Unsichtbare Kriegsführung - Liao Yiwu - E-Book

Unsichtbare Kriegsführung E-Book

Liao Yiwu

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liao Yiwu hält die zweite Stuttgarter Zukunftsrede Der Verfasser der Stuttgarter Zukunftsrede 2023 heißt Liao Yiwu. Als Schriftsteller, Dichter, Musiker, Dissident und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels gehört er zu den wichtigsten Chronisten und Analysten Chinas. In seinen Texten kritisiert er Systeme des Machtmissbrauchs, gibt den Entrechteten eine Stimme und greift dafür auch auf eigene Erfahrungen der Inhaftierung und Misshandlung zurück.  Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Ende Februar rückten in den ersten Wochen vordringlich die Ukraine und Russland ins Zentrum der Aufmerksamkeit; die Auswirkungen des Krieges sorgen allerdings für sich zuspitzende Spannungen auch in anderen Ländern und Regionen, für neue Allianzen und globale Verschiebungen – China nimmt hier eine wesentliche, machtvolle Rolle ein. Liao Yiwu befragt in seiner Zukunftsrede dieses Land und seine autoritären Regime mit Blick auf die Zukunft. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 70

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Liao Yiwu

Unsichtbare Kriegsführung

Wie ein Buch ein Imperium bezwingt

Stuttgarter Zukunftsrede

ins Deutsche übersetzt von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann

Klett-Cotta

Impressum

Liao Yiwu hielt am 18. Januar 2023 die zweite Stuttgarter Zukunftsrede. Während er seine Rede im Rathaus Stuttgart in einer gekürzten Fassung vortrug, liegt hier der vollständige Text vor.

Die Stuttgarter Zukunftsrede ist eine Initiative des Literaturhauses Stuttgart, des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart und des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart. Sie wird gefördert von der Landeshauptstadt Stuttgart und der Berthold Leibinger Stiftung.

Die erste Stuttgarter Zukunftsrede hielt der Schriftsteller Daniel Kehlmann im Februar 2021. Unter dem Titel »Mein Algorithmus und Ich« ist sie ebenfalls im Verlag Klett-Cotta erschienen.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Christoph Niemann

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-608-98734-8

ISBN E-Book: 978-3-608-12152-0

Wenn ein Einzelner sich auf ein Hazardspiel mit einem Imperium einlässt, dann sind die Kräfte sehr ungleich verteilt, aber ich muss nicht unbedingt verlieren. Das Gedächtnis von Staaten hat etwas Abstraktes und Wetterwendisches. Nach den Erfordernissen der Staatsmacht werden fundamentalste historische Fakten, wenn nötig, ununterbrochen geändert, ausgetauscht und beseitigt … doch die Erinnerungen des Einzelnen an seine Demütigungen dringen tief in sein Blut, sie beeinflussen instinktiv, was er sagt und wie er sich verhält – eine solche Brandmarkung wischt man sein Leben lang nicht weg.

Ein Großteil meiner Manuskripte liegt verschlossen in den Aktenschränken des Amtes für Öffentliche Sicherheit, die Spezialagenten für Kultur sind sie alle durchgegangen, Seite für Seite, und sie haben sie sich gründlicher durch den Kopf gehen lassen als der Autor selbst. Die Kerle, die diese Suppe einmal gelöffelt haben, entwickeln ein übermenschliches Gedächtnis: Irgendein Abteilungsleiter der Öffentlichen Sicherheit von Chengdu hat heute noch im Kopf, welche Zeile ich in welcher Untergrundzeitschrift irgendwann in den 80er Jahren geschrieben habe. Während die Literaten nostalgisch schreiben, um in die Literaturgeschichte einzugehen, liegt die wirkliche Geschichte vielleicht verschlossen in den Sicherheitstresoren des Amtes für Öffentliche Sicherheit.

————————

Diese beiden Abschnitte sind Zitate aus meinen Gefängniserinnerungen Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen, deren chinesische Fassung 2011 im Asian-Culture-Verlag in Taiwan erschien, die deutsche 2012 im S. Fischer Verlag, übersetzt von Hans Peter Hoffmann[1]. Warum habe ich das geschrieben? Ich weiß es nicht mehr. Es ist wie bei einem alten Film, an dem der Zahn der Zeit genagt hat, die Einzelbilder sind durch das Alter ganz verschwommen. Ich zermartere mir das Hirn, lasse es immer wieder Revue passieren, es hilft nichts. – Nun, die Rohfassung dieser Erinnerungen habe ich dreimal geschrieben, auf Papier, das viel besser war als das, das ich im Gefängnis zum Schreiben nutzte. Das Papier im Gefängnis war sehr nachgiebig und brüchig, man durfte mit dem Stift kaum aufdrücken. Draußen waren Festigkeit und Geschmeidigkeit des Papiers kein Problem mehr, man musste sich nicht sorgen, die Stiftspitze könnte durchstoßen. Also, wenn ich voller Energie ein Blatt Papier mit Schriftzeichen vollschrieb, wie viele tausend passten drauf? Zehntausend? Noch mehr? Wie viele ameisenkleine Schriftzeichen passen am Ende auf eine Seite? Das wissen die Götter.

Ich habe wegen zwei Gedichten vier Jahre im Gefängnis gesessen, beide, zum einen das Gedicht »Massaker« zum anderen »Requiem«, protestierten gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Morgengrauen des 4. Juni 1989. Ich war so unglaublich wütend, deshalb rezitierte ich, unterstützt von dem kanadischen Sinologen Michael Martin Day, der damals vorübergehend bei mir wohnte, das Gedicht »Massaker«, wir nahmen es auf Kassetten auf und verteilten diese in über zwanzig Städten im ganzen Land; bald danach versammelte ich »einen Haufen schräger Vögel« um mich und machte mit ihnen aus »Requiem« einen Kunstfilm.

Am 16. März 1990 wurde ich verhaftet und kam ins Gefängnis. Es waren wohl gut zwanzig Untergrunddichter und -schriftsteller, die wegen dieser Angelegenheit Haft und Verhöre über sich ergehen lassen mussten, in der ersten Anklageschrift tauchten als Angeklagte im Rechtsfall der »Bildung einer konterrevolutionären Clique« dann noch acht Personen auf.

Ich selbst erlebte Verhörgefängnis, Untersuchungsgefängnis und das Zweite Gefängnis sowie das Dritte Gefängnis der Provinz Sichuan. In den zwei Jahren und zwei Monaten im Untersuchungsgefängnis verfasste ich 28 Kurzgedichte und acht Briefe, die ich bewahren konnte, indem ich sie in einem Hardcover-Buchrücken des klassischen Romans Die Geschichte der drei Reiche versteckte, während der Arbeit das Buch mit sauer in die Nase stechendem Kleister »reparierte« und es am Ende von Hand zu Hand aus dem Gefängnis bringen ließ. Im letzten Gefängnis, dem Dritten Provinzgefängnis im Nordosten Sichuans, schrieb ich heimlich sogar gut zweihundert Seiten. Über die Jahre wurden Titel und Inhalte dieser Manuskripte vielfach abgeändert und ausgebaut, heute sind sie fixiert als die Romane Die Wiedergeburt der Ameisen, Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs und Untergrunddichter in Zeiten Deng Xiaopings. Zusammen mit den nach meiner Entlassung verfassten Gefängniserinnerungen Für ein Lied und hundert Lieder bilden sie vier Bücher, die man unter dem Gesamttitel Überleben zusammenfassen kann. Die Urfassungen der ersten drei Bücher von Überleben aus dem Gefängnis zu bringen, war eine hochkomplizierte Sache und in der Folge blieben diese Gefängnismanuskripte vom 31. Januar 1994 bis zum 14. September 2010, also in den sechzehn Jahren von meiner Gefängnisentlassung bis zur erstmaligen Erlaubnis, das Land zu verlassen, immer in ihrem gleichen sicheren Versteck, zur Tarnung dick umwickelt mit allem möglichen Kram (darunter zum Beispiel auch gebrauchte Papierwindeln), ich dachte nicht, dass ich jemals wieder daran rühren würde, und erzählte nie irgendjemandem davon, sodass sie nie in Gefahr gerieten.

Im Buch Untergrunddichter in Zeiten Deng Xiaopings wird beschrieben, wie Hu Yaobang, der aufgeklärteste Generalsekretär in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas, im Frühjahr 1989 überraschend starb, was landesweit in Dutzenden Großstädten eine Bewegung für politische Reformen auslöste und Abermillionen Demonstranten und Demonstrantinnen auf die Straßen brachte, während ein avantgardistischer Dichter meiner Generation, mit dem Künstlernamen Haizi, sich ein Stück entfernt von der Bahnstation Shanhaiguan im ferneren Umland Pekings auf die Schienen legte und sich das Leben nahm. Daraufhin schrieb ich, erst nach meiner Gefängniszeit, die Gefängniserinnerungen Für ein Lied und hundert Lieder.

Im Winter 1992 war ich ins Dritte Provinzgefängnis verlegt worden, in dem eine Menge politische Gefangene des 4. Juni eingesperrt waren, die auf die eine oder andere Weise zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Verbindung hatten. Ich schlief in einer Gemeinschaftszelle im oberen Bett eines Eisenstockbetts. Anfangs schrieb ich nur belanglose Gedanken nieder, die die anderen ruhig lesen und kursieren lassen konnten, insgeheim jedoch grübelte ich bereits über ein Vorhaben nach, von dem niemand erfahren durfte.

Im Grunde konnte man heimlich verfasste Texte gar nirgendwo aufheben, weil die Gefängniszellen in unregelmäßigen Abständen durchsucht wurden. Ich kannte allerdings auf der unteren Etage einen Sanitäter, der kurz nach der »Befreiung« hier eingesperrt worden war, also seit Anfang der 1950er Jahre ununterbrochen hier war. Er war Reporter der sogenannten Säuberungszeitung der Nationalpartei gewesen und inzwischen so lange hier eingesperrt, dass die Gefängnispolizei ihn gar nicht mehr wahrnahm. Dieser Mensch verschlang Unmengen von Büchern, jeder nannte ihn nur den alten Yang. Immer wenn ich etwas fertig hatte, gab ich ihm dieses Stück Manuskript, damit er es versteckte.

Der alte Yang kannte etliche Häftlinge, die ihre Strafe abgesessen hatten, aber weiter im Gefängnis arbeiteten, sie waren seit Jahrzehnten miteinander befreundet, so dass er ihnen meine Manuskripte anvertrauen konnte, damit sie sie aus dem Gefängnis und zur Post brachten, oder jemand nahm etwas bei einem Gefangenenbesuch mit und verschickte es. – Auf diese Weise waren am Ende nach vielfachem Kommen und Gehen sämtliche Manuskripte tatsächlich an einem Ort versammelt. – Ein erstaunliches Wunder bei so vielen komplizierten Wegen.

Als ich mit dem Schreiben anfing, war ich völlig verloren, ich hatte keine Ahnung, was damit werden sollte, deshalb machte ich mich nach alter Sitte mit Hilfe des Orakelbuchs Yijing, dem Buch der Wandlungen, ans Wahrsagen, und das Ergebnis war ein »Kun«, das Hexagramm »das Empfangende« mit sechs durchbrochenen Linien. »Kun« steht für die nach allen Seiten offene Mutter Erde. Sollte mir das nun sagen, dass ich einfach nach Lust und Laune schreiben sollte? Oder dass mein Stift, als hätte er Beine, durch das unwandelbare »Kun« mit seinen sechs durchbrochenen Linien hindurch bis ans Ende der Welt laufen konnte? Ich war von klein auf schon ein wenig mystisch veranlagt, und in diesem Moment wurde mir urplötzlich klar, dass der alte Yang mir von Gott geschickt war.