Ägerisee - Monika Mansour - E-Book

Ägerisee E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Ein nervenaufreibendes Versteckspiel, bei dem nichts so ist, wie es scheint. Als die junge Schauspielerin Noemi spurlos verschwindet, bittet ihr Freund die Detektei Trust Investigation um Hilfe. Die Nachforschungen von Natalie, Sara und Tom lösen eine Reihe verstörender Ereignisse aus, bis sie bei der Ruine Wildenburg blutige Hinweise, aber keinen Leichnam finden. Das Kleintheater am Zuger Kolinplatz scheint der Schlüssel zu Noemis Verschwinden zu sein, denn das geplante Stück weist Parallelen zu dem Fall auf und endet mit einem schrecklichen Mord. Mehr und mehr verschwimmt die Grenze zwischen Schauspiel und Realität, und eine grausame Wahrheit kommt ans Licht.

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar und war Tätowiererin. 2014 erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Der Song »The Hanging Tree« ist aus dem Soundtrack von »The Hunger Games: Mockingjay – Part 1« (2014), gesungen von Jennifer Lawrence, komponiert von Suzanne Collins von The Lumineers, produziert von James Newton Howard.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Arcangel.com/Mark Owen

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-258-1

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Prolog

»Wie möchten Sie sterben?«

»Oh, eine ungewöhnliche Frage. Ist sie nicht zu intim?«

»Ich finde sie spannend. Sie sagt einiges über den Charakter eines Menschen aus. Schließlich wollen wir uns besser kennenlernen, nicht? Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Kellergewölbe und dort steht ein Regal voller Sterbemöglichkeiten. Für welches Produkt würden Sie sich entscheiden?«

»Der Tod als Produkt, das man wählen kann?«

»Rein hypothetisch. Im Regal auf Augenhöhe hätten wir den friedlichen, unerwarteten Tod im Schlaf, im eigenen, warmen Bett. Ganz oben steht der Tod durch einen Unfall. Unten im Regal der langsame Tod nach einer schweren Krankheit. Rechts der Alterstod im Sterbebett, mit der lieben Familie, die einem die Hand hält. Ah, ganz links der Suizid in verschiedenen … sagen wir, Variationen: ein Giftcocktail, ein Pistolenschuss, ein Messer, wie Sie möchten. Daneben im Sonderangebot, zwei für eins, der verzweifelte Doppelselbstmord zusammen mit einem geliebten Menschen.«

»Klingt dramatisch.«

»Das ist es. Also? Welchen Tod wählen Sie?«

»Über diese Frage habe ich noch nie nachgedacht. Man kann sich den Tod nicht aussuchen.«

»Wenn Sie es könnten?«

»Hmmm … wenn ich wählen könnte, würde ich eine andere Todesart nennen, die vermutlich versteckt ganz hinten im Regal steht.«

»Ah, nun bin ich aber neugierig. Welchen Tod möchten Sie gerne sterben?«

»Den Heldinnentod. Genau. Ich würde gerne den Heldinnentod sterben. So wie Jeanne d’Arc, in glänzender Rüstung – und dabei Weltruhm erlangen.«

»Oh, das überrascht mich. Ungewöhnlich, der Wunsch.«

»Gibt es dazu vielleicht ein Zusatzpaket im Angebot? So wie die Extras, die man, sagen wir, bei der Ausstattung eines Sarges wählen kann?«

»Sie möchten ein Zusatzpaket?«

»Ja. Ich möchte den Heldinnentod sterben in den Armen eines wunderschönen, jungen Mannes, ihm ein letztes Lächeln schenken, während das Leben aus mir weicht und ich die Augen schließe, in dem Wissen, dass ich nach dem Tod nicht vergessen sein werde. Ich möchte für die Liebe sterben. – Heldinnen sterben nie, das ist ein schöner Gedanke. Sie bleiben unvergessen, bis in alle Ewigkeit. Und vielleicht weint der Mann mir eine Träne nach – wenn das dazugehört, zu dem Paket, meine ich, und die Leute, sie würden darüber reden. Ich würde zu einer Berühmtheit werden.«

»Sind Sie eine Romantikerin?«

»Nein. Ich bin nur ehrlich. So möchte ich sterben. Aber ist Ihre Frage nicht gewagt? Es ist ein ungewohntes Thema, das Sie ansprechen. Der Tod, er ist ein Tabu. Darüber reden die Menschen nur ungern.«

»Man sollte darüber sprechen, bevor er kommt, denken Sie nicht? Aber es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.«

»Wie das?«

»Ihre Chance, einen Heldinnentod zu sterben, liegt bei unter einem Promille.«

»Ach? Und das wissen Sie?«

»Ja.«

»Sind Sie ein Hellseher?«

»Nein.«

»Woher glauben Sie, über meinen Tod in ferner Zukunft Bescheid zu wissen? Ich bin jung, gesund und rechne nicht mit meinem baldigen Ableben.«

»Das ist eine simple Frage, die ich gerne beantworten werde.«

»Da bin ich neugierig. Erzählen Sie.«

»Gut. Ich kenne ein wichtiges Detail über Ihren Tod.«

»Und das wäre?«

»Es gibt im Regal der Todesarten ein weiteres Produkt, welches bisher nicht zur Sprache kam. Dieses Produkt werden Sie wählen müssen.«

»Müssen? Ich habe keine freie Wahl über meinen Tod?«

»Die haben die wenigsten Menschen, nicht?«

»Damit haben Sie recht. Aber welches Produkt muss ich wählen? Und woher wissen Sie, dass ich es wählen muss?«

»Lassen Sie es mich so ausdrücken: Sie werden das Produkt ›Tod durch einen Mord‹ wählen müssen, weil ich Ihr Mörder sein werde. Wie finden Sie das?«

1. AKT

An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.

William Shakespeare, »Hamlet«

EINS

»Mein Schwiegervater hielt mir gestern Abend eine Standpauke.« ET schlug mit der Faust auf den Bistrotisch.

Natalie nippte an ihrem Cappuccino und schmunzelte. Sie saß mit dem Jungen in der Cafeteria Mont Blanc am Kolinplatz in der Altstadt von Zug.

»Er motzte mich an, weil ich Lucy zehn Minuten zu spät nach Hause brachte. So ein Theater wegen zehn Minuten! Um zehn hätten wir zurück sein müssen. Und das am Ostersamstag.«

»Hattet ihr in Zürich wenigstens Spaß?«

»Hey, ich bin voll der Romantiker, habe das ganze Programm aufgefahren: Blumen, Schokolade, Ed Sheeran aus geteilten Kopfhörern am See, danach Kino – Frühvorstellung.«

Saras Pflegesohn würde im Sommer volljährig werden. Wie die Zeit verging, dachte Natalie. Bald ein Jahr wohnte er bereits bei Sara. »Tom sorgt sich eben um seine Tochter. Lucy ist erst fünfzehn.«

»Daran erinnert mich Mum jedes Mal, wenn ich mit Lucy ausgehe. Mann, ihr drei von der Detektei Trust Investigation seid ätzend. Für wen haltet ihr mich? Ich bin voll der Gentleman. Ich stehe nicht auf einen hohen Bodycount.«

»Auf was?«

»Musst du nicht wissen.«

Natalie war erst sechsundzwanzig, aber neben ET fühlte sie sich wie eine Großmutter. ET alias Elias Tanner hatte sich in Saras Obhut zu einem feinen Kerl gemausert. Seine Haare wechselten nach wie vor wöchentlich die Farbe, aber waren zumindest nicht mehr so knallbunt wie früher. Das Augenbrauenpiercing trug er noch, jenes in der Lippe nur sporadisch. Sara gab ihm nach dem Tod seiner Mutter Struktur im Alltag und nahm ihm die Last von den Schultern, allein auf sich gestellt zu sein.

»Du nippst nur an deinem Cappuccino«, stellte ET fest. »Tut dein Hals weh?«

»Wann tut er das nicht? Wir Schmetterlingskinder haben einen schönen, zarten Namen bekommen, für eine grausame Krankheit.«

ET lehnte sich vor. »Statt eine Lehre als Veranstaltungsfachmann zu machen, hätte ich Arzt studieren sollen, dann könnte ich dich heilen.«

»Das versucht mein Vater seit meiner Geburt. Vergeblich. Niemand kann mich heilen. Auch wenn meine Haut verletzlich ist wie die Flügel von Schmetterlingen, so ist mein Gehirn stark wie das einer Superheldin, vergiss das nicht.«

»Niemals. Du bist eine Kriegerin, Natalie Krieger, das wusste ich gleich. Und ich mag dein Styling heute. Du solltest im Büro auch öfter diesen afrikanischen Look tragen.«

»Die Khangatücher sind leicht und bequem, perfekt für meine empfindliche Haut. Und ich finde sie auch cool, vor allem die Farben.«

ET stocherte in seinem Eisbecher herum. Nur ein Teenager konnte am Sonntagmorgen einen Banana-Split verdrücken. »Wann darf ich endlich deiner Organisation Kipekapeka beitreten? Ich will helfen, die Welt vor dem Bösen zu retten.«

»Wenn du volljährig bist – und Sara es erlaubt.«

»Das wird sie nie. Sie ist ein Ex-Bulle. Sie mag das Darknet und alles, was damit zusammenhängt, nicht. Sie würde meinen zukünftigen Schwiegervater auf mich hetzen, und mit einem Ex-Kickboxchampion legt man sich besser nicht an.«

»Tom mag dich. Aber wenn es um seine Töchter geht, kann er den Beschützerinstinkt nicht ablegen. Einmal Bodyguard, immer Bodyguard.« Sie schaute auf die Uhr. »Ich muss los. Wir drei von der Trust wollen uns zu einem Brunch treffen. Was habt du und Lucy heute vor?«

ET knurrte leise. »Wir müssen babysitten. Tom besteht darauf, dass wir Alicia mitnehmen. Wir chillen am Skatepark. Mein Kumpel Jimmy kommt auch.«

Natalie genoss es, ab und zu mit ET abzuhängen, wie er es ausdrückte. Sie war in Schulzeiten zu oft krank gewesen, um einen Freundeskreis in ihrem Alter aufzubauen. Als hässlicher Freak, mit ihren einbandagierten Gliedmaßen und geröteter Haut, fand sie damals schwer Anschluss in der Schule. Sie blickte über den Kolinplatz, als sie einen Mann entdeckte, der in ihre Richtung kam. Konnte das ein Zufall sein, jetzt, da sie ausgerechnet an ihre Schulzeit zurückdachte? Sie winkte ihm zu. »Fabian?«

Er blieb stehen, hob überrascht die Augenbrauen hinter seiner schwarzen Nickelbrille und kam auf sie zu. »Natalie! Endlich laufen wir uns mal über den Weg. Leider haben wir uns letzten Herbst an den WorldSkills in Lyon nur von Weitem gegrüßt. Sorry, es war hektisch dort.«

»Kein Problem. Bist du weiterhin aktiv bei den Organizers dabei? Ihr steht nach wie vor im Rennen für einen weiteren Weltmeistertitel im CTF-E-Sport.«

»Ich bin zu alt dafür. Ich konzentriere mich darauf, die Kids zu trainieren. Was ist mit dir? Willst du nicht auch bei uns einsteigen?«

»Nein danke«, sie hob ihre Hände, »die sind nicht schnell genug.«

Fabian nickte mitfühlend.

»Ich habe gehört, dass du in den USA gearbeitet hast, im Silicon Valley.«

»Ja. A dream came true. War amazing.«

Sie musterte Fabian. Er sah gut aus. Er war nach wie vor der scheue Typ, trug die Schultern angezogen und das Kinn gesenkt. Die dunkelblonden Haare waren schulterlang mit einem altmodischen Seitenscheitel. Er trug unauffällige Kleidung, Jeans und Poloshirt. Jedoch war sein Blick offener und selbstsicherer als zu Schulzeiten. Auch seine Statur hatte sich verändert. Er war ein echtes Muskelpaket geworden. Sie kannte Fabian aus dem Gymnasium. Sie beide waren die Computergenies gewesen und standen in einem gesunden Konkurrenzkampf. Fabian interessierte sich für Game-Entwicklung, Natalie für Computernetzwerke. Die Leidenschaft fürs Hacking von Programmen teilten sie sich.

»Seit wann bist du zurück in der Schweiz?«, fragte sie.

»Seit einem Jahr. Ich programmiere für eine amerikanische Firma Onlinegames, im Homeoffice, der Vorteil in unserem Beruf, wir können überall auf der Welt arbeiten. Und was machst du so?«

»Ich bin Teilhaberin einer Privatdetektei.« Sie griff nach ihrer Handtasche und kramte eine Visitenkarte hervor.

»›Trust Investigation‹«, las er vor. »›Natalie Krieger, Sara Jung und Tom Engels – Aufklärung mit Herz und Verstand‹. Das ist cool.«

»Wenn du jemals Hilfe brauchst, melde dich.«

Fabian steckte die Karte in seine Jeanstasche. »Ich melde mich auf jeden Fall. Wir sollten einmal zusammen ein Bier trinken gehen. Vielleicht zu viert?« Er warf ET einen Seitenblick zu. »Ich bringe meine Freundin mit.«

»Oh, ET ist nicht –«

»Klar, Bro, machen wir.« ET grinste breit.

»Perfect. Ich melde mich. Aber jetzt muss ich los, Noemi wartet.«

Weg war er.

»Sag mal, was sollte das?«, fragte Natalie und schaute ET mit erhobener Augenbraue an.

»Zumindest glaubt er nun, dass du einen echt geilen, verdammt gut aussehenden Freund hast.«

»Einen siebzehnjährigen.«

»Ich sehe aus wie vierundzwanzig.«

»Fünfzehn, höchstens.«

ET gab nach. »Was ist CTF-E-Sport?«

Natalie lachte. »Kennst du das Spiel ›Capture the Flag‹, CTF? Nicht das Kinderspiel, sondern das, welches im E-Sport gespielt wird.«

»Nie davon gehört.«

»Es ist ein Übungsspiel zur Computersicherheit. Zwei Teams treten gegeneinander an und versuchen flags, also Fahnen, zu finden, die das andere Team in den Zeilen des Programmiercodes einer Software versteckt hat. Wer zuerst alle Flags eingesammelt hat, hat gewonnen. Die besten Hacker treten so gegeneinander an.«

»Das will ich lernen.«

Natalie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann hättest du vor zehn Jahren damit anfangen sollen. Für diesen Sport bist du zu alt.«

***

»Ich beneide die Kinder«, sagte Sara, als sie am Dienstagmorgen hinter Tom die Metallstufen hoch zu den Containern nahm, die unter dem Metalldach der ausgedienten Werfthalle in Cham als Büro der Trust Investigation dienten. »Wir hätten eine Woche Ferien an die Osterfeiertage anhängen sollen. Schließlich sind wir drei die Chefs, nicht?«

Tom blickte über die Schulter zurück. »Ferien kann ich mir nicht leisten. Endlich läuft unsere Detektei.«

Sara wusste, dass er recht hatte. Sie schob ihre kinnlangen schwarzen Haare hinter die Ohren und massierte sich den Nacken. Sie hatte gestern mit Tom unten im Dojo zwei Stunden trainiert. Für vierundvierzig war sie fit wie ein Turnschuh, aber die Erholungsphasen dauerten länger. Tom schien das Problem nicht zu kennen. Er hüpfte die Stufen hoch wie ein junges Reh, obwohl er nur knapp drei Jahre jünger war. Angeber.

Oben blieb er stehen. »Heute Nachmittag ist der Gerichtsfall von dem Kerl, der letzten Sommer seine Freundin spitalreif geschlagen hat. Gehst du hin?«

»Wenn du mich fragst, sollte er zwanzig Jahre aufgebrummt erhalten.« Sara blieb neben Tom stehen und blickte hinunter in ihre Trainingshalle, in welcher sie Weiterbildungskurse in Selbstverteidigung gaben. Zudem hatten sie ein Ausbildungsprogramm für Personenschützer ins Leben gerufen. Hinter dem Dojo erstreckte sich der Trainingsparcours, mit Hindernissen und Mauern, um den Ernstfall zu trainieren. Aber diese Woche hatten die Kursteilnehmer noch Ferien. Sara seufzte. »Häusliche Gewalt sollte stärker bestraft werden. Wir lassen den Mistkerlen – ob Mann oder Frau – zu viel durchgehen. Sie sind der Abschaum unserer Gesellschaft. Die eigene Familie quälen … geht gar nicht.« Sie musste unweigerlich an ihren Pflegesohn ET denken.

Natalie trat mit einem Tablett mit zwei Tassen Kaffee aus dem Bürocontainer, der als Sitzungsraum diente – und wo die Kaffeemaschine stand. »Ihr kommt spät.«

»Hast du einen Klienten?«, fragte Tom und schaute auf die Tassen.

»Vielleicht. Ein Freund will mit mir reden – unter vier Augen.«

»Kennen wir ihn?«, fragte Sara.

»Nein.« Natalie ließ sie stehen und ging in den nächsten Bürocontainer, der ihr und ihren drei Computern gehörte. Sie schloss die Tür hinter sich.

Sara zupfte Tom am Hemdärmel. »Natalie hat Freunde?«

Tom zuckte lässig mit den Schultern, in seinen Augen blitzten jedoch große Fragezeichen auf. Er ging vor in ihr Büro, den dritten Container, den er sich mit Sara teilte.

»ET hat sich gestern Abend lautstark über seinen Schwiegervater in spe beschwert«, wechselte Sara das Thema.

Tom fuhr herum. »Muss er mich hinter meinem Rücken so nennen? Ich habe ihm dreimal ein Heiratsverbot erteilt. Er kriegt meine Lucy nicht. Nein. Ich will keinen Schwiegersohn mit blauen, violetten oder erdbeerroten Haaren.«

Sara lachte laut heraus. »Er macht sich einen Spaß daraus, und du fällst darauf herein. Oder hast du ein Problem, dass wir zwei danach verwandt wären?«

***

Natalie stellte Fabian den Kaffee auf den Tisch. Dieser saß nervös auf dem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf dem Schoß, die Finger ineinander verkeilt. Seine Ferse wippte auf und ab im Tempo der Nadel einer Nähmaschine. Sein glücklicher, entspannter Blick, als sie sich vor zwei Tagen am Kolinplatz zufällig über den Weg gelaufen waren, war verschwunden. Wie ein muskulöses Häufchen Elend hockte er heute vor ihr. Seine Haare waren fettig und zerzaust, die Brille saß schief, und Schweiß bedeckte seine Stirn.

»Was ist passiert?«, fragte Natalie. Sie hätte ihm besser einen Kamillentee servieren sollen.

»W-waren das deine beiden Kollegen, die draußen geredet haben?«

»Genau. Sara Jung und Tom Engels. Sie werden uns nicht stören.« Natalie zog ihren Laptop zu sich heran. »Du hast mich heute Morgen angerufen. Erzähl.«

»Es … ich weiß nicht. Nein. Ich … ich habe …«

»Lass dir Zeit. Atme tief durch.«

»Ich habe eine Freundin, das weißt du, oder?«

»Genau. Noemi heißt sie, richtig?«

»Ja. Noemi Moser. Ich … ich … Shit! Sie ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.«

»Ihr wohnt zusammen?«

Fabian nickte. »Sie kam mit mir für ein Jahr in die USA. Zurück in der Schweiz haben wir uns eine gemeinsame Wohnung in der Ammannsmatt genommen.«

»Hast du sie angerufen?«

»Hundertmal. Ihr Handy ist ausgeschaltet.«

»Seit wann?«

»Seit gestern. Wir haben am frühen Nachmittag noch telefoniert. Sie hat gearbeitet. Am Abend kam sie nicht nach Hause. Seither ist ihr Handy ausgeschaltet.«

Natalie machte sich Notizen am Laptop. »Wo arbeitet Noemi? Gestern war Ostermontag, hatte sie nicht frei?«

»Ähm, nein … Sie arbeitet im Kleintheater am Kolinplatz.«

»Gab es dort eine Vorstellung?«

»Nein. Sie haben geprobt. Noemi ist Schauspielerin.«

Natalie blickte auf. »Oh, eine Schauspielerin?«

»Es ist ihr erstes richtiges Engagement. Sie spielt die Hauptrolle in dem Stück. In zwei Monaten ist Premiere, deshalb proben sie oft.«

»Wann waren die Proben fertig?«

»Um vier Uhr. Seither ist sie verschwunden.«

»Hat sie nichts erwähnt? Vielleicht hatte sie andere Pläne?«

»Nein. Ich habe den ganzen Abend versucht, sie zu erreichen. Auch in der Nacht und heute Morgen.« Fabian vergrub sein Gesicht in seinen riesigen Händen, die mit markanten Adern durchzogen waren.

Deshalb hatte er die dunklen Ringe unter seinen Augen, dachte Natalie. Er hatte nicht geschlafen. »Wie sollte sie nach Hause kommen?«

»Sie fährt immer mit dem Bus zum Theater.«

»Könnte sie bei Freunden sein?«

Fabian schüttelte den Kopf.

»Was ist mit ihrer Familie? Hast du dort angerufen?«

Erneut schüttelte er den Kopf. Haare fielen ihm in die Stirn.

»Nein? Du hast nicht angerufen, oder sie hat keine Familie?«

»D-doch. Die Eltern wohnen in Zug. Aber wir – wir verstehen uns nicht. Sie hat selten Kontakt mit ihnen, seit wir aus den USA zurück sind. Ihr Vater ist … einschüchternd.«

»Einschüchternd?«

»Er ist … war Major beim Militär. Berufsmilitär. Ist in Pension, aber behandelt seine Familie, als wäre er noch im Dienst, mit Strenge, Disziplin und Gebrüll. Und ihre Mutter will, dass sie studiert. Was ihre Tochter will, interessiert die nicht. Noemi hatte genug von der Bevormundung und kam deshalb mit mir in die USA.«

»Verstehe.« Natalie machte sich Notizen. »Was ist mit den Leuten vom Theater?«

»Levi Morgenstern, der Regisseur und auch Leiter des Kleintheaters, sagte heute Morgen, dass Noemi gestern pünktlich gegangen sei. Ihren Partner konnte ich nicht erreichen. Das Stück ist nur für zwei Personen geschrieben. Mehr Leute sind nicht bei den Proben.«

»Du hast erst heute Morgen dort angerufen?« Natalie sah, wie Fabians Knöchel weiß wurden, so fest drückte er seine Hände zusammen. »Warum erst heute Morgen?«

Fabian schwieg, was wohl bedeutete, dass er nicht den Mut gefunden hatte, vorher anzurufen. Schüchternheit war kein Verbrechen, und Natalie wusste, dass es ihn große Überwindung gekostet haben musste, diesen Levi Morgenstern zu kontaktieren. Mut war eine Eigenschaft, die Fabian schon zu Zeiten im Gymnasium gefehlt hatte. Er fand kaum Anschluss an die Mitschüler, und jedes Mal, wenn ein Lehrer seinen Namen aufrief, begann er zu stottern oder verschluckte sich und hustete aus Verlegenheit. Seine schriftlichen Prüfungen waren fehlerfrei gewesen, bei den mündlichen versagte er.

»Kennst du einen Grund, weshalb Noemi nicht heimkam? Hat sie vielleicht Ärger mit jemandem?«

»Nein! Alle lieben sie. Sie …« Fabian krallte die Finger in seine blonden Haare.

Natalie stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich werde deine Freundin finden. Ihr geht es bestimmt gut. Das ist vermutlich nur ein dummes Missverständnis.«

Fabian wischte sich unter der Brille einige Tränen aus den Augen. Armer Kerl. Er war vollkommen aufgelöst und krank vor Sorge. »Ich liebe sie, weißt du. Eine Frau wie Noemi gibt es nicht zweimal auf dieser Welt.«

»Hast du ein Foto?«

»Du findest Bilder auf ihrem Instagram-Account und YouTube-Kanal.«

»Postet sie regelmäßig?«

»Täglich. Gestern Mittag war ihr letzter Post. Seither … seither …«

Natalie fragte nach den Accountnamen und rief die Profile auf dem Handy auf. Erst scrollte sie durch die Fotos auf Instagram, die fast ausnahmslos Noemi zeigten. Eine junge, hübsche Frau mit einem leicht südländischen Touch. Dunkelbraune lockige Haare reichten ihr bis zur Taille. Sie war eine äußerst schlanke, zierliche Person. Die Wimpern waren voll und geschwungen, vermutlich nicht echt. Die Augen waren groß und dunkel, das Kinn schmal. Wenn sie lächelte, zeigten sich zwei Grübchen in ihren Wangen. Ihr Gesichtsausdruck war wandelbar, von kindlich, charmant und natürlich zu sexy, arrogant und streng. Eine Schauspielerin, dachte Natalie, auch auf ihrem Account. Ihr letztes Foto war zu Hause am Frühstückstisch aufgenommen worden. Am Ostermontag. »Out of bed«, stand unter dem Bild, auch wenn sie für diesen Look bestimmt eine halbe Stunde vor dem Schminkspiegel verbracht haben musste.

Natalie blickte auf und betrachtete Fabian einen Moment, der in Gedanken versunken war. Er und Noemi könnten gegensätzlicher nicht sein. Oder irrte sich Natalie? Vielleicht war Noemi abseits des Rampenlichts ebenfalls eine schüchterne Person, so wie Fabian. Natalie warf einen Blick auf Noemis Follower: stattliche dreißigtausend. Danach schaute sie sich Noemis YouTube-Kanal an. Knapp fünfzig Videos waren hochgeladen, unterteilt in drei Playlisten: »Noemis Vlog«, »Noemis Acting-Tipps« und »Noemis Role-Covers«. Natalie rief ein Role-Cover-Video auf. In dem dreiminütigen Video rezitierte Noemi vor einer weißen Wand einen Monolog der Figur Katniss Everdeen aus dem Film »Die Tribute von Panem – The Hunger Games«. Sie kam nicht an das Schauspiel von Jennifer Lawrence heran. Mittelmäßig, die Leistung, dachte Natalie. In einem anderen Video sprach Noemi einen Monolog der Figur Daenerys Targaryen aus der Fernsehserie »Game of Thrones«. Dies war eher als schlecht einzustufen. Musste sie sich solche starken Frauenfiguren aussuchen?

Natalie wechselte zurück auf Instagram und rief eines der letzten Porträtbilder auf, das Noemi vor einem Spiegel zeigte, das Handy in der Hand mit den langen, auffällig verzierten Fingernägeln. Konnte sie sich mit dem Lohn einer Bühnenschauspielerin diese Nägel leisten?

»Arbeitet Noemi nebenbei woanders?«

»Nein. Sie konzentriert sich auf ihre Karriere. Sie hat für ihren Traum das Medizinstudium abgebrochen.«

»Unterstützt du sie finanziell?«

»Ist das wichtig?«

»So sind wir Detektive eben. Wir stellen unbequeme Fragen, sorry.«

»Ich zahle Miete und Krankenkasse. Ich verdiene genug für uns beide.«

»Soll kein Vorwurf sein.«

»Finde sie«, sagte Fabian mit leiser Stimme. »Ich weiß nicht, wie ich … wie ich ohne sie …«

»Bleib ruhig, ja? Sie ist keine vierundzwanzig Stunden verschwunden. Um die Polizei einzuschalten, ist es zu früh. Am besten, du gehst heim und wartest dort, falls sie auftaucht. Ich brauche eure Telefonnummern und die Wohnadresse.«

Fünf Minuten später verließ Fabian mit hängendem Kopf und angezogenen Schultern die Trust. Natalie ging hinüber zu Tom und Sara. Die beiden diskutierten wie ein altes Ehepaar über den horrenden Verbrauch von PET-Flaschen in einem Familienhaushalt. Natalie schaute ihnen einen Moment zu. Obwohl Tom diesen März einundvierzig geworden war, sah er eher aus wie ein Student. Er hatte ein längliches Gesicht mit schönen Wangen. Die wilden, dunkelblonden Haare waren an der Seite kurz geschnitten. Sein Bartschatten war sexy, und die schmalen Augen strahlten eine Wärme aus, die Natalie damals, als sie sich kennengelernt hatten, sofort in ihren Bann gezogen hatte und es heute noch tat. Dennoch, seine Karriere als Kickboxer und die schwierige Ehe mit seiner Frau hatten Spuren hinterlassen. Auch sein demenzkranker Vater, der seit ein paar Monaten in einem Pflegeheim wohnte, machte ihm das Leben nicht einfacher.

Sara war eine Singlefrau aus Überzeugung. Wie üblich trug die ehemalige Polizistin eine weiße Bluse und schwarze Hosen. Neu hingegen war das farbige seidene Halstuch, ein Geschenk von ET, wie Natalie wusste, der entschlossen war, Saras Schwarz-Weiß-Welt in Farbe zu tunken, Schritt für Schritt.

»Hey, ihr zwei, genug gezankt. Wir haben einen Fall. Und er eilt. Wir müssen eine vermisste Schauspielerin finden.«

***

»Sie ist keine vierundzwanzig Stunden verschwunden«, sagte Sara in Polizeimanier.

»Sie könnte in Gefahr sein. Jede Minute zählt«, entgegnete Natalie.

Tom musste einschreiten, so kamen sie an kein Ziel. Manchmal kam er sich vor wie in der Politik. Er, der in der Mitte saß, Sara, die Konservative und Berechnende rechts von ihm, und Natalie, die Soziale und Emotionale, zu seiner Linken. »Wir werden nach ihr suchen«, beschloss er, »aber wir schlagen nicht gleich Großalarm. Sie ist nicht nachts nach einem Clubbesuch verschwunden. Vielleicht hatten Noemi Moser und Fabian Rüfenacht einen Streit, wovon er uns nichts erzählt hat, und deshalb ging sie nicht heim und hat bei Freunden übernachtet.«

»Fabian kann nicht lügen«, behauptete Natalie. »Er ist ein lieber Kerl, aber nicht mutig genug, mir ins Gesicht zu lügen. Er ist verzweifelt und besorgt, eindeutig.«

»Sie ist vierundzwanzig«, fuhr Sara dazwischen. »Mädels in dem Alter sind unberechenbar.«

»Aha, und das weißt du?«, fragte Natalie.

»Klar. ET ist –«

»Er ist ein Teenager. Du kannst ihn nicht mit Noemi vergleichen. Sie ist älter – und eine Frau.«

Sara blieb stur. »Das Mädel hat ein Studium abgebrochen, hat nie richtig gearbeitet und nutzt ihren Freund finanziell aus. Warten wir bis morgen. Wenn sie bis dahin nicht zurückkommt, suchen wir nach ihr. So haben wir das bei der Polizei auch gemacht.«

»Es ist kein Freundschaftsdienst für Fabian«, sagte Natalie. »Er hat uns engagiert und den Vorschuss überwiesen.«

»Und du hast das Geld angenommen?«, fragte Sara kalt.

Natalie senkte den Kopf. »Ich wollte es nicht, er hat darauf bestanden.«

Sara verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn das so ist, gut, suchen wir nach ihr.«

Tom verdrehte die Augen. Er konnte Sara verstehen. Im Gegensatz zu Natalie, die bequem in der Villa ihres Vaters wohnte, musste Sara mit dem kleinen Gehalt, das sie verdiente, sich und ET über die Runden bringen, auch wenn der Lehrling durch das Sozialamt zusätzlich finanziell unterstützt wurde. Viel blieb Ende Monat nicht auf dem Konto liegen. Nein, geldgierig war Sara nicht, nur pragmatisch, er wusste, wovon er sprach. »Wir sollten dort beginnen, wo Noemi zuletzt gesehen wurde, im Kleintheater am Kolinplatz. Sara und ich fahren hin. Versuchst du, sie im Netz aufzustöbern?« Er schaute Natalie an.

»Nein. Ich komme mit ins Theater. Ich bin nicht so zerbrechlich, dass ich tagein, tagaus nur vor dem PC sitzen muss. Mir geht es heute gut, sehr gut sogar.«

Sara hatte keine Einwände. »Fahrt ihr hin. Ich lege unterdessen ein Dossier über Noemi Moser an. Zudem habe ich drei weitere Fälle zu bearbeiten.«

»Einverstanden«, sagte Tom. »Ich rufe gleich beim Theater an. Wenn jemand dort ist, fahren Natalie und ich nach dem Mittagessen hin.«

ZWEI

Die Uhr der St. Martinskirche schlug gerade zwölf, als Sara zurück in ihre Wohnung in Baar kam. Sie öffnete die Tür, und eine ungewohnte Duftkomposition von Kirschblüten und Safran lullte sie ein. »ET! Was hast du diesmal angestellt?« Sie zog ihre Schuhe im Flur aus und stellte sie ordentlich ins Schuhregal, was sie früher nie gemacht hatte. Belle Amie, ihre Katze, kam aus dem Wohnzimmer gestürmt und attackierte zur Begrüßung ihre Zehen. Was stimmte mit der Katze nicht? Sara schlüpfte in ihre Finken und war froh, keinen Zeh amputiert bekommen zu haben. Enttäuscht und mit erhobenem Schwanz stolzierte Belle Amie zurück ins Wohnzimmer.

ET lugte neckisch aus der Küche und zog seine Kopfhörer von den Ohren. »Perfektes Timing. Lunch ist ready. Piccata mit Safranrisotto.« Er lehnte sich lässig an den Türrahmen, wischte mit der Hand eine seiner zurzeit dunkellilafarbenen Haarsträhnen aus der Stirn. Über dem Rocker-T-Shirt und der zerschlissenen Jeans trug er eine Kochschürze mit der Aufschrift »I love Mum«.

Neuerdings übertrieb er es mit seiner Zuneigung, dachte Sara, setzte sich aber nicht zur Wehr, als er auf sie zustürmte und ihr um den Hals fiel. Und was stimmte nicht mit dem Jungen? Siebzehnjährige waren nicht anhänglich, ganz im Gegenteil. Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Wehe, du sagst, dass du mich die letzten drei Stunden vermisst hast. Dann schmeiße ich dich aus der Wohnung.«

ET packte sie an den Schultern und schaute ihr in die Augen. Mittlerweile war er ein gutes Stück größer als sie. Seit er bei ihr wohnte, schoss er nur so in die Höhe. »Hab dich vermisst. Und jetzt wasch dir die Hände und setz dich. Ich serviere das Mittagessen.«

»Warum musst du Ferien haben?«, knurrte Sara, gehorchte widerwillig und ging ins Bad. Dort fand sie den Ursprungsort des Kirschblütenduftes. Neben dem Waschbecken stand ein Fläschchen mit Duftstäbchen, das am Morgen noch nicht dort gestanden hatte.

Sara betrachtete sich im Spiegel, der auf Hochglanz poliert war. Die ersten Fältchen im Gesicht waren unmöglich zu übersehen. Ihre Haut war trocken. Sollte sie es mit Make-up versuchen, um einige Jahre des Alters zu kaschieren? Blöder Spiegel, was musste der so glänzen und ihr die hässliche Wahrheit zeigen? Sie schüttelte ihre nassen Hände, damit Wassertropfen auf dem Spiegel landeten. Hatte sie sich ausgerechnet einen Ordnungsfreak als Pflegesohn aussuchen müssen? Sie musste unvermittelt lachen, weil sie bestimmt die einzige Mutter im Universum war, die sich über so eine Charaktereigenschaft des Nachwuchses beschwerte.

Sie ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Das Safranrisotto war himmlisch. »Wow, wo hast du das Rezept her?«

»Von einem Chefkoch im Internet.«

Sara seufzte. »Mensch, ET, du solltest mit deinen Freunden abhängen und mir Ärger bereiten, ein Chaos in der Wohnung hinterlassen und unzuverlässig sein wie andere in deinem Alter. Du musst mir nichts beweisen oder dich erkenntlich zeigen, weil –«

»Ich mache es gerne. Und weißt du, warum? Weil du es schätzt. Meine Mutter hat das nie getan.« Ein Schatten legte sich über sein Gesicht.

Sara musste dem Drang widerstehen, ihn in die Arme zu nehmen.

»Und?«, wechselte er rasch das Thema. »Arbeitest du an interessanten Fällen? Braucht ihr von der Trust meine Hilfe?«

»Du hast Ferien.«

»Mir ist langweilig.«

»Was ist mit Lucy? Sie hat keine Schule.«

»Sie geht heute mit einer Freundin shoppen.«

»Schreibe an neuen Songs für deine Band.«

»Mit den Songs, die ich die letzten Monate geschrieben habe, könnten wir drei Alben füllen.«

Sara steckte ein Stück Piccata in den Mund. Das Fleisch zerging regelrecht auf der Zunge. »Wir suchen nach einer Vermissten. Wo könnte sich eine Vierundzwanzigjährige herumtreiben? Hast du eine Idee?«

»Seit wann wird sie vermisst?«

»Seit gestern am frühen Abend.«

»Ich bin manchmal zwei bis drei Tage von zu Hause weggeblieben, wenn ich meine betrunkene, depressive Mutter nicht ertragen konnte. Nach mir hat keine Detektei gesucht. Ich kam von allein zurück.«

»Meine Worte. Bestimmt will sie nur ihre Ruhe.«

»Oder sie wurde entführt.«

»Was?«

»Vielleicht hatte sie einen Unfall und keine Ausweise dabei. Hast du in den umliegenden Spitälern angerufen? Das machen sie in den Fernsehserien so.«

»Klugscheißer.« Aber er hatte recht. Sie sollte die Spitäler anrufen. »Gut. Willst du am Nachmittag mit mir ins Büro kommen? Natalie und Tom werden unterwegs sein. Du kannst mir unter die Arme greifen.«

ET lehnte sich vor. »Ich soll dein Watson sein, Sherlock Holmes?«

***

»Die Blase ist gut verheilt«, sagte Musa, ihr persönlicher Pfleger, und verband Natalies rechten Arm neu. »Du hast heute zu Mittag die ganze Suppe gegessen. Das gefällt mir.«

Natalie saß zu Hause in der Villa auf dem Liegebett ihres Beautyzimmers, wie sie es nannte, das dem eines Behandlungsraumes in einem Spital in nichts nachstand. »Wir haben einen neuen Fall, also gib Gas. Um zwei holt mich Tom ab. Wir fahren ins Theater.«

»Will ich Details wissen?« Musa fixierte den Verband.

Natalie betrachtete ihn und seufzte leise. Ihre Eifersucht Musas Aussehen gegenüber würde sie nie in den Griff bekommen. Seine dunkle Haut war strahlend schön.

Musa kam aus Nigeria, lebte aber seit einigen Jahren bei ihnen in der Villa. Ohne ihn wäre Natalie verloren. Er war nicht nur ihr Pfleger, Personal Trainer, Fahrer und Gärtner, er war auch ihr bester Freund.

»Hat sich Rico in den letzten Wochen bei dir gemeldet?«, fragte er.

Rico, dachte sie schwermütig. »Nein, er reist durch Südamerika. Eigentlich hätte er letzten Monat zurückkommen sollen, aber er ist ein Jenischer, er braucht die Freiheit. Liegt in den Genen.«

»Fehlt er dir?«

Gute Frage. Das wusste sie selbst nicht. Sie genoss das Flirten mit Rico, wenn er in der Gegend war, aber sie wusste, dass er kein Mann war, den sie an sich binden konnte oder wollte. Tom hatte sie von Anfang an gewarnt. Vielleicht war ihre seltsame Beziehung deshalb erträglich. Sie war Rico dankbar, dass es Augenblicke gab, in denen er ihr das Gefühl gab, eine Frau zu sein, aber sie wusste, dass es ihm gegenüber unfair wäre, mehr zu verlangen. Reisen war wegen der täglich notwendigen medizinischen Behandlungen für Natalie schwierig. Sie wollte sich nicht beklagen. Finanziell hatte sie keine Sorgen, lebte mit einer phantastischen Familie in einer schönen Villa in Walchwil mit Blick auf den Zugersee, hatte einen Job in der Detektei, nachdem sie wegen ihrer verwachsenen Finger das Comiczeichnen hatte aufgeben müssen. Und sie hatte verlässliche Freunde. »Ich bin es gewohnt, dass Rico manchmal für Wochen untertaucht und sich nicht meldet. Sag mal, du bist über ein halbes Jahr mit Sammy zusammen … Wie würdest du reagieren, wenn dein Liebster über Nacht wortlos verschwindet?«

»Hm, wir wohnen nicht zusammen, telefonieren aber regelmäßig, wenn wir uns nicht sehen. Wenn er sich nicht melden würde, würde ich mir Sorgen machen, es müsste etwas passiert sein.«

»Was, wenn ihr an dem Tag einen Streit hattet?«

»Egal. Ein Streit ist kein Grund … Warum fragst du? Ist Sammy …?«

»Nein, keine Panik. Es geht um einen neuen Fall. Wir suchen eine vermisste Frau und sind nicht sicher, ob sie in Gefahr ist oder ob sie nur ihre Ruhe will.«

»Sucht nach ihr. Wenn ihr sie aufspürt, ist sie vielleicht sauer auf euch, was besser ist, als wenn sie irgendwo verzweifelt auf Hilfe wartet, die nicht kommt.«

Natalie nickte und kletterte vorsichtig von der Liege. »Musa, du bist der Beste. Es ist fünf vor zwei. Tom sollte gleich hier sein.«

»Aha, deshalb bist du so hibbelig.«

»Quatsch, doch nicht wegen Tom.«

***

Tom steuerte seinen alten Peugeot auf den Vorplatz der Villa. Alexandra, die Haushälterin, telefonierte vor der Tür und behielt die dreijährige Imani im Auge, die begeistert Primeln aus dem Blumenbeet riss. Die Adoptivtochter der Kriegers war ein Goldstück. Wild kringelten sich die schwarzen Haare auf ihrem Kopf, die sie von ihrer kongolesischen Mutter geerbt hatte, und hüpften auf und ab, als sie Tom in die Arme rannte, der sie hochhob und im Kreis drehte. Sie giggelte vergnügt.

Alexandra winkte ihm zu, als sie das Handy wegsteckte. Tom mochte sie. Sie war Anfang dreißig, eine sympathische, natürliche Frau. Ihre langen dunkelblonden Haare fielen ihr über die Schultern.

»Imani, du kannst Onkel Tom nicht gleich überfallen.«

Er trug die Kleine zu Alexandra und übergab sie ihr, als Natalie aus der Villa trat. Sie hatte ein übergroßes türkisfarbenes T-Shirt und eine leichte weiße Baumwollhose an. Stand ihr gut, aber nicht so gut wie der Afrika-Look, den sie manchmal trug, dachte Tom und musste an ihre erste Begegnung zurückdenken.

»Hat meine süße Schwester wieder Blumen ausgerissen? Sag das nicht Musa.« Natalie drückte Imani einen Kuss auf die Wange und schaute Tom an. »Fahren wir. Wir sollten keine Zeit verlieren.«

Als Tom den Wagen die kurvige Straße hinunter zum See lenkte, war Natalie ungewohnt still. »Was ist?«, fragte er.

»Warum habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache?«

»Weil du persönlich involviert bist. Du kennst Fabian.«

»Aber nicht seine Freundin. Ein komischer Zufall, nicht?«

»Dass ihr euch zufällig über den Weg lauft und er zwei Tage später bei uns vorbeischaut, weil du ihm seine Karte gegeben hast? Zug ist nicht groß, da trifft man alte Freunde zufällig hin und wieder.« Tom steuerte den Wagen Richtung Stadtzentrum. »Schauen wir uns das Kleintheater an.«

»Ich habe über Mittag Levi Morgenstern im Netz überprüft«, sagte Natalie. »Er ist neunundvierzig, in der Schweiz aufgewachsen, hat in Deutschland Schauspiel und Regie studiert und in Tel Aviv und New York gearbeitet, bevor er das Kleintheater am Kolinplatz vor knapp vier Jahren übernahm. Er ist eher mäßig erfolgreich. Das Theater sucht nach Gönnern und Spendengeldern.«

»Das Geschäft mit der Kunst ist harzig.«

»Scheint so. Sonst fand ich nichts Negatives über ihn heraus.«

Sie erreichten den Kolinplatz. Vor ihnen lag das Theater. Tom fand vor dem Kolinbrunnen ein freies Parkfeld. Perfekt, damit Natalie nicht weit gehen musste. Ihre Füße mochten keine langen Strecken.

Sie stiegen aus, und Natalie zeigte auf ein Haus in einer Häuserzeile auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Das ist es, das Kleintheater am Kolinplatz.«

Von außen wirkte das Theater schlicht und unspektakulär. Die Fassade war blassrosa. Es gab zwei Schaufenster, die mit Plakaten und Theaterrequisiten ausgestattet waren. Der aktuelle Spielplan hing neben einem der Fenster. Tom hatte sich über das Theater informiert. Rund zweihundertfünfzig Personen fanden darin Platz. Jeweils Donnerstag bis Sonntag gab es Vorstellungen, aber nicht nur Theaterstücke, manchmal traten Comedians, Zauberer oder Musiker auf. Zudem konnte man von Montag bis Mittwoch das Kleintheater für private Anlässe mieten.

Die mächtige Holztür war von einem Torbogen im Mauerwerk gesäumt, der zwei mit Stuckaturen verzierte Säulen darstellte. Die Tür stand offen. Tom und Natalie traten ein. Das Foyer war nicht groß und um diese Zeit menschenleer. Rechts war das Kassenhäuschen, daneben die Garderobe und links ein kleines Bistro. In der Mitte führte eine kurze Treppe hoch, ein Schild deutete an, dass es dort zu Sitzplätzen im Parkett ging. Eine Wendeltreppe neben dem Bistro führte hoch zu den Plätzen im oberen Rang, was ebenfalls ein Schild anzeigte.

Da ihnen niemand entgegenkam, wollte Tom Levi Morgenstern anrufen, als Natalie ihn am Arm packte. »Hörst du das? Da streiten sich zwei Männer.«

Tatsächlich. Die Stimmen kamen aus dem Theatersaal. Tom ging die wenigen Stufen hoch, die zum Parkett führten. Natalie folgte. Sie traten durch einen schweren Vorhang und befanden sich bei der hintersten Sitzreihe der mit rotem Samt überzogenen Sessel.

Das Licht in dem Saal war gedimmt, die absteigenden Sitzreihen lagen im Halbdunkel, einzig die Bühne war durch einen Scheinwerfer erhellt. Das Bühnenbild war schlicht. Es gab einen langen Holztisch in der Mitte, rechts stand ein künstlicher Baum und auf der linken Seite ein Ritter in einer Rüstung mit einem Schwert in der Hand. Die Kulisse im Hintergrund war ein gemaltes Bild eines düsteren Waldes, und davor stand ein künstliches Mauerwerk, das eine Ruine darstellen sollte.

Interessanter waren die beiden Männer, die je an einem Kopfende des Tisches standen. Der ältere trug einen grauen Anzug. Er war eher klein, untersetzt, und seine Oberkopfglatze machte ihn optisch vermutlich älter, als er war. Der andere Mann, Ende zwanzig, schätzte Tom, war ein Hingucker: Das einzige Kleidungsstück, welches er trug, war eine Jeans. Er war barfuß. Sein nackter Oberkörper war durchtrainiert, die Haut übersät mit Tattoos. Am auffälligsten war der Adler auf der Brust, dessen gespreizte Flügel bis zu den Schultern reichten. Die Arme zierten keltische Muster und Symbole. Der Mann war groß gewachsen. Die naturblonden Haare trug er kurz geschnitten. Ein wenig erinnerte er Tom an den kanadischen Schauspieler Ryan Gosling. In der Hand hielt er ein Bündel Geldnoten, während er seinen Blick auf den Mann im Anzug fixierte.

»Proben die?«, fragte Natalie im Flüsterton.

Sah ganz danach aus, dachte Tom. Der Tätowierte legte Geld hin und schob es mit einer kräftigen Bewegung dem Mann im Anzug über den Tisch zu. »Reicht das?«

Der Ältere steckte die blauen Scheine in seine Anzugtasche. Das mussten an die fünftausend Franken sein.

Mit einer geschmeidigen Bewegung schwang sich der Tätowierte auf den Tisch, das Gesicht dem Publikum zugewandt, wäre welches an diesem Nachmittag im Theater gesessen. Er brauchte keine drei Sekunden, bis er Natalie und Tom auf dem Flur in den hinteren Rängen entdeckte. »Wir haben Zuschauer!«, rief er.

Tom ging vor, hinunter zur Bühne. Der Tätowierte blieb auf dem Tisch sitzen, die nackten Füße baumelten gelangweilt vor und zurück. »Sie müssen von der Schnüffel-Agentur sein.« Es war eine emotionslose Feststellung.

Schnüffel-Agentur? Tom atmete tief durch, um ruhig zu bleiben. »Wir haben telefoniert.« Er blickte zwischen den Männern hin und her, als er vor der erhöhten Bühne stehen blieb. »Levi Morgenstern?«

»Das ist der unsympathische Typ im schlecht sitzenden Anzug, der mein Geld genommen hat. Ich bin Samu Jansson, der Star auf diesen schäbigen Brettern, die kaum die Welt bedeuten.« Er machte eine theatralische Geste, breitete die Arme wie ein Prediger aus und blickte hoch zu den Scheinwerfern. »Das Fest ist jetzt zu Ende. Unsere Spieler, wie ich euch sagte, waren Geister und sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.« Er blickte Levi Morgenstern an, der bisher geschwiegen hatte. »Shakespeare war ein kluger Kerl. Unser Stück steht unter einem schlechten Stern, da die Hauptdarstellerin sich in Luft aufgelöst hat, nicht?«

Tom sprang hoch auf die Bühne, während Natalie den Umweg über die seitliche Treppe nahm. »Ich bin Tom Engels, das ist meine Partnerin Natalie Krieger. Wir kommen von der Trust Investigation, im Auftrag von Herrn Fabian Rüfenacht.« Tom reichte beiden eine Visitenkarte.

»Um eins hätte unsere Probe beginnen sollen«, sagte Morgenstern nach einer kurzen Begrüßung. »Noemi ist nicht gekommen.«

Natalie schloss zu ihnen auf. »Wofür war das Geld eben?«

»Oh. Ich mag Frauen, die gleich auf den Punkt kommen«, sagte Samu, sprang vom Tisch und legte vor Natalie eine bühnenreife Verbeugung hin. Tom bemerkte, dass sie irritiert zurückwich. Halb nackte Männer, die ihr zu Füßen lagen, war sie nicht gewohnt. »Sie wollen mir Noemi zurückbringen?«

»Nicht Ihnen. Ich bringe sie Fabian zurück«, antwortete Natalie schnippisch.

»Ah, dem langweiligen Freund.«

»Sie sind ihr Schauspielpartner?«

»Genau. Wir spielen ein Liebespaar. Es gibt in dem Stück nur uns zwei, deshalb ist es ein Problem, wenn sie nicht auftaucht.«

»Wer von Ihnen hat Noemi gestern zuletzt gesprochen?«, fragte Tom.

»Ich nicht.« Samu zeigte auf Morgenstern. »Er war es. In seinem Büro, nach der Probe.«

»Hat sie sich seltsam verhalten?«, fragte Natalie. »War sie unkonzentriert, nervös?«

Samu schüttele den Kopf. »Die Probe lief gut.«

»Wollte sie danach gleich heim? Hatte sie Pläne für den Abend?«

Samus Augen verengten sich. »Keine Ahnung. Wir arbeiten zusammen. Was sie in ihrer Freizeit tut, ist mir egal.«

Natalie trat einen Schritt auf Samu zu, der über einen Kopf größer war, diesmal unbeeindruckt von seinem tätowierten, nackten Oberkörper. »Ist das Theaterstück gut?«

»Das Stück hat seinen Reiz. Es wird immer besser. Sie sollten es sich ansehen. Ich werde Ihnen Karten für die Premiere besorgen, vorausgesetzt, Sie bringen Noemi zurück.« Er drehte sich auf seinen Fersen um und verließ die Bühne.

Tom sah, wie Natalie missbilligend die Nase rümpfte. Er wandte sich dem Regisseur zu. »Haben alle Schauspieler solche eigenwilligen Charaktere?«

Morgenstern seufzte. »Samu ist eine Diva. Aber er ist gut, ich möchte nicht auf ihn verzichten.«

»Worum geht es in dem Stück?«, fragte Natalie.

»Um eine zufällige Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau und die katastrophalen Folgen, die daraus resultieren. Es ist ein Liebesdrama, bei dem nichts so ist, wie es zunächst scheint.«

Klang ein wenig langweilig, dachte Natalie.

»Seit wann kennen Sie Noemi Moser?«, fragte Tom.

»Seit dem Casting. Das war vor vier Monaten.«

»Dies ist Noemis erstes Engagement, korrekt?« Tom holte ein kleines Notizbuch aus seiner Hosentasche.

»Sie hat bisher in zwei Werbespots mitgespielt und hatte einige Rollen bei kleinen Produktionen und Laientheatern. Aber sie hat eine solide Ausbildung, studierte ein Jahr an einer Schauspielakademie in San Francisco.« Morgenstern strich sich mit der flachen Hand über die Schläfe. »Sie hat Talent, spielt die Rolle hervorragend. Es knistert zwischen ihr und Samu, was wichtig ist für das Stück, das von der Chemie der Hauptdarsteller lebt.«

Es knistert, wiederholte Tom in Gedanken. Wie konnte Fabian damit umgehen? Ein Knistern lieferte definitiv den Stoff für Beziehungsprobleme.

»Worüber haben Sie gestern mit Noemi im Büro gesprochen?«, fragte Natalie.

»Ähm, wir sind einige Textpassagen durchgegangen, die ich umgeschrieben habe.«

»Gab es Probleme?«

»Nein. Sie war nicht begeistert, neuen Text zu lernen, das ist alles. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie deshalb nicht mehr zu den Proben kommt.«

Tom blickte sich um. »Gibt es hier Überwachungskameras?«

»Nein.«

»Hat Noemi eine persönliche Garderobe, einen Spind oder irgendwo Gegenstände gelagert?«

»Die Garderoben werden nur bei den Aufführungen genutzt und sind nicht persönlich. Wir haben in der Woche bis zu vier verschiedene Vorstellungen, da können die Darsteller keine eigenen Garderoben haben.«

Natalie zeigte zum seitlichen Aufgang zur Bühne, dort, wo Samu hinter einem Vorhang verschwunden war. »Er war eher auffällig angezogen – oder soll ich sagen, nicht angezogen? Weshalb?«

»Im dritten Akt reißt er sich das Shirt vom Leib«, erklärte Morgenstern. »Deshalb. Wir wollten heute den dritten Akt proben.«

»Sind Sie für Noemi eingesprungen?«, fragte Tom.

»Was?« Morgenstern blickte ihn irritiert an.

»Na, das Geld, das Ihnen Herr Jansson zugeschoben hat. Gehört das zum Stück?«

»Ähm, nein.« Morgenstern steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Samu hat mir Geld geliehen.«

»Sollten nicht eher Sie ihm eine Gage zahlen?«, fragte Natalie.

»Das Business ist hart. Ein Liquiditätsengpass, Sie verstehen. Samu hilft dem Theater finanziell aus. Wir leben von Sponsoren, Gönnern und Investoren.«

»Und Herr Jansson ist ein Gönner?«

»Nur kurzfristig bei einem Engpass. Ihm liegt viel an dem Stück. Er ist überzeugt, dass es sein Sprungbrett für die Karriere sein wird. Müssten wir schließen, wäre das schlimm für ihn – und auch für Noemi.«

Tom kam eine Idee. »Schulden Sie Noemi die Gage? Ist sie deshalb vielleicht nicht erschienen?«

»Nein, nein«, sagte Morgenstern rasch. »Sie bekommt pünktlich am 25. ihr Gehalt, auch wenn es nicht viel ist.«

»Könnte sonst jemand Noemi gestern gesehen haben, als sie das Theater verließ?«

»Nein«, sagte Morgenstern. »Sonst war niemand hier. Es war Ostermontag. Der Hauswart wie auch die Reinigungsfachfrau hatten frei, und Frau Russo, die sich um das Administrative kümmert, hat Ferien.«

Fünf Minuten später standen Natalie und Tom auf dem Kolinplatz vor der Bushaltestelle. Natalie studierte das Streckennetz.

»An Feiertagen fahren die Busse nicht so oft«, sagte Tom. »Noemi muss etwa um Viertel nach vier hier gewesen sein. In den Bussen gibt es Überwachungskameras. Denkst du, wir kommen an das Material?«

»Legal? Vergiss es. Wir haben ebenfalls keine Ahnung, welchen Buschauffeur wir fragen könnten. Hat sie von hier einen Bus bis zum Postplatz genommen und ist dort umgestiegen, um heimzufahren? Oder nahm sie einen Bus in eine andere Richtung? Stieg sie bei einer anderen Haltestelle ein? Nahm sie überhaupt einen Bus? Wir wissen es nicht.«

»Gehen wir zurück zur Trust. Vielleicht weiß Sara unterdessen mehr.«

***

Gott, konnte ET am Telefon ein Charmeur sein. Er rief bei allen Kliniken in Zug und den umliegenden Kantonen an, und obwohl diese die Patienteninformationen vertraulich behandelten, so konnte ET sich so weit durchflirten, dass er zumindest erfuhr, dass gestern keine unbekannte junge Frau nach einem Unfall eingeliefert worden war. Er legte den Hörer auf und schüttelte den Kopf. »Das war das letzte Krankenhaus.«

Sara schaute ihn an, wie er hoch motiviert an Toms Platz in ihrem Büro saß. »Streichen wir den Unfall von unserer Liste.«

»Was, wenn Noemi bisher nicht gefunden wurde? Ich sah vor ein paar Tagen einen Thriller, da ist eine junge Frau nachts im Wald in eine Grube –«

»Weshalb sollte Noemi am Ostermontag nach der Theaterprobe in den Wald gehen und dort in eine Grube fallen?«

ET knurrte leise. »Es gab da letztes Jahr in Luzern so einen Fall, erinnerst du dich? Auf dem Napf, da gab es eine Grube – und eine Bestie, die –«

Diesmal knurrte Sara. »Bei uns in Zug gibt es keine Bestien, die überlassen wir mal schön den Luzernern, schreib dir das hinter die Ohren.«

»War nur ’ne Idee. Ein Verbrechen könnte es trotzdem sein. Ich habe mir alle Videos und Posts von Noemi angesehen. Sie ist hübsch. Ein Fan könnte zu einem Stalker –«

»Wenn du weiter dramatisierst, nehme ich dich nicht mehr zur Arbeit mit.« Stalking war bei ET ein heikles Thema. Er und seine Mutter waren dem drei Jahre lang ausgesetzt gewesen.

Resigniert warf er einen Stift auf den Tisch, lehnte sich im Bürostuhl zurück und streckte die Beine aus. »Dann will sie eben Schluss machen mit ihrem Freund, hat nicht die Eier, es ihm zu sagen, und ist eiskalt mit einem anderen nach Mallorca durchgebrannt. Das macht die Jugend heute so.«

»Tut sie das?«, fragte eine grimmige Stimme von der Tür her.

ET schoss wie eine Rakete vom Stuhl auf und brachte sich seitlich der Tischplatte vor Tom in Sicherheit, der eintrat. »Behandelt je ein Typ eine meiner Töchter auf diese Art, jage ich ihn bis ans Ende der Welt und schleife ihn an den Ohren persönlich zurück.«

ET schlich zu Sara hinüber und machte sich hinter ihr klein. »Siehst du, mein Schwiegervater ist ein Psycho«, flüsterte er in ihr Ohr.

Laut lachend trat Natalie ein und klopfte Tom auf die Schulter. »Hey, Alter, schalt einen Gang zurück. Unser ET trägt deine Lucy auf Händen, das weißt du.«

Tom sagte nichts, sondern setzte sich an seinen Platz.

»Wie lief es beim Theater?«, fragte Sara.

»Interessant, aber bringt uns nicht weiter«, antwortete Natalie. »Habt ihr Neuigkeiten?«

»Negativ«, antwortete ET, als wäre er ein Teilhaber der Trust. »Sie liegt in keiner Notaufnahme.«

»Ich werde mich zu einem Feierabendbier mit Oberstaatsanwalt Eckart Lind treffen«, bemerkte Sara.

»Du willst ihn aushorchen?«, fragte Tom.

»So in der Art. Wir müssen unsere guten Beziehungen mit der Kripo und Staatsanwaltschaft aufrechterhalten.«

Natalie schaute auf die Wanduhr. »Noemi ist exakt seit vierundzwanzig Stunden verschwunden.« Sie zog ihr Handy hervor und fragte Fabian, ob sie bei ihm zu Hause vorbeikommen dürfe.

Sara war von der Idee nicht begeistert. »Ich sollte mitkommen.«

»Du triffst dich mit Lind.«

Auffordernd schaute Sara Tom an, der ablehnte. »Ich muss um halb sechs mit Alicia zum Augenarzt. Sie braucht vermutlich eine Brille. Es hat Wochen gedauert, den Termin zu bekommen.«

»Ich kann mitgehen«, schlug ET vor.

Tom warf ihm einen warnenden Blick zu. »Und Lucy sitzen lassen? Ihr wolltet heute Abend zusammen etwas unternehmen.«

»Leute«, sagte Natalie, »ich kann allein hingehen. Weshalb sollte es gefährlich sein, wenn ich einen ehemaligen Schulkameraden besuche?«

Sara stand vom Stuhl auf. »Das kann ich dir sagen. Weil bei einem Verbrechen, sollte es sich hier um ein Verbrechen handeln, oft die Person schuldig ist, die dem Opfer am nächsten steht.«

Natalie legte die Stirn in Falten. »Du verdächtigst Fabian? Er ist unser Klient.«

»Ich beschuldige ihn nicht«, sagte Sara trocken. »Ich zeige lediglich auf, was die Statistik sagt.«

DREI

Die bunten, handgeknüpften Armbänder an Linds Handgelenk zogen Saras Fokus auf sich, als der Oberstaatsanwalt die Stange Bier an seine Lippen setzte. »Giovanni Rizzo hat mir erzählt, dass du und deine Frau Elfie im Sommer wieder nach Südamerika fliegen wollt.«

»Wusste nicht, dass bei der Polizei solche Klatschweiber arbeiten«, murmelte Lind und leckte sich den Bierschaum von den Lippen.

»Besucht ihr das Kinderhilfswerk?«

»Wir werden dort zwei Wochen aushelfen. Elfie freut sich darauf.«

Sara musterte ihn. Das Pensionsalter rückte näher. Der Zuger Justiz würde ein wertvoller Mann verloren gehen, auch wenn seine langen grauen Haare und die oft bunten Batikhemden und Baumwollhosen, die er trug, optisch in keinen Gerichtssaal passten.

»Wir haben uns länger nicht gesehen. Ich nehme an, bei der Trust Investigation läuft alles rund?«

»Unser guter Ruf spricht sich herum.«

»Wie macht sich der Junge?«

»Er ist anstrengend.« Es war eine Lüge.

Lind schmunzelte. »Ich gönne dir ET von Herzen. Er ist der Erste, der es geschafft hat, zu dir durchzudringen.«

»Wechseln wir das Thema.« Sara winkte der Bedienung zu. Sie saßen in der Weinbar Platzhirsch am Hirschenplatz. »Eine Kalte Platte, bitte. Und für mich ein weiteres Glas Merlot. Willst du noch ein Bier?«