Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs - Liao Yiwu - E-Book

Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs E-Book

Liao Yiwu

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Beschreibung

Nach dem Erfolg von »Wuhan« erzählt der Friedenspreisträger und bekannte China-Kritiker Liao Yiwu nun eindrücklich von der Chinesischen Kulturrevolution: die Epoche, in der China zur Diktatur wurde. Im Geheimen entstand Liao Yiwus Roman "Die Liebe in den Zeiten des Mao Zedongs", der in großartiger Erzählweise den ganzen Widersinn Chinas in einem Leben und vier Liebesgeschichten umreißt. Yiwus großes Buch wurde noch im Gefängnis in Sichuan fertig gestellt und danach Seite für Seite als Kassiber hinausgeschmuggelt. Erst im Berliner Exil fanden die Einzelteile wieder zueinander. Dreh- und Angelpunkt der generationenübergreifenden Geschichte ist die Chinesische Kulturrevolution, die in ihrer Erbarmungslosigkeit zu den schwärzesten Perioden im letzten Jahrhundert zählt. Kinder verrieten ihre Eltern, Liebespaare denunzierten einander - die unterschwellige Angst des Verrats wurde zum täglichen Begleiter. So schildert der Autor authentisch und hautnah die Reise zur Entstehung der Willkür, die China heute erstickt.  »Liao Yiwu ist der wohl vielseitigste Chronist des zeitgenössischen Chinas.« Der Tagesspiegel

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Seitenzahl: 531

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Liao Yiwu

Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs

Roman

 

Aus dem Chinesischen von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann

 

Über dieses Buch

 

 

Liao Yiwu – Friedenspreisträger 2012

 

Im Geheimen begann Liao Yiwu im Gefängnis in Sichuan einen großen Roman. Seite für Seite wurden als Kassiber hinausgeschmuggelt. Erst in seinem Berliner Exil fanden sie zueinander. Es entstand ein Roman, der den ganzen Widersinn Chinas in einem Leben und vier Liebesgeschichten umreißt – die entscheidenden Jahre, in denen der Weg Chinas in die Diktatur unumkehrbar wurde.

 

»Ein Gesang vom großen Untergang und »engagierte Literatur im besten Sinne« (taz).

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

 

Hans Peter Hoffmann, Professor für Sinologie, ist Leiter des Arbeitsbereichs Chinesische Sprache und Kultur am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, freier Autor und Übersetzer. Er übersetzt seit 2009 die Werke von Liao Yiwu, seit 2017 gemeinsam mit Brigitte Höhenrieder, Sinologin, freiberufliche Übersetzerin und Universitätsdozentin für Interkulturelle Germanistik am gleichen Fachbereich.

Inhalt

[Widmung]

Eins Lang lebe der Vorsitzende Mao

Die Pilgerreise nach Peking

Die große Verbrüderung

Zerschlagt die Vier Alten

Rebellen und Royalisten

Der Tod der ersten Liebe

Zwei In die Berge, aufs Land

Umerziehung durch die armen und niederen Kleinbauern

Die Gebildete Jugend geht auf den Markt

Die Kommunistische Urgesellschaft

Buschfunk

Das Herz des Mädchens

Das Tier im Menschen

Eine eigene Existenzgrundlage

Dorflehrer

Missbrauch mit Folgen

Drei Die Flucht nach Tibet

Yang Dong, die Revolutionärin

Die Kolonne auf der Autobahn Sichuan-Tibet

Kangding – Zheduo-Gebirge – Kreisgefängnis Xinduqiao

Yajiang – Armeestation der Hochebene – Litang

Tshangyang Gyatshos Liebeslieder

Geliebte Zhuoma

Die blinde Danzhu

Die Flucht aus Tibet

Ein revolutionäres Wiedersehen

Der Vorsitzende Mao stirbt bei der Liebe

In Erinnerung an

Chinas Große Proletarische Kulturrevolution

vor fünfzig Jahren

1966 * 2016

EinsLang lebe der Vorsitzende Mao

Die Pilgerreise nach Peking

Der Zug keuchte und schnaufte und schnaufte und keuchte, bis er sich schließlich in Bewegung setzte. Zhuang Zigui beugte sich aus der Gepäckablage, in die er sich geflüchtet hatte, und sah hinunter auf ein wildes Gewoge aus Köpfen. Aus dem brodelnden Einerlei aus uniformierten Jugendlichen und Kindern schaute ein einzelnes Babygesicht herauf, die traurigen Kulleraugen voller Tränen, der zarte Körper schon fast so platt wie der einer Flunder. Zhuang Zigui höhnte: »Selbst schuld!« Dann konnte er allerdings doch nicht anders, er streckte die Hand aus und rief: »Komm rauf, Fräulein.«

Unter einem Konzert aus Buhs und Pfiffen wurde das Mädchen hinaufgezogen. Die enge Gepäckablage war bereits restlos überfüllt und ein kleiner roter Teufel kreischte mit schriller Stimme: »Ist das Mädel deine Alte?«

Die weinte so laut los, dass der kleine Affe es mit der Angst bekam. Zhuang Zigui räusperte sich und deklamierte in bestem Hochchinesisch: »Oberste Direktive: ›Von allen Enden der Welt sind wir zusammengekommen für das gemeinsame revolutionäre Ziel …‹« Einstimmige Bravorufe von allen Seiten, jemand klatschte sogar Beifall. Da auf einmal pappte ein klebriger Mund an Zhuang Ziguis Gesicht: »Bruder Hering, ich lasse Schwester Sardine den Vortritt.« Er stellte fest, dass es der kleine Kerl war, der ihn vorhin an den Ohren gezerrt hatte, nahm die Armeemütze ab und platzierte sie auf dessen zum Himmel stinkender Birne als Belohnung für seine große Hilfsbereitschaft: »Von jetzt an werde ich dich Kleiner Lei Feng[1] nennen.«

So verbrachten sie drei Tage und Nächte, Kopf an Kopf auf der Gepäckablage, lediglich wenn sich Hunger meldete oder der Bauch schmerzte, stiegen sie hinunter, zum Essen oder zum Klo. Über die Rundfunklautsprecher kam nichts als Lieder mit Worten des Vorsitzenden Mao, rund um die Uhr, was auf Zhuang Zigui extrem einschläfernd wirkte, das Mädchen jedoch, das irgendwas mit »hong«, »rot«, hieß, summte die Melodien begeistert mit, wobei ihre dünne Stimme allerdings nicht kräftig genug war, um gegen die imposanten Marschrhythmen anzukommen. Zhuang Zigui schien ihr Summen voller Schwermut, es war das erste Mal, dass er jemanden mit einer so unsäglichen Traurigkeit ein Revolutionslied anstimmen hörte, doch er empfand es als wohltuend. Auch wenn es zur überbordenden revolutionären Leidenschaft in Zeiten Mao Zedongs nicht so recht passen wollte.

Zhuang Ziguis Erinnerung begann mit einer Kritikversammlung. Weil er in Peking vom Großen Vorsitzenden und Führer Mao empfangen werden wollte, musste er eine strenge, die tiefsten Tiefen der Seele ergründende Überprüfung seiner revolutionären Gesinnung über sich ergehen lassen, sich wie andere Abkömmlinge von dunklen Elementen vor allen Leuten in den Finger beißen und mit Blut unterschreiben, dass er entschlossen seine zur Ausbeuterklasse gehörende Familie preisgeben werde. Danach brachte er seine überdrehte Mutter, die das ganze Jahr mit einem großen Strohhut auf dem Kopf umherspazierte, in die Psychiatrie und sprang bei der Massenversammlung zur Truppenvereidigung für die »Zerschlagung der Zeitungskolumne Sanjiacun«[1] allen voran auf die Bühne und versetzte seinem Vater, der dort in einer Ecke am Pranger stand, eine Ohrfeige, woraufhin dieser sich langsam umdrehte und, als er ihn sah, voller Mitgefühl rief: »Xiao Gui, mein Junge!«

Doch der warf ihm aus lodernden, blutunterlaufenen Augen nur einen hasserfüllten Blick zu, und auf dem Platz brandete stürmischer Beifall auf. Er stand wie versteinert, als habe ihn der Ausruf des Vaters sacht in eine ferne, stillere Welt versetzt, verwandelte sich zuletzt selbst der tosende Beifall, umwuchs seine Ohren mit dem Namen seiner Kindheit: »Xiao Gui, Xiao Gui, Xiao Gui …« Als ihm zwei Tränen aus den Augen liefen, zog der Versammlungsleiter ihn schnell zur Seite. Er wurde als Musterbeispiel für die »Auflehnung der Söhne gegen die reaktionären Väter« vom Fleck weg in die Organisation der Roten Garden aufgenommen und übernahm den Posten eines für Propaganda zuständigen Unterführers.

Bei der Durchsuchung seines Zuhauses war er wieder der Erste und übergab sämtliche Meisterwerke der Literatur, aus China und aus dem Ausland, älteren und neueren Datums, die sein Vater über die Jahre gesammelt hatte, den Flammen. Fortan kannte er im Kampf für die gerechte Sache keine Verwandten mehr, er zog aus, quartierte sich im Rundfunksender des Hauptquartiers der Roten Garden ein und stürzte sich mit Leib und Seele an die vorderste Front. Zwei Monate später allerdings, es war mitten in der Nacht, fühlte er sich mit einem Mal erschöpft und einsam und stahl sich heimlich nach Hause, nur um dort rasch nach dem Rechten zu sehen. Das Eingangstor war versiegelt, er linste durch einen Spalt, hörte jedoch nur die Mäuse fiepen. Ihm wurde schwer ums Herz, er lehnte den Kopf gegen das Tor und weinte. Ein schwacher Atemzug schreckte ihn schließlich auf, rasch wischte er die Tränen ab, drehte sich um und stand vor einem großen, ihm nur allzu bekannten Strohhut, unter dem die Augen seiner Mutter funkelten, er atmete auf. Über der blassen Straßenlaterne war tiefe Nacht, die Mutter schien wie vom Himmel gefallen, ganz in Schwarz wirkte sie vornehm und wie aus einer anderen Welt. Zhuang Zigui schaute sich vorsichtig in alle Richtungen um und zog die Mutter zur Seite. Als sie ihrem Jungen liebevoll das Gesicht streichelte, brachte Zhuang Zigui eine Weile kein Wort heraus, er presste Mutters Finger an seine Lippen und ließ angenehm kalte Luft von hoch droben vom Himmel über die Zungenspitze in sich hineinsinken, tiefer und tiefer, in den Leib, durch den ganzen Körper, und er hatte das undeutliche Gefühl, dass auch die Mutterliebe eine irgendwie heulsusige Religion war.

Wie von Geisterhand geführt, zog er mit seiner Mutter durch die Gegend, bis im Morgengrauen die Sonne rot und strahlend am Horizont aufströmte und ihn aus der romantischen Sentimentalität seiner Kindheitsträume riss. Rasend schnell breitete die Welt der Wandzeitungen und roten Fahnen sich wieder vor ihm aus und stimulierte seine Nerven. Die roten Dämonen ergriffen erneut Besitz von ihm und er bedachte seine Mutter mit einem hasserfüllten Blick. Der Mutter kippte, als hätte sie ein Stromschlag getroffen, der Kopf nach vorn und der Strohhut glitt zu Boden. Da entdeckte er das Rouge auf den blutleeren Wangen dieses Gerippes aus Haut und Knochen, und die Lippen knallten ihm entgegen wie Klatschmohn. Zhuang Zigui dachte an diese Nacht damals, er war noch ein Kind und es schneite, als seine Mutter vor Mann und Sohn um ihren im Gefängnis gestorbenen Geliebten bittere Tränen vergoss. So war seine Mutter, das war die harte, ungeschminkte Realität! Noch immer trug sie Make-up und Puder, war immer noch Ausbeuterklasse durch und durch – diese verkommene, übergeschnappte Person, warum musste sie ausgerechnet seine Mutter sein?! Er packte sie und brachte sie zurück in die Klinik.

Auch dort wurde Revolution gemacht und die Ärzte trugen grüne Militäruniformen über den weißen Kitteln. Zhuang Zigui stürzte auf den Pförtner zu und brüllte: »Oberste Direktive: ›Sterbenden helfen, Verletzte heilen, für einen revolutionären Humanismus‹. Kämpfer der Nachtpatrouille der Roten Garden der Jinggang-Berge bringt eine entlaufene Patientin zurück.« Der Pförtner stand krachend stramm und gab mit noch lauterer Stimme zurück: »Unser großer Führer, der Vorsitzende Mao, lehrt uns: ›Dem Volke dienen.‹ Ich übernehme!« Daraufhin griff er mit fester Hand nach der Mutter und marschierte wie aufgezogen zur Eisentür am Ende des Korridors, eins, zwei, eins, zwei, hohl und monoton hämmerten die Schritte gegen Zhuang Ziguis Stirn.

Bis plötzlich wahnsinnige Schmerzensschreie aus dem Sprechzimmer links, die Tür war nur angelehnt, hervorbrachen, Zhuang Zigui ablenkten, er die Tür aufschob, hineinging und wie vom Donner gerührt stehen blieb. Einer der Rebellen mit roter Armbinde stand da als »Goldener Hahn auf einem Bein«, eine Kampfsportfigur, und klatschte seinen freien linken Fuß einem älteren Mann immer mitten ins Gesicht, es war in höchstem Maße artistisch, denn, wie der andere auch auswich, die Fußsohle traf jedes Mal präzise und mit einem lautem Patschen. Dem Alten klebte schon Blut an Mund und Nase, ein blutiger Backenzahn lag auf dem Boden. Zhuang Zigui konnte nicht an sich halten, er rief: »Oberste Direktive: ›Kämpfe mit Worten, nicht mit Gewalt.‹« Der magische Fuß blieb mitten in der Luft stehen: »Unser großer Führer, der Vorsitzende Mao, lehrt uns: ›Reaktionären Abschaum muss man prügeln, sonst kriegt man ihn nicht klein.‹ Dieser Ausbund an Unverschämtheit ist Leiter dieser Klinik, Autorität der reaktionären Wissenschaften, und will ums Verrecken nicht gestehen, habe ihm deshalb eine Lektion erteilt.«

Der Meister der Kampfkunst bemerkte, dass Zhuang Zigui noch immer seinen Fuß im Visier hatte, drehte ihn im Halbkreis über den Kopf des Alten weg und legte ihn auf dem bereitstehenden Schreibtisch ab: »Ich bin in der Klinik hier Chef der ›Kampftruppe Januarsturm‹, das Kungfu hier, mit Fuß statt Hand, habe ich lang geübt, gut und gern zehn Jahre, an den Visagen der Irren hier. Wenn das Gesocks vor Bazillen nur so stinkt, dann gibt’s keine Spritzen und keine Elektrotherapie, da gibt’s was hinter die Ohren, mit meiner berühmten Fußtechnik, da werden selbst die bockigsten Kerle zu braven Lämmern. Und jetzt, wo man mit diesen verkommenen Rinderdämonen und Schlangengeistern endlich echten Spielraum für so ein heldenhaftes Können hat, da soll ich auf einmal die Hand nehmen?«

Zhuang Zigui wurden die Knie weich, als er begriff, was er seiner Mutter angetan hatte, indem er sie in die Obhut dieses Tyrannen abschob. Er fragte sich plötzlich, wie weit diese Große Kulturrevolution wohl gehen werde, und sogleich wurde ihm wiederum klar, was für ein Verbrechen allein schon dieser Gedanke war. Schweißgebadet biss der große Junge von gerade siebzehn Jahren die Zähne zusammen und fasste den Entschluss, hart an der Veränderung seiner Weltanschauung zu arbeiten.

Schließlich erhielt Zhuang Zigui die Erlaubnis, als offizieller Vertreter der Roten Garden der Jinggang-Berge in die Hauptstadt zu pilgern.

Die Reise wäre fast nicht in Gang gekommen, denn der Bahnhof war durch die Revolution lahmgelegt, es gab keine Kontrolleure mehr, ein endloses grünes Menschenmeer schwappte über die Fahrkartenkontrollstelle und strömte dem Zug entgegen, der asthmatisch schnaufend auf den Schienen lag und, wie es Zhuang Zigui schien, immer tiefer in den Boden sank. Aus den Lautsprechern kamen endlos Aufrufe: »Kameraden! Genossen! Stärkt die Disziplin, Sieg der Revolution!!« – »Achtet auf eine Handvoll Klassenfeinde und ihre Sabotageakte!!« Die Zugtüren waren durch die kräftigen, großen Kerle blockiert. Also stieg man auch durch die Fenster ein, ein paar großgewachsene Rotgardisten drückten Zhuang Zigui hinein, Kameraden, die schon drinnen waren, zogen nach Kräften, eine kleine Rotznase wollte ebenfalls helfen und zerrte Zhuang Zigui mit verbissenem Eifer an den Segelohren, bis der laut aufheulte: »Verdammte Scheiße, ich bin doch aus Fleisch und Blut!« Drinnen wie draußen wurde schallend gelacht: »Und wir dachten, du gehörst zum Gepäck!«

Zhuang Ziguis Hose war zerrissen, aber er schenkte dem keine weitere Beachtung, hockte sich schnell auf den kleinen Klapptisch am Fenster und zog seinerseits an einem Mädchen, in etwa so alt wie er, das ihn, als es sich hereingezwängt hatte, sehr direkt anlachte und zwei vorstehende Eckzähne sehen ließ. Der ganze Zug war eine einzige schwüle, diesig-dampfende Waschküche, über Wangen und Nacken der Leute rannen Ströme von Schweiß, auch Zhuang Zigui war patschnass und hielt dennoch sein zerkrumpeltes kleines Handtuch, das er hervorgekramt hatte, dem Mädchen hin. Es schüttelte den Kopf, fischte ein eigenes, gemustertes Taschentuch, ordentlich gefaltet, heraus und fächelte sich Luft zu, ein neckisch gelockter Haarschopf platzte unter der Armeemütze vor. Verblüfft musste Zhuang Zigui über dieses Gehabe lachen, das sie wie eine Kinderpuppe aus dem Westen aussehen ließ. Er nahm seine Mütze ab und demonstrierte ihr, was für einen kräftigen Wind er damit machen konnte, das Mädchen gab ein »Dankeschön« von sich, ließ das Taschentuch Taschentuch sein und nahm mit fast geschlossenen Augen seine freundliche Aufmerksamkeit entgegen. So hochzufrieden mit sich und der Welt, wirkte sie wie eine Prinzessin. Darüber ärgerte sich Zhuang Zigui und schimpfte grimmig: »Ein gnädiges Fräulein Kapitalistin!« Dann kletterte er allein auf die Gepäckablage und rückte dort mit ein paar anderen klapperdürren jungen roten Teufeln zusammen.

 

Keuchend und schnaufend, schnaufend und keuchend hatte sich der Zug endlich in Bewegung gesetzt. Während der Kleine Lei Feng bäuchlings auf seinen angewinkelten Beinen schnarchte, spürte Zhuang Zigui tief in sich ein Verlangen aufsteigen. Gern hätte er diesem Mädchen Zärtlichkeiten zugeflüstert, niemals zuvor hatte er solche Gefühle gehabt. Nach seiner Mutter war sie das erste weibliche Wesen, dem er jemals nahegekommen war. Das Gesicht der Mutter unter dem großen Strohhut allerdings erschien in der roten Wirklichkeit dieses weiten Landes mit seinen Flüssen und Bergen hässlich, aus der Zeit gefallen. Mit fast geschlossenen Augen schaute er zur Decke des Abteils, als könne er auf diese Weise über die Köpfe hinaus, die sich so dicht aneinanderpressten, dass kein Lüftchen mehr durchpasste, aufsteigen in eine ruhige, einsame Tempelhalle. Und die Heilige Mutter, die ihm dort die Beichte abnähme, tröstete ihn, verstünde ihn und fühlte mit ihm, alles. Leise erzählte er, hastig, unzusammenhängend. Wie er dem Vater gegenüber schuldig geworden war, er liebe ja den Vorsitzenden Mao, liebe aber auch seinen Vater und begreife nicht, wann der Vorsitzende und sein Vater in Widerspruch zueinander geraten konnten. Er offenbarte das Geheimnis, dass er mit seiner Mutter, die aus der Familie eines Warlords kam, eine Nacht lang in der Stadt herumgezogen war. Wie traurig es doch mit den Eltern sei, die ganz in der Vergangenheit lebten, in einer hoffnungslosen, unerwiderten Sehnsucht. Er selbst habe ja einst mit ihnen Mitleid gehabt, insgeheim, was beweise, dass auch er noch durch und durch ein Bastard sei. Auch Mitleid zeige den Klassencharakter, Mitleid mit den Eltern sei Verrat an der Revolution. Aber seine Verehrung für den Vorsitzenden Mao, die er geschworen habe, sei aufrichtig und übersteige alles andere, und er frage die Heiligselige Mutter, die noch keinen Ton gesagt habe, ob er es denn verdiene, beim Empfang des Vorsitzenden Mao dabei zu sein. Feige kleinbürgerliche Gefühle könnten nämlich im entscheidenden Augenblick die Interessen der Revolution verraten. Während er sich in diesem Hin und Her erklärte und aussprach, was immer ihm gerade in den Sinn kam, vergaß er ganz, wo er war, wer er war und was er vorhatte. Das war hier eine Gelegenheit, die man nicht alle Tage bekam, inmitten der großen roten Welle konnte er seinen schweißtriefenden Nacken aufrichten. Der Schatten seiner Familie lastete schwer auf seinem Leben, warum war er nicht in eine Arbeiterfamilie mit bitteren Ressentiments geboren worden? Klar, leichtfertige und selbstsüchtige Gedanken musste er sich auf dieser Pilgerfahrt entschieden abgewöhnen, sonst verdiente er es wirklich nicht, am Torturm auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu stehen. Er fragte sie: Ist das Herz des Menschen am Ende rot oder schwarz? Gibt es überhaupt reines Rot oder reines Schwarz?

 

Eine kleine Hand streichelte sein Gesicht, er wagte nicht, die Augen zu öffnen, aus Furcht, das Blinzeln der Wimpern könne sie verschrecken. Der Zug war in einen endlosen Tunnel eingefahren, ein langer, schwer schnaufender Revolutionswurm, der ans andere Ende der Welt zu wollen schien, mit Passagieren, die im Halbdunkel einem wilden Durcheinander grüner Insekten glichen. Auch der Rundfunk war verstummt, vermutlich brauchte der Sprecher eine Mittagspause, selbst diese menschlichen Maschinen mit ihren eisernen Kehlen wurden irgendwann müde. Für Zhuang Zigui aber war die Ruhe dieses Augenblicks ein Wunder, das die kleine Hand bewirkt hatte, so klein also war die Hand eines Mädchens, noch nie war er mit einer so weichen, kleinen Hand in Berührung gekommen. Er biss die Zähne zusammen, um nicht zu schluchzen, die Tränen reizten ihm die Kehle, und er musste husten, was zahlreiche erstaunte Blicke auf ihn lenkte und ihm, obwohl er gleichzeitig im siebten Himmel schwebte, unendlich peinlich war. Aber auch Weinen konnte ein Genuss sein, dieses in einer abartigen Familie aufgewachsene Kind hatte siebzehn Jahre lang viel zu selten geweint, in seiner Erinnerung war das sogenannte Weinen nicht mehr als ein starres Froschgesicht mit aufgerissenem Mund, nichts weiter.

Immer mehr Tränen flossen, die gut und gerne den ganzen Zug, ja, die ganze rote Welt hätten überfluten können. Zhuang Zigui halluzinierte zahllose weinende Menschen, hinter den fanatischen Gesichtern zahllose rotgeschwollene Augenpaare, an der Oberfläche des weiten Ozeans der Revolution schwamm Blut, darunter waren Tränen, und inmitten der Tränen bewegte sich eine Hand, eine Hand, die zierlich wie ein Fisch und zärtlich wie eine Meeresalge in mattem Lichtschimmer auf ihn zu schwamm. Seine rissigen Lippen saugten die Hand heran, und die Elfe, fünf Schweife hinter sich herziehend, machte halt an dem Riff seiner Wange und bog behutsam um seine Nasenspitze herum. Weil er fürchtete, sie könne verschwinden, zeigte er die Zähne und schnappte sie sich vorsichtig. »Guigui!«, hörte er ein schwaches Vibrato herabschweben wie fernes Laub, das Abteil war fort, ringsum gab es nur noch Laub, nur noch … Laub … er biss sanft zu, Zungenspitze berührte Fingerspitzen, wich rasch zurück. Er zitterte am ganzen Körper, warmes Verlangen jagte ihm von der Zungenwurzel bis in die Fußsohlen.

»Armer Guigui!«, seufzte das Mädchen leise, ohne ihre Hand zurückzuziehen, sie hatte ihn beißen lassen und das Verlangen wie von einem kleinen Tier drang durch die Schneidezähne in ihr Herz.

Sie wussten damals nichts davon, dass das »erste Liebe« genannt wurde. Zu Zeiten Maos gab es nur revolutionäre Genossen und einen gemeinsamen revolutionären Standpunkt, doch für diese kleine Hand, diese fünfschweifige Elfe, hätte er jederzeit sein Leben gegeben. Außer dem Vorsitzenden Mao gab es also für ihn noch etwas, wofür er sich ohne jedes Zögern opfern konnte.

Der Zug erreichte die Hauptstadt kurz nach zwei Uhr nachts, die Sterne funkelten kalt, im und um den Bahnhof aber herrschte eine Bruthitze. Allerlei Rotgardisten-Organisationen aus allen Teilen des Landes pflanzten ihre roten Fahnen auf, ließen sie im Wind flattern und riefen pausenlos über Megafon verlorengegangene Kameraden aus. Eine lange Reihe großer Schilder von Auffangstationen schaukelten vor Lastwagen und Bussen hin und her, die so dicht standen, dass kein Durchkommen war, und Dutzende Lautsprecher überboten sich in enthusiastischen Lobgesängen wie: »Kameraden der Revolution, Genossen der Revolution, alle Völker der Welt sehnen sich Tag und Nacht nach unserer Hauptstadt Peking, hier bei uns ist der Ort, an dem die allerröteste rote Sonne unserer Herzen aufgeht.«[2]Zhuang Zigui hatte vor zwei Jahren den alten sowjetischen Film Lenin 1918 gesehen und fand, dass das nächtliche Peking dem Moskau des Films recht ähnlich war, wobei er natürlich nicht wissen konnte, dass die chinesische Revolution generell nichts anderes tat, als Westliches abzukupfern und es mit Einheimischem zu verschmelzen.

Das Mädchen, das zusammen mit ihm unterwegs gewesen war, hieß Nie Honghong, besuchte in seiner Nachbarschule die zweite Klasse der Oberstufe und stammte aus der Arbeiterklasse. Ihr musikalisches Talent sowie ihr zartes Wesen waren andererseits auf Eltern zurückzuführen, die in einem Werk für Musikinstrumente Klaviere reparierten. Die Rotgardisteneinheit »Fordert mutig neuen Himmel ein«[3], in der sie Mitglied war, war eine Partnerorganisation von Zhuang Ziguis Einheit, weshalb sie, nicht ohne der Gruppenleitung zuvor vorgemacht zu haben, Zhuang Zigui sei ihr Cousin, bei ihm bleiben konnte. Der Kleine Lei Feng war von seinem älteren Bruder abgeholt worden, und das Teenager-Pärchen vermied, um den Vorsitzenden Mao nur ja nicht mit persönlichen Gefühlen zu entweihen, tunlichst jeden Blickkontakt. Zhuang Zigui warf sich zur Strafe mit gesteigertem revolutionärem Kampfgeist in die Bewegung. Als die Rotgardisten erfuhren, dass der Vorsitzende Mao noch am gleichen Morgen zum achten (und letzten) Mal seine Kleinen Generäle empfangen werde, schlugen die Wellen der Erregung hoch und noch in der Nacht ging es in Scharen zum Platz des Himmlischen Friedens. Große und kleine Fahrzeuge waren schnell von anderen Rebellenorganisationen mit Beschlag belegt, jeder Trupp wollte der erste sein. Da war es Zhuang Zigui, der geistesgegenwärtig mit dem Blechmegafon, das er bei sich trug, seine Leute aufrief, in der ruhmreichen Tradition der 25000 Meilen des Langen Marsches der Roten Armee aus der Nacht heraus in den roten Sonnenaufgang auf dem Platz hineinzumarschieren. Zu den klangvollen Parolen, die er ohne Unterlass skandierte, trabte alles in die gleiche Richtung los, ein geordneter Marsch, der bei Passanten vielfach anerkennendes Staunen erregte. Zahllose andere Einheiten von Roten Garden, die eben angetreten waren, nahmen sich an ihnen ein Beispiel und rannten mit schnellem kurzem Schritt hinter ihrer kleinen Einheit von gut zehn Leuten her. Wurde man müde, fiel man eine Weile in Gleichschritt und sang, so laut es ging, das Lied: Wir Rotgardisten sehnen uns nach dem Vorsitzenden Mao.

Zhuang Zigui schielte zu Nie Honghong hinüber, ihrem wie eine Weide schwingenden Körper, sie rang nach Luft, aber im Licht der Straßenlaterne kräuselte sich auf ihrem Gesicht ein zartes Lächeln. Er fühlte eine tiefe Befriedigung – die harmonische Einheit von allgemeiner Revolution und privater Liebe, musste das zu Zeiten Maos nicht das größte Glück sein?

 

Der Platz des Himmlischen Friedens frühmorgens um vier: Im diffusen Licht der Laternen strömen die Menschen in Erwartung des Empfangs durch den Vorsitzenden Mao aus allen Richtungen vor die Jinshui-Brücke am Haupttor der Verbotenen Stadt, Lobgesänge branden auf, Slogans aus den Lautsprechern reden dazwischen. Dem gegenüber steht wie das müde Auge Gottes der Haken des abnehmenden Mondes am bodenlosen Himmel und schaut von oben herab, der Platz gleicht einem Kessel voll Menschenfleisch, schwimmend in schäumendem Öl, das mit dem herannahenden Tagesanbruch immer heißer werden wird. Das Große Vortor und das Tor des Himmlischen Friedens sind seine Griffe, und das Denkmal für die Helden des Volkes, das in seinem Zentrum aufragt wie ein zum Himmel erigiertes männliches Genital, schickt die menschliche Vorstellung in graue Vorzeiten zurück – Urahnen, in Tierfelle gehüllt, umringen einen primitiven Totempfahl und beten in Trance für ewige fruchtbare Vermehrung. Die Herbstwinde wirbeln die weiten Ärmel des Kosmos, ebnen leichthin die gigantische Kluft von Jahrtausenden ein. Mit den Windstößen dringt uralter Wahnsinn in die blutunterlaufenen Pupillen der Zeitgenossen, von damals bis heute, von hier bis dort, vom Anfang bis ans Ende. Aug in Aug steht man sich in weiter Ferne gegenüber, bis schließlich alle Augen durch und durch gerötet sind und kollektive Erschütterung die Ergriffenheit des Individuums ersetzt.

Es war die eindrucksvollste Götzenverehrung auf der Erde des zwanzigsten Jahrhunderts.

 

Zhuang Ziguis kleine Einheit wurde schon am ersten, dem Großen Vortor aufgehalten, zwischen ihnen und dem Turm am Tor des Himmlischen Friedens erstreckte sich noch der gesamte Platz. Die Leute zankten sich, alle führten für die eigene Argumentation oder Rechtfertigung die tief vertrauten Worte des Vorsitzenden Mao im Mund, jeder wollte möglichst nah und von bester Stelle aus zu dem wohlgenährten Gesicht aufschauen, das Glück für ein ganzes Leben bedeuten konnte. Doch es war leichter gesagt als getan, dieses gigantische Meer von Menschen zu durchqueren! Nie Honghong fürchtete, im Gedränge verlorenzugehen, und klammerte sich eisern an Zhuang Ziguis Militärgürtel fest. Das Kommandosystem vor Ort war ausgefallen (möglicherweise hatte sich der Sprecher auch einfach die Stimmbänder zu Schanden geschrien), und Tausende Mitarbeiter traten, wie Ertrinkende wild mit den Armen rudernd, den Rückzug an. Die Roten Garden hingegen rollten unaufhaltsam weiter voran, und auch Zhuang Zigui war mit eindrucksvoller Ausdauer dem Heldendenkmal am Ende immer näher gerückt. Nie Honghongs entkräfteter Körper klebte an seinem Rücken, ihr Geist und ihre Körper waren miteinander eins geworden, wie alle anderen in diesem kollektiven schwindelerregenden Wirbel miteinander eins wurden.

Um fünf Uhr in der Früh begann aus dem Lautsprecher an der Südostecke des Heldendenkmals eine dynamische Soldatenstimme den gigantischen Mob herumzumanövrieren, sämtliches Personal auf dem Platz hielt sich wie von selbst und ohne vorherige Absprache an seine Anweisungen, und das wilde Durcheinander der Kleinen Rotgardistengeneräle trat in einigen übergroßen Phalangen an. Quadrat Region Südwest befand sich direkt beim Denkmal, Zhuang Zigui schaute sich nach einer Verschnaufpause ein wenig um und bemerkte erst jetzt, dass nach dieser »blutigen Schlacht« von den gut zehn Leuten ihrer kleinen Einheit nur noch vier, fünf übrig waren. Die hingen herum wie gekochte Nudeln, nach drei Tagen und Nächten auf Achse und stundenlangem enthusiastischem Marschieren war mancher, kaum dass man hier gelandet war, eingeschlafen. Wie zum Auftakt eines noch größeren Tschingderassabum war es auf dem Platz für den Augenblick vollkommen still. Zhuang Zigui spürte plötzlich ein dringendes Bedürfnis, die Toiletten befanden sich jedoch jenseits des gigantischen Menschenmeers. Er hielt die Nase in den Wind wie ein Hund und drehte sich in die Richtung, aus der jener ganz besondere Geruch kam, musste, als er los wollte, allerdings feststellen, dass Nie Honghong, seinen Gürtel immer noch eisern umklammernd, an der Steinbalustrade eingeschlafen war.

Er legte ihr sein zusammengerolltes Reisebündel als Kissen unter den Arm, zog ihr die Kappe so weit herunter, dass der Schirm ihr Gesicht verdeckte, und ging um die Balustrade herum. In Gruppen verrichteten die Jungs dort, wo immer Platz war, nacheinander ihr kleines Geschäft, und hinter der Menschenwand stiegen weiße Dampfschwaden auf. Zhuang Zigui wartete einen Augenblick, hielt dann, konspirativ wie im Untergrund, in alle Richtungen Ausschau, wann jemand Anstalten machen würde, sich abzusetzen, und schloss diese Lücke schließlich mit einem schnellen Satz. Als er seinen kleinen Kerl endlich draußen hatte und laufen ließ, schnurrte sein Unterleib zischend zusammen. So lange hatte er es sich sein Lebtag noch nicht verkniffen, keine derartige Erleichterung hatte ihm bisher so gutgetan.

Zurück an ihrem Platz sah er, dass Nie Honghong mit gerunzelter Stirn dahockte und sich, ein Bild des Jammers, den Bauch hielt. Er bückte sich und sagte: »Hey, was ist los mit dir?«, sie kämpfte dagegen an, rot zu werden, schüttelte den Kopf und nickte gleich darauf panisch. Zhuang Zigui konnte sich keinen Reim darauf machen und fragte noch mal, was los sei, sie schnitt in größter Not Grimassen und wand sich noch eine halbe Ewigkeit, bis es aus ihr herausplatzte: »Mädchensachen!«

Es gab in der Nähe keine anderen Mädchen, Zhuang Zigui stand völlig begriffsstutzig da, wie ein Volltrottel registrierte er ihr Nicken und Kopfschütteln: »Was haben denn Mädchen für Sachen?«

Nie Honghong wedelte schließlich mit einer Damenbinde.

»Musst du groß?«

Nie Honghong tippte ihm wütend mit dem Finger an die Stirn: »Du, du – du bist echt dümmer als ein Schwein!«

Nach einigen Minuten verstand Zhuang Zigui endlich, was sie meinte, und wurde puterrot. Er führte sie in eine Ecke am Sockel des Denkmals und weckte die Kameraden, die dort versteckt geschlafen hatten; völlig geistesabwesend standen sie auf, stellten sich, Gesicht nach außen, in einem Halbkreis vor die Ecke und Nie Honghong konnte sich hinhocken. Als an einer Turmdachschwinge am Tor des Himmlischen Friedens die Dämmerung als marmorweißer Streif anbrach, fragte Zhuang Zigui nervös: »Fertig?« Doch erst nach mehrmaligem Drängen kam Nie Honghong wieder zum Vorschein. Zhuang Ziguis Blick fiel unwillkürlich in die Ecke auf ein blutgetränktes Etwas in einer Pfütze Urin, und etwas Kleines zwischen seinen Beinen schnellte auf, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, ein unbekanntes Ziehen schoss ihm von unterhalb des Nabels in sämtliche Glieder. Der große Junge hatte erstmals Einblick in die Geheimnisse einer Frau erhalten, er war völlig derangiert, ließ sich aber nichts anmerken und richtete seinen Blick in die Ferne. Dort schlängelten sich rote Mauern dahin und schwaches Morgenlicht breitete sich von schräg oben über ihre Zinnen aus, die Straßenlaternen verblassten. Im mächtigen Schatten der Verbotenen Stadt kam es in den grünen Quadratformationen von Zeit zu Zeit zu Unruhe, hier und dort tauchten von Menschenmauern umbaute Toilettenkübel auf, und im Wind trieben feine Urinwolken dahin. Zhuang Zigui bemerkte, wie diese Notmaßnahme allgemein aufgegriffen und zu einem unsichtbaren Produkt kollektiver Intelligenz wurde. Er grinste, doch gleich wurde ihm siedend heiß klar, dass das ein Standpunktproblem war, und ihm brach der kalte Schweiß aus. In diesem Augenblick schallten die ersten Takte des Liedes »Der Osten ist rot« über den Platz.

Strahlend kam eine rote Sonne heraus, was die Millionen Pilger allerdings völlig kalt ließ, denn in einer Zeit, die alles Materielle verachtete, war es nicht die natürliche Sonne, die man willkommen heißen wollte. Auch wenn man noch jeden Tag essen, trinken und seine Notdurft verrichten musste, hatte man längst vergessen, dass der Mensch zum Überleben auf Luft, Sonne und Wasser notwendig angewiesen war. Der Vorsitzende Mao war der Herr selbst noch über Luft, Sonne und Wasser, und ohne ihn, den ehrwürdigen Herrn Vorsitzenden würde man, so jedenfalls sagten es die offiziellen Zeitungen, wie die Bevölkerung Taiwans durch Feuer gehen und im Wasser ersaufen. Um acht Uhr hörte man aus allen Richtungen Trillerpfeifen, die Kleinen Generäle der Revolution wurden aus ihren Träumen gerissen, schüttelten Reste von Mantou-Hefebrötchen, Keksen und Mixed Pickles ab, standen auf, bliesen die Backen auf wie Fische, denen Sauerstoff fehlt, und konnten das Aufgehen der Sonne des reinen Geistes, die die Welt der schwer arbeitenden Massen wachrütteln würde, kaum mehr erwarten. Genau in diesem Augenblick erwachte jene fleischliche und ganz normal sterbliche »Sonne« im labyrinthhaften Regierungsbezirk Zhongnanhai, ließ sich, eine Hand in der Hüfte, in der anderen eine hochwertige Edelzigarette, von einer hoch aufgeschlossenen jungen Krankenschwester mit mächtigem Busen die im Schritt besonders weiten Unter- und Überhosen anziehen und schickte sich an, aus dem nach außen recht durchschnittlichen ebenerdigen Haus zu treten und in aller Herrlichkeit über seine Untertanen, immerhin ein Viertel der Erdbevölkerung, zu strahlen.

Nie Honghong war, wie es bei zarten Mädchen passieren kann, durch die allzu große Erschöpfung der Monatszyklus durcheinandergeraten. Ihre Lippen waren blutleer, die Augenhöhlen eingefallen. Trotzdem hatte sie sich sehr sorgfältig zurechtgemacht, das nach der Mode der Kulturrevolution sportlich kurze Haar hatte sie vollständig unter den Rand der Mütze geschoben, um möglichst männlich auszusehen. Sie rückte eine halbe Ewigkeit ihre Armeemütze zurecht, ihr Gesicht, kalt wie Eis und Schnee, war reiner, heiliger Glanz, sie wirkte in frappierender Weise wie eine Märtyrerin auf dem Weg in einen heroischen Tod. Was eine junge Frau ausmacht, runde Brüste und eine schmale Taille, war bei ihr fast zur Gänze verschwunden, und das Mädchen, das vorhin im Freien seine Notdurft verrichtet hatte, schien eine andere Person gewesen zu sein.

Wie auf Befehl zog auf dem Platz alles die rote Mao-Bibel heraus (das milliardenfach aufgelegte kleine Buch mit dem Titel Worte des Vorsitzenden Mao), überall in den smaragdgrünen Phalangen wehten blutrote Militärfahnen, endlos wie ein Ozean, Dutzende Lautsprecher, die stundenlang der mächtigsten Stimme der Zeit gefrönt hatten, waren nach und nach verstummt, im Handumdrehen wurden die Menschen zu perfekt trainierten Balletttänzern, auf Zehenspitzen, mit angehaltenem Atem, zeigten alle Körper in die gleiche Richtung. All die unzähligen Menschen waren derart aufgeregt, dass die Mienen sich verzerrten und sie voller Erwartung nur noch murmeln konnten: »Der Vorsitzende Mao, der Vorsitzende Mao …« In einer Stille wie dieser, die Zhuang Zigui so noch nie erlebt hatte, schien ihm sogar das Blut in den Adern zu stocken, jedes Schlucken hallte lange in seinen Ohren nach. Plötzlich juckte es ihn in der Kehle, er tat alles, um das zu unterdrücken, ging sich selbst regelrecht an die Gurgel, denn das war ein Problem des Klassengefühls. Die Kehle aber juckte einfach weiter, und er musste die dummen dicken Lippen mit fünf Finger rigoros zusammenzwingen. »Pschuh!« Der Huster hatte sich als Nieser einen Weg durch die Nase gebahnt, zwei kleine goldfarbene Schlangen sprangen direkt in den Nacken eines Kleinen Generals in der Reihe vor ihm. Glücklicherweise sah der sich nicht einmal um. Zhuang Zigui spitzte in alle Richtungen, ob jemand seine Untat bemerkt hatte, aber niemand schenkte ihm die geringste Aufmerksamkeit, also verlor er keine weitere Zeit, wischte mit dem Jackenärmel die Reste der Verunreinigung von seiner roten Mao-Bibel und entspannte sich.

 

Der Vorsitzende ist da!!!

Wie ein Wirbelsturm fegte eine magische Wolke über den Turm am Tor des Himmlischen Friedens und hinter dem Vorsitzenden Mao traten im Gänsemarsch seine Günstlinge heraus: Lin Biao[4], Zhou Enlai[5], Jiang Qing[6], Kang Sheng[7], Zhang Chunqiao[8], Yao Wenyuan[9] und Chen Boda[10], wobei diese Oberhäupter der Kommunistischen Partei Chinas ausnahmslos ausstaffiert waren wie die Kleinen Generäle: grüne Uniform mit roter Armbinde. Weit über eine Million metallischer Stimmen schrien wie aus einem Mund: »Lang lebe der Vorsitzende Mao! Der Vorsitzende Mao, die röteste aller roten Sonne in unseren Herzen, lebe hoch, hoch, hoch!« Die reale Sonne erbebte und verschwand hinter den Wolken wie ein gerupfter Phönix. Der Riesenkessel wurde heißer und heißer, die grünen Heuschrecken, diese Landplage, hüpften wie verrückt von einem Fuß auf den anderen. Zhuang Zigui konnte nicht mehr denken, den Mund bis zum Anschlag aufgerissen, der Bauch krötenhaft gebläht, strömten ihm heiße Tränen über die Wangen, als wollten sie die ganze Welt unter Wasser setzen. Nie Honghong war irgendwann auf seinen Rücken gesprungen, zerrte mit ihren kleinen Händen wie wahnsinnig an seinen Schultern, reckte den Hals, so weit es ging, und quakte wie ein batteriebetriebener Spielzeugfrosch.

In einer kollektiven Halluzination stieg das Tor des Himmlischen Friedens empor, stieg und stieg und stieg, über Kontinente und Ozeane hinaus, über die Atmosphäre hinaus, es stieg selbst über die Sonne hinaus und fraß sie schließlich Bissen für Bissen auf. Der im Weltraum hängende kaiserliche Drachenpalast war rot und glühte, überall hingen farbenprächtige Algen. Der den Millionen und Abermillionen revolutionärer Massen vertraute und von ihnen verehrte Vorsitzende Mao wirkte dabei so klein, so unerreichbar hoch, wie ein einsamer Fisch, der sich langsam von Seinesgleichen entfernt und in einer anderen Dimension seine Flossen bewegt.

In diesem Augenblick waren die Menschen ein von ihm abgelegter Laich. Er hatte das Geländer aus weißem Marmor jenseits des Turmdachvorsprungs ganz für sich und nahm dort die jubelnden Huldigungen seiner Jünger entgegen. Ein Ozean roter Mao-Bibeln, geistige Zuchtfläche – Mao nahm die Armeemütze ab und fachte und fachte die Kleinen Generäle zu seinen Füßen weiter an. Mit einer uralten Magie, einem aus dem ländlichen China stammenden und über Generationen weitergegebenen Zauber verteilte sich mit dem Wehen seiner Hand ein roter, dem bloßen Auge nicht sichtbarer Fischlaich über das Land, ein kurzes Nicken, und der Himmel und Erde bedeckende Fischlaich, den er nicht aus den Augen ließ, fand Eingang in die Herzen der Massen, und er köderte kühl berechnend die Brut in seinem unverständlichen Hunan-Dialekt mit einem nicht enden wollenden: »Lang leben die Roten Garden!«

Viele verloren die Kontrolle über Blase und Darm. Umso verzweifelter schwangen die Kleinen Generäle ihre Mao-Bibeln und erwiderten mitten im Glücksgefühl des Laufenlassens: »Der Vorsitzende Mao, er lebe hoch, hoch, hoch!« Der materielle Körper zerfiel in immer kleinere Bestandteile, Zhuang Zigui fühlte sich leicht wie eine Feder in einer sich durch die Zeiten ziehenden erotischen Phantasie versinken. Wind wehte, Gras wuchs, Blüten sprangen auf, schluchzende Augäpfel klebten an Staubblättern, die Erde häutete und häutete sich, Menschen wurden zu Heuschrecken, Heuschrecken zu Fischlaich, Fischlaich zu Sperma. Es nahm kein Ende. Gegen den Strom schwamm Zhuang Zigui mit Abermillionen Spermien zur Quelle zurück. Wer war er? Woher kam er, wohin ging er? Staatspräsident Liu Shaoqi[11], wer war das? Was hatte »Nieder mit Liu Shaoqi« mit ihm zu tun? Gras, Gras, der gesamte Platz des Himmlischen Friedens, wusch, war wild wucherndes Gras, vor ein paar tausend Jahren war hier nichts als Gras, später hatte man Höhlen gegraben, Häuser gebaut, Städte errichtet, Reiche gegründet, einen Kaiser gehabt. Der Kaiser war eine große Heuschrecke, Heuschrecken hüpften im dichten Gras herum, doch was taten am Ende die Chinesen in diesem uferlosen Hirngespinst? Im Buch der Lieder[12] heißt es: »Guan guan, Kiebitz, im Fluss die Bank; edles Fräulein passt zum Edelmann.« Auf dem noch überwucherten Platz erkannten ein Mann und eine Frau einander, der Mann biss der Frau in die Wange, doch sie zählte die Sterne am Himmel, es waren so viele Sterne wie ihr Spermien in den Uterus schossen. Welche Geschlechtsorgane hatten nur den Kosmos hervorgebracht? Wie lange hat dieser jenseits aller Vorstellung liegende Geschlechtsakt gedauert! Die Erde, die Sonne und der Mond waren Spermien in einem kosmischen Schoß, die Menschen waren die Spermien in den Spermien. Mao war die Sonne der Chinesen, doch wer war die Sonne Maos?

»Lang leben die Roten Garden!« Noch immer winkte Mao schwach mit der Mütze, und der Shaoshan-Dialekt klang trostlos und schrill wie sein murmelndes Selbstgespräch: »Ich bin ein einsamer Wandermönch mit schwarzem Schirm im Regen.«

 

Weil die Zhuang Ziguis fest im Land eingeschlossen waren, wussten sie natürlich nicht, dass die Menschheit als Ganzes im 20. Jahrhundert eine geistige Seuche nach der anderen heimgesucht hatte. Vor, nach und zwischen den beiden Weltkriegen machten weltweit Horden von Rohlingen mit roten Armbändern Aufruhr. Der von einem verrückten Deutschen namens Marx aus dem Nichts fabrizierte kommunistische Spuk spie gleich der Büchse der Pandora pausenlos Geister und Dämonen aus. Mao war nur einer unter einem ganzen Haufen politischer Irrer wie Hitler, Lenin, Stalin, Kim Il Sung, Mussolini, Hoxha und Castro, der einzige Unterschied zwischen den roten Armbinden der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei und den roten Armbinden der Kulturrevolution war das Hakenkreuz anstelle der chinesischen Schriftzeichen für »Rote Garden«.

 

Als alles schon vorüber war, konnten Zhuang Zigui und Nie Honghong sich lange nicht entschließen zu gehen. Sie stellten sich sogar vor, für immer auf dem Platz zu bleiben, sich in Figuren auf dem Relief des Denkmals zu verwandeln und für immer in diesem glücklichen Augenblick zu verharren. Nie Honghong sagte unter Tränen: »Ohne den Vorsitzenden Mao gäbe es uns nicht!« Sie verstand sich jetzt ganz und gar als Maos leibliche Tochter.

Die im Westen untergehende Abendsonne tauchte den Platz des Himmlischen Friedens in Farbe, als habe Gott die Welt mit seinem Blut übergossen. Umfangen von dieser blutigen Aura fühlte sich Zhuang Zigui müde und hungrig, in seinem Kopf dröhnte es wie Brandung. Er sah die Kameraden von den Roten Garden auseinanderlaufen, sich allmählich verlieren und sagte zu sich selbst: »Sehr seltsam!«

Nie Honghong wandte sich ihm zu: »Was sagst du?«

»Wieso, was denn?«, fragte er zurück.

Nie Honghong erwiderte ärgerlich: »Wo bist du mit deinem Kopf?«

Er antwortete gedankenlos: »Wo schon.«

Nie Honghong schüttelte ihn: »Sei doch nicht so! Die Kameraden sind alle fort, wir beide sind ganz allein.«

»Wir beide allein? Eben war hier doch noch alles voll«, versonnen ging er auf dem Platz einmal im Kreis, »auf einmal da, auf einmal fort, alles ist so leer …« Ein Sturm der Seele rüttelte an seinen Ohren, er stopfte sich die Zeigefinger mit aller Kraft hinein, bohrte, er wollte die Stimmen herauspulen. Aus den Ohren kam Blut, mischte sich in das Blut der Abendsonne – ob Gott auch einsame Zeiten hatte?

»Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun!« Die plötzlich anhebende Internationale mischte sich in sein Ohrensausen, Zhuang Zigui wusste noch nicht viel von dieser Welt und konnte die Bedeutung dieses Liedes nicht wirklich erfassen, er spürte nur, dass eine riesige Leere ihm bedrohlich nahekam, doch noch war das Gesicht des Vorsitzenden Mao größer, ging tiefer als diese Leere, die Wolken zogen dahin und wischten das Blut vom Himmel … Ein weiteres Mal war die Phantasie in sträflicher Weise mit ihm durchgegangen, das kam aus der Familie seiner Mutter. Schnell senkte er den Blick, doch auch da war ein wildes Durcheinander, und er stand mit beiden Füßen mitten in einem Haufen Scheiße, Nie Honghong schrie bestürzt auf: »Guigui!«

Die Halluzination war weg, es stank fürchterlich, er stampfte mit aller Kraft auf, um den Dreck von den Schuhen zu schütteln. Wohin er schaute: Berge von Exkrementen, Klopapier, Obstschalen, Einpackpapier und so weiter und so fort, die heilige Stätte der Revolution war eine einzige große Freiluft-Kloake, er konnte es sich nicht verkneifen, Honghong ein wenig auf den Arm zu nehmen: »Dazu hast du auch deinen Beitrag geleistet.«

»Du hast auch …«, das Mädchen schämte sich zu sehr, um fortzufahren, und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, hatten sie Streit. Sie warf ihm vor, er sei neurotisch und habe den Kopf voller schräger bourgeoiser Ideen. Er spöttelte: »Oh, tun Sie doch nicht so, wertes Fräulein, als wären Sie die Musterrevolutionärin Li Tiemei aus der Legende der roten Laterne[13] – wer hat mir denn auf der Gepäckablage im Zug das Gesicht gestreichelt?«

Sie lief knallrot an: »Das hat nichts mit der Treue zu unserem Vorsitzenden Mao zu tun.«

»Und wieso nicht? Immerhin hast du kleinbürgerliche Gefühle gehabt.«

»Besser ich hätte es nicht getan … du mieser Hund von Ausbeuterklasse …«, sie verstummte, drehte sich um und lief weg.

Dabei sprang sie wie eine Ziege zwischen den Kot- und Urinlachen hin und her, hielt dann und wann inne, zögerte und rannte auf einem Umweg weiter. Die ersten Straßenlaternen gingen an und überzogen den Schmutz mit einem romantischen Schimmer, Wasserwagen kamen aus Osten und Westen über den Chang’an-Boulevard gefahren, hinter sich jeweils einen Trupp von der Straßenreinigung. Nie Honghong war kurz unaufmerksam und fiel hin, Zhuang Zigui setzte ihr nach und war, ohne darauf zu achten, wo er überall hineintrat, im Nu bei ihr. Sie starrte vor Dreck und wich ihm unter Tränen aus, doch das scherte ihn nicht, er beugte sich zu ihr hinunter und nahm sie in die Arme.

Sie schlug nach ihm, zwickte ihn, bespuckte ihn, er ließ es sich ohne einen Ton gefallen, sie stanken inzwischen beide zum Himmel. In ihrer Not biss sie ihn schließlich. Er schrie vor Schmerz, dann lachte er.

Sie fragte verblüfft: »Was gibt es zu lachen?«

»Ich freu mich einfach, du bist das erste Mädchen, das mich gebissen hat.«

»Mach mich bloß nicht dumm an!«

»Honghong, lass uns nicht streiten, wir sind auf dem Langen Marsch auf der Strecke geblieben, wir haben uns für die Rote Armee geopfert, jetzt suchen wir uns einen Ort zum Umziehen«, sagte Zhuang Zigui mit großem Ernst.

Plötzlich kreischte Nie Honghong los: »Wie kommst du stinkiger Kerl dazu, mich zu umarmen?!«

Zhuang Zigui ließ sie schlagartig los: »Wer umarmt dich? Wer denn? Kein Rotgardist des Vorsitzenden Mao würde das jemals tun. Buh, du müsstest dich mal selber riechen!«

Damit verließen die beiden stinkenden Kinder, unbefangen vor sich hin streitend, die im Dämmerlicht schimmernde »Kloake«, Zhuang Ziguis Schuldgefühle waren wie weggeblasen und er spintisierte den ganzen Weg vor sich hin. In ein paar Jahren würde die Revolution erfolgreich abgeschlossen sein, die großen und kleinen Machtfraktionen um Liu Shaoqi, Deng Xiaoping[14], Tao Zhu[15] und Li Jingquan[16] mit ihrem kapitalistischen Weg würden niedergerungen sein und für alle Ewigkeit nicht mehr hochkommen und dann würden auch seine Eltern mit ihrem Blut unterschreiben, dass sie mit der reaktionären Klasse nichts mehr zu tun haben wollten. Er würde Nie Honghong zur Frau nehmen, und die Mutter müsste nicht länger in die Psychiatrie. So dachte er sich froh, und während er Nie Honghong auf seltsame Weise ansah, improvisierte er ein Revolutionslied: »Ein Sohn erbt des Vaters Revolution, ein Sohn verrät des Vaters Reaktion, folge Mao in die Revolution, sonst fahr zur Hölle, Hundesohn!«

Nie Honghong stimmte nicht mit ein, sondern fasste ihn verstohlen an der Hand und murmelte: »Vater bleibt Vater, Guigui, du bist wirklich ein Idiot.«

Noch viele Jahre später stiegen Zhuang Zigui Tränen in die Augen, wenn er an diese verstohlenen Worte dachte, in jenen Jahren ein richtiges Wunder.

Fußnoten

[1]

Lei Feng, 1940–1962, Soldat der Volksbefreiungsarmee, trat mit zwanzig Jahren in die Armee ein und starb mit zweiundzwanzig bei einem Unfall mit einem Armee-LKW, als er diesen beim Rückwärtsfahren einwies; diente der Propaganda der Kommunistischen Partei Chinas nach seinem Tod in der offiziellen und landesweiten Erziehungskampagne »Vom Genossen Lei Feng lernen« von 1963 an als ein Musterbeispiel für Hilfsbereitschaft und Altruismus, das angeblich nach den höchsten kommunistischen Idealen lebte, indem er unter anderem Bauern, Arme und Kinder unterstützte und sich für Mao Zedongs Schriften begeisterte.

Die große Verbrüderung

Zhuang Zigui und Nie Honghong fuhren von dem Ort, an dem die rote Sonne aufgegangen war, mit dem Zug nach Süden, um bei der großen revolutionären Verbrüderung dabei zu sein. Da sie ihre Organisation verloren hatten, mussten sie sich fürs Erste einer anderen kleinen Einheit von Rotgardisten aus Sichuan anschließen, um nicht in Verdacht zu geraten, als allein reisendes Pärchen die Revolution für eine Liebelei zu nutzen.

In ihrem Waggon war es kaum anders als zuvor auf der Reise in den Norden, und nachdem sie bis hinter Shijiazhuang eng aneinander gepresst gestanden hatten, begann Zhuang Zigui sich mit den Sitzplatzinhabern auf guten Fuß zu stellen, er übertrieb lebhaft sein Glück, beim Empfang des Vorsitzenden Mao dabei gewesen zu sein, zeigte sich in Hochstimmung, steckte damit alle an, und da kein Thema die Gefühle der Chinesen tiefer rühren konnte und nichts sie so zu einer großen Familie machte, stand am Ende tatsächlich einer in bester kommunistischer Manier für die Kampfgenossin Nie Honghong auf. Zhuang Zigui döste neben ihr ein. Die Chinesen aber waren damals allesamt Pulverfässer, ein einziger Funke und sie gingen hoch. Gerade wurde am Fenster ein Mann mittleren Alters von Rotgardisten attackiert. Soeben hatte er seine Brille zurechtgerückt und setzte bedächtig mit einem Zitat aus den Worten des Vorsitzenden Mao an: »›Kämpfe mit Worten, nicht mit Gewalt.‹ Könnten Sie mir bitte freundlicherweise nicht mit Ihren Fingern vor der Nase herumfuchteln? Ich bleibe bei meinem Standpunkt, Rebellion sollte nicht zu vollkommener Anarchie werden und nicht jede Führung einer staatlichen Organisation ist gleich eine Machtclique auf kapitalistischen Abwegen. Wenn in der Zentrale und in den Regionen überall nur schlechte Menschen an der Macht wären, würden wir denn dann unser Land und die Kommunistische Partei noch wiedererkennen?«

»Gerede, bist wohl auch einer von diesen Hunden, diesen Royalisten?«, bohrte jemand nach.

»Ich bin kein Royalist,« rechtfertigte sich der andere schnell, »ich befürworte Rebellion gegen alle, die wirklich auf kapitalistischen Abwegen sind, durchaus. Ich befürworte es allerdings nicht, alle Basisorganisationen der Partei zu stürzen, wenn die Partei lahmgelegt ist, kommt das ganze Land in Unordnung, gegenwärtig ist die gesellschaftliche Ordnung ja auch schon außer Kontrolle.«

»Patsch!«, die Antwort war eine schallende Ohrfeige links, ein Kleiner Rotgardistengeneral setzte den Fuß auf den Klapptisch und tat mit lauter Stimme kund: »Kampfgenossen der Revolution, ihr alle habt es gehört, genau so klingt ein hundertprozentiger Hund von einem Royalisten! Wir, die Roten Garden des Vorsitzenden Mao, wir gehorchen nur dem ehrwürdigen Vorsitzenden, er hat das lodernde Feuer der Großen Proletarischen Kulturrevolution entfacht, das die Liu Shaoqis, die Deng Xiaopings und ihre gesamte Brut ausräuchert. Und jetzt redet dieser Speichellecker des Herrn Liu Shaoqi hier so einen Scheiß daher, von wegen, ›wenn die Partei lahmgelegt ist, kommt das ganze Land in Unordnung‹, und wirft uns auch noch vor, unser Land sei nicht das der Kommunistischen Partei. Wir müssen dich nachdrücklich warnen: Der Vorsitzende Mao ist unser Rückgrat, wo unser ehrwürdiger Vorsitzender ist, ist die Kommunistische Partei, ist Rotes Land! Und zurzeit ist alles bestens, denn ›die Volksmassen sind vollständig mobilisiert‹.«

Die Brille des Angegriffenen war bei dem Schlag davongeflogen, er erhob sich tastend, wollte sich aber nicht geschlagen geben und hielt mit zusammengekniffenen Augen und mit gleichfalls lauter Stimme dagegen: »Genossen der Revolution! Hört nun mir zu! Auch mir wurde die Ehre zuteil, von unserem Vorsitzenden Mao empfangen zu werden! Nicht nur diesmal in Peking, sondern bereits 1942 in Yan’an, dreimal wurde ich dort herzlich von unserem Vorsitzenden Mao empfangen. Ich bin ein erfahrenes Parteimitglied, seit über zwanzig Jahren stehe ich in den Diensten der Partei, ich weiß, wie wichtig Disziplin für den totalen Sieg der Revolution ist, auch in der Rebellion muss es geordnet zugehen! Unser ehrwürdiger Herr Vorsitzender Mao hat euch nicht erlaubt, alles zu zerstören und umzuwälzen, und auch die willkürlichen Schikanen und die wahllose Gewalt hat er euch nicht erlaubt.«

Diese Ansprache zeigte wirklich keinerlei Verständnis für die Stimmung der Zeit, überlegte Zhuang Zigui, schließlich war man gerade im ganzen Land dabei, die »Vier Großen Freiheiten« umzusetzen: freie Rede und freie Meinungsäußerung, freie Wandzeitungen und freie Debatten, und all das derart hitzig, dass Handgreiflichkeiten an der Tagesordnung waren. Solange der Vorsitzende Mao verteidigt wurde, bedeutete es überhaupt nichts mehr, jemanden zu schlagen. Was zählte es denn schon, wenn jemand Prügel bezog, wo man doch klaglos Kopf und Kragen riskierte!

Wie nicht anders zu erwarten, wurden dem »royalistischen Hund mit seiner über zwanzigjährigen Parteierfahrung« von den Kleinen Generälen die Arme nach hinten gedreht, er wurde in einem 90-Grad-Winkel auf den Sitz gepresst und an den Pranger gestellt. Applaus und Bravorufe erfüllten den Waggon, »macht ihn alle«, »macht Hackfleisch aus ihm« wurde geschrien, während man diesem royalistischen Hund das Abzeichen des Vorsitzenden Mao und die roten Ärmelschoner herunterriss und ihm zwei Vorderzähne ausschlug. Die öffentliche Ad-hoc-Kampfversammlung nahm ihren ungebremsten Lauf, jeder, der etwas sagen wollte, kramte seine Worte des Vorsitzenden Mao heraus, las zuerst einen Abschnitt des kaiserlichen Ediktes vor wie: »Wir widmen uns dem Klassenkampf Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag«, und packte dann noch ein bisschen Grundsatzkritik darauf. Einer deckte an Ort und Stelle auf, dass dieser Hund sich in seinem Klassencharakter in nichts von Liu Shaoqi unterscheide, Liu habe 1927 einen Arbeiterstreikposten in Wuhan, woher er selber stamme, verraten und im Gefängnis der Nationalen Volkspartei ein schriftliches Reuebekenntnis abgelegt, er sei vor der Flucht Chiang Kai-sheks nach Taiwan eine tickende Zeitbombe an der Seite der Roten Sonne gewesen, und dieser Hund hier, als Lius gehorsame Brut, habe mit Sicherheit eine ähnlich reaktionäre Geschichte.

Die Wellen der Erregung schlugen hoch, der allgemeine Lärm setzte sich unermüdlich fort, einige Kerle nutzten das Chaos und sicherten sich ein paar Sitzplätze. Nie Honghong verwandte vornübergebeugt eine ganze Weile darauf, diesem royalistischen Hund die Brille zu suchen, als sie sie ihm zurückgab und der Hund zu ihr »Danke« sagte, schimpfte sie mit scharfer Stimme: »Widerwärtige Kapitalistenhöflichkeit!« Der Versammlungsleiter stutzte kurz und nickte ihr dann lächelnd zu. Reisende aus anderen Waggons, die sehen wollten, was hier los war, drängten inzwischen so zahlreich von beiden Seiten heran, dass der Wagen kurz vor dem Bersten stand, trotzdem wurden die Genossen weiter pausenlos über Lautsprecher ermuntert, sich in Wagen Acht einer Ad-hoc-Erziehung in Klassenkampf zu unterziehen. Zhuang Zigui ergriff die Gelegenheit, Nie Honghong enger an sich zu drücken, und ließ sie an seiner Brust kauern. Ihr nervöses Keuchen berauschte ihn, sein Unterleib presste sich hart gegen sie, von der Berührung ausgehend, überlief ihn ein um das andere Mal ein schwer beschreibbares Zittern, er zog seinen Mützenschirm weiter herunter und verdeckte so die blauen Adern auf seiner Stirn. Beide wünschten, diese Kampfversammlung möge niemals enden, der öffentlichste Ort war zugleich der sicherste, ihre Gefühle verbanden sich vor aller Augen ohne jede Scheu und Scham und ihre Herzen schlugen durch die dünnen Rippen aneinander. Der Rhythmus des Herzschlags war eine Sprache, die selbst der ehrwürdige Vorsitzende Mao nicht würde kontrollieren können. Nie Honghong griff unwillkürlich mit ihrer Hand nach der seinen, und während ihre Hände feucht ineinanderglitten, rieben die Finger aneinander, bis sie unter Strom waren, eine außergewöhnliche Form der Masturbation, unter der die Augen heller strahlten und die Wangen ein Flair von Trunkenheit aussandten, wobei die Umstehenden das alles weiterhin für das Fieber des Klassenhasses hielten. Ein religiöser Revolutionär sieht nach außen eben nicht anders aus als jemand, der berauscht ist, deshalb konnten sie mitten in diesem Orkan die Süße ihrer ersten Liebe einsaugen, die Knochen wurden ihnen weich, die Hosen zwischen den Beinen feucht. Doch mit einem Mal rumpelte der Zug kräftig, einer der kleinen roten Teufel fiel von der Gepäckablage, und mit ihrem schönen Wachtraum war es fürs Erste vorbei.

Der Tölpel war genau auf die Wirbelsäule des royalistischen Hundes geknallt, dieser kopfüber mit der Nase auf den Boden geschlagen und ohnmächtig geworden. Die Kampfversammlung musste wohl oder übel abgebrochen werden, alles half mit Händen und Füßen, den stocksteifen Hund hochzuzerren, Wasser wurde ihm ins Gesicht gespritzt. Jemand kniff energisch die Kerbe zwischen Nase und Oberlippe zusammen, ein anderer schrie nach einem Arzt, der Versammlungsleiter stellte sich auf einen Tisch und rief laut: »Revolutionäre Genossen, Kampfgenossen, hört mir zu«, aber es half nichts. Dass der kleine Mistkerl, der den ganzen Schlamassel zu verantworten hatte, auch noch damit herausplatzte, er müsse mal groß, und weil er kaum noch an sich halten konnte, mit der Stimme eines Kleinkinds quengelte: »Ich mach gleich in den Wagen!«, setzte dem Ganzen die Krone auf. Seine Drohung sorgte allseits für Gelächter und Geschimpfe.

Der Weg zur Toilette war durch die Riesenmasse von Menschen allerdings vollkommen versperrt, und so sah man keine andere Möglichkeit, als ein Wagenfenster hochzuschieben, er musste die Hosen herunterlassen und den Hintern zum Fenster hinaushängen. Mehrere große Rotgardisten hielten ihn mit eiserner Hand, damit er nicht vom Wind hinausgezogen wurde. Nie Honghong drehte sich weg, verbarg ihr Gesicht an Zhuang Ziguis Brust und schimpfte: »Der kennt wohl gar keine Scham!« Insgeheim jedoch freute sie sich. Der »stocksteife Hund« war inzwischen wieder zu sich gekommen, er stöhnte und lag, das Gesicht voller Blut, seitlich auf dem Sitz. Aber ihn schien man inzwischen vergessen zu haben, alle standen jetzt um das unterhaltsame Spektakel am Fenster herum, und als jemand drohend vorschlug: »Schmeißt ihn einfach raus!«, provozierte das herzliches Gelächter. Nur der kleine Stinker war so betreten, dass er die Armeemütze tiefer zog, um sein knallrotes Gesicht zu verbergen, je hektischer er sich bemühte, umso weniger konnte er, ein harter Kotklumpen schien in seinem Anus festzustecken, er stöhnte und ächzte, und die Tränen liefen ihm nur so herunter. Die anderen tobten vor Vergnügen, selbst der Leiter der Kampfversammlung lachte und musste sich die Tränen abwischen: »He, Kleiner, geht dir bei so viel Wind nicht langsam der Arsch flöten?«

Währenddessen lief im Zugfunk noch immer die Nachricht vom »schnell und effektiv durchgeführten Klassenkampf«: »In Wagen Acht wurde ein getreuer Handlanger Liu Shaoqis enttarnt, das ist auf dieser Reise ein großartiger Sieg der Mao-Zedong-Ideen …«, Zhuang Zigui aber umarmte in dieser Sardinenbüchse, die bis auf den letzten Millimeter mit Menschenfleisch vollgestopft war, schließlich kühn seine Nie Honghong und sein schmerzhaft versteiftes Teil grub sich, er konnte nichts dagegen tun, tief in ihren Nabel.

 

Von Sommer 1966 bis Anfang 1967 wurden große Verbrüderungen zu einer gesellschaftlichen Modeerscheinung, in der Revolution wehte ein frischer Wind, Rebellion wurde geschürt, Trupps junger Menschen in Militäruniform reisten mit Armbinden und roter Mao-Bibel durch das Land, Reden wurden gehalten, man debattierte und ließ die Fäuste sprechen. Unter der Führung des Staatspräsidenten Liu Shaoqi waren zwischen Herbst 1962 und 1965 drei Jahre in Folge landesweit reiche Ernten eingefahren worden, was die Wunde der Großen Hungersnot zwischen 1959 und 1962, als sich drei Jahre in Folge überall die Hungerleichen türmten, ein wenig geschlossen hatte. Für die Kulturrevolution, die Liu Shaoqi selbst den Kopf kosten sollte, war damit das materielle Fundament gelegt. Mao war Bauer, auch als Kaiser vergaß er seine alte Profession nicht, werkelte im Regierungssitz Zhongnanhai gern auf einem Gemüsefeld herum und hatte seinen täglichen Spaß am eigenhändigen Anbau. Hätte er die Harke aus der Hand gelegt, es wäre gewesen, als hätte das gesamte riesige Agrarland seinen Boden aufgegeben. Als er dann auf Erholungsreise ging, stieg er heute zum Schwimmen und Dichten in den Yangzi, den Bauch prall wie die Schallblase eines quarrenden Frosches, zog sich morgen in die Höhle eines Unsterblichen in seiner Heimatprovinz Hunan zurück und machte ein Foto davon, um übermorgen plötzlich überfallartig nach Peking zurückzueilen und von dort den »Januar-Sturm« in Shanghai zu steuern. Politische Gegner, die zuvor Jahrzehnte an seiner Seite gekämpft hatten, purzelten, noch bevor sie richtig verstanden hatten, was eigentlich los war, reihenweise von der Bühne der Geschichte, Hundedreck allesamt und nicht der Rede wert. Das flüchtige Erscheinen des Großen Führers beeinflusste jedoch das ganze Land, nun raste alles hin und her wie eine Schafherde am Abhang und nutzte die Revolution als Vorwand für kostenloses Reisen. Überall gab es Empfangsstationen für Rote Garden in der Art der öffentlichen Kantinen von 1958, zur Zeit des »Großen Sprungs nach vorne«. Mit einem Empfehlungspapier konnte man in jeder Provinz und in jedem Kreis essen: Man »fasste Reis und Speise mit großer Schüssel, verteilte Gold und Silber mit großer Waage«[1]. Zhuang Zigui las zu dieser Zeit der Verbrüderungen rechts und links der Eingänge etwas größerer Kantinen häufig die von oben nach unten geschriebenen Verse: »Dem zarten Fräulein fällt das Essen in den Mund; der müßige Jüngling isst und geht gesund.« China war ein einziges großes Gasthaus, Berge von Reis und Nudeln, Gemüse, Fleisch und Eiern wurden verschwendet. Selbst Essschalen waren ein Gegenstand der Diktatur und wurden von den Gästen oft schon nach wenigen Bissen zu Boden geworfen, Scherben schwammen in Suppe und Wasser, und wie der junge Mao Zedong einst den Spruch »Essen ist des Volkes Himmel« in besonderer Weise zur Anwendung gebracht hatte, um das hart arbeitende Volk gegen lokale Tyrannen zu mobilisieren und das Ackerland umzuverteilen, das schien sich zu wiederholen: Wang und Pang strömte nur mit einem Speer über der Schulter in die Grundbesitzerhaushalte, aß für lau und bediente sich nach Belieben. Aber die Zeiten hatten sich geändert, der Staat selbst war jetzt der heimliche Grundbesitzer. Aber wer war dann eigentlich der Gegenstand der Revolution? Die Klasse der Grundbesitzer und Kapitalisten? Die Reaktionäre der Guomindang? Oder einfach Maos politische Gegner? Für diesen modernen, von einem Räuberhauptmann abstammenden Kaiser war jeder, der gegen ihn opponierte, Gegenstand der Revolution. Mao meinte, noch in zehntausend Jahren werde es Klassenkämpfe geben, was nichts anderes bedeuten konnte, als dass er auch noch als Geist kämpfen würde, und sollte doch einmal die »Große Harmonie« auf Erden herrschen und er keinen Feind mehr finden, dann würde er eben gegen den eigenen Schatten ins Feld ziehen, gegen selbst ausgelegte Fallstricke oder einfach gegen sein eigenes Gestern und Morgen, er könnte auch linke und rechte Gehirnhälfte voneinander scheiden und mit dem linken Auge feindselig das rechte beäugen oder mit der linken der rechten Seite eine Ohrfeige verpassen.