Einmal mitten in der Nacht machte ich mir Sorgen um sie, habe mir die Perücke über den Kopf gestülpt und bin in den Nachtclub, um sie abzuholen. Doch als ich zur Tür hineinkam, bin ich mit zwei Generalmanagern, einem dicken und einem dünnen, zusammengeprallt. Früher waren beide Dichter und beide waren Freunde von mir gewesen. Wir hatten zusammen eine Untergrundzeitschrift für Lyrik herausgebracht und uns gemeinsam über die Kommunistische Partei lustig gemacht. Natürlich waren beide viel patriotischer als ich. Bei den Studentenunruhen von 1989 sind sie auf den Campus der Universität gerannt und haben Lesungen veranstaltet, Lesungen mit politischen Gedichten gegen Korruption. Und am Abend des 4. Juni ist ihre Begeisterung noch höher geschlagen, und sie rannten zum Tianfu-Platz und unterstützten die Studenten, die der bewaffneten Polizei gegenüberstanden, schafften Wasser und etwas zu essen ran und die Leute mit ihren blutigen Kopfverletzungen ins Krankenhaus.

Sie erkannten mich, der Dicke riss mir mit einem Ruck die Perücke vom Kopf und meinte: Guck mal, unser Konterrevolutionär hat sich verkleidet! Der Dünne schrie: Bringt dem Konterrevolutionär ein Mädchen!

Ich war vor Schreck schweißgebadet. Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus und zerrten mich in einen Nebenraum, sie wollten mit mir anstoßen.

Eine Gruppe von Prostituierten umrundete uns und fing an, Karaoke zu singen. Der Dicke fasste sie um die Hüften und gab jeder ein Trinkgeld von 100 Yuan; es war, als verteile er Bonbons.

Der Dünne fragte, ob ich noch Gedichte schreibe.

Ich sagte, ich kann nicht schreiben.

Der Dünne sagte: Wenn du noch schreibst, dann such dir einen anderen Stil und andere Themen, schreib was über Nachtclubs, Hymnen auf das Nachtleben von Chengdu, Hymnen auf die schönen Frauen von Chengdu und seine scharfen Fondues, das können wir in unsere Zeitschrift bringen, unter anderem Namen natürlich, in der Beilage, die deine Alte macht.

Ich sagte blöde: Früher ward ihr arme Lyriker, da konntet ihr euch nicht einmal einen etwas besseren Fusel leisten, wie seid ihr so schnell zu Geld gekommen? So ein aufwendiges Lokal kostet doch sicher ein paar Hunderttausend Miete im Jahr.

Der Dicke sagte: Kredit, Kredit und Verschwendung, ich kenne einen bei der Bank, und wenn es hart auf hart kommt, dann akzeptieren sie das Haus und die Einrichtung als Sicherheit. Nur die Miezen, auf die kann man leider keine Hypothek aufnehmen.

Der Dünne sagte: Seit der Reise von Deng Xiaoping in den Süden, du weißt schon, wo er die Reformen verkündet hat und dass ihm die Farbe der Katze egal ist, solange sie Mäuse fängt, seit dieser Reise ist Armut nicht mehr sozialistisch. Eine Demokratiebewegung ist schwierig, Geld machen nicht.

 

In dieser Nacht bin ich mit meiner früheren Frau nach Hause gegangen. Unwillkürlich stöhnte ich auf bei dem Gedanken, wie schnell meine Mitbürger ihre Fähnchen in den Wind gehängt hatten. Was da mit dem Dicken und dem Dünnen über den 4. Juni hinweg vor sich gegangen war, war wie eine Kehrtwende um 180 Grad. Meine damalige Frau sagte: Du bist wohl neidisch? Wenn du ein Kerl bist, dann kämpfst du und tust es ihnen gleich.

Mir verschlug es die Sprache, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Es war mitten im Winter, ich hatte Angst, meine Frau zu stören, also saß ich gelangweilt auf dem Balkon herum, eine ganze Ewigkeit, dann nahm ich meine Flöte und begann zu spielen. Ich war innerlich zu erschöpft, um einen Ton aus dem Bambusrohr herauszuholen. Ich erkältete mich. Am nächsten Tag schrieb ich unter heftigem Husten an meine langjährige alte Freundin Liu Xia, die Frau des berühmten politischen Gefangenen Liu Xiaobo, einen Brief. Ich schrieb:

»Das Elend nimmt kein Ende. Die Frau, die Du kennst, war immer schon eine, die im wirklichen Leben alles ans Überleben setzt, dann noch die Sorge um unsere Tochter und dann noch etwas, worüber man zwischen Freunden nicht sprechen kann. Sie sagt, sie sei nun über 30 und habe noch immer kein sicheres Nest, sie sagt, ich müsse Geld verdienen und für meine Tochter aufkommen. Sie verachtet unsere Vergangenheit, das braucht Mut, am meisten hasst sie es, wenn ich Flöte spiele, also lasse ich es. In meinem tiefsten Inneren liebe ich sie noch immer, aber ich kann sie nicht auf die Weise lieben, die sie von mir verlangt […]

Wenn ich allein bin, sitze ich oft da, und dann stelle ich mir Fragen und gebe mir Antworten, es sind zwei oder drei Stimmen, die da sprechen: Guten Tag! Von wegen gut! Was soll das! Scheiße! Mist! Du Vieh! Ich bin der Mann! Ihr Papa! Der Nachtclub! Geld, das Geld ist dein Schicksal! Ich will mein Schicksal ändern, will eine Revolution! […]

Meine Flöte ist ganz sanft, nur tief in der Nacht ist sie wie eine dünne Klinge. Liu Xia, meine Freundin, werde ich eines Tages nicht mehr spielen können? Ich mache mir wirklich Sorgen, dass ich eines Tages nicht mehr spielen kann.«

Der Brief trägt das Datum des 26. März 1994. Danach habe ich mit meiner Frau nicht mehr zusammengewohnt. Ich bin an das andere Ende der Stadt gezogen, zu meinen Eltern. Es war, als sei ich wieder ein Kind, um dessen Essen und Wohnen sich die Großen kümmern. Ich hatte oft nur ein bisschen Kleingeld in der Tasche, ich habe nicht einmal den Mut aufgebracht, vor die Tür zu gehen. Die 10000 Kuai, die mir mein großer Bruder Damao lieh, habe ich fast vollständig als Alimente für meine Tochter verbraucht – ich war bereits ein halbes Jahr im Gefängnis, als sie zur Welt kam, heute ist sie schon 21, doch mit mir hat sie, wenn man alles zusammenzählt, keine zwei Monate verbracht.

3

Ich trieb mich herum und kam herunter, lebte als Straßenmusiker von meinem Flötenspiel. Wenn ich Zeit hatte, Luft zu holen, schrieb ich heimlich meine Erfahrungen im Gefängnis nieder. Was vor dem 4. Juni 1989 geschehen war, rückte allmählich in immer weitere Ferne. Die Zeit verging mit nichts, ein lautloses Dahinfließen, ich hielt mich für den bedauernswertesten Menschen auf der Welt. Sogar dem Geheimpolizisten tat ich leid, er suchte mir einen Laden und stand mir auf den Füßen, ich solle Klamotten verkaufen. Ich sagte, ich sei kein Verkäufer.

Er sagte, so etwas Einfaches kannst du nicht? Ich nehme dich einmal mit zu dem Flohmarkt am Lotusteich neben dem Beimen-Bahnhof, da kaufen wir dir dann einen Packen Klamotten und Hosen, dann noch ein paar Logos von bekannten Marken, die nimmst du mit. Ein paar Spritzer Wasser drüber, ausgebürstet, ausgeschüttelt, ausgelüftet, dann noch gründlich mit dem Bügeleisen drüber, und sie sind von echten nicht zu unterscheiden. Und dann fasst du dir ein Herz, du musst mit den Kunden feilschen, verlass dich auf dich selbst, Zeug für um die zehn Kuai kannst du für fünfzig oder hundert weiterverkaufen, ist das nichts?

Ich sagte, die Kunden sind doch nicht auf den Kopf gefallen.

Er sagte, aber auch wenn sie nicht auf den Kopf gefallen sind, du musst sie dafür halten. Geschäfte machen, das ist psychologische Kriegführung.

Ich sagte, und wenn sie den Braten riechen?

Er sagte, wenn sie das an Ort und Stelle durchschauen, dann musst du auf Teufel komm raus alles abstreiten. Und wenn sie anfangen, Krach zu schlagen, nicht nachgeben, keine Draufgaben, du rufst mich an.

Damit die Polizei den Saustall aufräumt? Ich lachte bitter. So einen Job kann ich nicht machen.

Er sagte, das kannst du, damit ist gutes Geld zu verdienen. Die ersten beiden Jahre werde ich sehen, dass dir die Standmiete erlassen wird; und wenn das Feuer einmal brennt, dann schmiedest du das Eisen, solange es heiß ist, dann machst du eine Kette auf, in fünf Jahren hast du zehn Läden, wenn du dich anstrengst, in zehn Jahren fünfzig, dann bist du ganz oben, der Modeboss der Stadt. Und wenn du noch ein wenig die Treppe rauffällst, dann heuerst du ein paar Gelegenheitsarbeiter an und machst deine eigene Weiterverarbeitung auf, fälschst internationale Marken und verkaufst sie wieder auf dem internationalen Markt. Dann wirst du sicher der Großboss von einem Multi, und dann haben die Westler ohne dich keine Hose am Hintern.

Das brachte mich zum Lachen, doch kaum hatte ich den Mund zu, hatte ich das Gefühl, ich sollte mich schämen.

In dieser Nacht haben wir beide kräftig angestoßen, wir waren voll wie die Eimer, lagen uns in den Armen oder starrten uns feindselig an. Als wir auseinandergingen, wurde es schon fast hell, und er sagte noch einmal, alter Liao, du überlegst dir das noch mal, ja?

Ich sagte, lass mal, geh du deinen breiten Weg, ich gehe über meinen einsamen Holzsteg.

 

Mein einsamer Holzsteg bestand in meiner heimlichen Schreiberei. Und eines Nachmittags ein Jahr später hat ausgerechnet mein Geheimpolizist, mein Saufkumpan, mit einem Trupp aus heiterem Himmel meine Wohnung gestürmt und verkündet, das sei eine »gesetzliche Maßnahme«. Anschließend zeigte er mir einen Polizeiausweis, verlas den Durchsuchungsbefehl und tastete Zentimeter für Zentimeter Bett, Tisch, Zimmerdecke, Bodenbelag ab und ließ auch solche Winkel nicht aus, mit denen ich normalerweise kaum in Kontakt kam. Jede Schublade wurde aufgezogen. Jede Hosentasche nach außen gekehrt. Und auch wenn mein alter Wachhund Yuzui, Jadeschnauze, bellend protestierte, wurde auch sein Nest auf den Kopf gestellt. Alles, was irgendwie nach Text aussah, wurde auf der Stelle konfisziert, darunter auch Briefe, Notizen, eine Hundesuchanzeige und das fast fertige Manuskript meines Gefängnisberichts[1].

Ich setzte meinen Namen unter eine Liste mit dem belastenden Material. Dann wurde ich mit einem Polizeiwagen in das nahe gelegene Revier gebracht und bis tief in die Nacht hinein verhört. Und derselbe, der mich einmal hatte Hosen verkaufen lassen wollen, brachte mich zur Tür, schüttelte mir die Hand, klopfte mir auf die Schulter und schärfte mir ein: »In diesem Monat darfst du die Stadt nicht verlassen!«

 

Auf einen Schlag waren ein paar hunderttausend Zeichen[2] weg! Vollkommen erledigt legte ich mich hin und bediente mich eine Weile der obszönsten Schimpfwörter, die der Sichuan-Dialekt kennt. Aber mir blieb nichts anderes übrig, ich musste von vorne anfangen. Man muss mich nicht bemitleiden, wir quälen uns alle in den engen Nischen unserer Existenzen ab, für so einen Furz im Wind hat niemand Mitleid. Aber vielleicht konnte der alte Himmelsvater es einfach nicht mehr mit ansehen, jedenfalls hat er mir als Wiedergutmachung einen Engel geschickt: meine Freundin. Als Kind wurde sie Song Yu gerufen, ihre Worte waren mild und sanft, sie war bei mir, sie ließ mich nicht im Stich, sie half mir über diese erbärmlichsten und mutlosesten Tage meines Lebens hinweg – und so wurde auch meine Praecox allmählich besser, auch wenn sich nichts grundsätzlich änderte. Ich war launisch, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, und wenn ich in den Kneipen Musik machte, schaute ich düster um mich oder gab meinem Affen Zucker. Einmal ging ich spontan so hoch, dass ich einem der Suffköppe eine Schnapsflasche auf dem Kopf zerschlug, was die Öffentliche Sicherheit auf den Plan rief.

Ich war ganz unten, ich trieb mich herum, die Zahl derer, die kein Zuhause haben, geht in die Tausende. Es war, als wäre ich in einen bodenlosen Abgrund gefallen, da war keine Richtung, da war keine Freiheit. Wenn das Gefängnis in einem drin ist, wird man nie frei – das hatte mein Flötenlehrer zu mir gesagt. Aber wo war er in diesem Augenblick? Ich fing an, mich Tag für Tag zuzusaufen, verfluchte den Staat, die Polizei, verfluchte Deng Xiaoping und Li Peng, ich fluchte sogar auf die Elite unseres Landes und die Demokratiebewegung im Ausland, ich verfluchte die Hunderttausenden, die 1989 auf die Straße gegangen waren. Warum musste ich am Morgen des 4. Juni dieses Gedicht vortragen, dieses »Massaker«? War es das wert? Die Leute waren tot, sauber zugrunde gerichtet. Die überlebt hatten, würden für immer wie die Hunde leben. Das war es, was bei der Lesung des »Massakers« herausgekommen war.

 

Mein Geheimpolizist stand weiter vor der Tür und besuchte mich. Keine Ahnung, ob es in meinen vier Wänden irgendwelche Abhörvorrichtungen gab, aber wohin ich ging, mit wem ich Umgang hatte, selbst meine Träume waren für die Geheimpolizei ein offenes Buch. Ich träumte immer wieder, ich würde fliehen, in den Himmel oder in die Erde, ich schlug mit den Armen wie mit Flügeln, bis ich ganz außer Atem war. Ich hatte mir angewöhnt, zusammengerollt wie ein Embryo zu schlafen, mich möglichst klein zu machen, und noch kleiner, als könnte ich so in den Mutterleib zurück. Dort wäre ich vor neugierigen Blicken sicher! Song Yu hat mich oft wachgerüttelt und mich wie eine Mutter in den Arm genommen. Bis ein weiterer Albtraum von Tag heraufkam.

Davor hatte mir Liu Xiaobo per Fax aus Beijing eine unleserliche »Petition« zugeschickt, etwas zur »Wahrheit über den 4. Juni«. Dumpf unterschrieb ich und schickte es zurück. Zwei Tage später wurde ich in dem gleichen Zustand von der Geheimpolizei abgeholt und blieb 20 Tage im Gästehaus des Amtes für Öffentliche Sicherheit in Gewahrsam. Song Yu rannte von Pontius zu Pilatus und holte mich schließlich nach Hause. Ihre erste Frage war: Wenn das so weitergeht, wie soll es dann weitergehn?

Ich schwieg. Auf einmal nahm in meinem Kopf ein Satz von Dylan Thomas Gestalt an: On whom a world of ills came down like snow …[3]

4

Ein paar Jahre gingen ins Land, und ich machte die Bekanntschaft von Ding Zilin, einer der Angehörigen der Opfer vom 4. Juni. Als sie sich meine Geschichte angehört hatte, sagte sie: Da kannst du noch von Glück sagen!

Ein paar Jahre gingen ins Land, und ich machte die Bekanntschaft von Wu Wenjian, dem Maler des Massakers. Er hatte sich meine Geschichte noch nicht zu Ende angehört, als er meinte, ich könne noch von Glück sagen!

Ich sagte, im Verhältnis zu den Opfern habe ich Glück gehabt.

Sie meinten, das stimme nicht, ich hätte auch im Verhältnis zu den Überlebenden Glück gehabt.

 

Jiang Jielian, der einzige Sohn von Frau Professor Ding Zilin, war 1989 erst 17 Jahre alt, er ging noch auf die höhere Schule, als er von der Welle des Patriotismus erfasst wurde und sich mit brennendem Herzen in die Straßenpolitik stürzte – das Herz, das in der Nacht zum 4. Juni von einer Kugel durchbohrt worden ist und für das jede Hilfe zu spät kam. Das Ehepaar Ding hat in seinem Schmerz beschlossen, aufzustehen und vor der Welt Klage zu erheben. Unter seiner Führung sind nach und nach auch die Angehörigen anderer Opfer aufgestanden und haben die »Bewegung der Mütter vom Tiananmen« gebildet. Über 20 Jahre sind vergangen, aber die Mörder herrschen weiter über dieses Land, während die Eltern, die ihre Kinder verloren haben, unter der Überwachung der Geheimpolizei alt werden und sterben.

Wu Wenjian war 1989 gerade 19, gehörte also zu derselben Generation wie der einzige Sohn der Familie Ding. In der Nacht auf den 4. Juni ging er, ohne auf die Vorhaltungen seiner Eltern zu hören, auf die Straße, um die Bewegung zu unterstützen; er hatte Glück, denn die Kugel streifte nur seine Kopfhaut, sie traf nicht sein Herz. Voller gerechtem Zorn hielt er öffentlich eine Rede, in der er die »Blutschuld« einforderte, und verschwand für Jahre hinter Gittern.

 

Wu Wenjian ist der Erste der Straßenkämpfer vom 4. Juni, den ich interviewte. Offiziell bezeichnet man uns in unserem Land als Rowdys, sagte er. Immerhin, damals, an diesem Abend, standen ein paar Millionen solcher Rowdys mit leeren Händen einer bis an die Zähne bewaffneten Armee gegenüber. Am Anfang bahnten sich Panzer und gepanzerte Fahrzeuge einzeln den Weg. Wo sie auf eine Straßensperre stießen, haben sie sie einfach überrollt; nachher haben sie wahllos um sich geschossen, alles schrie vor Entsetzen, eine Salve, eine Blutlache, die Menschen wurden knatternd hingemäht wie Gras.

Im Westen kennt man nur Wang Weilin, weil er sich auf der Straße als Einzelner den Panzern in den Weg gestellt hat. Eine lange Reihe von Panzern, die qualmend herandröhnten, wie riesige, unablässig flatulierende Käfer rollten sie nach rechts, nach links und wurden doch von diesem einzelnen Mann aufgehalten. Ihr seid aus Eisen, ich bin aus Fleisch und Blut, überrollt mich doch, ihr Bastarde! Dieses Bild ist in die Geschichte eingegangen, weil westliche Journalisten es aufgenommen haben, ein Glück! Es heißt, dem alten Präsidenten Bush seien bei der Liveübertragung die Tränen über das Gesicht gelaufen. Aber in dieser Nacht gab es in China unzählige Wang Weilins, die nicht von Kameras festgehalten wurden.

 

Zheng Yi, ein nach Amerika geflohener Schriftsteller, schreibt in seinen Erinnerungen: Am 3. Juni 1989, es muss gegen neun Uhr abends gewesen sein, haben die Menschen, die sich auf Höhe der Muxi-Hochstraßenkreuzung auf der ganzen Breite der Chang’an den Truppen entgegenstellten, Hand in Hand eine Menschenkette von zwei-, dreihundert Meter Länge gebildet und rückten unter ohrenbetäubenden Parolen vor. Die anrückenden Soldaten hatten Stahlhelme auf, hielten Schilde und Schlagstöcke in Händen und schlugen wie von Sinne um sich. Die Menge ging mit Steinen zum Gegenangriff über und wich zögernd zurück. Gegen zehn waren sie bei der Hochstraßenkreuzung, beide Seiten wurden von Autos getrennt, die als Barrikaden quer zur Straße standen. Das Pionierbataillon wagte nicht, einfach an der Sperre vorbeizurollen und die Menge direkt anzugreifen, also stellten sie Panzer an die vorderste Front.

Ein anderer Augenzeuge berichtet, ein Panzer habe in voller Geschwindigkeit versucht, den quer zur Brücke stehenden Oberleitungsbus aus dem Weg zu räumen; Tausende von Menschen hätten auf Zeichen von ein paar höher postierten jungen Leuten lauthals den Countdown für den Zusammenprall von Panzer und Bus gezählt, gleichzeitig seien sie wie eine Woge über ihn hinweggeschwappt. Unter dem gemeinsamen Aufprall dieser gewaltigen Kräfte kreischte die Mauer aus Autos entsetzlich, aber sie ragte weiter quer zur Brücke in die Luft. Die Wucht des Panzers verpuffte, die Leute brachen in Triumphgeschrei aus. Und dann ging das beiderseitige Kräftemessen weiter, jedes Mal machte der Panzer den wütenden Anfang, und wenn die grandiose Szene des beidseitigen Anrennens gegen diese Mauer aus Autos ihren Höhepunkt erreichte, endete das Ganze mit einem Rückzug des Panzers und einem Siegesgeheul der Menschen. Nach wiederholtem Aufprall gegen die Mauer begann die Armee Tränengasgranaten in Richtung der Menge abzufeuern, sie flogen über die Straßensperre und explodierten, alles war voller Tränengasschwaden, und den Leuten blieb nichts anderes übrig, als mit den Händen vorm Gesicht auszuweichen. Der Panzer nutzte das, gab Vollgas und prallte wieder gegen die Sperre, bum, bum! Zwei Trolleybusse wurden durch den Aufprall völlig verformt, und es entstand eine etwa zwei Meter breite Bresche … Wieder zog sich der Panzer zurück, und als er sich bereitmachte zum nächsten Angriff, drängten Tausende von Studenten und anderen Leuten heran, schoben die Busse an ihre ursprüngliche Position, schlossen die Bresche, hielten mit ihren Leibern die wankende Straßensperre und stellten sich dem Angriff des Stahls entgegen.

Am frühen Morgen des 4. Juni, so Zheng Yi weiter in seinen Erinnerungen, rückte auf der Chang’an an der Nordseite der Großen Halle des Volkes eine große Menschenmenge von Westen nach Osten vor und versuchte, zum bereits von der Armee besetzten Platz des Himmlischen Friedens durchzubrechen und die Studenten dort zu retten. An der Peripherie des Tiananmen stießen sie mit der Armee zusammen. In einer Menschenmauer rückten sie, leidenschaftlich ein Trauerlied anstimmend, vor. Wieder und wieder wurden sie von Gewehrsalven auseinandergetrieben, wieder und wieder schlossen sie sich erneut zusammen und drangen singend weiter vor. Jedes Mal gingen viele zu Boden, aber jedes Mal traten noch mehr an ihre Stelle, bis sie schließlich den in Zickzackformation aufgestellten Soldaten gegenüberstanden. Bei Morgengrauen kamen die Panzer vom Platz und stellten sich auf der Chang’an auf. Dann brüllten die Motoren, und sie rasten gegen die Menschenmauer.

In diesem Augenblick legte sich ein einzelner Todesmutiger zunächst mitten auf die Straße, dem sich sofort andere anschlossen. Im Nu lagen Hunderte auf der Straße, sie bedeckten die Chang’an auf ganzer Breite.

Nicht einer ist vor den drohenden Panzerketten davongelaufen. Dieses Kräftemessen mit Entschlossenheit und Kühnheit hat der Stahl verloren. Die Panzer machten Notbremsungen, »die Straße bebte, der ganze Aufbau der Panzer neigte sich vornüber«. Am Ende verschossen die Panzer Tränengasgranaten, sie trieben die Menge auseinander und setzten den Menschen durch die gelben Nebelschwaden, die ihnen den Atem nahmen, wie Furien nach. Über zehn Menschen wurden von Panzerketten zermalmt. Fünf Jugendliche starben an der Südwestecke der Liubukou-Kreuzung der Sechs Ministerien, zwei von ihnen wurden mit ihren Fahrrädern zu Brei gequetscht.

Die Tyrannen triumphierten. Am Ende ließ sich auch Deng Xiaoping, der Mörder, sehen und sprach den Soldaten der Sonderkommandos seine Anerkennung aus. Alles löste sich auf, die »Rowdys« gingen ihnen nach und nach ins Netz, die »schlimmsten Verbrecher« wurden gefesselt vor Exekutionskommandos gestellt und öffentlich hingerichtet.

Wu Wenjian sagt: Ich kann auch von Glück reden, dass ich nur sieben Jahre bekommen habe. Andere »Rowdys«, die im gleichen Alter waren wie ich, alles ganz gewöhnliche Arbeiter, Bauern und Kleinhändler, sind auf die Straße gegangen, um sich der Armee in den Weg zu stellen, und haben später von Schnellgerichten willkürlich wegen »Plünderei« schwere Strafen bekommen und sind für Jahre hinter Gittern verschwunden. Ach, und wie viele von ihnen waren noch unschuldig, sie hatten noch nicht einmal das Küssen gelernt, und als sie herauskamen, waren sie schon in mittleren Jahren, verstanden die Gesellschaft nicht mehr, wussten nichts vom anderen Geschlecht und waren völlig außerstande, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. Was sollten sie tun? In ihrem fortgeschrittenen Alter konnten sie sich nur mit ihren greisen Eltern auf engem Raum zusammendrängen und deren Rente durchbringen. Manche brachten nicht einmal mehr den Mut auf, vor die Tür zu gehen. In den Jahren hatte sich die Stadt zu sehr verändert, es wäre zu lächerlich, wenn sie sich in einer Gegend verirren würden, in der sie aufgewachsen waren.

Mir wurde schwer ums Herz, denn ich hatte mich auch in der Gegend, in der ich aufgewachsen war, verirrt; dann, in den Jahren nach 2005, habe ich mich mit Wu Wenjian unter diese vom China des Booms und der Tyrannei ausgegrenzten und vergessenen Randgruppen gemischt.

5

Über Jahre habe ich in aller Heimlichkeit im Untergrund zahllose Interviews geführt, doch noch mehr Interviews mit den haarsträubendsten Details habe ich, weil sich die Gesprächspartner zurückzogen oder ihre Zustimmung verweigerten, nicht in Buchform veröffentlichen können. Am 4. Juni waren die Sondereinsatzkommandos überall unterwegs, nicht wenige starben unter ihren Schlägen und Tritten.

Von der ersten Gruppe von acht »Rowdys«, die Autos angezündet hatten, wurden sieben im Schnellverfahren hingerichtet, das Urteil des achten, eines Umweltarbeiters namens Wang Lianxi, wurde wegen erwiesener »schwerer geistiger Zurückgebliebenheit« in der Revision in lebenslange Haft umgewandelt. Er hat 18 Jahre abgesessen, kurz nach seiner Entlassung kam er den Planungen für die Olympischen Spiele ins Gehege, sein Haus wurde zwangsgeräumt, und weil er nun kein Zuhause mehr hatte, wurde er von der örtlichen Verwaltung in eine Nervenheilanstalt gesteckt. Nach Augenzeugenberichten lebt Wang Lianxi jetzt auf der Straße und sucht im Abfall nach etwas Essbarem.

Und dann war da noch Lu Zhongshu, der wegen öffentlichen Anzündens von Autos und Empörung gegen Sondereinsatzkommandos beinahe totgeschlagen worden wäre.

Wu Wenjian erzählt, man habe ihn in einen Panzer gesteckt und direkt ins Untersuchungsgefängnis geschafft. Verwirrt wie er sei, wisse er nicht, ob sie ihm den Verstand herausgeprügelt haben oder ob er schon immer so war. Er war am ganzen Körper grün und blau, hatte keinen heilen Fleck mehr am Leib, verlor die Kontrolle über seine Körperfunktionen, zog die Hosen nicht herunter und ließ es einfach laufen. Er lief den ganzen Tag herum wie ein Schlafwandler, wenn man ihn ansprach, reagierte er nicht. Später »verliert« sich dann auf wundersame Weise »jede Spur« von ihm, man weiß so wenig über seinen Verbleib wie über den von Wang Weilin, den Helden, der sich den Panzern entgegengestellt hat.

Der Rest war belangloses Geplauder, Sex ist kein Thema für ein persönliches Interview. Eigentlich saßen wir uns als Hagestolze gegenüber, außerdem hatten wir alle gesessen, natürlich würden wir auch auf Frauen zu sprechen kommen. Und wenn wir genug darüber geredet hatten, fiel uns plötzlich ein, dass das Aufnahmegerät noch an war. Dann zogen die Gesprächspartner die Jacke zurecht, setzten sich aufrecht hin und warnten mich, »die Leichen, die sie im Keller hatten, nicht in der Öffentlichkeit breitzutreten«.

Chinaweit haben schätzungsweise mehrere zehntausend Widerständler vom 4. Juni gesessen, alleine im Distrikt Beijing waren es bereits mehrere tausend. Die meisten von ihnen waren Grünschnäbel, so wie Wu Wenjian auch, und nicht wenige gingen als Jungfrauen ins Gefängnis. Aufgrund der Jahre, bis zu zwei Jahrzehnte, in denen alles auf Eis lag, hatten alle nach ihrer Entlassung Probleme mit ihrem Unterleib.

Im Nu war ihre Jugend vorbei, zu der ejaculatio praecox kam Impotenz, bis die Natur sich erholt hatte, dauerte es unterschiedlich lange, ein halbes bis zwei, drei Jahre. Wu Wenjian, der nur eine relativ kurze Zeit gesessen hatte, war fast zwei Jahre impotent, bevor er sich halbwegs erholt hatte. Er sagt: Ich habe Kunst studiert, ich war noch nicht lange draußen, als ich bei einer Werbefirma angefangen habe. Für einen Rowdy ging es mir verhältnismäßig gut. Ich war ziemlich häufig auf Geschäftsreise, wohnte in Hotels, wo die schönen Frauen wie Wolken auftauchten und wieder verschwanden, doch in meinem Kopf waren es Orte, an denen man verfolgt und von der Polizei wegen Ehebruchs aufgegriffen wurde. Mein erster Kuss war ein Desaster, ich bin so gegen das Mädchen geknallt, dass ihre Lippe aufplatzte, außerdem bin ich schon bei der ersten Umarmung gekommen und hatte einen großen nassen Fleck auf der Hose. Ich hatte vielleicht eine Angst, und Gewissensbisse, und je größer die Angst wurde, umso schlimmer wurden die Gewissensbisse, und dann kam ich natürlich überhaupt nicht mehr in die Gänge und habe den ganzen Abend nur vor mich hin gestiert. Das Mädchen hatte viel Geduld mit mir und hat mich gestreichelt und getröstet, ich hätte fast geflennt, aber ich konnte mir ja auch schlecht selbst eine reinhauen. Nachher ist sie dann weg, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Du hast wahrscheinlich alles kaputtgedrückt, sagte ich.

Auf der Straße, wenn ich da nur ein Mädchen sah, das ein bisschen was Erotisches hatte, hatte ich jedes Mal den Impuls, sie anzusprechen, aber dann habe ich mich immer voller Selbstzweifel gefragt, was ich machen soll, wenn es nicht geht. In einer Bar in Chongqing habe ich eine Bedienung verführt, ach herrje, was für ein Busen! Wir waren kaum im Zimmer, da hingen wir schon aneinander, sie hüpfte und klammerte, beide Beine um meine Hüfte, ich konnte meine Erregung nicht kontrollieren, ein paar Sekunden war in meiner Hose die Hölle los, und vorbei war’s. Scheiße! Wenn sie richtig in Fahrt kamen, war bei mir alles vorbei! Diese Verachtung, dieses Zusammenbeißen der Zähne, das ist für einen Mann unerträglich. Doch was sollte ich machen, es war, als hätte ich meine Souveränität verloren, ich musste es noch eine Weile aushalten, dann schien es, als hätte ich wieder ein bisschen Gefühl, doch beim nächsten Versuch war es das Gleiche. Als es so weit war, zischte sie durch die Zähne: zwecklos!

Das war vermutlich schlimmer als die Angriffe der Kommunistischen Partei auf dich.

Waren wir denn für gar nichts gut? Aber die Bürokraten, die Pfeffersäcke, die Zyniker, die Deckhengste, die sind etwas wert? Wofür haben wir denn gesessen? Was habt ihr denn gemacht, als wir im Bau waren? Geld gescheffelt und zu den Nutten gerannt, oder? Und wenn ihr genug Geld hattet und genug gevögelt habt, erzählt ihr uns, wir wären nichts wert, oder?

Die Welt und die Menschen haben sich verändert.

Ich war das, ich war nicht mehr ganz normal. Ich kam mit mir selbst nicht zurecht, hatte Selbstmitleid und ließ meine Wut an irgendwelchen Mädels aus. Es ist noch gar nicht lange her, da war ich mit Kunzi, der gerade aus dem Knast gekommen war, am Qianmen bummeln, die Abendsonne war richtig schön, und was da so an uns vorbeilief, war auch nicht schlecht. Doch da ist vor uns ein Mädchen vorbeigewischt, mit langen, wehenden Haaren, die einen leichten Duftschleier nach sich zogen, und dann die beiden runden Hälften ihres Hinterteils. Mir machte das nichts weiter aus, seit ich draußen war, hatte ich gesehen, was ich hatte sehen müssen. Aber Kunzi war schon über vierzig, dieser mutige Kamerad, der am 4. Juni trotz des Kugelhagels auf ein Autodach geklettert war und eine Rede gehalten hatte, dem blieb in diesem Augenblick komplett die Spucke weg, ihm standen die Augen vor dem Kopf wie zwei unförmige Angelhaken, die er nur allzu gerne eingezogen hätte, und mit ihnen diese beiden Hinterbacken. Normale Menschen können das nicht nachfühlen, dieses schreckliche Gefühl des Verhungerns. Erst als das Mädel weg war, kam der Kamerad wieder zu sich, und er flüsterte mir mit trauriger Stimme ins Ohr: Ach, alter Wu, ich bin impotent.

 

Ich habe diesen Kameraden kennengelernt, Wu Wenjian hat ihn immer wieder bequatscht, der Kamerad hat immer wieder gezögert, aber letzten Endes hat er meinem Ansinnen nicht entsprochen. Kunzi war ein ehemaliger Soldat, die Brust voller patriotischer Begeisterung. Vor der Nacht auf den 4. Juni war er pünktlich an dem von dem vagabundierenden Schriftsteller Zheng Yi in seinen Erinnerungen beschriebenen Ort – an der Kreuzung der Hochstraße bei Muxidi mit der Chang’an –, wo er von erhobener Position aus die Konfrontation von Panzer und Menge dirigierte. Später dann ist er verraten und von den Sondereinsatzkommandos der Truppen im Ausnahmezustand gefasst und wegen »Putschversuchs« zum Tod auf Bewährung verurteilt worden. Er war noch nicht lange im Knast, als sich seine Frau und seine Kinder von ihm abwandten, und als er Jahre später entlassen wurde, stand er alleine da, ein Hagestolz, mit seinen 80 Jahre alten Eltern in eine Wohnung gepfercht. Arbeit ist so schwer zu finden, sagte er. Wenn ich mich von dir interviewen lasse und der Chef davon Wind kriegt, dann wirft er mich auf der Stelle raus.

Was arbeitest du denn?

Erst auf der Straße, vor einem von den großen Kaufhäusern, da habe ich für die Kunden auf die Fahrräder aufgepasst. Es war lausig wenig Geld, im Winter, wenn es schneit, muss man ständig auf den Hacken sitzen, wenn man nicht zu einem Eiszapfen gefrieren will. Dann bin ich über Beziehungen, meine Brüder, weißt du, in ein Schwimmbad gekommen, dort habe ich saubergemacht, die Klos, Tag und Nacht, jedenfalls war das Einkommen etwas sicherer. In den achtziger Jahren gab es kaum noch Nachtclubs, in den Filmen damals sind nur schlechte Menschen in solche Clubs gegangen, oder doch wenigstens zweite Wahl, die keiner geregelten Arbeit nachgingen. In den 90ern gab es nicht nur eine Öffnung der Wirtschaft, sondern auch der Hosenläden; dass man in den Clubs Frauen finden konnte, die sich einem für Geld anboten, war nichts Besonderes mehr. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ging das mit den Nachtclubs zurück, dafür hatten die Badeanstalten Hochkonjunktur. Da wurde gesoffen, gesungen, Mahjongg gespielt, gewhirlpoolt, Rücken gerieben, Füße geknetet, massiert, herumgehurt – ein Rundumservice: was den Kunden guttat, wurde geboten. Am Anfang hast du vielleicht noch keine Gefühle gehabt, aber dann kam so ein Mädchen, hat dich halb ausgezogen und erst einmal seriös massiert und anschließend dann weniger seriös, so in der Leistengegend, am Unterleib, und dich endlos gereizt. Wie sollte sich da nichts regen? Das war eine Absteige, ich habe in einer Absteige die Klos saubergemacht. Korrupte Beamte und das große Geld haben sich da die Klinke in die Hand gegeben, das war ein Umarmen hier und Bussi da, die trugen die Nase so hoch, die gingen richtig auf Zehenspitzen, und ich reichte denen das Klopapier, weiter runter ging es nicht.

Bei der Studentenbewegung 1989 haben die einfachen Leute die Studenten unterstützt, dagegen waren nur diese verkommenen Subjekte, denn wir haben verlangt, dass die Familienclans von den hohen Beamten der Kommunistischen Partei ihre Schwarzeinkünfte offenlegen und ihre Schwarzkonten; unser Ziel war, dass der Staat wieder gesund wird. Aber heute sind die korrupten Beamten und die Profitmacher zahlreich, die einfachen Leute leben in Not und Elend. In der Gesellschaft geht es drunter und drüber, und ich, als einer der alten Männer, die für die Demokratie in China einen so grausamen Preis bezahlt haben, muss diese Enkelbande auch noch bedienen.

Das ist sicher nicht einfach, Kunzi.

Einmal sind zwei von diesen Geldsäcken mit nackten Armen auf meinem Klo erschienen und haben mich auf einmal erkannt, da haben sie geschaut, he, ist das nicht Kamerad Kunzi? Ich bin Xiaohai, wir haben in derselben Straße gewohnt, in der Nacht zum 4. Juni, da haben wir doch noch zusammen gegen die Panzer gestanden. Ich habe verdammtes Glück gehabt, ich bin wie ein Fisch in der Menge untergetaucht, nachher habe ich alles abgestritten, die hatten ja keine Beweise, eine Selbstkritik in der Einheit, und basta. Und noch später, wie Deng Xiaoping seine Reise durch den Süden gemacht hat, mit Vaterlandsliebe hatte das nichts zu tun, das war vorbei, wir sind alle dem Ruf der Partei gefolgt, wir haben die Arme ausgebreitet und Geld gemacht. Ich bin in der Lebensmittelverarbeitung, ich verkaufe minderwertiges Zeug für gut und tote Schweine als Lebendschweine, ich bin reich. Nur auf den 4. Juni darf man nicht zu sprechen kommen, nicht an ihre alten Wunden rühren, dann kann man Geld machen, so viel man will. Ach, Kunzi, du bist ganz schön heruntergekommen, nichts mehr von dem imposanten Arm hoch und Parolen gerufen, was? Ja, so kann es gehen, da soll sich mal einer auskennen!

6

Unter den Zehntausenden von Freiheitskämpfern, die landesweit aus den Gefängnissen kamen, hatte es Kamerad Kunzi nicht am schlechtesten getroffen. Wie Wu Wenjian bemerkte, war er wenigstens einmal verheiratet gewesen und hat vor dem großen Unglück die Süße des Bettes gekostet. Ein anderer mit dem Spitznamen »Kleine Katze« war ihnen mit 22 ins Netz gegangen, hatte, weil er in der Nacht auf den 4. Juni mit Ziegelstücken geworfen und mehrfach Soldaten am Kopf getroffen hatte, lebenslänglich bekommen und war, als er herauskam, schon 39 Jahre alt.

Verdammte Scheiße, sagte er, ich bin immer noch Jungfrau! Meine Brüder, die mir ein Willkommensessen gegeben haben, haben dauernd herumgestöhnt, ach, von wegen, jetzt geht der auf die vierzig und ist immer noch Jungfrau, in der heutigen Gesellschaft bist du wirklich ein seltenes Exemplar.

Hast du masturbiert?

Ich wusste nicht wie. In den achtziger Jahren waren alle sauber, meine Eltern waren in der Partei, fortschrittliche Arbeiter. Als ob die Kinder von Parteimitgliedern gewichst hätten!

Aber du hast doch gesessen.

Unser Vergehen war Patriotismus. Wir durften uns nicht benehmen wie normale Kriminelle und uns ständig am Latz herumfummeln. Einmal an einem Samstagabend, die Gefangenen haben zusammen einen Fernsehfilm gesehen, aus Hongkong, da gab es ein paar freizügige Szenen. Das haben die hinter mir nicht ausgehalten, heimlich die Hose aufgemacht und sind schnaufend an die Arbeit. Und schon spürte ich am Hintern etwas vibrieren, ich langte hin, und die ganze Hand war klebrig. Pfuideibel! Ich habe mich umgedreht und hätte dem Kerl am liebsten eine reingehauen, aber ich habe mich beherrscht. Wir waren politische Gefangene, wir durften uns nicht so gehenlassen.

Alle Achtung.

Was heißt da »Alle Achtung«? Wenn man so viele Jahre von der Welt abgeschnitten ist und sich drinnen das da draußen vorstellt, dann aber auf jeden Fall, dass die einfachen Leute da draußen gut zu uns sein werden. Doch im Nu verändert alles sein Gesicht. Alle bedauern mich, es ist wie eine Gehirnwäsche. Was die Kommunistische Partei im Gefängnis nicht geschafft hat, das haben meine Kameraden mit ein, zwei Worten geschafft, sie haben mich einer Gehirnwäsche unterzogen, da bin ich zusammengebrochen. Daraufhin haben sie mich betrunken gemacht und einen Ort gesucht, wo man mich »entjungfern« würde. Ich habe mich wie eine Marionette von ihnen mitziehen lassen, wir sind über die Hauptstraße weg in irgendwelche Gassen gebogen, um mehrere Ecken herum, bis wir an einen Ort kamen mit roten Lampen und grünem Schnaps. Später habe ich erfahren, dass das eine bekannte Straße für Bordsteinschwalben war, tagsüber ganz still, die Läden an den Fenstern der Häuser sind tagsüber geschlossen, doch wenn es Nacht wird, ratschen die Rollläden nach oben und geben den Blick frei auf den »Drei-Schwestern-Salon«, den »Zwei-Schwestern-Salon«, sogenannte Friseur- und alle möglichen anderen Salons. Zu zweit und zu dritt bauen sich dick geschminkte junge Frauen vor diesen Läden auf und holen sich ihre Kunden von der Straße. Sie haben noch auf mich aufgepasst und sind nicht in den schäbigsten Laden mit mir hinein, und Fräuleins, die zu aktiv waren, haben sie auch gemieden und am Ende einen Laden ausgesucht, der relativ offen war und halbwegs manierlich aussah. Ich war viel zu nervös, ich hatte das ja noch nie gemacht, in meinem Kopf ging es drunter und drüber. Und diese jungen Frauen, vielleicht waren sie sogar älter als ich, manche hätten meine Mutter sein können, die kamen und gingen, alle mit halbentblößtem Busen. Ich wagte gar nicht hinzuschauen. Kaum war ich in dem Laden drin, husch, standen sie um mich herum. Die Kumpels sagten hastig: Nicht, nicht, wir wollen nur eine einfache Haarwäsche, nur er hier, unser Brüderchen, braucht eine richtige Behandlung.

Eine etwa fünfzig Jahre alte Puffmutter tauchte auf, ließ die Mädchen in zwei Reihen antreten, damit ich mir eine aussuchen konnte.

Ich hatte Lampenfieber, unwillkürlich zitterten meine Beine und Hände. Ich hätte mich am liebsten umgedreht und davongemacht, aber die Kumpels hielten mich gnadenlos fest und lachten mich aus. Du musst da durch, sagte einer. Wenn nicht, wie willst du dich sonst nachher in der Gesellschaft zurechtfinden und eine Frau finden?

Ich fasste mir ein Herz und wählte eine etwas schlichte aus. Dann wurden wir in eine sogenannte Hochzeitssuite geschoben, kaum größer als eine Hundehütte. Die Tür wurde abgeschlossen, die anderen waren nicht mehr da, der männliche Impuls war natürlich da, mir wurde untenherum ganz heiß, und ich schwoll sehr an. Das ging alles ein bisschen schnell, als sie dann auch noch auf einmal die Bluse aufknöpfte und ihre Brüste sehen ließ, kam ich. Ich brach vor Aufregung in Schweiß aus, aber je aufgeregter ich wurde, umso weniger ging es. Sie gab mir einen Schluck Wasser, massierte mich, ich musste mich hinlegen, sie bestieg mich und begann mich ohne alle Hast zu reizen. Ich wollte es zu sehr, zu sehr, aber es regte sich nichts und zog sich in den Unterleib zurück. Ich hätte beinahe das Heulen angefangen, denn ob man selbst befriedigt ist, ist ja nicht das Wichtigste …

Tatsächlich?

Wie bei den Mönchen, wenn die sechs Wurzeln rein sind, dann ist es gut. Aber ich hatte dreihundert Kuai von den Kumpels verbraten und konnte keinen Vollzug melden, das war doch Verschwendung, oder? Wir waren alle Rowdys vom 4. Juni, wir waren alle an den Rand der Gesellschaft gedrängt und vergessen worden, es war nicht leicht, Geld zu verdienen, und was mache ich erbärmlicher Versager mit dem, was sie für mich gesammelt hatten, um den ersten Schritt in ein menschliches Leben zu machen?! Dabei war das Mädel doch sehr nett und geduldig, es gab keine unschönen Worte, sie hat mich im Arm gehalten und geschlafen, wie bei einem Pflegefall hat sie mir immer wieder mit Händen und Beinen dort langgestreichelt. Ich bin wieder gekommen, ohne Erektion gekommen, das ist wirklich das Letzte. Ich habe mich die halbe Nacht im Bett herumgewälzt, die anderen haben draußen herumgegähnt und gewartet, dass ich herauskomme, und ständig gefragt, was denn los sei. Ich war so verdrossen, ich hätte mich am liebsten im nächsten Mauseloch verkrochen.

Und dann?

Dann? Ich bin immer noch impotent, schon zwei, drei Jahre lang, es geht immer noch nichts. Vorbei ist vorbei.

Wu Wenjian sagte: Vom Alter einmal abgesehen leiden wir alle, die Starken wie die weniger Starken, unter dieser »Gefängniskrankheit«, über die sich so schwer reden lässt. Öffentliche Zusammenkünfte werden von der Regierung unterdrückt, da kann man den Kopf nicht heben; und im Privaten fehlt uns, was die meisten Männer auf der Welt einfach haben, und da lässt man den Kopf noch mehr hängen. Ich habe am meisten Glück gehabt, ich habe jemanden getroffen, sie ist in etwa in meinem Alter, sie hat auch den 4. Juni-Komplex. Wir haben uns erst getroffen, gelesen, sind spazieren gegangen, und erst als wir ganz innig miteinander waren, haben wir uns umarmt und geküsst. Und wenn ich zu früh kam, fand sie nichts dabei. Als wir über die Nacht zum 4. Juni geredet haben, waren wir zwischen Trauer und Wut hin und her gerissen, wir waren uns sehr einig über das Ganze. Sie lag auf dem Bett und sagte, das klappt schon, du hast die Angst vor dem Tod überwunden, was soll da nicht klappen? Und so hat es dann geklappt, ich habe es gar nicht recht mitbekommen, bis wir beide zum Höhepunkt kamen. Als ich in ihr drin war, hat sie mich weiter gelobt: Das ist toll, Wuzi! Wuzi, das ist wundervoll! Ich bedankte mich, und die Tränen brachen aus mir heraus. Sofort war die Welt ganz weit. Das war die Freiheit! Die Freiheit und die Gesundheit, die einem die Kommunistische Partei nicht nehmen kann!

7

Wu Wenjian, voller Leben und Energie, hat viele blutgetränkte Ölbilder auf die Leinwand gebracht. Sein Hauptmotiv ist die Erinnerung an den 4. Juni. Außerdem hat er eine ganze Reihe von Blogs aufgemacht, die den »Rowdys« von ehedem eine Stimme geben und in der virtuellen Welt ein gewisses Echo finden. Doch gleichzeitig besteht die tieferliegende Misere weiter.

 

Mein Knastbruder Xu Wanping, früher Arbeiter in einer Druckerei, sprühte vor Entrüstung, hielt auf den Straßen von Chongqing öffentliche Reden und schrie den Leuten zu: »Die Opfer vom 4. Juni sind unsterblich!« Nach seiner Verhaftung ist er wegen »Aufwiegelung« zu acht Jahren verurteilt worden; er hatte die Strafe kaum abgesessen und war wieder draußen, als er wieder verdächtigt wurde, eine »Demokratische Partei Chinas« zu organisieren, und drei Jahre in ein Umerziehungslager kam. Nachdem er eine Nacht und einen Tag lang Fäkalien herumgeschleppt hatte und der Druck zu groß wurde, machte sein Herz nicht mehr mit. Er bat um eine Pause. Aber da zog der Wärter aus heiterem Himmel zwei Stahlseile heraus, band ihn fest und ließ ihn auf einem schwankenden Bett aus Seilen baumeln, wobei er ihn immer wieder fragte: »Na, gut geschlafen? Liegen der Herr bequem?«

Im Winter 2004 wurde Xu noch einmal, diesmal wegen »Umstürzlerischer Umtriebe«, verurteilt, diesmal zu zwölf Jahren. Am Abend vor seinem Haftantritt wollte er mich in Chengdu besuchen, wurde aber am Bahnhof, von wo aus er mich angerufen hatte, festgenommen. Ich habe die ganze Nacht bitter auf ihn gewartet, aber kein Ton von ihm. Erst eine Woche später erfuhr ich aus dem Internet, dass sie ihn zurück nach Chongqing geschafft und ihn auf einen Eisenstuhl gefesselt hatten, wo er sich 48 Stunden nicht rühren konnte. Die Polizisten haben ihm eine Packung »Schnee« untergeschoben, um ihn als Drogenhändler ins Jenseits befördern zu können.

Xu Wanping ist noch keine fünfzig, aber er ist bereits dreimal verurteilt worden, zu insgesamt 23 Jahren.

 

Liu Xianbin, ein weiteres Opfer des 4. Juni, ist erst 46, auch er ist bisher dreimal zu insgesamt 22 Jahren verurteilt worden, weil er nicht aufhört, die historische Wahrheit zu erzählen.

She Wanbao, 53, im Knast mein Zellennachbar, hat zweimal gesessen, insgesamt 16 Jahre.

Pu Yong, ein weiterer Zellennachbar, saß zehn Jahre wegen »Aufwiegelung«, und seine Gesundheit wurde derart ruiniert, dass er kurz nach Abbüßung seiner Strafe und seiner Entlassung an Krebs starb. Er wurde 35 Jahre alt. Als er im Sterben lag, habe ich ihm folgende vorzeitige Grabrede geschrieben:

»[…] Ich weiß, du hast ständig schlimme Schmerzen, Schmerzen, die sich in dein Herz, in deine Knochen bohren, ich weiß, später wird auch das Dolantin deine Schmerzen nicht mehr lindern können. Ich bete zu Gott, dass er dich erlöst, weg von dieser rechtlosen Welt. Im Himmel ist es toll, die Hölle ist auch nicht schlecht, alles immer noch besser als hier. Geh nur, Bruder, ich werde an dich denken, wie ich an meinen Vater denke, der den gleichen Krebs hatte. Ich habe mir damals die Tränen verbissen, habe meinen Namen unter den Wisch gesetzt zum ›Unterlassen weiterer lebenserhaltender Maßnahmen‹: ›Liao Yiwu‹, und habe ihm mit zitternden Händen sacht die Augen zugedrückt […] auch wenn einen die Erinnerung an solche Abschiede auf immer vergiftet und einem die Gesundheit ruiniert, ich werde meine Seele mit Freuden in dieses gesegnete Gift tauchen, bis eines Tages der nostalgische Infektionsherd von einem Augenblick auf den anderen bösartig wird und mich zerstört und dann meine ganze gesammelte, sorgsam verteidigte und ein wenig erbärmliche Wahrheit mit mir in die Grube fährt […].«

8

Am Mittag des 2. Januar 2007 bin ich mit Wu Wenjian über zwei Stunden mit dem Bus durch die Gegend gefahren, um am Ende vom Qianmen den alten Palast im Distrikt Daxing zu erreichen. Hier war, wie man sich erzählt, die Sommerresidenz von einigen Qing-Kaisern gewesen – im Augenblick war alles ganz verwahrlost, Müllberge türmten sich. Mit dem Tiananmen als Achsenmitte strahlt die Stadt Beijing, die Immobilien erstrecken sich bereits bis jenseits des sechsten Rings, und der Müll rollt in großen Wellen aus allen Himmelsrichtungen heran und packt die Stadt schichtweise ein. Bei Dauerregen, mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Hals sind wir wie die Schildkröten hineingekrochen, bogen in ein paar Gassen ein, sind über ein paar Abwässer weg, blieben vor einer fleckigen Eisentür stehen und klopften leise.

Ein weißhaariger alter Mann öffnete, begrüßte uns und ließ uns ein. Wu Wenjian lächelte, sagte ein paar höfliche Worte, bevor er sagte, er wolle die Brüder Sun sprechen. Der Alte lehnte das kategorisch ab und meinte, solange er atme, werde er auf seine beiden Söhne aufpassen, die würden den Ärger nur so anziehen, er könne nicht zulassen, dass sie sich wieder auf irgend so etwas einlassen.

Wu Wenjian sagte: Der Herr Lehrer hier hat eigens den langen Weg auf sich genommen, und er ist für seine Umsicht bekannt.

Der Alte sagte: Sie haben gestern Abend angerufen, ich habe nebenan heimlich gelauscht, sie haben Ihnen ein Interview versprochen, ich nicht. Es ist nicht leicht gewesen, wieder ein normales Leben zu führen, was soll ich denn machen?

Vergessen Sie es, vergessen Sie es!, fiel ich hastig ein, regen Sie sich nicht auf!

Der Alte sagte vorwurfsvoll: Meine Söhne sind am 4. Juni ins Gefängnis gekommen, sie sind über zehn Jahre weg gewesen, ihre Mutter und ich hatten jede Menge Scherereien. Ein bisschen patriotische Begeisterung, nicht länger, als man braucht, um eine Stange Wasser in die Ecke zu stellen. Wenn die anderen das vergessen, sollen sie, aber wir haben das an den Fingern abgezählt. Wir haben die verächtlichen Blicke auszuhalten gehabt, aber am Ende sind die beiden heimgekommen.

Haben sie denn Arbeit?

Der Kleine ist 1970 zur Welt gekommen, er ist sehr intelligent, er ist von Pontius zu Pilatus gerannt, wollte immer in einem Joint-Venture-Unternehmen unterkommen, hat dann in einem Kellerlager den Gabelstapler gefahren, immer einen Tag und eine Nacht lang, Punkte sammeln mit Überstunden, das gefällt den Chefs. Der Große ist Jahrgang ’66, der ist ein bisschen einfältig, da muss er halt zeitweise als Transportarbeiter im Kaufhaus arbeiten, er bringt die Waren bis zur Haustür, er lebt davon.

Wir plauderten noch eine Weile, und die Atmosphäre wurde viel wärmer. Der Himmel verdunkelte sich, es war noch keine fünf Uhr, aber hinter den Fenstern gingen die Lichter schon an. Der Alte war eine Weile ganz aufgeregt, hat ein paar alte Zeitungsausschnitte herausgekramt und sie uns gezeigt. Alles aus amtlichen Zeitungen, und alles nach dem 4. Juni, da gab es Titel wie »Über 400 Rowdys in Beijing aufgegriffen«, »Achtung, immer noch Rowdys als Heckenschützen unterwegs«, »Spione der taiwanischen Guomindang aufgeflogen«, »Wieder ein paar Rowdys und kriminelle Elemente gefasst«, »Sieben Verbrecher hingerichtet«, »Acht Rowdys zum Tode verurteilt«, »Zwei ausländische Journalisten fristgerecht des Landes verwiesen«.

Da waren meine Söhne dabei!, rief der Alte und zeigte auf ein vergilbtes Stück Zeitungspapier. Wir schauten genauer hin, und tatsächlich, da stand »Sun Yanru«, der Titel des Artikels lautete: »36 Vandalen, Plünderer und Brandstifter gefasst«.

Der Alte hatte eine ganze Menge Zeug zusammengetragen, er hätte ein Archiv zum 4. Juni aufmachen können.

Ach, als die beiden im Gefängnis waren, habe ich Tag für Tag alle möglichen Zeitungen gekauft. Andere lesen so etwas vielleicht, ich habe es durchgekaut, vor lauter Angst, etwas zu übersehen. Damals, in dieser blutrünstigen Atmosphäre war es ganz egal, wie viel einer bekommen hatte, wenn er nur den Kopf behielt, dann Amitabha sei Dank! Die Kommunistische Partei bringt die Leute um, ohne mit der Wimper zu zucken. Reden wir nicht mehr davon!

Mittlerweile war es stockfinster. Wu Wenjian warf mir einen Blick zu, wir standen auf und verabschiedeten uns. Ein nasser Wind kam auf, dass es uns schauderte, als wir vor die Tür traten. Dann sind wir schnell hinaus in das Gewirr der Gassen und in einen heruntergekommenen Laden irgendwo am Straßenrand, der sich selbst auf einem Schild als »Feuertopfburg Zum dummen Jungen« bezeichnete, das war eine Restaurantkette aus Chengdu. Wu Wenjian verabredete sich per Handy mit einem anderen Leidensgenossen namens Wang Lianhui, fragte ganz nebenbei nach den Brüdern Sun, und sein Gesprächspartner meinte, er komme auf der Stelle.

Ich war freudig überrascht. Doch eine halbe Stunde später kam nur Wang Lianhui. Es macht nicht viel Sinn, die alten Geschichten aufzuwärmen, meinte er.

Wir schwiegen. Anschließend bestellten wir einen Chili-Feuertopf und tranken. Wenn man ein paar Gläser Erguotou-Hirseschnaps im Bauch hat, wird einem schon wärmer ums Herz. Wang Lianhui war zu einem Interview bereit und hat von sich aus den Kontakt zu den Sun-Brüdern hergestellt. Er erfuhr, dass Sun Yanru Nachtschicht, also keine Zeit hatte und dass Sun Yancai Waren ausfuhr und erst später kommen konnte.

Am Ende haben wir über sieben Stunden gewartet, aber von Sun Yancai kam immer noch kein Ton. In der Zwischenzeit haben wir ein paarmal angerufen – wenn er nicht gerade mit dem Wagen unterwegs war, hatte er einen Kühlschrank auf dem Buckel und keuchte die Treppen hoch:

Ich bin im sechsten Stock in einer Ecke, es sind noch elf Stockwerke bis zur Wohnung des Kunden.

Gibt es keinen Aufzug?

Der ist kaputt. Scheiße, und das Ganze muss ich noch ein paarmal rennen.

Der Chef des Restaurants hat uns mehrfach aufgefordert zu gehen, aber wir haben uns nicht von der Stelle gerührt. Da hat er gemeint, er werde Benutzungsgebühr verlangen, und hat alle anderen Lampen ausgemacht. Wir hatten jetzt zwei Flaschen Erguotou intus, wir waren betrunken, wurden wieder nüchtern, waren betrunken, wurden wieder nüchtern, Wu Wenjian war ein bisschen erkältet, ihm kam es hoch, sein purpurrot geschwollenes Gesicht wurde totenblass. Wang Lianhui klopfte gelangweilt auf den Schälchen herum. Draußen der Wind heulte und heulte, huhuhu, wie das leise Schluchzen der Geister von Justizopfern.

Um Viertel nach zwei in der Nacht rief Sun Yancai schließlich zurück:

Schaffe es nicht, habe noch zwei große Eisschränke auszuliefern, einen im Osten, einen im Westen der Stadt, die beiden Adressen, das sind zig Kilometer, das dauert, bis es hell wird, verdammte Maloche!

Bist du denn nicht müde?

Was soll ich denn machen, müde oder nicht, ich muss schließlich von irgendwas leben.

Komm, der Herr Liao will ein paar Worte mit dir wechseln, er ist extra den ganzen Weg von Sichuan heraufgekommen, alles gar nicht so einfach.

Gut, gut, tut mir leid, Herr Liao. Ach Gott, ich stehe mitten im Wind, hört ihr das …

Das Gespräch wurde mit einem Krachen unterbrochen. Wir standen auf, wie von einer schweren Last befreit. Ein Glück, dass gegenüber ein schwarzes Taxi stand, Wu Wenjian ging rüber und handelte den Preis aus, sie einigten sich auf 180 Kuai. Drei ehemalige Gefängnisinsassen versicherten einander ihre Wertschätzung. Der Wind war eisig, der Regen bitter, jeder eilte seiner Zukunft entgegen, und keiner wusste, wann sie sich wieder begegnen würden.

 

In dieser Nacht hatte ich einen Albtraum. Die Polizei war hinter mir her, in Scharen, fliehen, fliehen, fliehen, meine Arme wurden zu Flügeln, ich flog in den Himmel. Die Polizisten unten eröffneten das Feuer, ich wurde getroffen, stürzte ab und ergab mich ohne Gegenwehr. Die Polizisten rissen mir die Arme aus und schnitten mir mit einer Sichel den Kopf ab. Das Blutgespinst von Erinnerungen in meinem Kopf war mit einem Mal abgeschnitten, sie haben Nudeln daraus gemacht und es aufgegessen. Ich habe um mein Leben gekämpft, und als ich aus dem Traum aufwachte, klingelte das Telefon, ein Gespräch aus Übersee. Es war ein weiterer Zellennachbar von mir, am 4. Juni erst 17 Jahre alt, ein Grünschnabel, der wegen »Aufwiegelung« drei Jahre bekommen hatte. Nach seiner Entlassung hatte er sich in allen möglichen Mauselöchern verkrochen und schließlich die erstbeste Gelegenheit beim Schopf gepackt und war unter falscher Identität mit einer Reisegruppe nach Thailand gefahren, begab sich dort unbefugterweise zur amerikanischen Botschaft, bat um politisches Asyl, wurde aber wegen »unklarer Herkunft« von einem Posten vor die Tür gesetzt. Anschließend trieb er sich auf den Straßen des fremden Landes herum, hat in einem buddhistischen Tempel den Boden gefegt und lebte von der Hand in den Mund. Er sagte: Ich verstecke mich hier schon vier Jahre und habe im Grunde nur mit den wilden Hunden, von denen die Straßen voll sind, nähere Bekanntschaft geschlossen. Lieber Liao, hilf einem Bruder aus der Patsche! Ich versprach, mich sofort mit den bekannten Konterrevolutionären Liu Qing und Yu Wenli in New York in Verbindung zu setzen, um ihn da rauszuholen. Am anderen Ende hörte ich einen erleichterten Seufzer, und er setzte am Telefon seinen gewaltigen Redeschwall fort: von dem Rad, das sich dreht, vom Massaker des 4. Juni, von denen, die dem Gefängnis entgangen und ins Ausland geflohen sind und von dort aus die Tyrannei der Kommunistischen Partei anklagen. Wie bewegt die westlichen Regierungen den Chinesen die Green Card ausstellen, es müssten mittlerweile mehrere Zehntausend sein, seit der Niederlage der Guomindang 1949, als über zwei Millionen vor dem Bürgerkrieg nach Taiwan geflohen seien, die schlimmste Flüchtlingswelle überhaupt. Doch im Augenblick fielen dem politischen Markenzeichen des 4. Juni vor Altersschwäche die Zähne aus, darauf könne man kaum noch bauen, außer bei so ganz besonders berühmten Leuten wie Liu Xiaobo und Ding Zilin.

Auf welches Markenzeichen denn zu bauen sei?