Fräulein Hallo und der Bauernkaiser - Liao Yiwu - E-Book

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

In China verboten: Einzigartige Gespräche mit den Verstoßenen und Vergessenen der chinesischen Gesellschaft Eine Prostituierte, ein buddhistischer Abt und der Manager einer öffentlichen Bedürfnisanstalt, ein Falun-Gong-Anhänger, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng-Shui-Meister – sie und viele andere hat Liao Yiwu, einer der bekanntesten Autoren Chinas und selbst ehemaliger politischer Häftling, mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen befragt. Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen – ein China der Ausgestoßenen, der Heimat- und Obdachlosen, der Bettler und Straßenmusiker, deren Würde, Witz und Menschlichkeit ihnen niemand hat nehmen können.

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Seitenzahl: 877

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Liao Yiwu

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Chinas Gesellschaft von unten

 

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder Mit einem Vorwort von Philip Gourevitch, einer Einführung von Wen Huang und einem Nachwort von Detlev Claussen

 

Über dieses Buch

 

 

Eine Prostituierte, ein buddhistischer Mönch und ein Klomann, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng-Shui-Meister – sie und viele andere hat Liao Yiwu, einer der bekanntesten Autoren Chinas, selbst ehemaliger politischer Häftling, mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen befragt.

Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein faszinierendes China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen – ein China der Verstoßenen, der Heimat- und Obdachlosen, der Bettler und Straßenmusiker, deren Würde, Witz und Menschlichkeit ihnen niemand hat nehmen können.

 

»Leute, lest Liao Yiwu! (…) Liao hat in diesem epochalen Buch einen Gedenkstein aus Gesprächen für all die Unangepassten des modernen China errichtet.«

Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern »ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis« in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf. 1989 verfasste er das Gedicht ›Massaker‹, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien auf Deutsch sein von Kritik und Publikum euphorisch begrüßtes Buch ›Fräulein Hallo und der Bauerkaiser – Chinas Gesellschaft von unten‹, das Menschen vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft porträtiert und in China verboten ist. 2011, als ›Für ein Lied und hundert Lieder‹ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. Im November 2011 wurde ihm der Geschwister-Scholl-Preis verliehen, im Oktober 2012 erhält er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

Inhalt

Vorwort

Zur Einführung

[Hauptteil]

Der Trauermusiker

Der Menschenhändler

Der Klomann

Die Totenrufer

Der »Leprakranke«

Fräulein Hallo

Der Bauernkaiser

Der Fengshui-Meister

Der Mönch

Der Komponist

Der alte Rechtsabweichler

Der Arbeitsgruppenleiter

Der alte Grundbesitzer

Opfer der Bodenreform

Der Dorfschullehrer

Der Leichenschminker

Der Direktor des Nachbarschaftskomitees

Der alte Rotgardist

Der Konterrevolutionär

Die Familie eines Opfers des 4. Juni

Die Falun-Gong-Anhängerin

Der illegale Wanderer zwischen den Welten

Der Grabräuber

Der Ausbrecherkönig

Der blinde Erhu-Spieler

Der Dreifachservice von Fräulein Wang

Der Straßensänger

Die Frau des Schlafwandlers

Der Gelegenheitsarbeiter

Nachwort

Vorwort

Es gehört zum Aufregendsten, was ein Buch bieten kann: das Vernehmen einer neuen Stimme – und Liao Yiwu lässt uns gleich mehr als zwei Dutzend origineller Stimmen vernehmen, die auch wirklich etwas zu sagen haben. Liao ist unerschrockener Beobachter und unbeirrbarer Chronist zugleich, ein Vor-Ort-Reporter und kunstvoller Geschichtenerzähler, Historiker mündlicher Geschichte, begabter Schauspieler, Volkskundler und Satiriker. Vor allem aber ist er ein Mittler für ganze mit einem Maulkorb versehene Gruppen der chinesischen Gesellschaft, deren Existenz die Partei am liebsten leugnen würde: Strichmädchen, Outlaws und Straßenkünstler, öffentlich Abtrünnige und Behinderte, Leute, die, in doppeltem Sinn, mit menschlichem Abfall Geschäfte machen, Künstler und Schamanen, Gauner und selbst Kannibalen – und jeder von ihnen ist ehrlicher als all diese offiziellen Aufzeichnungen des chinesischen Lebens, die vom Staat herausgebracht werden im Namen des »Volkes«.

Liao selbst haben bitterste Erfahrungen zum Schriftsteller geformt: Als Kind wäre er fast verhungert, und sein Vater wurde als Feind des Volkes gebrandmarkt; er wurde ins Gefängnis geworfen für Gedichte, die die Wahrheit sagten über die Kommunistische Partei Chinas, er wurde im Gefängnis misshandelt, weil er sich weigerte, den Mund zu halten; und im Gefängnis entdeckte er, wie ungeheuer wertvoll es ist, Menschen zuzuhören, die die Behörden, wie ihn selbst auch, am liebsten für immer zum Schweigen gebracht hätten. So schreibt Liao wie ein Mensch, der den Verlust kennt und ihn nicht fürchtet. Es gibt nichts, was seine Aufmerksamkeit mehr erregt als das offizielle Verbot, von etwas Notiz zu nehmen, nichts, was ihn hellhöriger macht als das offizielle Taubstellen, nichts, was ihn mehr dazu bringt, uns die Augen zu öffnen, als die Blindheit, die uns die kommunistische Bürokratie auferlegen will.

Aber es ist nicht nur Trotz und es ist kaum politische Polemik, was die von ihm gesammelten Geschichten so lebendig werden lässt. Die Begegnungen Liaos mit seinen Protagonisten werden so eindringlich, weil er mit deren Menschlichkeit sympathisiert, so verquer sie auch zum Ausdruck kommen mag, und weil er in grundlegendster Weise Respekt zeigt für seine Personen: Er lässt sie für sich selbst sprechen.

Es ist keine Frage, Liao ist einer der originellsten und bemerkenswertesten Schriftsteller, die China zur Zeit hat. Besser gesagt, einer der originellsten und bemerkenswertesten Schriftsteller, die wir heute haben, kommt aus China. Ja, seine Sprache ist Chinesisch, sein Land und sein Volk sind sein Thema, und seine Geschichten sind Geschichten von intensiven Begegnungen auf dem Land. Aber selbst für jemanden, der nie in China gewesen ist und der von Liaos Arbeit nur durch Übersetzungen erfahren kann, haben diese Geschichten eine Unmittelbarkeit und Intimität, die über alle Grenzen und Kategorisierungen hinausgeht. Sie gehören zum großen Erbe der Weltliteratur.

Liao Yiwu ist einzigartig, aber man kann sicher sein, dass so unterschiedliche Autoren wie Mark Twain, Jack London, Nikolai Gogol, George Orwell, François Rabelais und Primo Levi in ihm einen Bruder im Geiste und in litteris anerkannt hätten. Er ist ein Direktor im menschlichen Zirkus, und seine Arbeit ist eine mächtige Mahnung: Nicht nur in die sichtbaren und lauten Wortführer der Macht, sondern auch in die Ausgegrenzten, Übersehenen und Ungehörten ist unsere Geschichte auf das Sprechendste eingeschrieben.

 

Philip Gourevitch

November 2007

 

Philip Gourevitch, geboren 1961 in Philadelphia, ist Redakteur der Zeitschrift »The Paris Review« und langjähriger Autor des »New Yorker«. Mit seinem Buch über den Völkermord in Ruanda erregte er 1998 großes Aufsehen und gewann zahlreiche Preise. Zuletzt veröffentlichte er »Die Geschichte von Abu Ghraib« (zus. mit Errol Morris).

Zur Einführung

Die Stimme der gesellschaftlichen Außenseiter Chinas

Als die chinesische Regierung in der Nacht vom 3. Juni 1989 in Peking Panzer einrollen ließ und die Demokratie-Bewegung der Studenten brutal niederschlug, war Liao Yiwu zu Hause, im Südwesten der Provinz -Sichuan. Die Nachrichten erschütterten ihn in den Grundfesten. Über Nacht verfasste Liao ein langes Gedicht mit dem Titel »Massaker« und schilderte in drastischen Bildern die Ermordung unschuldiger Studenten und Bürger, und das so lebendig wie Picasso die Bombardierung von Guernica durch die Nazis.

Ohne Möglichkeit, sein Gedicht in China zu veröffentlichen, sprach Liao Yiwu den Text mit rituellen Gesängen und der heulenden Anrufung des Geistes der Toten auf Band. Die Aufnahme wurde durch Untergrundkanäle in ganz China verbreitet. In einem weiteren Gedicht aus der gleichen Zeit beschreibt er die Frustration, sich nicht wehren zu können:

Du bist geboren mit der Seele eines Attentäters,

Aber wenn es Zeit ist für die Tat,

Bist du verloren, tust nichts.

Du hast kein Schwert zu ziehen,

Dein Körper, die Schwertscheide, ist verrostet,

Deine Hände zittern,

Deine Knochen faulen,

Deine kurzsichtigen Augen taugen nicht für den Schuss.

Das Band mit dem Gedicht »Massaker« und der Film »Requiem«, den er anschließend mit Freunden drehte, riefen die chinesische Sicherheitspolizei auf den Plan. Als er im Februar 1990 einen Zug nach Peking bestieg, fiel sie über ihn her. Sechs seiner Freunde, Dichter und Schriftsteller, und seine schwangere Frau wurden wegen ihrer Beteiligung an seinem Filmprojekt zur gleichen Zeit verhaftet, als Rädelsführer bekam Liao vier Jahre Gefängnis.

Seither steht Liao auf der schwarzen Liste der Regierung. Die meisten seiner Werke sind in China noch immer verboten, wo er unter den wachsamen Augen des Amtes für Öffentliche Sicherheit als Straßenmusiker in einer kleinen Stadt im Südwesten der Provinz Yunnan lebt. In der Vergangenheit wurde er mehrere Male wegen »illegaler Interviews« und der Darstellung der dunklen Seiten der kommunistischen Gesellschaft in seinem dokumentarischen Buch »Interviews mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« verhaftet. Die neunundzwanzig Geschichten, die in diesem Buch erscheinen, wurden aus dieser Sammlung wie aus neueren Texten von chinesischen Webseiten außerhalb Chinas ausgewählt und übersetzt.

Liao ist 1958 im Jahr des Hundes geboren. Es war auch das Jahr, in dem Mao Zedong den Großen Sprung nach vorn initiierte, eine Kampagne, die Chinas rückständige Agrarwirtschaft industrialisieren sollte. Die zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft und die blinde Mobilisierung des Landes zur primitiven Produktion von Eisen und Stahl führte 1960 zu einer Hungersnot, die geschätzte 30 Millionen Menschen das Leben kostete.

Während der Hungersnot litt Liao unter einem Ödem und war dem Tode nah. In ihrer Verzweiflung schaffte seine Mutter ihn aufs Land, wo ein Doktor der Naturheilkunde »mich über einen Wok hielt, in dem ein Kräutersud kochte«. Wie durch ein Wunder machte dieses Dampfbad ihn gesund.

1966 wurde Liaos Familie tief traumatisiert, als sein Vater, ein Lehrer, während der Kulturrevolution als Konterrevolutionär gebrandmarkt wurde. Seine Eltern ließen sich scheiden, um ihre Kinder vor den Auswirkungen dieses Paria-Status des Vaters zu schützen. Das Leben ohne den Vater war hart. Unter seinen Kindheitserinnerungen ist eine, an die er sich noch heute lebhaft erinnert: »Ein Verwandter gab meiner Mutter einen offiziellen Bezugsschein für zwei Meter Stoff. Aber als meine Mutter ihn auf dem Schwarzmarkt verkaufte, um etwas für uns zu essen besorgen zu können, wurde sie von der Polizei gefasst und wurde mit anderen Kriminellen auf der Bühne des Sichuan-Opernhauses vorgeführt. Als einige meiner Mitschüler, die meine Mutter gesehen hatten, mir davon erzählten, war das für mich ein Desaster.«

Nach der höheren Schule reiste Liao durch das Land, arbeitete erst als Koch und dann als Lkw-Fahrer auf der Strecke zwischen Sichuan und Tibet. In seiner Freizeit las er westliche Dichter, die früher verboten gewesen waren, von Keats bis Baudelaire. Außerdem fing er an, eigene Gedichte zu schreiben und in Zeitschriften zu veröffentlichen.

In den achtziger Jahren wurde Liao zu einem der populärsten neuen Dichter Chinas mit regelmäßigen Beiträgen in einflussreichen Literaturzeitschriften und Untergrundpublikationen, in denen Gedichte im westlichen Stil erschienen, für die Regierung ein Zeichen »geistiger Verschmutzung«. Im Frühjahr 1989 nutzten zwei prominente Zeitschriften das zeitweilige politische Tauwetter und brachten Liaos Langgedichte »Die gelbe Stadt« und »Das Idol«. In diesen Gedichten kritisierte er in allegorischen Anspielungen, was er ein System nannte, das von einer kollektiven Leukämie gelähmt und aufgefressen werde. Er behauptete, das Erscheinen von Mao sei das Symptom dieser unheilbaren Krankheit gewesen. Aufgeschreckt durch diese unverhohlen antikommunistische Botschaft, veranstaltete die Polizei bei Liao eine Hausdurchsuchung und unterzog ihn mehreren gründlichen Untersuchungen, Befragungen und kurzzeitigen Inhaftierungen. Auch die Herausgeber der Zeitschriften wurden gemaßregelt; eine Zeitschrift wurde per Anordnung geschlossen.

Liaos Inhaftierung 1990 für seine Verurteilung der Niederschlagung der Demokratiebewegung durch die Regierung im Jahr zuvor war ein Schlüsselerlebnis in seinem Leben. Geächtet und deprimiert, rebellierte er während der vier Jahre seiner Einkerkerung gegen die Gefängnisregeln, was ihm nichts einbrachte als unverhältnismäßige Bestrafungen: mit Elektroknüppeln geschlagen, gefesselt und gezwungen, stundenlang in der heißen Sommersonne zu stehen. Einmal wurden ihm in Einzelhaft die Hände für dreiundzwanzig Tage hinter den Rücken gebunden, bis Abszesse seine Achselhöhlen bedeckten. Er erlitt mehrere Nervenzusammenbrüche und versuchte zwei Mal, sich das Leben zu nehmen. Unter den anderen Insassen war er bekannt als der »große Mondsüchtige«.

1994 wurde Liao auf internationalen Druck 50 Tage vor Ablauf seiner Strafe freigelassen (die chinesische Regierung behauptete, er sei für seine gute Führung belohnt worden). Er kehrte nach Hause zurück, wo er feststellte, dass seine Frau ihn verlassen und ihr gemeinsames Kind mitgenommen hatte. Seine städtische Wohnerlaubnis wurde aufgehoben, wodurch er keine Arbeit mehr bekam und aufs Land vertrieben wurde. Seine früheren literarischen Freunde mieden ihn – aus Angst. Das Einzige, was er besaß, war eine Flöte, die er im Gefängnis zu spielen gelernt hatte. Liao ging durch die lärmenden Straßen Chengdus, seiner Geburtsstadt, und begann von vorne, als Straßenmusiker.

Aber er gab seine literarische Arbeit nicht auf. 1998 stellte er einen Band mit dem Titel »Der Fall des heiligen Tempels« zusammen, eine Anthologie von Untergrundgedichten aus den siebziger Jahren, in der Texte von zahlreichen chinesischen Dissidenten enthalten waren oder erwähnt wurden. Einer der Vizepräsidenten Chinas ordnete persönlich eine Untersuchung des Buches an und bezeichnete es als einen »vorsätzlichen und von mächtigen antichinesischen Gruppierungen unterstützten Versuch, die Regierung zu stürzen«. Er wurde erneut verhaftet und dem Herausgeber ein einjähriges Publikationsverbot erteilt.

Als die chinesische Regierung ihre Nase immer tiefer in seine literarische Karriere steckte, ging es mit Liao weiter bergab, und er nahm Gelegenheitsjobs in Restaurants, Nachtclubs, Teehäusern und Buchhandlungen an. Aber sein Leben in diesen Kreisen erweiterte den Fokus seines Buchprojektes über sozial ausgegrenzte Menschen, mit denen er mittlerweile Freundschaft geschlossen hatte. Die Gespräche mit Mitinsassen im Gefängnis und mit den Menschen von der Straße ließen sein Buch »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« entstehen. Unter den sechzig Interviews, die er für sein Buch zusammenstellte, sind Gespräche mit einem professionellen Trauermusiker, einem Menschenhändler, einem Mörder, einem Bettler, einem Wahrsager, einem Einbrecher, einem Dissidenten, einem Homosexuellen, einem Zuhälter, einem ehemaligen Grundbesitzer, einem Lehrer und einer Falun-Gong-Anhängerin. Wie der Autor selbst, wurden seine Protagonisten entweder während der verschiedenen politischen Säuberungen in der Mao-Zeit auf die unterste Stufe der Gesellschaft hinabgeschleudert, oder sie landeten dort als Resultat der tumultartigen Prozesse, in denen sich die chinesische Gesellschaft heute entwickelt.

Die Interviews sind literarisch und journalistisch zugleich – eher Rekonstruktionen der Treffen mit seinen Gesprächspartnern als reine Wiedergaben. Da die Gespräche eine spezielle Sensitivität und Geduld erforderten, verzichtete er manchmal auf gewöhnliche Hilfsmittel wie Kassettenrekoder oder Notizbuch. Ob im Gefängnis oder auf der Straße, Liao verbringt immer eine beträchtliche Zeit mit seinen Partnern und versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen, bevor er mit einem Interview beginnt. Für ein Gespräch mochten drei, vier Treffen zu verschiedenen Gelegenheiten notwendig sein. Zum Beispiel interviewte er einen Bestattungsunternehmer sieben Mal und baute diese Gespräche zu einem einzigen zusammen.

2001 brachte der Yangzi-Verlag eine gereinigte und gekürzte Fassung seines Buches heraus, die sofort ein Bestseller wurde. Yu Jie, ein bekannter unabhängiger Literaturkritiker in Peking, bezeichnete das Buch als den »investigativen Bericht eines Soziologen, der als historische Bestandsaufnahme des zeitgenössischen China dienen kann«.

Ein anderer unabhängiger Kritiker, Ren Bumei, beobachtete in einem Interview mit dem Radio Freies Asien: »Alle Personen, die in dem Buch vorkommen, haben eines gemeinsam: Sie wurden ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. Dieses Buch ist die lautstarke Verdammung dieser Beraubung und ein exzellentes Porträt dieser Gruppe von einzigartigen Persönlichkeiten.«

Liao war der Erste, der seit der Machtübernahme der Kommunisten 1949 das Wort diceng (Bodensatz, Unterschicht) in Bezug auf China gebrauchte. Dieser Begriff ist für Unterstützer von Maos kommunistischer Bewegung, die eine egalitäre Gesellschaft ohne Prostituierte, Bettler, Triadengangster und Drogenabhängige schaffen sollte, ein Schlag ins Gesicht. Wie zu erwarten, wurden auf Anordnung des Propagandaministeriums und der Chinesischen Nachrichten- und Verlagsverwaltung sämtliche Bücher Liaos aus den Regalen genommen, sein Verleger wurde bestraft und alle leitenden Angestellten des populären Wochenblattes »Südliches Wochenende«, die ein Interview mit Liao gemacht und sein Buch vorgestellt hatten, wurden gefeuert.

2002 traf Kang Zhengguo, ein Schriftsteller und Lektor an der Yale-Universität, Liao in China und schmuggelte das komplette Manuskript außer Landes. Mit Kangs Hilfe brachte das in Taiwan angesiedelte Rye-Field-Verlagshaus eine ungekürzte Fassung der »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« in drei Bänden heraus. Im selben Jahr bekam Liao einen Literaturpreis vom Unabhängigen Chinesischen Pen-Zentrum und 2003 ein Hellman-Hammett-Stipendium, ein jährlich vergebener Preis von Human Rights Watch in Anerkennung von Schriftstellern, die angesichts politischer Verfolgung ungewöhlichen Mut bewiesen haben.

Ich selbst hörte zum ersten Mal von Liao im Juni 2001, als Radio Freies Asien mich anstellte, um ein Interview, das er der Station nicht lange nach dem Verbot seines Buches in China gegeben hatte, zu übersetzen. Das Interview weckte mein Interesse für den Autor. »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« erinnerte mich an Studs Terkels Buch »Working« [deutscher Titel: Der amerikanische Traum. 44 Gespräche mit Amerikanern], in dem Terkel Interviews mit Amerikanern auf allen Ebenen der Gesellschaft sammelte, begonnen mit einer Bedienung und einer Telefonistin bis hin zu einem Baseballspieler und einem Musiker, die allesamt über ihre Jobs und ihr Leben in Amerika berichteten. »Working« wurde ins Chinesische übersetzt mit dem Titel »Amerikaner sprechen über ihr Leben in Amerika«. (Als College-Student las ich in China die englische und die chinesische Fassung als Textbuch für amerikanisches Englisch in der Umgangssprache). »Working« zeigte mir wie vielen anderen Chinesen, wie Amerika und das Leben der einfachen Amerikaner wirklich war, wovon ich zuvor nicht viel wusste. Ganz ähnlich, wie ich glaube, werden die wahren Lebensgeschichten in Liaos Buch das Gleiche bei westlichen Lesern erreichen und ihnen helfen, China aus dem Blickwinkel der einfachen Chinesen zu verstehen.

Seit 2002 unternahm ich über Freunde in China mehrere Versuche, einen Kontakt zu Liao herzustellen. Die Suche stellte sich als recht mühsam heraus, da er als dissidenter Schriftsteller ständig umziehen musste, um Schikanen durch die Polizei zu entgehen. Einmal musste er aus einem Fenster im dritten Stock springen und aus Chengdu fliehen, um einer Verhaftung wegen eines Interviews mit einem Mitglied einer kriminalisierten Religionsgruppe zu entgehen.

Eines Tages Anfang 2004 bekam ich eine E-Mail von einer Freundin, einer ehemaligen Gastdozentin an der Harvard-Universität. Sie kannte Liao recht gut und machte ihn ausfindig, als sie wieder in Peking war. Durch ihre E-Mail erfuhr ich, dass Liao meinem Vorschlag zugestimmt hatte, seine Arbeiten ins Englische zu übersetzen, und er hatte ihr auch seine Handynummer gegeben. Ich überprüfte die Vorwahl, sie war die einer Kleinstadt nahe der chinesischen Grenze zu Myanmar.

Ein zweistündiges Gespräch markierte den Beginn unserer Zusammenarbeit. Die nächsten beiden Jahre arbeiteten Liao und ich bei den Übersetzungen per E-Mail und Telefon zusammen. Manchmal sprachen wir in nur uns verständlichen Codes oder, wenn wir vermuteten, dass unsere Gespräche abgehört wurden, über gegenseitige Freunde.

Im Sommer 2005 erschienen drei Interviews aus Liaos Buch – der Trauermusiker, der Menschenhändler und der Klomann – zum ersten Mal in englischer Sprache in der ersten Nummer der Zeitschrift »The Paris Review« unter ihrem neuen Herausgeber Philip Gourevitch.

Nach dem erfolgreichen Debüt von »The Paris Review« suchten Liao und ich siebenundzwanzig Geschichten aus, die wir für repräsentativ hielten und die unserer Ansicht nach auch für westliche Leser von Interesse sein würden.

Mittlerweile bricht Liao trotz wiederholter Schikanen durch die Polizei weiter die Zensurgesetze der chinesischen Regierung, indem er seine Arbeiten in chinesischsprachigen Webseiten in Übersee veröffentlicht. Im Dezember 2007 ist Liao verhaftet und mehr als vier Stunden verhört worden, als er nach Peking reiste, um den Freedom-to-Write-Award des Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums entgegenzunehmen. Man hat ihn nicht einschüchtern können. Mit der Hilfe eines chinesischen Anwalts verklagt er jetzt die chinesische Regierung wegen Verletzung seiner Menschenrechte: »Ich versuche, nach und nach die Furcht zu überwinden, die man mir eingepflanzt hat«, sagt er. »Indem ich das tue, versuche ich, meine Gesundheit und meine innere Freiheit zu wahren.«

 

Wen Huang

Januar 2008

 

Wen Huang ist Autor und Journalist. Seine Artikel und Übersetzungen sind u.a. im »Wall Street Journal Asia«, der »Chicago Tribune« und »The Paris Review« erschienen. Wen Huang ist Übersetzer der amerikanischen Ausgabe des vorliegenden Buchs von Liao Yiwu.

[Hauptteil]

Der Trauermusiker

Am 2. September 1994 kehrte ich mit meiner Freundin Song Yu nach Jiangyou zurück, und auf unserem Abstecher in die berühmte Landschaft der Baotuan-Berge lernte ich den etwa 70 Jahre alten Li Changgeng kennen.

Li Changgeng stammte aus Henan, und obwohl er seine Heimat schon vor vielen Jahren verlassen hatte, hatte er sich doch noch immer den Zungenschlag der zentralchinesischen Tiefebene bewahrt. Er war von stabiler Gesundheit und einen halben Kopf größer als die Männer sonst in Sichuan, er sagte, es sei körperlich sehr anstrengend, die Suona, eine Art Schalmei, zu blasen.

Die goldenen Zeiten seines Berufes waren längst vorbei, aber mit einer gewissen Halsstarrigkeit und einem etwas schmerzlichen Sinn für Tradition gab Li Changgeng nicht auf.

***

LIAO YIWU:

Großvater, wie lange macht Ihr das schon?

LI CHANGGENG:

Siebenundvierzig Jahre. Ich war schon mit achtzehn Jahren ein im weiten Umkreis bekannter Trauermusiker. Danach habe ich das die ganzen Jahre weitergemacht, ich habe bei Hochzeits- und Trauerfeiern im Dorf und von Verwandten gespielt. Nach den Reformen Anfang der achtziger Jahre wurde es auch für mich besser, aber das hielt nicht lange, heute haben die Leute nur neumodisches Zeug im Kopf, es gibt immer weniger Menschen, die einen Suona-Spieler wie mich engagieren.

LIAO YIWU:

Und die Feier gestern? Mit einem Beruf wie dem Euren sollte man doch eigentlich nie arbeitslos werden.

LI CHANGGENG:

Am Anfang habe ich das auch gedacht, aber heute ist eine andere Zeit. Wenn in der Stadt irgendein neuer Modewind aufkommt, fällt auf den Dörfern sehr schnell der entsprechende Regen, die jungen Leute sehen Videos aus Hongkong und ahmen alles nach.

Natürlich findet man auf dem Dorf nicht die Bedingungen, um nach westlichem Vorbild zu heiraten, aber statt in eine Sänfte in ein blumengeschmücktes Auto steigen, das kann man schon. Ein Anruf in Jiangyou genügt, um die dazugehörige Equipage mit roter Schärpe zu mieten, und so ein Aufmarsch macht allemal mehr her als das traditionelle Abholen der Braut mit Trommel und Suona.

LIAO YIWU:

Und der zeremonielle Kotau bei der Hochzeit? Dabei braucht man doch die Suona!

LI CHANGGENG:

Andere Zeiten, andere Sitten. Vielerorts gibt es den Kotau gar nicht mehr. Und bei Hochzeitsbanketten wird einfach beliebig jemand vorgeschlagen, der das Programm macht, es wird gelacht, herumspektakelt, Eltern, Verwandte, Freunde, jeder kann auf die Bühne und sich produzieren.

LIAO YIWU:

Aber das wird doch nicht überall so sein, es gibt doch bestimmt noch Familien, die Musiker für die Hochzeit engagieren, es ist wahrscheinlich nur nicht mehr so ganz in Mode. Und wie ist es mit den Trauerfeiern? Beim Abschiednehmen der Verwandten in der Aussegnungshalle, beim Vorausschreiten der Söhne und beim Zurückrufen der Seele des Verstorbenen um Mitternacht kann man doch die Suona nicht weglassen! Sie ist doch noch viel mehr ein Instrument der Trauer als der Freude. Ich bin auf dem Land groß geworden, da hat das einen sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht.

LI CHANGGENG:

Herr Liao, Sie sind ein Fachmann, aber von Marktwirtschaft verstehen Sie nicht viel. Mein Dorf ist von Jiangyou nicht viel mehr als zwanzig Kilometer entfernt, und es ist gut zu erreichen – wenn in einer Familie also jemand stirbt, braucht man nur zum Telefonhörer zu greifen, und im Handumdrehen steht eine Truppe vor der Tür, die das Totenzelt aufbaut, geliehene Blumenkränze, Musiker, Sänger und Trauerzug, alles inklusive … ein Rundumpaket.

Auch bei einer Leiche geht es hoch her, früher musste man noch einen Mönch hinzubitten, der die Sutren las und die Riten vollzog, während die Musiker die Söhne oder den Sohn bei seiner Ehrenbezeugung begleiteten. Heute veranstaltet man einen musikalischen Abend, da werden Lieder gegrölt, die gerade in Mode sind, und Verwandte und Freunde singen für den Verstorbenen um die Wette. Es gibt Lieder genug, man muss nur den ursprünglichen Text ändern, schon tobt der Saal.

Das geht bis zum Leichenzug, wo auch nicht mehr die Söhne den Sarg tragen. Dafür hat man einen Autokorso und westliche Blaskapellen. Wenn die großen Lautsprecher aufgedreht werden, dann weiß jeder in einem Abstand von mehreren Kilometern, dass jemand gestorben ist.

LIAO YIWU:

Wenn die Lage so ernst ist, wie verdient Ihr dann Euren Lebensunterhalt?

LI CHANGGENG:

Man muss von den Städten weg, weit weg und in den Bergen irgendwie sein Auskommen suchen. Das ist sehr schwierig, denn es sagt einem ja keiner vorher, wo eine Hochzeit oder eine Trauerfeier ansteht. Ach, und wenn man alt wird, fällt es nicht mehr leicht, aus der Türe zu gehen.

LIAO YIWU:

Habt Ihr keine Schüler?

LI CHANGGENG:

Früher hatte ich eine ganze Reihe von Schülern, die haben alle den Beruf gewechselt, heute ist alles anders, keiner will mehr die Suona lernen.

LIAO YIWU:

Wenn Ihr nicht so weit weg wärt, würde ich bei Euch in die Lehre gehen. Großvater, könntet Ihr mir Eure Geschichte erzählen? Über Eure Jugend und die guten Jahre?

LI CHANGGENG:

Meine Geschichte? Was soll ich da erzählen? Naja, gute Jahre habe ich gehabt, und nicht zu knapp, auch wenn es lange her ist. Für junge Leute war der Musikerberuf früher nichts Ehrenrühriges. Söhne aus reichem Hause schauten zwar auf uns herab, aber nur, weil sie den Wert der Dinge nicht kannten.

Der Ahnherr unseres Berufes ist nämlich niemand Geringerer als der weise Konfuzius selbst! In jungen Jahren hat er, um seine Mutter zu ernähren, für die Leute nicht nur die Suona geblasen, er legte auch Trauerleinen an, wenn jemand gestorben war, trug den Sarg und stimmte die Klagelieder an. Deshalb verehrt man in den Häusern der Musiker die Ahnentafel des Weisen.

LIAO YIWU:

Heißt das, Ihr spielt bei solchen Anlässen nicht nur die Suona, sondern müsst auch Klagelieder singen?

LI CHANGGENG:

Natürlich.

LIAO YIWU:

Aber wie habt Ihr das geschafft? Ihr habt selbst noch niemanden aus Eurer Familie zu betrauern gehabt und doch schon für andere Klagelieder gesungen?

LI CHANGGENG:

Das ist der Beruf. Das ist wie im Film, man spielt und spielt und wächst in die Rolle hinein. Was beim Film die Rolle, ist bei den Klageliedern die Melodie. Als ich die Suona lernte, war ich gerade einmal zwölf Jahre alt. Die Suona passt sehr gut zu den Klagemelodien. Mein Lehrer hielt mich an, immer und immer wieder zu üben. Wenn man die Grundlagen beherrscht, ist die Wirkung bei den entsprechenden Anlässen wirklich erstaunlich, man wirkt echter als die eigentlichen Trauernden. Das war zur Zeit des Bürgerkriegs zwischen den Kommunisten und der Guomindang, Flüchtlinge überfluteten das Land, aber im Gegensatz zu ihnen floh ich nicht von den Orten, wo es Tote gab, ich suchte sie regelrecht.

Ich stamme aus Henan, Sie haben es sicher an meinem Akzent gehört.

Ach, es ist nichts mehr wie früher, alles hat sich verändert!

Ich war sechzehn, als wir nach Sichuan kamen. In Sichuan war es besser als in der zentralen Tiefebene, da gab es keine Kämpfe, und die Hochzeits- und die Trauerfeiern waren sehr aufwendig. Es hat nicht lange gedauert und ich hatte mir einen Namen gemacht.

Wie in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch war es damals Mode, sich zusammenzuschließen, mein Vater war der Chef der Truppe. Ursprünglich war er ein Sänger der Henan-Opern gewesen, und mein Lehrer spielte die Suona.

In der zentralen Tiefebene brannten für Jahre die Flammen des Krieges, das Volk hatte nichts zum Leben, es gab zu viele Straßenräuber und Banditen, zu viele marodierende Soldaten, da stand keinem der Sinn nach Oper. Als mein Vater nicht mehr weiter wusste, schlug mein Lehrer vor, die Truppen der Musiker und der Sänger zusammenzuschließen. Die Lebenden mochten keine Oper mehr hören, aber es war unmöglich, die Toten ohne Leichenbegängnis zu bestatten.

Mein Vater war einverstanden, die beiden waren schließlich Blutsbrüder, was sollte da schief gehen?

Außerdem, zusammen waren wir weit über zehn Mann, und wenn man sich gemeinsam durchschlägt, verliert man nicht so schnell den Mut.

Mein Vater spielte nicht die Suona, aber er hatte eine kräftige Stimme. Wenn er sie auf dem flachen Land erhob, konnte man ihn meilenweit hören. Außerdem mussten Opernsänger auch ein gutes Dutzend Klagelieder beherrschen – und damit war es viel einfacher, einen Happen zu verdienen als mit Opernarien.

LIAO YIWU:

Welche Klagelieder meint Ihr?

LI CHANGGENG:

Das waren Lieder wie »Das Seelengeleit«, »Das Seelengefolge«, »Das Requiem«, »Der Seelenruf«, »Der Abschied der Lieben«, »Die große Trauer«, »Die kleine Trauer«, »Das Lob von Himmel und Erde«, »Der Übergang«, »Das Grabgeleit«, »Die Grablegung«, »Die Rückschau«, »Das zerrissene Herz«, »Ach, vom Herzensgrund«.

Diese werden von Generation zu Generation weitergereicht, unsere Vorgänger haben Tausende und Abertausende von Malen an ihnen gefeilt und gefeilt – wo die Melodie steigt, wo sie fällt, wo die Stimme heiser klingen, wo sie erhoben werden soll, wo trocken, wo unter Tränen geklagt und wo der ganze Körper stumm erzittern soll, das alles ist sorgfältig abgestimmt.

Die meisten Angehörigen verlieren angesichts ihres Toten die Kontrolle, sie brechen in lautes Wehklagen aus, sie werden vom Schmerz überwältigt und fallen in Ohnmacht oder erleiden einen Schock. Doch wenn wir erst einmal in der richtigen Stimmung sind, kontrollieren wir uns mit Leichtigkeit und klagen gerade so viel, wie wir möchten. Wenn es sich um eine große Trauerfeier handelt und das Honorar sich sehen lassen kann, dann wird an Ort und Stelle auch improvisiert.

LIAO YIWU:

Wie lange hat Eure längste Totenklage gedauert?

LI CHANGGENG:

Zwei Tage und zwei Nächte. Die Suona gab das Zeichen, unsere Truppe ließ alles stehen und liegen, legte die Trauerkleider aus Leinen an und verbeugte sich in Reih und Glied drei Mal vor der Ahnentafel des Verstorbenen. Darauf folgten neun Kotaus und zwei oder drei Runden des Weinens, Heulens und Klagens. Das alles ist ein ziemliches Durcheinander – oberflächlich betrachtet. Aber wenn man ein, zwei Stunden lang genauer hinsieht, erkennt man die Ordnung dahinter. Wenn zum Beispiel Sie heulen und ich klage, dann ist das so, als würde ich arbeiten und Sie Pause machen. Während das Weinen nur den Übergang bildet entweder zur richtigen Arbeit oder zur Pause. In diesem Geschäft sind die Stimmen unser Kapital, und wenn es noch so herzzerreißend klingt, dieses Kapital wird auf keinen Fall beschädigt.

LIAO YIWU:

Drängt Ihr Euch damit nicht in den Vordergrund? Verdrängt da die gemachte nicht die echte Trauer?

LI CHANGGENG:

Suona wie Klagelieder gehen einem sehr unter die Haut, das schafft Atmosphäre. Freud und Leid sind ansteckend wie eine Krankheit und springen sehr schnell von einem Li Changgeng auf die anderen über. Natürlich spielen die nächsten Angehörigen, die Söhne und die Töchter die Hauptrolle, aber wenn sie von Gefühlen übermannt werden, geht ihnen die Kraft aus. Am Ende haben die Hauptakteure oft den Ort des Geschehens schon verlassen, bevor die Statisten richtig ins Spiel kommen. Offen gesagt sind es immer die nicht wirklich Trauernden, die bis zum Ende durchhalten. Früher war das anders als heute, wenn heute das Seelenzelt aufgebaut ist, stellt man manchmal ein Dutzend Mah-Jongg-Tische auf und hat während der Totenwache nichts anderes im Sinn, als um Geld zu spielen, selbst die oberflächlichsten Beileidsbekundungen werden vergessen.

LIAO YIWU:

Aber früher hat man die Totenklage auch nicht zu Ende gebracht, nicht wahr? Sind da die Leute nicht auch in Ohnmacht gefallen? Außerdem wohnen die Menschen heute so dicht aufeinander, dass der Lärmpegel der Trauermusik über das erträgliche Maß hinausgeht und sich die Nachbarn wegen Ruhestörung beschweren.

LI CHANGGENG:

Daran kann man sehen, wie weit es gekommen ist! Früher hätte man das nicht sagen können. Selbst noch in den achtziger Jahren war es in Mode, die ganze Nacht hindurch zu trommeln und Arien aus Gespensteropern zu singen.

LIAO YIWU:

Stimmt schon, und es gab reichlich Zuschauer. Damals war eine Trauerfeier ein gesellschaftliches Ereignis.

LI CHANGGENG:

Unsere Truppe musste auch Sichuan-Opern einstudieren, kurz, nur wer eine Trauerfeier von Anfang bis Ende auch gestalten konnte, war konkurrenzfähig.

Und wo wir gerade von der Klage sprechen … warum komme ich immer wieder auf dieses Thema zurück?

Zum einen, weil es sehr viel schwieriger ist als das Spiel auf der Suona oder das Singen von Arien: Man muss schauspielern, ohne eine Spur von Schauspielerei sichtbar werden zu lassen. Zum zweiten entscheidet sich an diesem Punkt, ob eine Truppe wie die unsere überleben kann, und wie viel Geld sie verdient, hängt auch davon ab.

Von der Aufbahrung über das Schließen des Sarges bis zur Grablegung ist es immer ein Höhepunkt, wenn die Angehörigen und der Verstorbene sich sozusagen von Angesicht zu Angesicht begegnen. Ich bin dann, obwohl ein Außenstehender, mitten im Geschehen, ich sehe sofort, wer sich am liebsten in den Sarg stürzen würde, um den Verstorbenen zu umarmen, und wer nur so tut.

Dann ist es nicht an mir, laut zu weinen und zu klagen, ich muss eher als Leibwächter herhalten und immer wieder jemanden vom Sarg fernhalten. Bis jeder Abschied genommen hat, stehen wir im Vordergrund und verlängern die Atmosphäre der Trauer. Bevor der Sarg geschlossen wird, so verlangt es der Ablauf, müssen wenigstens fünf oder sechs von uns drei Mal in Richtung Sarg stürzen, wovor uns andere mit Gewalt zurückhalten. Erst wenn der Deckel auf dem Sarg ist und die langen Eisennägel eingeschlagen sind, können wir insgeheim aufatmen.

LIAO YIWU:

Gibt es bei Eurem Gesang so etwas wie Haupt- und Nebenstimmen?

LI CHANGGENG:

Es gibt eine Hauptklage und ein begleitendes Klagen, ja, das ist ein regelrechter Wettkampf, jede Trauerfeier ist ein Wettkampf. Danach kommen alle Mitglieder der Truppe zusammen, und es wird eine eingehende Manöverkritik abgehalten. Es reicht nicht, eine laute Stimme zu haben, man muss auch damit umgehen können. Beim Rezitieren von Versen kommt es auf jede Kleinigkeit an, auf Einleitung, Exposition, Wendung und Schluss. Man muss sich zurücknehmen und aus sich herausgehen können, Gesicht, Hände, Schultern, der ganze Körper spielt eine wichtige Rolle, und der richtige Dreh und die richtigen Übergänge sind noch wichtiger. Von »Ach, so viel Arbeit, so viel Plage« bis »Jetzt, wo es schön wird, musst du gehn« analysieren wir jede Zeile unseres Vortrags, schließlich wollen wir besser werden.

LIAO YIWU:

Ihr habt erzählt, dass Eure Truppe vor der Befreiung 1949 nach Sichuan gekommen ist, wie habt Ihr denn da einen Fuß auf die Erde bekommen? Eigentlich treiben die Menschen in Sichuan bei ihren Festen und Trauerfeierlichkeiten einen ziemlichen Aufwand, es gibt auch eine ganze Reihe von traditionellen Bräuchen, das ist doch für eine Truppe von außerhalb wie die Eure …

LI CHANGGENG:

Ich weiß, was Sie sagen wollen, am Anfang war das auch so, die Menschen waren gewohnt, einheimische Trauermusiker zu engagieren. Große Haushalte engagierten jemanden für das Trommeln in Art der Sichuan-Oper, und Mönche wurden eingeladen, um die Sutren zu verlesen und für die Seelen der Verstorbenen zu beten.

In Chengdu konnten wir nicht bleiben, wir sind dann den ganzen Weg hinauf bis in den Norden, bis nach Mianyang, aber dort lief es auch nicht, nicht einmal in der Nähe von Mianyang, in Jiangyou, konnten wir bleiben. Also verließen wir die Stadt und schlugen unsere Zelte etwa zehn Kilometer außerhalb in irgendeinem heruntergekommenen Nest auf. Um zu überleben, suchte zunächst jeder für sich nach Arbeit, an Geldverdienen war nicht zu denken, wir versuchten gerade einmal, auf drei Mahlzeiten am Tag zu kommen.

1948 brach in dieser Gegend eine Seuche aus, überall am Straßenrand lagen die Toten, aber für uns war das die Rettung! Eine Krankheit fragt nicht nach arm oder reich, außerdem waren die hiesigen Ensembles alles kleine Familienbetriebe, die vom Vater auf den Sohn übergingen. Wenn die jemand engagierte, dann klemmten sie die Suona unter den Arm und fertig, die konnten sich schwer mit einer Truppe messen, die so groß war wie unsere.

Außerdem kamen wir aus dem Norden, wir waren einen Kopf größer als die Einheimischen, wir waren stark und bliesen die Suona viel energischer als diese schwindsüchtigen Gespenster hier. Mit der Zeit machten wir fast sämtliche Festivitäten und Trauerfeierlichkeiten im Umkreis von Jiangyou.

LIAO YIWU:

Wenn Ihr so einen Erfolg hattet, warum habt Ihr dann die Fahne nicht wieder aufgenommen und seid zurück in die Stadt?

LI CHANGGENG:

In diesem Gebiet herrschte der Paoge-Bund, eine Geheimgesellschaft, wenn man denen in die Quere kam, hatte man schnell drei Messer und sechs Löcher im Bauch! Niemand wagte, sich in deren Geschäfte zu drängen. Vor allem nicht, wenn man nicht einmal das Schutzgeld aufbringen konnte.

LIAO YIWU:

Und auf dem Land gab es den Bund nicht?

LI CHANGGENG:

Natürlich waren die da auch. Nachdem wir ihnen die Reisschale geraubt hatten, haben sich die hiesigen Musiker zusammengetan und sind zu einem von den Paoge-Brüdern hin, es war der Rot-Flaggen-Laowu, der hatte ein Teehaus in einem Städtchen namens Qinglian. Rot-Flaggen-Laowu ließ uns von einem seiner Leute mitteilen, entweder wir verziehen uns aus dem Gebiet von Jiangyou oder er lässt uns die Beine brechen und hinauswerfen.

Glücklicherweise hatten wir uns in diesem Landstrich bereits einen Namen gemacht, und es gab einen Grundbesitzer, einen gläubigen Buddhisten mit dem Spitznamen Zhang der Vermittler, der für uns eintrat und außerdem zwanzig Silberdollar auslegte. Daraufhin verkündete Rot-Flaggen-Laowu, der Drachenkopf des Bundes, beide Seiten sollten sich in einem gerechten Zweikampf messen.

Mein Vater sagte: »Wie sollen wir uns messen, wenn da kein Toter ist?«

Der Drachenkopf antwortete: »Nichts leichter als das!«

Am nächsten Morgen lag die Leiche eines Bettlers quer vor unserer Haustür. Also taten wir wohl oder übel so, als sei der Bettler ein wichtiger Mann gewesen und bahrten ihn nach allen Regeln der Kunst auf. Leichengewand und Sarg wurden hergerichtet und das Ganze auf den Marktplatz getragen, wo beide Seiten, wie abgesprochen, ihre Bühnen errichteten.

Die professionellen Trauermusiker und Klagesänger aus der Gegend gingen aufs Ganze, sie kratzten ihr sauer verdientes Geld zusammen und engagierten von außerhalb einen großen Könner, eine richtige Berühmtheit. Sie waren auf einen Kampf auf Leben und Tod gefasst.

Nach nicht einmal einem halben Tag waren alle Vorbereitungen getroffen, zwei Bühnen ragten in die Höhe, und der offene Sarg stand zwischen ihnen. Diese Schlachtordnung störte die Leute im Umkreis von fünfzig Kilometern auf; seit König Pangu Himmel und Erde getrennt und die Welt geschaffen hatte, war es in dieser Gegend das erste Mal, dass es zu einem Krieg der Musiker kam. Zunächst maßen sich die Suonas. Es wurde die gleiche Melodie gespielt, die »Große Trauer«. Auf der Zuschauertribüne saßen die großen und kleinen Vertreter des Paogu-Bundes, die Bürgermeister, die lokale Polizei, der hiesige Geldadel und andere Prominenz.

Ich war jung und wollte meine Überlegenheit demonstrieren, also stürzte ich als Erster in Richtung Bühne. Zu meiner Überraschung wurde ich von meinem Lehrer zurückgehalten. Er war damals schon über fünfzig, aber ein Mann wie ein Bär, er trug tiefschwarze Trauerkleidung und ein in der Sonne stechendweißes Stirnband. Er kaute das Mundstück der Suona zurecht, stieß ein paar Schreie aus und bestieg die Leiter. Als er oben war, betrat sein Gegenspieler die andere Bühne. Auf der Zuschauertribüne wurde als Startzeichen eine weiße Fahne geschwenkt, und als die beiden Suonas loslegten, fuhr ihr durchdringender Ton den Leuten wie ein Messer ins Gehirn. Beide waren Meister ihres Fachs, und beide hatten schon viele Schlachten geschlagen, nach einer halben Stunde war noch kein Sieger auszumachen. Wenn man scharfe Augen hatte, konnte man sehen, dass an den hitzigeren Stellen aus den Trichtern der Suonas Speichel und Blutfäden spritzten.

Aber mein Vater blieb gelassen, er wusste, dass mein Lehrer nicht nur genug Kraft in der Lunge hatte, sondern auch ein sturer Hund war. Als Kind nannten ihn seine Eltern »Sturesel«, eine Niederlage kam für ihn überhaupt nicht in Frage.

Nach einer Stunde schnappte sein Gegenspieler nur noch nach Luft, der Sieg war zum Greifen nah – als die Suona meines Lehrers aus heiterem Himmel mit einem Quietschen auseinanderbrach. Die weiße Fahne wurde geschwenkt, die Runde war zu Ende. Der Mund meines Lehrers war voller Blut, jemand hatte ihn mit einer Schleuder getroffen.

Ich junger Kerl reagierte auf der Stelle und kletterte, ohne viel nachzudenken, auf die Bühne; auch mein Vater stieg hinauf, aber die Bühne hielt so viele Leute nicht aus und fing an zu schwanken. Ich rief zu meinem Lehrer hinüber: »Runter!« Unsere ganze Truppe bewachte die Leiter, sie ließen Vater nicht hoch. Er stampfte wütend mit den Füßen und schrie: »Du kleiner Scheißkerl, bist du lebensmüde!?«

Er hatte es noch nicht gesagt, als auf der anderen Bühne mein Gegenspieler erschien. Diesmal ging es darum, wessen Klagegesang der bessere war.

Mein Gegner schlug sich heftig auf die Brust und ließ eine Stimme hören, die rau war wie die eines Ochsen, die Bravo-Rufe aus dem Publikum rissen gar nicht mehr ab.

Aber ich dachte nur daran, wenn ich diesmal verliere, dann wird auch mein Vater, mit meinem verletzten Lehrer seines Gehilfen beraubt, nicht weitermachen können. Wir hatten so vielen Freude gebracht und hatten für so viele getrauert, und jetzt sollten wir fern der Heimat auf diese Weise abtreten! Wann würde diese Quälerei endlich ein Ende haben? Wegen eines Bettlers sollte unsere Truppe sich auflösen müssen! Und dann? Wo sollten wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Wenn wir keine Musik machen konnten, mussten wir betteln gehen, und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir so abtraten wie der Bettler dort im Sarg …

Über diesen Gedanken wurde ich trauriger und trauriger, ich verlor meinen ganzen Lebensmut und fing an zu weinen. Ich blickte mit großen Kuhaugen zum Himmel, ich schaute direkt in die Sonne und blinzelte nicht einmal. Ich wusste nichts mehr, ich hörte nichts mehr, ich erhob eine Klage, die nichts mehr Menschliches hatte, ich schlug und trat mit Händen und Füßen um mich, als wolle ich mich mit dem alten Himmelsvater um mein Leben anlegen. Auch auf mich wurde mit der Schleuder geschossen, es knallte ein paar Mal, ich wurde getroffen, mein Kopf dröhnte, unter Aufbietung meiner letzten Kräfte hielt ich das Gesicht zum Himmel, Hauptsache, es fing nicht an zu bluten …

Und so schwenkten und schwenkten sie die weiße Fahne meines Sieges, aber ich bekam es nicht mit.

Erst später erfuhr ich, dass mein Gegner recht schnell heiser geworden war. Ich hatte eine ganze Viertelstunde mutterseelenallein vor mich hin geklagt, und das so herzzerreißend, dass der ganze Platz sich in eine einzige heulende Masse verwandelte. Selbst die Leute vom Paoge-Bund wischten sich die Tränen und schluchzten: »Der Kleine da oben, es ist einfach zu traurig, wir haben seinen Leuten Unrecht getan, das war nicht richtig!«

LIAO YIWU:

Dann müsst Ihr ihnen aber wirklich das Herz gerührt haben! Großvater, Ihr seid ja schon in jungen Jahren ein Held gewesen!

LI CHANGGENG:

Ach was, Held! Wenn ich das getan habe, dann nur, weil ich mit dem Rücken zur Wand stand. Es war nicht leicht, sich seinen Bereich zu erkämpfen, aber klein beigeben kam nicht in Frage. Im Jahr der Befreiung, also 1949, starb mein Vater, ich musste ihn in fremder Erde begraben, aber es dauerte nicht lange und ich heiratete in eine ortsansässige Familie ein und konnte nicht mehr weg.

LIAO YIWU:

Und die ganzen Jahrzehnte seid Ihr nicht mehr zu Hause gewesen, Ihr habt keine Verwandten besucht?

LI CHANGGENG:

Ich war sogar ziemlich oft zu Hause, ich habe in der Heimat einen ganzen Haufen Verwandtschaft. Trotzdem, ich bin hier in Sichuan längst heimisch, diese Gegend ernährt ihre Menschen. Und auch wenn die Zeiten sich geändert haben und es mit unserem Gewerbe bergab geht, die Jahre hier waren schwer, aber sie waren auch voller Freude.

LIAO YIWU:

Habt Ihr nach der Befreiung den Beruf gewechselt? Oder konntet Ihr während politischer Kampagnen wie der »Zerschlagung der Vier Alten Übel«[1] und der Kulturrevolution[2] weiter Eurem Gewerbe nachgehen?

LI CHANGGENG:

Ich habe den Beruf nicht gewechselt. Wir haben nur andere Stücke gespielt: Lieder zur Befreiung und Bauerntänze – unsere Trauermusiktruppe hat ihre Identität gewechselt, die Suonas spielten jetzt »Klar ist der Himmel über den befreiten Gebieten«[3] .

Mit den damit einhergehenden politischen Kampagnen war es das Gleiche; wenn man die Massen mobilisieren will, kann man nicht auf die Kunst verzichten. Wir haben gespielt, was die Führung bestimmt hat, ein Künstler braucht drei Mahlzeiten am Tag und nachts ein Dach über dem Kopf, da ist keine Zeit für Unzufriedenheit.

Ich sage Ihnen, als von 1959 bis 1961 während der drei schlimmen Jahre[4] die Leute landstrichweise verhungerten, spielte ich weiter Melodien von der großen Harmonie unter dem Himmel. Wenn man zu lange den Trauernden spielt, hat man kein Gewissen mehr. In dieser Welt kann man sich kein allzu heißes Blut leisten! Heute haben wir freie Meinungsäußerung und politische Entspannung, da wird so etwas vielleicht sogar verlangt, da soll man sich engagieren. Von mir aus. Und wenn sie von deinem heißen Blut genug haben? Dann geht es ab ins Arbeitslager, dann kneifst du für zwanzig, dreißig Jahre den Schwanz ein. Ein Mensch darf kein Gewissen haben!

LIAO YIWU:

Hat sich Eure Truppe aufgelöst?

LI CHANGGENG:

1951 ging es in in alle Himmelsrichtungen. Danach hat man es gemacht wie die Musiker hier alle, an normalen Tagen hat man zu Hause als Bauer seine Arbeit getan, und wenn im näheren und weiteren Umkreis eine Hochzeits- oder Trauerfeier anstand, dann sind die Leute von selbst vorbeigekommen und haben einen engagiert.

Und weil ich einen Namen hatte, sind die Verdienstmöglichkeiten übers Jahr nie abgerissen. Man hat mir auch vorgeschlagen, wieder eine Truppe zu gründen und wieder zu tingeln. Ich habe mir das gründlich überlegt, wollte dann aber doch nicht. Das wäre nämlich eine nichtstaatliche Organisation gewesen, und wer wäre dafür zuständig gewesen? Eine Organisation, für die keine Behörde zuständig ist, ist in China illegal, und von illegal bis reaktionär ist es nur ein Schritt, damit wollte und will ich nichts zu tun haben!

LIAO YIWU:

Ihr seid ein kluger Mann. Ihr beschämt mich. Andererseits möchte ich Euch noch etwas erzählen.

LI CHANGGENG:

Nur zu, ich höre.

LIAO YIWU:

Ich habe, wie gesagt, auf dem Land meine Kindheit verbracht, da hörte ich meinen Vater die Legende von den Totenrufern erzählen, gab es so etwas tatsächlich?

LI CHANGGENG:

Was hat denn Ihr Vater erzählt?

LIAO YIWU:

Er sagte, Totenrufer, das sei früher ein Beruf gewesen. Man soll viel Geld dafür bekommen haben, wenn man jemanden, der in der Fremde gestorben war, über Hunderte von Kilometern nach Hause brachte.

LI CHANGGENG:

Das stimmt, früher gab es spezielle Totenrufer. In der Regel haben die sich abends aufgemacht, zu zweit, einer vorne, einer hinten, die Leiche wie eine Sänfte zwischen sich. Sie liefen immer in diesem Dreier-Gänsemarsch und riefen dabei: »Hohoho! Hohoho!«

LIAO YIWU:

Der Tote ging auch?

LI CHANGGENG:

Es sah so aus, ja. Es sah aus wie ein Gleichschritt von Lebenden und Toten, nur so konnten sie einen wippenden Rhythmus halten und die weiten Strecken bewältigen. Wenn man das Pech hatte und solchen Totenrufern im Dunkeln begegnete, blieb einem nichts anderes übrig, als ihnen schnell auszuweichen, sonst rannten sie einen »hohoho« über den Haufen. Dieses Gehen mit sechs Beinen war nämlich nicht nur unnatürlich, man konnte damit auch keine Kurven machen.

LIAO YIWU:

Habt Ihr solche Totenrufer mit eigenen Augen gesehen?

LI CHANGGENG:

Am helllichten Tage schon, abends nicht. 1949 hatten marodierende Soldaten einen Handelsreisenden, der in der Provinz Jiangxi Geschäfte machte, totgeschlagen. Damals war das Reisen zu Lande und zu Wasser alles andere als bequem, aber sein Freund brachte es nicht übers Herz, ihn an Ort und Stelle zu begraben – also blieb ihm nichts anderes übrig, als für teuer Geld Totenrufer zu engagieren. Nach etwa einer Woche war der Leichnam schließlich zu Hause … und er sah aus, als sei er noch am Leben.

LIAO YIWU:

Ohne Anzeichen von Verwesung? Das ist ein Märchen!

LI CHANGGENG:

Der Handelsreisende hieß Lu, ich habe ihn eigenhändig aufgebahrt, deshalb weiß ich sehr genau, was ich sage! Die Totenrufer schliefen tagsüber, aber ich war jung und neugierig, ich leckte am Papierfenster und schaute hindurch: Es war stockfinster, lediglich ein donnerndes Schnarchen zu hören. Und abends waren sie bereits spurlos verschwunden.

Aber der kleine Wu aus unserer Truppe wollte sich einen der Stäbe, die die Totenrufer benutzen, stibitzen und anschauen, denn wie wir alle dachte er, auf diesen Stäben müssten magische Zeichen sein. Doch kaum hatte er den Türriegel bewegt, huschte von innen plötzlich ein schwarzer Schatten heran. Man musste sehr genau hinschauen, um zu erkennen, was das war: eine schwarze Katze! Die Totenrufer hatten immer Katzen bei sich. Wenn sie sich auf den Weg machten, bugsierten sie die an die Wand gelehnte Leiche aus dem Haus, als sei es eine Holztür, einer packte sie vorne, einer hinten, und wenn sie die Katze ein paar Mal über den toten Körper schlüpfen ließen, nannten sie das »das letzte Knistern«. Wenn es sich ausgeknistert hatte, stampften die drei eine Weile auf den Boden wie Sportler beim Warmmachen und riefen dabei ihr »Hohoho«.

LIAO YIWU:

Aber in Eurer Geschichte mischen sich mittlerweile Dichtung und Wahrheit, nicht wahr? Großvater, in Eurem langen Leben habt Ihr viel gesehen, das kann man wirklich sagen, alle Achtung!

LI CHANGGENG:

Wenn Sie in mein Alter kommen, dann werden Sie mehr gesehen und erlebt haben. Sie haben keine schlechte Stimme, Sie wären für dieses Gewerbe gut geeignet.

Der Menschenhändler

Entführung und Menschenhandel sind ein kriminelles Geschäft mit einer sehr langen Geschichte. Im alten China wurden Händler, die damit das große Geld machen konnten, von der Unterwelt gesteuert. Töchter aus gutem Hause, die man auf betrügerischem Weg in die Hand bekommen hatte, wanderten samt und sonders zu hohen Preisen in die Bordelle der großen Städte. Erstaunlich genug, dass nach der Ausmerzung der Triaden durch die neue Gesellschaft nach 1949 der verbrecherische Menschenhandel in den Bergen von Hinterwäldlern wie Qian Guibao fortgeführt werden konnte, vor allem in unserer hochtechnisierten und fortschrittlichen Zeit. Ich habe Qian Guibao am Vormittag des 30. April 1992 in einem Untersuchungsgefängnis von Chongqing-Stadt besucht und mit ihm ein zweistündiges Gespräch geführt. Da es mir nicht erlaubt war, irgendein Aufzeichnungsgerät mitzuführen, muss ich mich hier ganz auf mein Gedächtnis verlassen. Der Menschenhändler hatte die seltsame Vorstellung, er werde nicht vor Gericht gestellt, eine Vorstellung, die sich erschreckenderweise bei ihm zu einem regelrechten »Glauben« ausgewachsen hatte. Steht zu hoffen, dass ein Interview wie dieses Material liefert für das Verständnis der Psyche eines Menschenhändlers.

***

LIAO YIWU:

Sie wirken wie ein ehrlicher Kerl, gar nicht wie ein Menschenhändler.

QIAN GUIBAO:

Ich bin ja auch kein Menschenhändler, ich gehe einem ganz ehrbaren Beruf nach.

LIAO YIWU:

Menschenfleisch als Beruf?

QIAN GUIBAO:

Genosse, was Sie da sagen, ist nicht richtig, die Bordelle machen mit Menschenfleisch Geld, ich habe nie ein Bordell gehabt.

LIAO YIWU:

Sie haben nie einen Beruf daraus gemacht, ehrbare Mädchen zur Prostitution zu zwingen?

QIAN GUIBAO:

Wenn eine wirklich ehrbar ist, kannst du machen, was du willst, aus der wird nie eine Nutte. Meine Alte zum Beispiel, die lebt bis heute in ihrer armen Bergschlucht, ich bin geworden, was ich geworden bin, sie ist keine neue Ehe eingegangen, sie ist nicht fremdgegangen. Aber die meisten Frauen sind doch genauso wie die Männer, sie lieben die Kirschen in Nachbars Garten, sie lieben den eigenen Vorteil. Die Zeitungen sind voll davon, wie irgendeiner seine Wertvorstellungen verwirklicht hat … Ich habe festgestellt, dass diese Wertvorstellungen nichts anderes sind als der Versuch, den eigenen Vorteil zu optimieren; so wie die Schlagersternchen die Mäuler aufreißen und so verführerisch wie möglich singen und ihnen die Scheine mit großem Tamtam in die Taschen flattern – deshalb bewundert jeder die Schlagersternchen und die Models, weil sie mit Maulaufreißen und mit Hüftwackeln Geld verdienen können. Ich bin Bauer, warum vergöttert niemand einen Bauern? Weil ein Bauer mit dem Gesicht zur gelben Erde und mit dem Rücken zum Himmel arbeitet, weil er beim besten Willen niemals auf einen grünen Zweig kommt. Du schwitzt und du pflanzt den Reis, den sie in der Stadt fressen, und dann rümpfen sie die Nase, von wegen, der stinkt nach Schweiß. Deshalb habe ich getan, was ich getan habe, ich habe mich der Zeit angepasst und das Beste daraus gemacht. Und ich war gar nicht schlecht, ich habe in fünf Jahren über zwanzig Weiber an den Mann gebracht, aber die sind alle freiwillig und bei vollem Bewusstsein mit mir gekommen, ich habe ihnen kein Gewehr vor die Nase gehalten und sie gezwungen, ich bin auch kein Räuber, ich habe meine Geiseln lediglich gegen Geld eingetauscht.

LIAO YIWU:

Sie haben verführt und betrogen und ganze Familien zerstört.

QIAN GUIBAO:

Ich gebe zu, ich habe verführt und betrogen, aber wer macht das nicht in dieser Welt?! Vielleicht sind die Schweine, die Zucker fressen, ehrlich, was Getreide frisst, ist es nicht. Wenn ich sage, ich bin ein dummer Bauer aus den alten Bergen, läuft mit mir bestimmt keine freiwillig mit; aber wenn ich meine Kleidung ein wenig in Ordnung bringe und ihnen erzähle, ich sei der Manager irgendeiner Firma in Guangdong, dann denkt trotz meinem zweifelhaften Äußeren keine mehr nach, dann fühlt sie sich geschmeichelt. Viele junge Dinger sind so zutraulich, da braucht es keine großartige Verführung, die sind auch so voll dabei. Außerdem haben sie selbst Angst zuzugeben, dass sie vom Dorf sind.

Außerdem habe ich an mir noch eine andere Fähigkeit entdeckt, anfangs konnte ich es selbst kaum glauben, später dann, tja, Übung macht den Meister, meine Zunge flutschte wie in Rapsöl eingelegt, sehr geschmeidig, ich hätte die sieben Feen überreden können, auf die Erde hinabzusteigen. Ob man dir glaubt, liegt an dir; überall waren diese Frauen und Mädchen, die haben jeden Furz von mir geschluckt, als seien es Fleischklößchen, die haben sich damit eingerieben wie mit Parfüm, denen geschieht es doch ganz recht.

LIAO YIWU:

Wie sind Sie auf die schiefe Bahn geraten?

QIAN GUIBAO:

Das steht doch oft genug in der Zeitung, wie so etwas geht, das ist nichts Besonderes. Ich bin ein Bauer von einer kleinen Bergschlucht im Bezirk Pingwu. Pingwu werden Sie vielleicht kennen, dort kommen die Pandabären her.

Früher waren die Wälder und der Bambus, aus dem man Pfeile und Bögen machte, ganz dicht, wir lebten in den Bergen von den Bergen, wir sammelten das Holz, das die Holzfabriken beim Fällen übrig ließen, und verkauften es, es reichte, um die Mäuler zu stopfen. Außerdem gab es in den Bergen alles, was man brauchte. Aber später dann waren die alten Wälder mehr oder weniger komplett abgeholzt, die Holzfabriken wurden aufgelöst, der Boden an den Hängen war schlecht zu bebauen, wenn Sie noch nicht dort waren, der Boden alleine ernährt nicht seinen Mann. Vor achtundzwanzig Jahren hatte ich gegen den staatlichen Plan drei Töchter, die hatten nicht einmal eine Hose übrig. Und das war bei allen Familien im Dorf so, die Männer banden sich Hosen aus Stroh um, wenn sie aufs Feld gingen, Tuchhosen wurden geschont, wenn man Verwandte besuchte oder wenn man Fremde traf. Im Winter saßen die Mädchen und Frauen nackt um die offene Feuerstelle im Haus herum und verdienten mit Handarbeiten etwas dazu.

Das haben wir bis 1982 durchgehalten, dann haben ein paar starke Männer aus dem Dorf die Köpfe zusammengesteckt und beschlossen, die paar Pelze, die wir seit Jahren gelagert hatten, in der Kreisstadt gegen Fahrkarten einzutauschen und gemeinsam außerhalb zu arbeiten.

Zuerst waren sie im Kreis auf dem Bau, dann sind sie mit einem selbstständigen Kleinunternehmer nach Chengdu, in die Hauptstadt, in die Provinz Gansu; sie haben ihren Horizont erweitert und haben nicht mehr diese schwere körperliche Arbeit gemacht, die einen Ochsen umbringt.

Die Moslems in Lanzhou sind sehr kameradschaftlich, ich bin schnell mit ihnen warm geworden und mit ihnen von Dorf zu Dorf gezogen. Der Norden ist einfach riesig, und es gibt zu viel Wüste, da wächst kein Grashalm, außerdem ist Wasser Mangelware; der Schnee vom Winter schmolz im Keller, das musste für mehr als ein halbes Jahr reichen. Aber hier waren die Männer rechtschaffen und wichen für alles in der Welt ihren Frauen nicht von der Seite. Frauen sind hier eine fast noch größere Mangelware[5] als Wasser, und ein Mann spart und spart, spart über zehn Jahre und gibt auf einmal alles aus, um sich mit einer Frau zu verbinden. Unsere Gegend daheim in Sichuan war schon arm genug, aber ich habe dort niemals so viele Junggesellen gesehen. Aber da oben, wenn da ein Mann eine Frau nur sieht, verliert er den Verstand, am liebsten würde er sie auf der Stelle besteigen und ficken.

Wissen Sie, die Mädels in Sichuan sind fleißig, sie sind hübsch, sie sind bereit, jemanden zu bedienen; in den anderen Provinzen sind Frauen aus Sichuan sehr beliebt. Und mit dieser Idee im Kopf, ha, da musste das Geld ja nur so fließen!

LIAO YIWU:

Als Sie zum ersten Mal einen Menschen verkauft haben, was für ein Gefühl war das?

QIAN GUIBAO:

Ich habe das erste Mal niemanden verkauft, ich habe zwei von meinen Töchtern verheiratet. Dabei habe ich aus einem Zusatzgeschäft ein Gewinngeschäft gemacht.

Die neue Verwandtschaft war gar nicht mal schlecht, sie wohnten keine zehn Kilometer von der Eisenbahnlinie entfernt, das war nicht ganz hinter dem Mond. Ich habe meine beiden Mädchen in ein und demselben Dorf verheiratet und für sie sechshundert Yuan und acht Schafe bekommen. Die Schafe habe ich dem Bahnhof verkauft, ein Tier für fünfzig Yuan, schlussendlich hatte ich also tausend Yuan. Wenn man so viel Geld gemacht hat, gerät man fast aus dem Häuschen! Aber kaum ein paar Tage später erzählte mir meine Tochter, dass es in diesem Dorf eine ganze Reihe von Frauen aus Sichuan gibt, die alle von Menschenhändlern dorthin gebracht worden waren. Und sogar für die billigste hätten sie zweitausend Yuan verlangt.

LIAO YIWU:

Sie haben Ihre Töchter wer weiß wo an fremde Männer verheiratet, sind sie denn damit zurechtgekommen? Sie haben das Geld eingestrichen, aber Ihren Töchtern war jeder Rückweg verbaut.

QIAN GUIBAO:

Bauernmädels kommen nicht mit goldenen Löffeln auf die Welt! Was heißt hier zurechtkommen? Die Niet gehört in die Nut. Je öfter man sie rannimmt, umso hübscher werden die Frauen. Natürlich, wenn sie dann zwei Kinder auf die Welt gebracht haben, ist der Lack ab. Wie schon das Sprichwort sagt: »Vor dem Wurf noch goldne Tittchen, nachher nur noch Hundezitzen.«

LIAO YIWU:

Wie haben Sie dann den Wirkungskreis Ihrer, sagen wir, Unternehmungen vergrößert?

QIAN GUIBAO:

Zunächst einmal habe ich als die ehrliche Haut, die ich bin, im Dorf rote Hochzeitsleinen gezogen. Sie wissen, das sind die, mit denen man einen Jungen und ein Mädel, die einander versprochen sind, verbindet. Aber die Verantwortung war zu groß, ich habe mich völlig verausgabt, ich habe mir den Mund fusselig geredet, und die Erfolgsrate war nicht hoch. Ein Mädchen aus den Bergen, das sein Lebtag noch nicht aus seinem Kreis herausgekommen ist, und die soll man auf einmal dazu bringen, Haus und Hof zu verlassen und ein paar tausend Kilometer weiter weg zu heiraten? Ha, die hätten das nicht gemacht, nicht einmal wenn ich eine Tante von ihnen umgebracht hätte.

Da lief nichts, mir blieb nichts anderes übrig, ich musste sie hinters Licht führen, ich musste ihnen erzählen, ich hätte im Norden ein Restaurant aufgemacht, ich würde Bedienungen anstellen, sie bekämen Lohn, samt Kost und Logis. Wenn das mit dem Job nicht zog, habe ich mir einfach ein Amtssiegel geschnitzt und Bescheinigungen ausgestellt, von wegen meine neue Firma suche Arbeiter. Ich habe dick aufgetragen, von wegen im Norden gäbe es viele Rinder und Schafe, die Wolle sei billig, also sei es das Natürlichste von der Welt, dort eine Weberei aufzumachen und Wollmäntel und Teppiche zu produzieren – ich posaunte hinaus, was mir gerade so einfiel.

Ganz allmählich wurde meine Dreistigkeit immer größer, ich hatte mit großen Firmen in Lanzhou, Yinzhou und Henan geschäftliche Verbindungen, ich war dafür verantwortlich, dass die von mir georderte »Ware« an den vereinbarten Ort gebracht wurde, von wo aus sie von den »Firmen« weiterverteilt wurde.

LIAO YIWU:

Also provinzübergreifender Menschenhandel. Aber halt, wenn Sie sich dermaßen ins Zeug gelegt haben, um den Leuten in ihrem Dorf etwas »Gutes« zu tun, hatten Sie da keine Angst vor der Strafe Gottes?

QIAN GUIBAO:

Der Strafe Gottes? Gespenster und so feudalistischer Kram, was? Natürlich, wir sind einfache Bauern, und unsere Hochzeitsvermittlungen sind vielleicht manchmal nicht sonderlich, wie soll ich sagen, zivilisiert, zum Beispiel wird vorher die Meinung der weiblichen Seite nicht eingeholt. Aber auch nach den alten Traditionen auf dem Lande bekommen Mann und Frau sich vor der Hochzeit nicht zu Gesicht, erst, wenn sie das Hochzeitsgemach betreten und die Kopfbedeckung abgenommen ist, wissen sie, ob ihr Partner eine Hexe oder eine Fee ist.

LIAO YIWU:

Was für ein Hochzeitsgemach? Meines Wissens ist das eine reine Hinrichtungsstätte, eine Hand gibt das Geld, die andere die Ware. Aber Sie haben es gut, Sie zählen die Scheine – Sie stoßen einen Menschen in den Schlund der Hölle und lassen dann los. Viele dieser jungen Frauen werden sofort von ein paar Männern an Händen und Füßen festgehalten, damit ihr »Bräutigam« sie vergewaltigen kann. Außerdem werden sie gefesselt und so schlimm geprügelt, dass ihr Körper von Wunden übersät ist. Haben Sie in Ihrer Hochzeitsnacht Ihre Frau auch vergewaltigt?

QIAN GUIBAO:

Meine Frau? Vergewaltigt? Wie kommen Sie denn auf diese komische Idee? Aber natürlich, Sie sind aus der Stadt, dort gibt es Nachtclubs, Tanzlokale, selbst am Bahnhof, am Hafenkai, überall kann man Frauen kennenlernen. Und wenn man dünnhäutig ist oder einfach nichts Besonderes, kann man sich immer noch an eine offizielle Heiratsvermittlung wenden, man kann eine Heiratsanzeige in der Zeitung aufgeben, und wenn es diesmal nicht geklappt hat, klappt es vielleicht das nächste Mal.