Wuhan - Liao Yiwu - E-Book

Wuhan E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

»Wir müssen uns die Heimat mit der Seele zurück erkämpfen.« Liao Yiwu Gleich nach dem Ausbruch des Corona-Virus reist der Bürgerjournalist Li in das Epizentrum der Katastrophe. »Weil er keine Angst vor Gespenstern hat«, so die Stellenanzeige, findet er einen Job im Krematorium. Schnell begreift er, dass die offiziellen Opferzahlen nicht stimmen. Doch der kurze Augenblick, in dem er glaubt, die Wahrheit sagen zu dürfen, vergeht über Nacht: Er wird entdeckt, verfolgt und dokumentiert im Internet live, wie er brutal verhaftet wird. In diesem bestürzend aktuellen Dokumentarroman »Wuhan« führt uns Liao Yiwu in das Herz der ungelösten Fragen und erzählt die spannende Recherche der Hintergründe einer gewaltigen Vertuschung. Woher stammt das Virus und was geschah in Wuhan? Protokolle verschwinden, und neue Lügen zementieren die Geschichte vom heroischen Sieg der Partei – Propaganda, die die Menschen vergiftet wie das Virus. »Liao Yiwu ist der wohl vielseitigste Chronist des zeitgenössischen Chinas.« Der Tagesspiegel

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Seitenzahl: 429

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Liao Yiwu

Wuhan

Dokumentarroman

Roman

 

Aus dem Chinesischen von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann

 

Über dieses Buch

 

 

Gleich nach dem Ausbruch des Corona-Virus reist der Bürgerjournalist Li in das Epizentrum der Katastrophe. »Weil er keine Angst vor Gespenstern hat«, so die Stellenanzeige, findet er einen Job im Krematorium. Schnell begreift er, dass die offiziellen Opferzahlen nicht stimmen. Doch der kurze Augenblick, in dem er glaubt, die Wahrheit sagen zu dürfen, vergeht über Nacht: Er wird entdeckt, verfolgt und dokumentiert im Internet live, wie er brutal verhaftet wird. In diesem bestürzend aktuellen Dokumentarroman »Wuhan« führt uns Liao Yiwu in das Herz der ungelösten Fragen und erzählt die spannende Recherche der Hintergründe einer gewaltigen Vertuschung. Woher stammt das Virus und was geschah in Wuhan? Protokolle verschwinden, und neue Lügen zementieren die Geschichte vom heroischen Sieg der Partei – Propaganda, die die Menschen vergiftet wie das Virus.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Er wurde mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Vorspiel Der Draufgänger

1 Eine zwangsgeschlossene Stadt

2 Mit dem französischen Virengefängnis fing alles an

3 Wer isst Fledermäuse?

4 Die Wahrheit starb mit Li Wenliang

5 Alltag in der Isolation

6 Der Infizierte ohne Symptome

7 Durch menschenleere Gegenden

8 Auf beiden Seiten der »Landesgrenze«

9 Das Virus verlässt das Land

10 Wissenschaftler gegen »Verschwörungstheorien«

11 Unrestricted War

12 Seine Hoheit der Kaiser war da

13 Illegal nach Hause

14 Die Volksrepublik China verschwindet

Epilog Die Wuhan-Elegie

Anhang An die Leser

Spucke ist meine einzige Waffe Ballade

Ein Jahr später Nachtrag

Die Seelen zahlloser Opfer eröffnen und beschließen dieses Buch

Kcriss

Ai Ding

Michael M. Day

Janice M. Englehart und David W. Novack

Ross Perlin, Amy Daunis Bernstein und Peter Bernstein

Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder

Dem Asian-Culture-Verlag in Taiwan und Liao Zhifeng

Letztes Nachwort

Wir erwarten die Nachricht von ihrem Tod

Anmerkungen der Übersetzer

VorspielDer Draufgänger

Am 26. Februar 2020 war der fünfundzwanzig Jahre alte Kcriss schon sehr früh auf den Beinen, packte sich wie üblich in die Rüstung seiner Schutzkleidung, legte den Mundschutz an, setzte die Schutzbrille auf und sah aus der Ferne aus wie ein Astronaut auf dem Mond.

Auf Zehenspitzen stieg er die Treppe hinunter, fuhr mit dem Auto los, atmete einmal tief durch und ermahnte sich selbst, besonders vorsichtig zu sein, denn heute wollte er zum äußerst sensiblen P4-Labor[1]* und versuchen, das Rätsel um die Frage zu lösen, ob das Virus hier hatte entweichen können.

Gedacht, getan, er machte sich auf den Weg, ohne allzu viele Gedanken darüber, welche Gefahren dort lauern könnten. Wuhan war seit über einem Monat im Lockdown, unterwegs strahlte die Sonne, die Luft war frisch, doch alles war vollkommen ausgestorben; die Ampeln waren noch in Betrieb, aber Verkehrspolizisten gab es keine. Eine Weile raste er dahin, bis er das Gebiet um den »Zhengdian-Park des Wuhan-Forschungsinstituts der Chinesischen Akademie der Wissenschaften« im Bezirk Jiangxia erreichte, einen Technologie-Park, in dem sich auch das P4-Labor befand. Wenig überraschend war ab hier bereits militärisches Sperrgebiet, ein Großteil des Areals war mit Eisentonnen abgesperrt. Er wurde von zwei blauen Schatten mit Gewehren aufgefordert anzuhalten, glücklicherweise hatte er sämtliche Papiere dabei und seine Körpertemperatur war normal, er sagte, er sei nur so vorbeigekommen, und drehte wie befohlen auf der Stelle um – das Wort »P4« wagte er nicht auszusprechen.

 

Kcriss war ein wenig enttäuscht, wollte jedoch nicht klein beigeben und fuhr um die Absperrung aus gewaltigen Eisentonnen herum, dabei streckte er immer mal wieder den Kopf aus dem Fenster, als ob er sich verfahren hätte, wobei er in Wahrheit auf eine Chance wartete. Doch er hatte kein Glück: Das Wetter war herrlich, die Sicht ausgezeichnet, und doch war alles, ohne das geringste Anzeichen von Leben, ausgesprochen trostlos. Der Winter war noch nicht vorbei, ein paar schüttere Baumreihen sahen aus wie eine von Fingernägeln zerkratzte Schuppenflechte der Erde, zwischen kahlen Zweigen und gefallenem Laub waren Menschen, Hunde, Katzen und Vögel wer weiß wo geblieben. Kcriss hielt den Wagen in einer kurzen Gasse an, hinter sich die Kreuzung zur Autobahn. Und vor sich kein Gebäude höher als zwei Stockwerke, nur das in Sichtweite liegende, aber unerreichbare P4-Labor – ein Zylinder und ein langes Rechteck – ragte eindrucksvoll in die Luft und erinnerte an Tschernobyl: Das Äußere des geborstenen Kernreaktors bestand ebenfalls aus einem langen Rechteck und einem Zylinder, dessen Radioaktivität, wie es hieß, innerhalb von ein paar Monaten auf dem gesamten europäischen Festland nicht mehr einen Grashalm hätte stehen lassen können, so dass Zehntausende ohne Rücksicht auf Leib und Leben in einem Wettlauf mit der Zeit einen gewaltigen Deckel gossen, der die Ruine des Reaktors für alle Zeiten versiegeln sollte, als wolle man die Büchse der Pandora wieder schließen. Doch dieses Mal war alles anders: Das Virus aus Wuhan war längst über die Grenzen des Landes hinaus vorgedrungen und hatte jeden Winkel in der Welt kontaminiert, auf Tausenden von Kilometern stieg die Zahl der Toten täglich – würde man die Büchse der Pandora noch einmal schließen können?

 

Kcriss konnte nichts tun, als nur im Wagen herumzusitzen, also schaute er sich auf YouTube Chai Jings* Umweltdokumentation Unter der Glocke an. Er hatte sie schon viele Male gesehen, fand sie aber immer noch ausgezeichnet. Die Zeit verging unmerklich, er fing an zu vergessen, wo er sich befand, und vergaß auch, dass das ein Polizeistaat war.

Dutzende Meter entfernt starrten Polizisten von der Inneren Sicherheit von einem Fenster im zweiten Stock fortwährend herüber. Am Anfang dachten sie noch, das sei ein Treffpunkt, an dem verdeckte Spezialagenten auftauchen und Kcriss einen Packen Informationen überreichen könnten, aber das Drama, auf das sie hofften, fand nicht statt. Zhao, Hauptmann der Inneren Sicherheit, murmelte: »Schon zwei, drei Stunden jetzt, und er ist immer noch nicht weg, will der hier übernachten?« Sprach’s, winkte Li heran und befahl ihm, einen Computer heranzuschaffen – und so genossen sie, wie in einem Film, auf dem Bildschirm jede Bewegung von Kcriss.

Zhao sagte: »Hol ihn ein bisschen näher. He, der tut echt so, als wäre da was, so ein langer Bericht über Smog, den kann man doch überall anschauen, ausgerechnet am P4 hält er dafür an, da steckt doch bestimmt was dahinter.«

Skynet* überzog schon seit einigen Jahren das ganze Land mit Videoüberwachung, Li drückte auf die Maus, und die versteckten Kameras an den Gebäuden zu beiden Seiten der Wagenfenster drehten sich, auf dem Bildschirm erschienen zwei oder vier Einstellungen, das linke Ohr und Auge von Kcriss, das rechte Ohr und Auge, die Nase, der Mund, jeweils in Großaufnahme. Selbst die Poren wurden vergrößert.

Li sagte: »Bläschen im Mundwinkel, der steht wahnsinnig unter Druck. So ein hübscher Bengel und niemand bei ihm, der ist garantiert schwul.«

»Du verstehst einen Scheiß«, sagte Zhao. Anschließend beorderte er weitere Leute aus dem Gebäude her. Sieben Köpfe steckten über dem Bildschirm zusammen. »Hauptmann Zhao, das geht jetzt schon recht lang«, gab der dicke Zhou seine Meinung zum Besten, »zieh’n wir ihn doch aus dem Verkehr!«

»Ja, genau, dann hierher zurück, dann sehen wir weiter«, stimmte Li zu.

»Einen Scheiß werden wir sehen«, runzelte Zhao die Augenbrauen, »hältst du den etwa für einen wie unseren Fang Bin*? Festsetzen, freilassen, und das ganze Tohuwabohu im Netz, und dann geht es uns nichts an, oder was?«

»Was soll das heißen?«

»Schaut euch doch das Equipment an, ein Geländewagen von VW, Topschutzkleidung, Handybildschirm in Sondergröße und eine hochauflösende Kamera, jede seiner Bewegungen, damit kann sich doch ein Tölpel wie Fang Bin nicht messen! Das da richtet sich gegen das Zentralkomitee der Partei, einer von hier würde auf ein kaputtes Fahrrad steigen, der Bürgerrechtsanwalt Chen Qiushi* fährt ein Schrottmoped, und sie machen keine Videos draußen …«

»Doch. Fang Bin hat draußen Videos gemacht, von Krankenhäusern, mit Einstellungen steif wie eine Leiche, und er hat bestimmt achtmal den Satz ›Acht sind gestorben‹ gesagt.«

»Genau deshalb ja, dieser Kcriss hat Einfluss, der war Nachrichtensprecher bei Phönix, dem Satellitensender, und beim Zentralfernsehen, und dann kündigt er auf einmal, so was sieht ganz nach einem verwöhnten Spross der zweiten, dritten, x-ten Generation von roten Kadern aus. Wenn …«

»Wenn der irgendwas Höheres ist, liebe Güte, die Fraktion oder jene Fraktion, das kriegen wir dann eh nicht mehr klar, sind zu viele Tote diesmal, so viele waren es noch nie, dafür will keiner die Verantwortung …«

»Red keinen Unsinn. Wir sind hier die Innere Sicherheit, wir sind also für die absolute Sicherheit des P4 da, komme, was wolle, und wenn jemand da reinwill, können wir ihn sofort festnehmen. Um das hübsche Jüngelchen da soll sich mal die Nationale Sicherheit kümmern.«

Zhao wählte die Nummer des Leiters der lokalen Staatssicherheit und legte ihm die Sache möglichst einfach dar. Der sagte, er habe nicht genug Leute, außerdem bilde die Staatssicherheit eine »geheime Front«, man werde den Grad der Gefährlichkeit von Kcriss evaluieren und seinen Hintergrund durchleuchten, »wir tun, was wir können, aber nach der üblichen Arbeitsteilung müssen unverdeckte Angelegenheiten ja von der Inneren Sicherheit übernommen werden«.

Zhao entgegnete energisch, das gehe so nicht, »er ist aus eurem Umfeld«, auch die »geheime Front« müsse sichtbar werden.

 

Die Innere Sicherheit, das waren Experten für Verhaftungen, das ging bei ihnen blitzschnell. Von den beiden »Bürgerjournalisten« vor Kcriss, Chen Qiushi und Fang Bin, die über eigene Medien von der Pandemielage in Wuhan berichtet hatten, schaffte es der Erste nicht, rechtzeitig Beweise vorzulegen, und war »vom Erdboden verschwunden«, was seine betagte Mutter dazu verurteilte, ebenfalls Tag für Tag die Firewall zu überwinden und per Twitter »Suchmeldungen« zu posten; der andere schrie gerade noch durch Eisengitter und Eisentür: »Ich habe kein Fieber, ihr müsst mich nicht isolieren«, als die Tür mit einem Knall aufgestoßen und der Kerl augenblicklich zu Boden gedrückt wurde – natürlich war derart grobe Arbeit etwas unter der Würde der hochgebildeten Nationalen Sicherheit, deren Stärke vor allem auf dem Gebiet von Hightech oder in der »Infiltration des Feindes« lag – weshalb der Leiter der Nationalen Sicherheit, als er seinem Untergebenen Ding Jian den Befehl gab, mit zwei Leuten in offiziellem Auftrag etwas zu erledigen, ihn gleichzeitig mehrfach ermahnte, auf keinen Fall einen Polizeiwagen mit dem Logo der Nationalen Sicherheit zu benutzen.

Ding Jian zögerte kurz, bevor er mit seinen zwei Leuten in die Garage hinunterging und einen weißen Geländewagen fand, den er höchstselbst hinausfuhr. Zu diesem Zeitpunkt quälte sich Kcriss schon ein paar Stunden in seinem Auto, sein Wasservorrat war zu Ende, ihm klebte die Zunge am Gaumen, und weil es um ihn herum nichts gab, wollte er das P4-Gelände verlassen, um Wasser zu kaufen. Doch just als er mit seinem Wagen aus der Gasse bog, kam Ding Jians Wagen in der Einbahnstraße frontal auf ihn zu. Er dachte noch, wenn jemand so die Verkehrsregeln missachtete, dann sicher, um eine Abkürzung zu fahren. Auf einmal aber stellte sich der andere quietschend quer über die Straße.

Kcriss trat und zog mit Händen und Füßen an allen verfügbaren Bremsen, von den Reifen stiegen zwei blaue Rauchfahnen auf, einen Zusammenstoß konnte er so verhindern. Dann reagierte er verdammt schnell, fuhr mit heulendem Motor die Gasse rückwärts, um über das andere Ende zu entkommen – das hatte die Nationale Sicherheit übersehen, hätte die Innere Sicherheit das erledigt, wäre längst ein anderer Wagen am anderen Ende quergestanden – Kcriss, wenn auch zu Tode erschrocken, war also nicht in einem Flaschenhals gefangen und fuhr ein ganzes Stück gegen die Fahrtrichtung, und das mit mindestens zweihundert Sachen, direkt auf die Hauptstraße, der andere Wagen immer dicht hinter ihm, und ob er es nun hören konnte oder nicht, es kam ständig die Lautsprecherdurchsage. »Sofort anhalten, wir befehlen Ihnen, sofort anzuhalten!«

 

Von der wilden Verfolgungsjagd jedoch einmal abgesehen war auf dieser Straße, die in eine andere Welt zu führen schien, so weit das Auge reichte, keine Menschenseele zu sehen. Die Abendsonne ging gemächlich unter, das Auf und Ab der Häuser war wie Wellen tiefer See, die durch Gottes Hände flossen und brandeten. Es war noch nicht lange her, da war die Ebene des ganzen Distrikts Jianghan mit mehreren hundert Kilometern Fläche gestopft voll gewesen mit Autos und Menschen, Schiffen und Waren. Wuhan war berühmt, eine historische Stadt, und im Wandel der Zeiten einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte zu Land und zu Wasser: Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass dieses Herz von Cathay genau in dessen Mitte lag, Verkehrsverbindungen verzweigten sich in alle Richtungen wie feine Adern, pulsierten ineinander verflochten, während die Eisenbahnstrecke Peking–Kanton und der Strom des Yangtse wie zwei Schlagadern den Betrieb dieses diktatorischen Imperiums täglich in Gang hielten. Bevor das dreiundsiebzig Jahre alte Monster Mao Zedong 1966 den Staatspräsidenten Liu Shaoqi in den Tod trieb und nebenbei die Kulturrevolution auslöste, eine Katastrophe für 800 Millionen Chinesen, war seine erste Wahl Wuhan, um sich dort einige Kilometer den Yangtse hinuntertreiben zu lassen* und am Ufer folgende Zeilen zu verfassen: »Just getrunken vom Wasser Changshas, und gegessen vom Fisch in Wuhan.« »Wer an sich glaubt, lebt zweihundert Jahre und sein Schlag stäubt das Wasser 3000 Meilen.«* Damit löste er ein geistiges Erdbeben der Stärke 8 aus, in der lokalen Kriegszeitung der Roten Garden wurden Gerüchte über Gerüchte verbreitet, nach denen die Resultate neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse gezeigt hätten, dass der gegenwärtige Gesundheitszustand des großen Vorsitzenden Mao, der rötesten roten Sonne im Mittelpunkt der gesamten Weltbevölkerung, wenigstens noch 150–200 Jahre gewährleistet werden könne …

Heute waren derartige Mythen in Wuhan vom Winde verweht, gegenteilige, realistischere Mythen kursierten unter den Menschen wie während der Kulturrevolution »die Nachrichten über die kleinen Kanäle«, die noch nicht verifiziert waren: Durch Kältebehandlung und einen »Zwischenwirt« sei aus den SARS-Viren, die das P4-Team den Fledermäusen entnommen habe, ein neues Coronavirus entstanden, dem seine Erfinder künstliche Intelligenz verliehen hätten, Fähigkeiten, sich zu verbergen und zu verstellen, worin die chinesischen Kommunisten in ihrer Frühzeit ausgesprochen gut gewesen seien – wer sich infiziere, habe zu Beginn weder Fieber noch Husten, dann komme ein leichtes Fieber und Husten, bis man am Ende nicht mehr atmen könne – und erst jetzt komme ein Auf und Ab wie bei Seegang, wo man von einem Augenblick auf den anderen in das Tal des Todes stürzen konnte – in den chinesischen Netzen im Ausland gingen Gerüchte um, das »Virus aus Wuhan« sei die »ultimative biologische Waffe« der Diktatur im Kampf gegen die Demokratie, eigentlich sei das erste Angriffsziel das nicht unterzukriegende Hongkong gewesen, doch dann sei das Ganze aufgrund von Lücken im bürokratischen System wie beim Supergau von Tschernobyl auf einmal außer Kontrolle geraten und habe sich ausgebreitet; anschließend habe man dann aus Staatsräson und um »Gerüchte« zu unterdrücken, die Öffentlichkeit betrogen, habe den Zeitpunkt verpasst, die »Büchse der Pandora« wieder zu schließen, und das nach Plan abgeriegelte und unter Militärverwaltung gestellte Hongkong hieß auf einmal Wuhan.

 

Auch Kcriss, das neugeborene Kälbchen, hatte auf der Straße alle möglichen Gerüchte um das P4 gehört. Da Wuhan im Lockdown war, war das in der Mitte gelegene P4-Labor jedem Bürger von Wuhan im Innersten ein Begriff, doch niemand wagte, dieses politische Tabu in den Mund zu nehmen – Kcriss achtete nicht auf Leib und Leben, so wie über dreißig Jahre zuvor am Morgen des 4. Juni 1989 ein Dichter namens Liao Yiwu vor dem Hintergrund der Schüsse und der Schreie auf dem Tian’anmen sein Großes Massaker gelesen hatte … und auf dem Fuß verhaftet und unweigerlich ins Gefängnis geworfen wurde, aber, verdammt nochmal, wie sollte man das verletzte Gerechtigkeitsempfinden der Jugend unterdrücken. Bei seinem über 30-sekündigen Videonotruf hatte Kcriss das Gefühl, sein Wagen fliege und das Lenkrad gehorche ihm bald nicht mehr: »Ich bin auf der Straße, die Staatssicherheit ist hinter mir her, in einem Zivilfahrzeug … ich bin in Wuhan, ich fahre schnell, sehr schnell, sie sind hinter mir her, sie wollen mich sicher isolieren …«

Am Ende raste er auf die Kreuzung einer Hochstraße, wurde etwas langsamer, der Wagen hinter ihm holte auf, streifte seine Karosserie und überholte ihn. Wie in einem Spionagethriller riss er das Lenkrad herum, nach links, es krachte, der andere wich zurück. Ihm war alles egal, und er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

***

Schließlich entkam er in die Tiefgarage seines Hochhauses, das elektrische Gatter hatte sich gerade noch hinter seinem Heck geschlossen, als der Wagen der Nationalen Sicherheit eintraf. Die Innere Sicherheit an ihrer Stelle wäre durch das Gatter durchgebrochen, aber die Nationale Sicherheit, die etwas auf sich hielt, stoppte, wo das Leben am seidenen Faden hing, dann doch den Wagen und rief die Innere an. Hier war eine gehobene Wohngegend, die Tiefgarage war sehr groß, aufgrund des strikten Lockdown-Befehls war allerdings innen seit Tagen der Strom abgestellt. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen, Kcriss wagte trotzdem nicht, die Scheinwerfer anzumachen, und verließ sich auf sein Gedächtnis – er war schon viele Male hier ein- und ausgefahren – und auf sein Urteilsvermögen. Er fuhr einen großen Halbkreis und suchte zwischen den Wagen, die aufgereiht waren wie im Winter Bienen in ihren Waben, eine Parklücke. Nach einem Augenblick völliger Dunkelheit kam die Staatssicherheit mit schwankenden Scheinwerfern, er rutschte mit seinem Körper nach unten und hielt den Atem an, der Wagen der Staatssicherheit kam langsam herunter, die Scheinwerfer suchten zwischen den Parknischen, streiften auch sein Fenster, suchten aber weiter, er glitt wie ein Gespensterschatten aus dem Auto, huschte wieselflink zum Eingang des Fahrstuhls und öffnete mit der Sensorkarte am Schlüssel die Tür. Als im Aufzug das Licht anging, kamen sie sofort angestürzt.

Der Nationalen Sicherheit ein paar Minuten voraus, ging Kcriss oben in seine Wohnung und verschloss die recht solide Tür. Wie eine Maus, die von den scharfen Krallen einer Katze in ihr Loch gezwungen wird, wagte er weder Licht anzumachen noch seine rüstungsartige Schutzkleidung abzulegen – und das, obwohl er am ganzen Körper triefend nass war. Aus einem professionellen Instinkt heraus machte er den Computer an und richtete die Kamera auf die Tür, es war stockfinster, und in dieser Finsternis, die jeden Augenblick explodieren konnte, begann sein Livestream …

Bumbumbum, bumbumbum, wieder und wieder wird gegen die Tür geschlagen. Kcriss steht eine Weile an der Tür, geht auf Zehenspitzen ans andere Ende des Raums, bumbumbum, bumbumbum, das Hämmern an der Tür ist hartnäckig, Kcriss geht in das mittlere Zimmer und kauert sich in die Ecke wie eine verlorene Seele. Zu dieser Zeit haben über 800 Internetnutzer aus dem Inland, die man im Netz auch »Zaungäste« nennt, bereits die Firewall Richtung Ausland überwunden und sich von dort aus wieder ihm und seinem dunklen Bildschirm auf YouTube zugewandt, den sie ununterbrochen kommentierten:

Tür auf, ich muss das Wasser ablesen!

Wie fühlst du dich? Auch ohne Licht wissen sie, dass du da bist.

Es macht keinen Sinn, das Licht auszulassen, die haben einen Haufen Sicherheitskameras, die sehen dich, egal wo du dich versteckst!

Jetzt hat jeder gesehen, wie mutig du bist!!! Du kannst noch viele mehr aus der Generation der 80er und 90er zum Aufstand bringen!

 

Mach Licht an, es hat keinen Sinn, so im Dunkeln zu sitzen, sie wissen, dass du zu Hause bist, es ist vollkommen egal, ob Licht an ist, besser Licht anmachen und was sagen, damit noch mehr auf dich aufmerksam werden.

Der hier sendet, ist ein junger Kerl der 90er, ein Medienspezialist, er war mal Moderator im Unterhaltungsprogramm des Chinesischen Zentralfernsehens, hatte die allerbesten Aussichten, aber jetzt ganz allein über die wahre Lage in Wuhan zu berichten, dem schwer getroffenen Epidemiegebiet, alle Achtung! Lasst uns gut auf ihn aufpassen und ihn unterstützen!

 

Mach den Bildschirm an, stell das Objektiv etwas weiter, wenn dich jemand packt, dann bekommst du ihn ins Bild, und iss was, Brot oder so, damit du nicht schlappmachst.

Das ist das Himmlische Imperium.

Vom CCTV kommst du? Fuck.

Sind die Kakerlaken noch vor der Tür? Und wenn überall in den Straßen Leichen liegen, komm in Zukunft nicht mehr hier rauf.

 

Die Wahrheit ist, du musst dich auf alles vorbereiten, aber im Grunde ist es doch zumindest so, wenn du davonkommst, wirst du auf YouTube berühmt, wenn nicht, wirst du es auch, nur in den ausländischen Medien. Habe erst heute in den japanischen Medien ein Video von Chen Qiushi gesehen. Egal wie man es dreht, zur Hälfte weil diese Sache hier stone ist, wird er dich morgen unterstützen, wenn er dich nicht erwähnt, wäre mir das echt unangenehm! Mit 270000 Fans weltweit hast du schließlich weit mehr Möglichkeiten als mit uns paar tausend Hanseln. Schlaf erst mal ’ne Runde, und dann mach dich auf ein Begeisterungsfeuer gefasst. Ich hoffe, du wirst nur auf YouTube berühmt, das wäre gut.

Führ sie an der Nase herum, mobilisier die öffentliche Meinung, mach dich selbst zu einer wichtigen Persönlichkeit! Würde sich die Staatssicherheit dann noch an dir vergreifen? Mach sie dir zunutze! Gestern haben sie dich verfolgt, heute festgenommen, was für ein Drama gibt es morgen?

Ist das nicht voll krass? Wovor hast du Angst? Zeig dich und mach was draus, bis jetzt ist das doch reichlich selbstgefällig, im Grunde auch ein Feigling, was? Was soll denn die Schutzmaske?? Wovor hast du denn Angst?

Geh heim und nerv nicht rum. Du Rindvieh hast wohl keine Ahnung, was für ein Tod dich erwartet.

Verpisst euch und mischt euch nicht ein!

Bitte, ist doch nichts passiert, die werden höchstens mit dir reden wollen, sei nicht so misstrauisch, ja?

Sag doch, Junge, ist es das wert, hier ist so viel Abschaum.

 

Sicherheit ist wichtig, hör mit der Übertragung auf.

Ich bin auch von den Medien, wenn ich nicht Frau und Kind hätte, ich wäre bei dir, vielleicht. Schäme mich.

Sei kein Narr … überleg dir, wie du aus diesem Wespennest rauskommst.

Keine Angst, die werden dich schon nicht mitnehmen.

Bruder, reiß dich zusammen, bleib dir treu, sag, was du sagen willst.

Sicherheit zuerst, Bruder, Schluss mit der Übertragung.

Kein Grund zur Panik, dein Video hat keinen sensiblen Inhalt, höchstens ein Tee bei den Bullen, und sie verwarnen dich, weil du illegal über die Firewall bist.

Lass dich nicht kleinkriegen, Junge.

Mach, dass du wegkommst, und komm nie nach China zurück.

Da du eh nicht fortkannst, setzt dich doch her und red mit uns – willst du für deine Inszenierung hier irgendwo politisches Asyl?

Hört mit dem zynischen Gerede auf! Nehmt lieber schnellstmöglich Kontakt mit irgendwelchen hohen Tieren auf.

Unbedingt Ruhe bewahren, sonst sperren sie dich in einen Kranken-Container, dort steckst du dich an und dann Gute Nacht, die Leute dort werden dich nicht retten …

 

Die haben es jetzt nicht mehr eilig und warten auf Anweisung von oben, außerdem schauen sie sich den Livestream sicher auch an, deshalb werden sie vorerst nicht stürmen, sobald sie stürmen, schalten sie auf alle Fälle Internet und Strom ab, weshalb du dir im Voraus unbedingt einen guten Plan zurechtlegen solltest, so viel fürs Erste, hoffe, du siehst es ein. Mach also schnell einen Plan, überlege dir gut, wie reagieren, ansonsten kann man den Rückzug auch zum Angriff machen und die Zeit nutzen, in der sie noch keine genauen Befehle erhalten haben, das Material löschen, die Initiative ergreifen, die Tür aufmachen und sie fragen, was sie da treiben! In jedem Fall wird sowieso alles kontrolliert, ganz offen kontrolliert, wenn Strom und Internet erst abgeschaltet sind, am besten mucksmäuschenstill sein…

Chen Qiushi, Fang Bin, Kcriss … keine Ahnung, wer als Nächster isoliert wird! Wenn scharfe Kritik komplett verschwindet, dann wird sanfte Kritik in die Ohren stechen; wenn auch sanfte Kritik nicht mehr erlaubt ist, dann wird ihnen Schweigen vorkommen wie böse Absicht, und wenn Schweigen nicht mehr erlaubt ist, dann wird es ein Verbrechen sein, wenn Lobhudeleien nicht mit entsprechender Verve kommen; wenn nur noch eine Stimme erlaubt ist, dann ist diese einzige Stimme Lüge.

Kcriss browste sich schnell durch die fortlaufenden Kommentare und wurde vollkommen konfus. Dazu vibrierte sein Handy unentwegt, er hielt es sich ans Ohr, am anderen Ende war ein Freund aus der Gegend, der ihm geholfen hatte und inzwischen der Nationalen Sicherheit in die Hände gefallen war: »Sie wissen, dass du da drin bist, du kommst nicht weg, mach die Tür auf!«

Er seufzte, drückte ihn aber nicht weg, sondern legte das Handy zur Seite. Er nahm die Maske ab, pellte sich aus der knarzenden Schutzkleidung, legte sich ein paar Minuten hin und setzte sich dann wieder vor den dunklen Bildschirm. Die Vergangenheit stieg wolkig vor ihm auf, unwillkürlich liefen ihm Tränen aus den Augen.

 

Er wusste nicht, dass im zehntausend Meilen entfernten Berlin zum gleichen Zeitpunkt ein Exilschriftsteller namens Zhuang Zigui ebenfalls kein Auge von dem dunklen Bildschirm wandte und sich, genau wie alle anderen »Zaungäste«, einen Kommentar nicht verkneifen konnte:

Die Geschichte von Kcriss ist traurig und ermutigend zugleich für dieses Vaterland. Diese unentwegt in unseren alten Büchern beschworene und die Generation unserer Väter so berauschende Heimat gehört nicht der Kommunistischen Partei, nicht Mao Zedong und nicht Xi Jinping, diesen atheistischen Bauerntölpeln.

Kcriss, ein 25-Jähriger, hat den Mut, sich als Ei gegen das sture Gestein der Diktatur zu werfen, welchen Grund hätten wir da zu verzweifeln?

Wir müssen zurück, zurück in die Heimat und in das Vaterland, das jeder von uns in sich trägt, wir müssen uns alles zurückholen, unsere ganz alltägliche und normale Wut, unser Mitleid, unsere Liebe, zurückholen unsere ganz alltägliche Menschlichkeit und unseren gesunden Menschenverstand, zurückholen unser vielfältiges und so aufwühlendes Schönheitsgefühl, so wie der Eremit Tao Yuanming[*] einst in einem Gedicht den Attentäter Jing Ke[*] besungen hat: »Der Edle geht für den Freund in den Tod, so nahm er das Schwert und verließ Yanjing.« [*]

Ich danke dem 1995 geborenen Kcriss, du bist die Zukunft Chinas!

Zhuang Zigui sendete auf der einen Seite, googelte auf der anderen nach »Kcriss« und war überrascht – es stellte sich heraus, dass dieser smarte Junge, Jahrgang 95, sich nach seinem Abschluss an der Chinesischen Medien-Hochschule mit günstigem Rückenwind beim Chinesischen Zentralfernsehen (CCTV) beworben und als Moderator der Sendung »Trend-Drehscheibe« und angesagter Star Follower hatte, die in die Millionen gingen. Kcriss war ständig im ganzen Land unterwegs, hielt Ausschau nach touristischen und kulinarischen Trends, zum Beispiel Grillen in der Wüste oder auf einem Boot: »Wow, ich habe zum ersten Mal einen so großen Fisch im Arm!« »Wow, gegrilltes Huhn mit Wassermelone, ich probiere erst einmal die Brühe …«

Zhuang Zigui hatte das Gefühl, mit so einem »Draufgänger« wenig anfangen zu können, übersprang das und schaute sich an, was er nach seinem Abschied vom Zentralfernsehen gemacht hatte: TV des Ungehorsams, auf YouTube, der ganze Sinn war »Ungehorsam gegenüber dem CCTV, dem Chinesischen Central TV« – die Einleitung zum ersten VLOG-Video war schlicht: »Na! Hallo allerseits, mein Name ist Kcriss Li, ihr könnt mich Kcriss nennen, Renyi Gege ist mein Smurf-Name*, mit dem ich durch die Lande ziehe, der erste Blogger Chinas, das wird in Zukunft ein wichtiger Name sein …« Anschließend zeigte er so einiges vor der Kamera: Rap, Breakdance, Salto rückwärts, bis zur Reise um die Welt auf einer schweren Lok. Dabei trug er eine schwarze Sonnenbrille und imitierte sein Idol Casey Neistat*, hinter ihm an der Wand waren der amerikanische Sänger Bruno Mars zu sehen und ein Poster von Apple-Gründer Steve Jobs …

***

Eine Nachricht veränderte das Leben von Kcriss. Am chinesischen Silvester verfolgte er wie Hunderte Millionen andere Chinesen den seit Jahrzehnten unverändert gebliebenen Unterhaltungsabend im Chinesischen Zentralfernsehen, diesjähriges Thema war: »Unser Wall fällt nie, gemeinsam gegen Pneumonie«. Dann vibrierte sein Handy:

Die Ärzteschaft der Jinyintan-Klinik hat seit einem Tag nichts mehr zu essen bekommen und bittet unseren Verein jetzt schon um Spenden. Kannst du das glauben? Ich kann es eigentlich nicht, aber was bleibt mir übrig. Ich wusste nur, dass die Ärzte keine neue Schutzkleidung mehr haben und den ganzen Tag nichts essen, weil sie Angst haben, die Schutzkleidung abzulegen, denn wenn sie das tun, haben sie keine andere mehr. Im Augenblick hat unser Verein Kontakt zum Krankenhaus und bereitet alles dafür vor, ihnen so Fertiggerichte zu schicken – die richtige Atmosphäre für das Silvesterprogramm! Die Leute draußen können im Grunde gar nicht verstehen, wie verzweifelt die Lage in Wuhan derzeit ist, die Kranken liegen auf dem Boden und sterben einen schnellen Tod, behandelt werden sie nicht, weil sie mit nichts mehr hinterherkommen. Wenn man die Parolen sieht, die sie da in den Fernsehnachrichten herumposauen, dann kommt einem das tief drinnen nur noch lächerlich vor. Man kann sich folglich nur noch auf sich selbst verlassen! Muss es! Ein so großes Land könnte auch einmal eine Silvesterparty mobilisieren …

Ganz unwillkürlich fing er an, sich zu schämen, und beschloss auf der Stelle, in Wuhan dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Auf der Suche nach Unterstützung telefonierte er zunächst mit seinem Vater, vergeblich. Daraufhin lud er im Netz ein paar Kommilitonen von der Chinesischen Medien-Hochschule ein, schlug vor, eine Gruppe zur Untersuchung der Lage zu organisieren, aber es gab kaum Reaktionen. Am Ende machten zwei Leute mit. Aber wie Konfuzius sagt: »Wenn drei zusammen sind, kann man immer etwas lernen.« Kcriss freute sich insgeheim.

Doch ein paar Tage bevor es losgehen sollte, wurde einer seiner Mitstreiter von den stets wachsamen Eltern im Schlafzimmer eines gut 20-stöckigen Hochhauses eingeschlossen, sie hielten abwechselnd Wache und waren nicht bereit, mit sich reden zu lassen; auch der Zweite schickte eine Nachricht, er sei, gerade von einer Reise nach Indonesien zurück, nach Kontakten zu Leuten aus Wuhan im Ausland befragt und sofort isoliert worden – Rückschläge, die Kcriss innerhalb von zwei Tagen verdauen musste, und von der Enttäuschung abgesehen war er nun bei dem kommenden Abenteuer ganz auf sich gestellt.

Auch wenn die Stimmung in Peking relativ angespannt war, die Regierung Zusammenkünfte jeder Art streng untersagte, alle Versammlungsorte schloss und man eine »Genehmigung« mit Zeit- und Personenbeschränkung brauchte, wenn man irgendein kleines Wohngebiet verlassen oder betreten wollte, konnte Kcriss vor seiner Abfahrt noch einen älteren Herrn aus Wuhan interviewen. Die beiden trafen sich am Haupteingang, Kcriss wurde die Temperatur gemessen, er wurde mit Desinfektionsmittel eingenebelt, danach geleitete sie die Sicherheit zum Aufzug. Sie fuhren in den 24. Stock, nahmen in der Wohnung die Masken ab und wuschen sich noch einmal mit Desinfektionsmittel die Hände. Die Frau des älteren Herrn machte Tee, und sie nahmen Platz. Der Mann kam direkt zum Punkt: »In meinen Augen ist es sehr gefährlich, wenn Sie jetzt gehen, außerdem macht es nicht viel Sinn.«

»Warum?«

»Es wird nicht lange dauern, und Peking wird zu einem zweiten Wuhan werden, alle Städte in China werden wie Wuhan werden, die Art und Weise, wie die Städte geschlossen werden, wird sich gleichen wie ein Ei dem anderen, bleiben Sie besser hier, was Sie in Wuhan tun können, können Sie auch in Peking tun.«

»Aber Peking ist nicht der Ausgangspunkt, Wuhan schon.«

»Wuhan ist genauso wenig der Ausgangspunkt wie Peking, das ist wie beim Yangtse, der entspringt irgendwo auf dem Qinghai-Tibet-Plateau, in der Gegend um den verschneiten Gipfel des Kolha Dardong, aber der wirkliche Ursprung, das ist irgendein kleiner Tümpel. Wollen Sie so einen kleinen Tümpel suchen?«

»Das käme auf einen Versuch an. Das vorliegende Material zeigt, dass die ersten Erkrankungen bei Ständen mit lebenden Tieren auf dem Meeresfrüchtegroßmarkt von Hua’nan aufgetreten sind.«

»Der ist zu und komplett gesäubert worden. Dort wird man nicht mehr das kleinste Stäubchen finden.«

»Auch das käme auf einen Versuch an.«

»Lassen Sie es besser!«, entgegnete ihm der ältere Herr nun sehr resolut. »Wenn Sie unbedingt hinwollen, dann gehen Sie als ein ganz gewöhnlicher ehrenamtlicher Helfer, der sich für andere einsetzen möchte, nebenbei machen Sie ein paar nicht zu riskante Videos, so schützen sie einmal sich selbst und bringen zum anderen auch sonst niemanden in Schwierigkeiten.«

 

Kcriss schwieg, doch innerlich brannte er. Er musste an den tschechischen Schriftsteller Milan Kundera denken, der in seiner Unerträglichen Leichtigkeit des Seins beschreibt, wie Tomáš, der Protagonist, nach der Unterdrückung des Prager Frühlings durch sowjetische Panzer nach Zürich ins Exil geht, während seine Freundin Teresa in Prag bleibt, dann ungeachtet der Mahnungen seiner Freunde zu Teresa zurückkehrt und für immer seine Freiheit verliert – Kcriss war gerade in so einem Romanalter, in dem man sich um nichts und niemanden schert, seine Teresa war die Wahrheit und die leidende Stadt Wuhan sein Prag.

Der ältere Herr durchschaute ihn und seufzte: »Wuhan ist viel schlimmer, als Sie sich das vorstellen. Die Diagnose- und Opferzahlen, die offiziell herausgegeben werden, bilden nur einen Bruchteil ab. Viele Menschen haben sich infiziert, aber keine Möglichkeit, sich testen zu lassen, und wo es nicht einmal einen konkreten Verdacht gibt, da kann von einer Behandlung schon gar nicht die Rede sein. Die Krankenhäuser sind überfüllt, auf ein Bett kann man nicht warten, und selbst wenn man eines bekommt, gibt es keine wirksamen Medikamente, wie soll ein Arzt da behandeln? Wenn es an allem fehlt, womit soll er heilen? Deshalb, bei Regierungsstellen, Nichtregierungsstellen, alles eine einzige Fehlkalkulation, bei jedem, der an dir vorbeigeht, besteht der Verdacht, dass er infiziert ist, dass er sogar schon eine entsprechende Diagnose hat, es ist überaus gefährlich! Deshalb, wenn Sie gehen wollen, müssen Sie so viel wie möglich Abstand halten; für den Fall, dass Sie sich anstecken, auf einmal schwer Luft bekommen, brauchen Sie einen Notfallplan. Sie müssen auf alle Fälle von allem genug dabei haben, Schutzkleidung und Schutzbrillen bis hin zu einem Helm, das alles werden Sie sich in Wuhan nicht unbedingt beschaffen können, dann noch reinen Alkohol, Desinfektionsmittel, Gesichtsmasken, das alles ist grundlegend. Und nicht zuletzt: Wie kommen Sie überhaupt nach Wuhan hinein? Sie brauchen jemanden, der Ihnen hilft, sonst tappen Sie im Dunkeln, es gibt keinerlei Verkehrsmittel, und Sie wissen nicht, wo Sie wohnen können …«

Es war bereits gegen Abend, als er die Wohnung des älteren Herrn verließ, feuerrote Wolken bedeckten den halben Himmel. Kcriss fuhr nicht mehr nach Hause, sondern direkt auf die Autobahn nach Süden, Tag und Nacht ging es durch halb China bis nach Changsha. Während er an der Straße auf einen Freund aus der Gegend wartete, überwand er die Firewall und sah ein Statement von Zhou Xianwang, dem Bürgermeister von Wuhan: »Als lokaler Regierungsvertreter konnte ich mich erst nach dem Erhalt von Informationen und ihrer Autorisierung an die Öffentlichkeit wenden, ein Punkt, den viele damals nicht verstanden haben.« Seine Worte bedeuteten, dass die Zentrale ihn nicht autorisiert hatte, also musste vertuscht werden, obwohl die Opferzahlen weiter stiegen, musste der Ausbruch der Epidemie vertuscht werden. Im Folgenden kam der Bürgermeister auf die aktuelle Situation zu sprechen: »Warum war Papa Xi* noch nicht in Wuhan?« Die Antwort war, Cai Qi, Sekretär des Pekinger Stadtkomitees und Xis Vertrauter, hatte bei einer Inspektion des Gesundheitsministeriums im Weststadt-Distrikt von Peking das Pech gehabt, sich mit der neuen Coronapneumonie zu infizieren, und der leicht fiebrige Cai Qi hatte anschließend dem Papa einen Arbeitsbericht abgeliefert, woraufhin auch der gegenwärtige Kaiser zu den Verdachtsfällen gehörte und im Regierungsviertel Zhongnanhai isoliert wurde … Kcriss musste laut lachen, und seine Müdigkeit von der Fahrt war auf einen Schlag verschwunden.

 

Der Freund aus Changsha kam, die Nachricht, die er mitbrachte: Alle Straßen nach Wuhan waren gesperrt. Heute, das war der 12. Februar 2020, waren auch die Zugverbindungen dichtgemacht worden. Außerdem bestand für sämtliche Fahrzeuge ein Einfahrverbot nach Wuhan, selbst die offiziellen Medien bildeten keine Ausnahme. Kcriss fragte, was er nun tun könne? Sein Freund sagte, wie es der Zufall wolle, komme der letzte Schnellzug heute Nachmittag hier vorbei. Kcriss brach sofort zum Südbahnhof von Changsha auf, sein Freund riet ihm, eine Fahrkarte für den ersten Bahnhof hinter Wuhan zu kaufen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Kcriss vertraute dem Freund den Wagen an und bestieg mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Reisekoffer in der Hand den Schnellzug, wo in den Abteilen nur ein paar vereinzelte Reisende saßen. Er drehte sein erstes Video, auf dem er erzählte, er habe seit einem Besuch in Nordkorea, wo es am helllichten Tag spukte, jede Menge Videos gedreht, offene und verdeckte, aber im fremden Land habe wohl das Firmenlogo des Chinesischen Zentralfernsehens ihn gedeckt, und die Untertanen dieses Dickwansts Plim Plum-Un* ließen ihn in Ruhe, doch dies hier sei etwas anderes.

Als es dunkel wurde, erreichte er den Bahnhof von Wuhan, querte den Durchgang und die große Halle, wo es früher nur so gewimmelt hatte und heute vollkommen leer war; Kcriss lief im Rücken von zwei Reisenden aus der Gegend und neckte dabei im Wuhan-Dialekt deren kleinen Nachwuchs. Der Freund, der ihn hier abholte, wartete vor dem Bahnhof, sie stiegen in einen Kleinbus, die Frau des Freundes gab ihm ein paar der vor Ort so rar gewordenen Masken und Desinfektionsmittel. Er war sehr gerührt und fragte bei der Gelegenheit, ob man auch die Sachen, die überall im Land gespendet würden, bekommen könne.

Der Freund fragte, von welchen Sachen er spreche. Während der Epidemie seien die Preise explodiert, und umsonst gebe es überhaupt nichts.

Er sagte, das sollte eigentlich nicht so sein, das chinesische Rote Kreuz bekomme jeden Tag Unmengen von Material für die medizinische und die alltägliche Versorgung, die geordnet und kostenlos an die Bewohner der verschiedenen Wohngebiete verteilt werden müssten.

Der Freund sagte, seit SARS 2003 und dem Erdbeben in Sichuan 2008 gebe es keine öffentliche Institution, die nicht die Hand aufhalte. Was immer beim Roten Kreuz ankomme, zirkuliere erst einmal, wobei die Preise sich vervielfachten: »Man rupft die Wildgans, sobald sie vorüberzieht, verstehst du?«

Er verstehe, sagte Kcriss, das heiße, sobald man eine Wildgans vorüberfliegen sehe, müsse man selbst ebenfalls in die Luft steigen, laut Wegezoll verlangen, und wenn die Wildgans nicht einverstanden sei, reiße man ihr in der Luft die Federn aus und mache aus ihr Suppe.

Der Freund lachte und sagte, das sei ein sehr lebendiges Bild, dann könne er ihm bestimmt auch sagen, warum der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation auf Chinesisch »Tan Desai« heiße.

Kcriss sagte, die Schriftzeichen seien so gewählt, dass der Name mit Anklängen und Nebenbedeutungen in etwa heiße: »Gärt der Himmel im Schnapsfass, erstickt das Ehrgefühl.«

Der Freund lachte diesmal laut los und sagte, der afrikanische Suffkopp habe in der Tat kein Ehrgefühl, eine Weltgesundheitsorganisation mit so jemandem an der Spitze und das chinesische Rote Kreuz, das sei das richtige Gespann, sie seien beide voll bis zum Stehkragen, so wie dieser von Papa Xi eingesetzte Parteizellensekretär Tag für Tag vom exzellenten Umgang der Regierung mit der Epidemie schwadroniere, vor allem vom Wunder »Shuanghuanglian«*, dass eine Rezeptur der chinesischen Medizin aus Geißblatt, Fragmites Japonica und Forsythien gegen das Virus helfe. Vorgestern sei es wohl gewesen, dass dieser Tan Desai von Papa Xi heranzitiert wurde, die Geldbeutel und die Eier plötzlich immer dicker geworden seien und man am Ende die Maxime des alten Mao »Ein Funke kann einen Steppenbrand entfachen« als eine Beschreibung der Ausbreitung des Virus aus Wuhan im Ausland habe verstehen können, die alle Welt dazu bringen solle, weiter Geld nach China zu schicken …

Jeder weiß, dass derlei Humor nichts ist als ein Pfeifen im Wald, das gibt es auch bei anderen Völkern, wie zum Beispiel einmal ein Deutscher einen heimatlosen irakischen Sänger im Exil bat, ein Lied zu singen, woraufhin der Iraker den Rachen auftat und sang, der Deutsche sich das anhörte und am Ende mit einem unsicheren Gesichtsausdruck meinte: »Ich hatte Sie gebeten zu singen, warum weinen Sie die ganze Zeit?«

***

Das befreundete Paar brachte Kcriss zu einem Hochhaus, das sich selbst »Hotel« nannte, wo er sich registrierte und eincheckte, und verabschiedete sich. Hier war alles komplett leer, er tappte ein paar Schritte durch den Korridor, und das Echo trug sehr weit. Chen Qiushi, sein Vorgänger als »Bürgerjournalist«, hatte, als er in Wuhan war, in einem Gebäude ganz in der Nähe gewohnt, dort noch am Abend vor seiner Verhaftung von seinem Zimmer aus gesendet und zu guter Letzt geschluchzt: »Ich habe keine Angst vor dem Tod, da soll ich Angst haben vor euch Kommunisten?« – »Karma«, der erste Livestream von Kcriss, hatte als Hintergrund draußen die Gegend um die Hochgeschwindigkeitstrasse, die Stadtmauer, einen hell-dunklen Himmel und ein von der Bezirksverwaltung für die Isolation von leichten Pneumoniefällen zwangsenteignetes Schulgebäude, die Ausbildungsstätte eines Software-Engineering-Unternehmens, wo sich Schultaschen und Lehrbücher stapelten – doch sein Hauptsenderaum war, wie bei Chen Qiushi auch, sein Schlafzimmer, er saß einfach auf dem Bett und las seinen Bericht. Aber seine Einstellungen, Tiefenschärfe und Ton waren ziemlich professionell:

Im Zeitalter des Internets wird die Übermittlung von Nachrichten im Grunde nicht mehr durch Raum und Zeit eingeschränkt, im Gefolge des Ausbruchs der Epidemie gab es auch eine Explosion der Nachrichten, doch viele Dinge waren für die Menschen schwer zu fassen, die offiziellen Verlautbarungen über Wuhan haben uns immer weiter von der Wahrheit entfernt.

Ich will mit meinen eigenen Augen und Ohren sehen und hören, was vor sich geht, um mir ein Urteil zu bilden. Bevor ich hierherkam, sagte ein Freund von einem Mainstream-Medium zu mir, alle Journalisten der Staatsmedien seien von der Regierung in ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs von Wuchang dirigiert worden, um sie alle beisammenzuhaben und die Berichte zu kontrollieren. Ohne die Staatsmedien im Rücken sei es sehr schwierig, in dieser Festung von einer Stadt seiner Medienarbeit nachzugehen, außerdem sei es recht gefährlich – denn jede schlechte Nachricht über die epidemische Lage werde von der Zentrale in die Einheitsberichterstattung zurückgeführt …

Er kam gerade so richtig in Fahrt, als er einen Anruf erhielt, es war der Manager des Gebäudes, der ihn in gehetzten Worten aufforderte, sofort herunterzukommen. Mit dem Handyvideo in beiden Händen ging er hinunter, die Schwägerin des Managers führte ihn vor die Tür, wo er auf eine Polizistin der lokalen Wache mit Maske traf. Kcriss setzte sofort auf sein gutes Aussehen, von wegen »schöne Frau« hier und »schöne Frau« da, und das so laut, dass es der Polizistin ganz unangenehm war und sie in weichem Ton sagte: »Das ist eine Mitteilung von oben, Sie dürfen hier nicht wohnen.«

Er sagte: »Aber schöne Frau, ich bin gerade angekommen, schauen Sie doch, es ist stockfinster, wo soll ich denn hin?«

Die Polizistin sagte: »Bin ja nicht ich, die Sie hier nicht wohnen lassen will.«

Er sagte: »Was machen wir dann jetzt?« und drehte sich mitleidheischend zur Schwägerin hin.

Die sagte: »Ich für meinen Teil kümmere mich nur um die Schlüssel, mein Mitleid hilft Ihnen gar nichts.«

Nach einer Weile kam noch ein Polizist, und Kcriss sprach auch ihn mit »werter Freund« an. Woraufhin der werte Freund und die werte Frau Blicke tauschten und übereinkamen, ihn für eine Nacht hier wohnen zu lassen, morgen aber müsse er weg.

Wieder auf seinem Zimmer, sendete Kcriss weiter, er war jetzt aufgewühlt und erzählte, Chen Qiushi habe hier über eine Woche gewohnt, bis zu seinem spurlosen Verschwinden, doch er selbst könne nur eine Nacht bleiben. Anschließend stellte er sein Handy auf Freisprechen, und alle Videozuschauer konnten hören, wie die Schwägerin des Managers sagte: »Bruder, es ist wirklich nichts zu machen, ich habe es überall versucht, per Telefon, per WeChat, aber niemand hat den Mut, Sie aufzunehmen. Zurzeit ist die Regierungsgewalt von der Stadt zu den Bezirken und von den Bezirken wieder zu den Wohnarealen in kleinste Stückchen runtergebrochen. Und alles ist abgeschottet und dichtgemacht, pro Familie, pro Haushalt darf innerhalb von drei Tagen nicht mehr als eine Person hinaus, mit ›Passierschein‹, um das Nötigste einzukaufen. In manchen kleineren Wohnarealen darf man, wie man hört, nicht einmal mehr das, das Management kauft nach einer einheitlichen Liste ein, setzt einheitlich die Preise fest, und du musst essen, was sie liefern, wie im Gefängnis … deshalb, ja, wohin sollen Sie als Auswärtiger? Aber die Polizei hat auch gesagt, wenn Sie morgen nicht verschwinden, werden sie ein Zimmer nach dem anderen durchsuchen, ich kann Sie nicht verstecken …«

 

Ein Sprichwort sagt: »Reisen acht Unsterbliche übers Meer, zaubert jeder auf seine Art.«* Kcriss hatte den Mut gehabt, beim Zentralfernsehen zu kündigen, und war trotz der Gefahr hierhergekommen, auch er zauberte auf seine Art. Mit der Hilfe unsichtbarer Freunde hatte er zunächst als freiwilliger Helfer Zugang zu einem Wohnareal bekommen und nach ein paar Tagen den Ort gewechselt. Außerdem hatte er sich einen privaten VW-SUV beschafft, dazu sein Pekinger Tonfall, die reguläre Schutzkleidung – wenn die Polizisten an den Kontrollstellen dieses verwöhnte Söhnchen reicher Eltern vor sich sahen, waren sie gleich um einiges konzilianter. Das Licht, die Luft der stillen Boulevards und Gassen waren für den Neuling Kcriss unglaublich schön und unglaublich tückisch …

 

Zunächst ging er daran, mit den Quellen der Meldungen auf WeChat und auf Weibo* Kontakt aufzunehmen. Es gab auch eine ganze Reihe von Zusagen, doch viele zogen dann doch wieder zurück, und er hatte nicht die Möglichkeit, einfach in irgendeine ortsansässige Familie einzudringen. Am 15. Februar fuhr er zum Baibuyating-Areal im Jianghan-Distrikt, wo zum chinesischen Neujahrsfest das »Gastmahl der zehntausend Familien« gefeiert worden war, und das nach dem Meeresfrüchtegroßhandel in Hua’nan die Infektionsquelle war, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich zog: Eine junge Frau hatte enthüllt, viele hätten sich dort angesteckt, weil aber entsprechende Nukleinsäuretests Mangelware gewesen seien, hätten sie keine Diagnose bekommen können und die unteren Verwaltungsebenen hätten Angst gehabt, die Zahl der Toten nach oben weiterzugeben, und sie deshalb geheim gehalten.

Und so eilte Kcriss zu diesem mit über zweihundert Hochhäusern und über einhunderttausend Einwohnern überdimensionierten Wohngebiet. Die umliegenden Geschäfte waren geschlossen, am Eingangstor Nr. 2 ging ein auswärtiger Staatsmedienreporter auf und ab, und die beiden probten gemeinsam den Aufstand, wurden jedoch immer wieder von der Torwache abgefangen; daraufhin wichen sie auf eine andere Zufahrt aus und waren, sich gegenseitig deckend, kaum hineingehuscht, als Sicherheitskräfte von verschiedenen Zufahrten herbeieilten. Kcriss, der sich auskannte, rief immer wieder: »Kommen Sie nicht näher! Halten Sie Abstand! Das ist sehr gefährlich, das verstehen Sie, ja? Was wollen Sie machen, wenn ich nicht mit Ihnen komme?« Die Sicherheitsleute waren konsterniert, ein Einwohner in einem Gebäude mit über zehn Stockwerken hatte ihn gehört, öffnete sofort ein Fenster und kam ihm zu Hilfe: »Warum jagt ihr Journalisten? Wir sitzen hier schon eine Ewigkeit fest, um Hygiene und Desinfektion kümmert sich kein Mensch …«

Kcriss wandte sich um und fragte, ob das stimme. Ein Mann, so etwas wie ein kleiner Beamter, antwortete ins Blaue hinein, sie hätten eine Liste für Putzdienst und Desinfektion. Da stürzten ein paar Hausfrauen aus dem Haus, um ihm diese Frage höchstpersönlich zu beantworten. Eine sagte: »Sie mit Ihrem Kehren und Desinfizieren, jeden Tag wird die Liste vor der Flurtür gecheckt, aber passieren tut im Grunde nichts, da riecht es nie nach Desinfektionsmittel, die Schalter am Aufzug sind voll mit Spinnweben. Früher sind wir alle drei Tage zum Markt am Haupttor und haben gekauft, was man zum Leben so braucht, dann sind die Leute gestorben wie die Fliegen, und wir haben uns nicht mehr hinausgetraut.«

Daraufhin fragte Kcriss, was sie über Kranke und Fieber in ihrem kleinen Wohnareal wüssten.

Die Frauen sagten, darüber wüssten sie nichts, sie könnten sich auch nur über WeChat untereinander informieren und schauen, an welchen Gebäuden ein Zettel »Fieberbereich« klebe, welche Familien in diesem »Fieberbereich« allerdings unter Beobachtung stünden, eine Diagnose erhalten hätten, ob jemand gestorben oder weggebracht worden sei zu einem der Behandlungscontainer, ins Krankenhaus oder ins Krematorium, das wüssten sie alles nicht. Die Regierung würde nie etwas bekanntgeben …

Mittlerweile waren es immer mehr Sicherheitsleute geworden, am Ende kam auch noch der Leiter der Gebäudeverwaltung herbeigeradelt und bestätigte, dass es bei den Tests Engpässe gebe, die Fieberfälle noch einmal zugenommen hätten und man ebenfalls auf Mitteilung von oben warten müsse – heute zum Beispiel seien für die über tausend Haushalte nur zwei Tests zugewiesen worden, morgen wäre es womöglich nur einer und übermorgen gebe es womöglich nicht einmal mehr den. Aber was wolle man machen? Man könne nur zu Hause in Quarantäne bleiben. Man sei auf sich allein gestellt, der Vorsitzende Mao habe ja gesagt, man solle ganz auf die Massen vertrauen.

 

Auf diese Weise zog nun Kcriss seine Kreise durch die Straßen und Gassen der umzingelten Festung, ohne in irgendeiner Weise behindert zu werden. Er stellte täglich Kurzvideos auf Twitter, in denen sich Tragödie und Absurdität mischten: So saß zum Beispiel ein Wachmann vor seinem Computer und sackte plötzlich seitlich weg, ging zu Boden, zuckte sekundenlang und regte sich nicht mehr; oder ein positiv getesteter Patient, den das Krankenhaus ausgesperrt hatte, beschmierte in einem Anfall von Wahnsinn einen kompletten Aufzug, spuckte um sich und brüllte, er werde sich rächen und noch mehr Menschen anstecken; ein alter Mann im Rollstuhl gab, nachdem er drei Tage und drei Nächte vor einem Krankenhaus in der Schlange gewartet hatte, ermattet auf und zog ab; und dann waren da noch das kleine Mädchen, das hinter einem Leichenwagen herlief, und der alte Mann in seinen Neunzigern, der vorwurfsvoll alle Welt anklagte, bevor er von einem Hochhaus sprang … Die letzte Konsequenz der häuslichen Isolation war nicht selten, dass eine Person positiv getestet wurde und die anderen ihr nicht ausweichen konnten. Ganze Familien wurden so ausgelöscht, entsprechende Nachrichten überschlugen sich, als kreisten schwarze Geier über der Stadt, und die Bewohner von Hunderten von Hochhäusern löschten gleichzeitig das Licht, öffneten die Fenster und heulten wie Wölfe: Huuhuu! Huuhuu!!

Die vierköpfige Familie Chang Kais, des Leiters der Film- und Fernsehabteilung und Regisseurs der Filmfabrik von Hubei, steckte sich innerhalb von 17 Tagen gegenseitig an, und am Ende war die gesamte Familie verschieden. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen:

In der Silvesternacht bin ich auf Geheiß der Regierung von der Liste des Neujahrsempfangs in einem Luxusrestaurant zurückgetreten. Versuchte, das Beste daraus zu machen und mit den betagten Eltern und meiner Frau einen fröhlichen Familienabend zu verbringen.

Niemand konnte ahnen, dass der Albtraum so nah war, am Neujahrstag hatte unser alter Herr Husten und Fieber, das Atmen fiel ihm schwer, in allen Krankenhäusern hieß es gleichermaßen, es seien keine Betten frei, an welcher Stelle wir auch Hilfe suchten, es war kein Bett zu bekommen.

Wir gaben schließlich auf, gingen nach Hause und versuchten, uns selbst zu helfen; wir taten am Krankenbett, was wir konnten, nach ein paar Tagen war die Lage jedoch hoffnungslos, und unser alter Vater hat in tiefer Trauer das Zeitliche gesegnet, unsere gute Mutter ist nach all den aussichtslosen Versuchen physisch und geistig zusammengebrochen, ihre Widerstandskräfte waren aufgezehrt, auch sie war schwerinfiziert und folgte unserem alten Vater.

Und nach den Tagen der Krankenpflege hat das Coronavirus gnadenlos auch meine geliebte Frau und meinen Körper verschlungen. Wir haben in so vielen Krankenhäusern buchstäblich um Hilfe gebettelt und gefleht, doch hast du nichts, bist du nichts, es gab keine Betten, es gab keine Hoffnung auf Heilung mehr, die Chance auf Behandlung war verpasst – mit schwerem Atem wende ich mich an meine Verwandten, meine Freunde und meinen Jungen im fernen Großbritannien: Ich war ein guter Sohn, ein verantwortungsvoller Vater, ein liebender Ehemann und ein ehrlicher Mann – mein Leben lang!

Das ist ein Abschied auf immer! An die, die ich liebe, und die, die mich lieben.

***

Am Abend des 19. Februar poppte auf Kcriss’ Handy auf einmal eine Internetanzeige auf, in der es hieß: »Leichenträger gesucht«:

Bestattungsinstitut in Wuhan sucht für heute Abend dringend 20 Leichenträger.

Arbeitsanforderungen: Bewerber beiderlei Geschlechts, im Alter von 16–50 Jahren, keine Angst vor Geistern, unerschrocken und körperlich robust.

Arbeitszeiten: null bis vier Uhr morgens, kurze Pausen.

Bezahlung: 4000 Yuan[*] für vier Stunden, Imbiss.

Treffpunkt: heute Abend 23.00 Uhr, Linie 2 an der U-Bahnstation Yangjiawan.