Zugersee - Monika Mansour - E-Book

Zugersee E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Wenn Gerechtigkeit zur Sünde wird... Berührend, verstörend, packend. Die Reinigungskraft Katja Rosenstock ersticht scheinbar völlig unvermittelt den leitenden Angestellten einer Zuger Privatbank und stellt sich der Polizei. Doch über ihr Motiv schweigt sie beharrlich. Katjas verzweifelter Ehemann beauftragt die Detektei Trust Investigation mit den Ermittlungen. Natalie, Tom und Sara tauchen tief in Katjas Leben ein und enthüllen Schicht für Schicht einen erschreckenden Hintergrund, der die Tat in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt.

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar und war Tätowiererin. 2014 erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Adrian Hillman/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-910-5

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Es gibt Augenblicke, in denen eine Rose wichtiger ist als ein Stück Brot.

Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Der Mathematiker ist ein Blinder, der in einem dunklen Raum nach einer schwarzen Katze sucht, die nicht vorhanden ist.

Charles Darwin (1809–1882)

PROLOG

Sie wollen die Wahrheit? Meine Geschichte? Meine Version des Todes? Hm, wenn ich die Augen schliesse, sehe ich die Szene lebendig vor mir.

Gerechtigkeit verlangt in meinem Fall nach einer Sünde. Ich sündige mit diesen grauen Händen. Blut glänzt darauf, nasses Blut, ein frisches Rot, selbst in der schwarzen Nacht. Es ist sein Blut. Er ist gross, der Mann, gross und bullig mit mürrischem Gesicht, auch jetzt, als er panisch nach Luft schnappt. Er ist für mich ein Hundesohn, und er sieht aus wie ein Mann, der den Tod verdient.

Es ist eine gute Nacht zum Sterben. Kein Mond, dessen Licht meinen Mord in Szene setzt. Einzig die flackernde Lampe stört, die das Schild der Bahnstation beleuchtet: «Zug Schutzengel». Wie ironisch.

Die Stadt schläft, eingelullt in Regen. Es ist der achte Juni, fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Der letzte Zug auf Perron 2 Richtung Luzern ist noch nicht eingefahren. Eine Handvoll Passagiere stehen auf dem Perron. Sie werden den Zug nicht besteigen. Ihre Gesichter sind zu Fratzen verzogen. Es ist die Grausamkeit der Tat, die sie abstösst. Ich kann es verstehen. Es ist der Ekel und der Schock, die sie paralysieren.

Der Mann hat seinen letzten Atemzug geröchelt und liegt als Leiche neben mir auf dem kalten Beton direkt vor dem Gleis in einer Blutlache, die vom Regenwasser fortgeschwemmt wird, ebenso die Traurigkeit, die all die Jahre wie ein gallertartiger Klumpen in mir klebte. Endlich bin ich reingewaschen.

Nicht so sein teurer Anzug, der ist ruiniert. Schade drum. Ich setze mich neben ihn auf den Boden, reine Höflichkeit dem Tod gegenüber, und zünde mir mit den blutigen Fingern eine Zigarette an, das Fleischermesser noch in der Hand. Selbst die beste Wäscherei wird gegen das Blut machtlos sein, und die Schneiderei wird mich verfluchen. Zu viele Stiche mit der Nähnadel wären nötig, um diesen Anzug zu flicken. Ich habe penibel mitgezählt. Die Gerichtsmedizin wird die neunundzwanzig Einstiche in der Akte vermerken. Hat die Anzahl Wunden einen Einfluss auf die Dauer meiner Haft? Vermutlich schon. Neunundzwanzig Einstiche sollten reichen. Eine faire Zahl. Eine schöne Zahl. Eine Primzahl. Nicht irgendeine. Sie ist die sechste Sophie-Germain-Primzahl und zudem die kleinste Primzahl, die die Summe von drei aufeinanderfolgenden Quadratzahlen ist. Sie besitzt eine weitere Besonderheit. Die Neunundzwanzig ist der Primzahlzwilling zu einunddreissig.

Einunddreissig …

Wie die Zeit vergeht.

Mit Messer und Zigarette in den Händen sitze ich neben ihm im Regen, die Zeugen in ihrer Starre gefangen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein junger Mann sein Handy zückt. Endlich. Das hat ewig gedauert.

Langsam stehe ich auf und setze mich ins Trockene auf die Wartebank unter dem Vordach der Haltestelle, die Leiche zwei Meter vor meinen Füssen im Freien. Das Messer behalte ich in der Hand, nicht dass es mir jemand wegnimmt und damit die eindeutigen Spuren verwischt, den Zigarettenstummel schnippe ich aufs Gleis.

Ich warte. Das letzte Warten in Freiheit. Morgen werde ich die Schlagzeilen der Zeitungen beherrschen. Ein grausamer Mord, der rasch geklärt, aber nie gelöst sein wird. Wer bin ich schon für euch? Eine unscheinbare Putzfrau. Eine graue Maus in der schillernden Geschäftswelt des ach so stillen, aber mächtigen Kantons Zug, der bloss ein kleiner Fleck auf der Schweizer Landkarte ist und dennoch als Hauptsitz einiger der grössten Konzerne der Welt dient. Ein Kanton, der mehr Briefkästen hat, als er Einwohner zählt. Ein Steuerparadies für die, die wissen, wie’s geht.

Mich hat der Kanton verschlungen. Ich bin ein Nichts, ein Niemand. Ich bin siebenundfünfzig, habe eine kaputte Leber und schlechte Zähne. Ich arbeite nachts als Reinigungskraft in einer Privatbank, und tagsüber bin ich meinem Mann eine gute Ehefrau. Ich koche ihm frisches Gemüse, denn Vitamine sind wichtig für seine Gesundheit. Wir trinken keinen Alkohol mehr, und vor zehn Jahren haben wir uns das Rauchen abgewöhnt – die Zigarette heute Nacht zählt nicht. Einmal im Monat leiste ich mir den Besuch beim Coiffeur. Meine farblosen Locken sind schwer zu bändigen. Ich bin es nicht. Ich bin meinem Mann treu, bezahle pünktlich die Rechnungen und bin im Samariterverein.

Und ich bin eine Mörderin. Habe ich Ihnen gesagt, wie ich heisse? Mein Name ist Katja Rosenstock, aber das haben Sie sicher bereits herausgefunden.

EINS

Staatsanwalt Eckart Lind verliess den Einvernahmeraum. Der Chefermittler in diesem Mordfall, Samuel Bolander, folgte ihm. Sprachlos. Das war mit Abstand das schnellste, detaillierteste und längste Geständnis einer Mörderin, welches Lind je gehört hatte. Ihr Monolog war furchteinflössend, erzählt in der Gegenwart, als begehe sie die Tat erneut. Absicht?

«Welcher Mann kann mit so einer Frau verheiratet sein?», fragte Bolander. «Sie ist kälter als ein Gletscher. Sie redet über den Mord, als würde sie uns ihr Rezept für einen Rollbraten verraten.»

«Habt ihr den Gatten erreicht?»

«Er geht nicht ans Telefon. Vermutlich schläft er. Es ist vier Uhr morgens. Ein Streifenwagen ist hingefahren, um ihn herzubringen.»

Lind behielt seine Angst, dass der Ehemann womöglich ebenfalls Bekanntschaft mit dem Fleischermesser gemacht haben könnte, für sich. «Woher hatte sie das Messer?»

Bolander zuckte mit den Schultern.

Lind spielte mit seinen geknüpften bunten Armbändern am Handgelenk. «Ich meine ja nur, sie kam direkt von der Arbeit. In dem Bürogebäude gibt es keine Küche. Solch ein Messer braucht eine Reinigungskraft nicht für ihre Arbeit.»

«Sie muss es von zu Hause mitgebracht haben.»

«Eine geplante Tat?»

Bolander lehnte sich an die Wand. «Sie sagt, dass sie den Mann nicht kennt. Wählte sie ihn zufällig aus? Ihr willkürliches Opfer war unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort.»

«Es war eine lange Nacht.» Lind löste das Gummiband, welches seine grau melierten, langen Haare zusammenhielt. «Die Mörderin sitzt in U-Haft, und die Gesellschaft ist vor ihr in Sicherheit. Die offenen Fragen klären wir in den nächsten Tagen. Ich gehe heim und lege mich ins Bett.»

Bolander unterdrückte ein Gähnen. «Ich warte auf den Ehemann und spreche mich später mit der Pressesprecherin ab. Am Morgen kann Rizzo übernehmen und weitere Fakten zusammentragen.» Er massierte sich das Genick. «Mein erster Mordfall, seit Sara den Dienst quittiert hat und ich ihren Platz eingenommen habe. Mein erster Mordfall geht in die Geschichte ein als der am schnellsten gelöste aller Zeiten.»

Lind klopfte Bolander auf die Schultern. «Bilde dir nichts darauf ein. Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass Katja Rosenstock hinter Gitter will. Etwas ist faul an der Sache.»

***

«Out!», rief Lucy und schwang den Tennisschläger über ihrem Kopf. «Matchball. Gib es zu, Dad, du hast keine Chance gegen mich.»

Tom brachte sich hinter der Linie in Stellung. Wenn er diesen Aufschlag nicht annahm, war er erledigt. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal gegen seine Tochter gewonnen hatte? Drei Monate? Dabei war seine Kleine erst vierzehn. Die Zeit verging zu schnell. Tom wurde alt.

Er blickte auf die Wanduhr der Halle des Tennisclubs Zug. Es war kurz vor sieben an diesem Mittwochmorgen. Tom war kein Morgenmuffel, aber die Energie, die Lucy aufbrachte, um in jeder freien Minute zu trainieren, war unmenschlich. Sie scheuchte ihn vor fünf aus dem Bett, um eine Partie Tennis zu spielen, bevor sie zur Schule musste. Dabei hatte sie heute Abend eine Doppelstunde mit ihrem Tennislehrer gebucht. Das wusste Tom genau. Er bezahlte monatlich die Rechnungen, um Lucys Traum vom Profitennis zu ermöglichen, etwas, wofür seine Ex Karo kein Engagement zeigte. Weder zahlte sie einen Teil der Rechnungen, noch trainierte sie mit Lucy. Einzig bei Turnieren liess sie sich dazu herab, aufgedonnert neben ihrem Gockel von neuem Liebhaber auf der Tribüne Platz zu nehmen.

Lucy liess den Tennisball drei Mal zu Boden schnellen, bevor sie ihn in die Höhe warf, mit dem Racket ausholte und ihn über das Spielfeld schmetterte. Wie ein Geschoss kam er angeflogen. Tom machte einen Satz nach rechts, streckte sich und touchierte den Ball mit der Kante seines Schlägers, was seine Flugbahn ablenkte und ihn steil in die Höhe katapultierte.

«Sieg!», rief Lucy und hüpfte ans Netz. Ihr blonder Pferdeschwanz schwang hin und her. «Gutes Spiel, aber du rostest langsam ein, Dad, echt. Von einem Ex-Kickboxchampion erwarte ich mehr.»

«Haha, mach dich nur über deinen Alten lustig.» Tom ging ebenfalls ans Netz und nahm seine Tochter in den Arm. Sie war bloss noch einige Zentimeter kleiner als er. «Ab unter die Dusche. Du musst zur Schule und ich in die Detektei.»

«Habt ihr denn endlich einen spannenden Fall?»

«Na ja, zu achtzig Prozent verfolgen wir Ehebrecher.»

«Öde.»

Das konnte sie laut sagen. Tom hatte es sich anders erträumt, als Natalie Krieger, Sara Jung und er vor einem knappen halben Jahr die «Trust Investigation GmbH» gründeten, eine Detektei und Sicherheitsfirma in Zug. Natalie war der Computerprofi und ermittelte in der digitalen Welt, Sara, die ehemalige Chefin der Zuger Kripo, kümmerte sich um Recherchen und Personenbefragungen, während Tom für Personenschutz und Sicherheit zuständig war. Ausserdem war er Ausbilder für angehende Sicherheitsleute und gab zusammen mit Sara Selbstverteidigungskurse. Die Einnahmen der Trust liessen bisher zu wünschen übrig. Das wird schon, dachte er, bloss nach allem, was er mit Natalie und Sara bisher durchgestanden hatte, hätte er sich ab und zu einen spannenden Fall gewünscht.

Zusammen mit Lucy sammelte er die Bälle auf dem Platz ein. «Sag mal, wie läuft es mit Alicia in der Schule? Karo lässt mich nur selten mit ihr sprechen.» Seine zwölfjährige Tochter war schwierig. Mode und Beauty waren ihr wichtiger als Mathe oder Deutsch. Auch für Sport interessierte sie sich nicht. Karo liess ihr alles durchgehen. Seine Ex war ein anderes Thema. Sie hatten lange nicht mehr miteinander gesprochen. Weshalb mussten Frauen Toms Leben schwer machen? Weshalb arbeitete er mit Frauen zusammen? Was stimmte nicht mit ihm? Er sollte wieder einmal seine alten Kumpel von Mitchs Boxclub besuchen.

Tom musste los. Jeweils montags, mittwochs und freitags hielten sie bei der Trust um acht Uhr eine Teamsitzung ab. Ein neuer Fall wäre gut, aber bloss kein weiterer gehörnter Ehemann, der seine Frau in flagranti erwischen wollte.

***

Natalie war auch heute die Erste, welche die Detektei aufschloss. Jedes Mal blieb sie für einen Augenblick stehen und atmete tief ein, bevor sie die Halle betrat. Nie zuvor hatte sie auswärts gearbeitet, war bloss zu Hause an ihrem Computer gesessen, um ihren zerbrechlichen Körper zu schützen. Auch wenn es ihrem Pfleger Musa nicht gefiel, dass er um vier Uhr früh aufstehen musste, um ihre Wunden zu versorgen, damit sie pünktlich um sieben bei der Trust eintraf. Ihr neues Selbstbewusstsein tat ihrem Körper gut. Die Wunden, Blasen und schmerzenden Stellen auf ihrer Haut waren ertragbar. Sie brachte es sogar über sich, am Morgen einen Kaffee zu trinken und ein Joghurt zu essen. Natalie war ein Schmetterlingskind. Seit Geburt, seit quälenden fünfundzwanzig Jahren, litt sie an Epidermolysis bullosa, einer Krankheit, die genetisch bedingt ihre Haut so zerbrechlich wie die Flügel eines Schmetterlings machte. Der kleinste Stoss verursachte eine Ablösung der Haut, schmerzende Blasen bildeten sich, die aufgestochen werden mussten. Die Krankheit betraf zusätzlich die Schleimhäute und die Speiseröhre, weshalb ihr eine Magensonde half, sich ausreichend zu ernähren. EB hatte ihre Finger über die Jahre zusammenwachsen lassen. Die Hände sahen entstellt aus, auch die Füsse, bloss die konnte sie in flauschigen Socken und gepolsterten Schuhen verstecken. Aber Jammern war nicht ihr Ding. Sie hatte es gut. Paps war vermögend genug, um ihr einen Pfleger und eine Haushälterin zu bezahlen, wofür sie dankbar war.

Natalie betrat die Firma, die zu einem Drittel ihr gehörte. Die Trust war in einer ehemaligen kleinen Schiffswerft untergebracht, die gleich neben der Papierfabrik in Cham lag. Das Gebäude war heruntergekommen, aber bot genug Platz und war über zehn Meter hoch. Es gab zwei Ebenen. Unten war das Dojo mit zwei Trainingsplätzen. Dazu kam der «Hindernis-Parcours», wie Tom ihn nannte, um den Nahkampf in einem fiktiven Gebäude zu simulieren. Betonplatten mit Fensteröffnungen, Türen, Treppen und Säulen standen in dem zweistöckigen Parcours, der mit Farbklecksen bunt bespritzt war. Natalie schaute gerne zu, wenn die Männer und Frauen mit ihren Fäusten oder Paintballs darin trainierten. Leider war das zu gefährlich für sie. Es hätte ihr gefallen.

In der hinteren Ecke befanden sich die Umkleidekabinen und Duschen. Zwei Frachtcontainer standen daneben an der Wand und dienten als Schulungszimmer, wo Tom und Sara Unterricht gaben. Eine Metalltreppe führte hoch zur Galerie. Zwei schlichte Büros und das Besprechungszimmer lagen unter dem Blechdach des Gebäudes. Die Trust besass diese Lagerhallen-Atmosphäre, die Natalie liebte.

Sie ging hoch und schloss ihr Büro auf. Da sie fast den ganzen Tag hier arbeitete, musste sie es nicht mit Tom und Sara teilen. Sie schaltete das Licht an. Es gab nur ein kleines Fenster an der Seite, was Natalie recht war. Schmetterlingskinder mochten kein starkes Sonnenlicht. Vier Computer standen auf drei Tischen. An der Wand hing ein riesiger Bildschirm, den sie für Videokonferenzen nutzte. Nach wie vor leitete Natalie «Kipekapeka», eine Organisation, die für Menschenrechte, Umweltschutz und gegen die Armut kämpfte. Die Mitglieder kamen aus der ganzen Welt, waren meist reiche junge Leute, welche wie Natalie ihren privilegierten Status für Gutes nutzen wollten. Sie operierten nicht selten mit illegalen Mitteln und kommunizierten häufig im Darknet. Nicht ungefährlich, legten sie sich doch nicht selten mit dem organisierten Verbrechen und korrupten Regierungen an, um Gefangene zu befreien oder Umweltsünden aufzudecken.

Natalie fuhr ihren Computer hoch. Eine Stunde bis zur Teamsitzung. Zu besprechen gab es wenig. Leider. Die ersten Monate ihres Start-ups waren harzig verlaufen. Natalie war das egal, sie war nicht auf das Geld angewiesen. Tom und Sara hingegen schon. Sie holte eine Mappe aus ihrer Tasche und trug sie hinüber ins Besprechungszimmer. Natalie hatte einen Marketingplan ausgearbeitet, um mehr Kunden zu gewinnen. Sie mussten aktiver agieren. Von allein würden die Klienten nicht zu ihnen in die Detektei stolpern.

In diesem Moment klingelte es unten an der Tür.

***

«Belle Amie, runter, sofort!» Sara versuchte ihre grau getigerte Katze vom Küchentisch zu scheuchen. Vergeblich. Gegen den treuherzigen Blick dieser Schmusekatze kannte sie kein Rezept. Sie war so anders als der kratzbürstige Herr Geheimrat, der letzten Herbst an Tollwut gestorben war. Dennoch vermisste sie den mürrischen Kater, auch wenn die junge Belle Amie ihr wenig Zeit dazu gab. Sie schnurrte lauter als ein Helikopter, miaute zweimal und tauchte ihre Schnauze in das halb volle Milchglas auf dem Tisch.

«Bitte schön, willst du auch von meinem Joghurt schlabbern?» Sara lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sollte los, es war zehn vor acht. Nach all den Jahren bei der Zuger Polizei war es ungewohnt, selbstständig zu arbeiten. Sie war ihr eigener Chef, und zehn Minuten zu spät zu erscheinen war ihr gutes Recht. Tom und Natalie ging nie der Gesprächsstoff aus, während sie auf Sara warteten. Überarbeiten würde sie sich auch heute nicht. Sara musste am Nachmittag einem Ehemann beibringen, dass die Seitensprünge seiner Frau einzig seiner Phantasie entsprangen. Alter Lüstling. Ein stinknormaler Porno reichte ihm nicht. Nein, er wollte seine Frau in der Hauptrolle. Weit gefehlt. Seine Frau liebte Yoga. Liebte war das richtige Verb. Die Yogalehrerin war attraktiv und beweglich. Was in der Duschkabine nach dem Unterricht geschah, ging niemanden etwas an. Frauen hatten ein Recht auf Privatsphäre.

Dann war da der Afghane, um den sich Sara kümmern musste. Er hatte seiner Besitzerin ein Diamantcollier gestohlen, als er aus der schicken Villa am See getürmt war. Vermutlich floh er vor ihrer unausstehlichen Parfümwolke und den mit Klunkern bestückten Fingern, dekoriert mit langen bunten Fingernägeln, die stundenlang durch das schamponierte Haar des Afghanen kraulten. Sara schauderte es bei dem Gedanken. Der Windhund war weg, nachvollziehbar, aber leider mit dem Diamantenhalsband um die Kehle. Selbst konnte er es ja schlecht ablegen. Sara suchte halbherzig nach dem flüchtigen Afghanen, auch wenn die Besitzerin steif und fest behauptete, dass ihr Liebling entführt worden sei. Dem Hund ging es in Freiheit bestimmt blendend, mittellos war er ja nicht.

Sara überliess Belle Amie das Joghurt und ging ins Bad, bürstete ihre schulterlangen schwarzen Haare, richtete den Kragen ihrer weissen Bluse und strich die schwarze Hose glatt. Ihrer Kleidung war sie auch als selbstständige Unternehmerin treu geblieben. Die bunten Shirts und Blusen, die ihr Natalie gekauft hatte, lagen bis auf Weiteres mit dem Preisschild versehen im Kleiderschrank. Saras Welt war schwarz-weiss, und dementsprechend kleidete sie sich. Sie fasste sich an den Bauch und seufzte lange. Ihre Tochter wäre heute siebenundzwanzig, nur zwei Jahre älter als Natalie. Vielleicht freute sich Sara deshalb, Natalie jeden Morgen in der Detektei zu sehen. Bei Tom war das anders. Wenn sie an ihn dachte, kribbelte es bis in die Fingerspitzen. Kein gutes Zeichen. Es gab eine Regel, an die sie sich hielt: Beruf und Privates mussten getrennt bleiben. Ausserdem war Tom mit vierzig zwei Jahre jünger als sie. Das ging gar nicht.

Sara liess Belle Amie zum Fenster hinaus, schnappte sich die Hausschlüssel und verliess die Wohnung, die in einem ruhigen Wohnquartier in Baar lag.

***

Hubertus Rosenstocks Kaffee schwappte über.

«Bitte, nennen Sie mich Hubi.»

Tom schätzte sein Alter auf gut fünfundsechzig. Er starrte auf das blaue Halstuch, welches Hubi trug. Für ein Halstuch war es im Juni definitiv zu warm, auch wenn das Wetter dieses Jahr keinen Frühsommer zu kennen schien.

Natalie eilte mit einer Haushaltspapierrolle herbei und wischte den Kaffee vom Tisch. «Sorry, ich habe es gut gemeint mit dem Kaffee. Die Tasse war übervoll.»

Hubi begann fürchterlich zu weinen, was das Problem mit der Tasse in seiner Hand nicht löste. Natalie wischte nach.

Als Tom vor einer Viertelstunde in der Detektei eingetroffen war, sass Hubi bereits mit Natalie im Besprechungszimmer. «Wir helfen Ihnen, aber dazu müssen Sie uns erzählen, was passiert ist.» Tom hatte einige Worte abgespeichert, die aus Hubi herausgeplatzt waren:

Ehefrau.

Gefängnis.

Mörderin.

Die drei Worte reichten aus, um Toms Interesse zu wecken. Auf jeden Fall waren sie verheissungsvoller als:

Ehefrau.

Schlafzimmer.

Fitnesstrainer.

Natalie nahm Hubi die Tasse ab, was für ihre Hände keine leichte Aufgabe war. «Ich bringe Ihnen einen frischen Kaffee. Vielleicht lieber einen Espresso? In einer grossen Tasse?»

Tom zog einen Papierblock heran. Er war ein Kerl der alten Schule. Stift und Papier mochte er lieber als einen Bildschirm und eine Tastatur. Die Kaffeemaschine ratterte im Hintergrund. «Also, Herr Rosenstock – Hubi … Wissen Sie was, nennen Sie mich Tom. Wir mögen es bei der Trust unkompliziert.»

«Ich bin Natalie», rief Natalie herüber.

«Also, Hubi, um Ihnen helfen zu können, müssen wir die ganze Geschichte kennen, von Beginn weg.»

Hubi nickte heftig. «Deshalb bin ich hier. Ich will Sie beauftragen, die Wahrheit herauszufinden. Ich kenne nämlich nur das Ende.»

Tom wartete die folgenden Schluchzer ab, während Natalie Hubi den Espresso in einer grossen Tasse servierte. So dürfte es gehen. Es ging. Hubi trank den Kaffee in drei kurzen Zügen aus, ohne einen Tropfen zu verschütten.

Er war ein grosser Mann. Gut genährt. Auf eine schlichte Art elegant. Er trug eine graue Hose, ein weisses Hemd und ein dunkles Sakko, dazu diesen blauen Baumwollschal. Seine spärlichen Haare waren weiss, die buschigen Augenbrauen aber dunkelgrau.

Natalie setzte sich neben Tom und zog ihren Laptop heran. «Warum beginnen wir dann nicht mit dem Ende und rollen die Geschichte von hinten auf? Was ist letzte Nacht passiert? Es geht um Ihre Frau, richtig?»

«Ja, mein Täubchen, Katja. Sie wurde verhaftet.» Hubi stöhnte. «Die Polizei sagt, sie sei eine Mörderin.»

«Wen soll Ihre Frau ermordet haben?», fragte Tom.

«Ich weiss es nicht. Einen Mann. Beim Schutzengel.»

Natalie tippte mit zwei Fingern auf der Tastatur ihres Laptops herum. «Zug Schutzengel? Die Bahnstation?»

Hubi nickte.

«Wie hat die Polizei Ihre Frau gefasst?», fragte Tom und schrieb fleissig Worte aufs Papier, damit er mit Natalie mithalten konnte.

«Katja hat den Mann getötet und dann auf die Polizei gewartet.»

«Wie hat sie ihn getötet?», fragte Natalie.

Hubis Hand schnellte an seinen Mund. Die Augen füllten sich mit Tränen. «Mit einem Messer. Unserem Messer. Die Polizei hat es mir gezeigt. Ich kenne das Messer, habe es Katja zu Weihnachten geschenkt. Es hat ihren Namen eingraviert. Sie beschwerte sich immer über ihr altes, stumpfes Fleischermesser. Dieses war teuer. Beste Qualität. Ein Unikat. Katja freute sich darüber, sagte, damit Fleisch zu schneiden sei, als würde man durch Butter stechen.» Sich der Bedeutung seiner Worte bewusst werdend, schniefte Hubi lauter. «Über zwanzig.»

«Über zwanzig was?», fragte Tom.

«Messerstiche.»

Diese Information musste Tom erst einmal sacken lassen. Hubis Frau hatte einen Mann mit über zwanzig Messerstichen getötet? Mit was für einer Frau war der gute Hubi verheiratet?

«War sie früher schon gewalttätig?», fragte Natalie und rückte ein Stück näher an Tom heran.

«Niemals. Katja ist eine gute Seele. Die beste Ehefrau, die sich ein Mann wünschen kann. Sie ist mein Engel.»

Nach diesem Schutzengel-Mord wohl ein gefallener Engel, dachte Tom. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach acht. Sara verpasste den Beginn des ersten richtigen Falles der Trust.

«Wann haben Sie von der Tat erfahren?», fragte Natalie.

«Die Polizei klingelte heute Morgen um vier Uhr an meiner Wohnungstür. Sie brachten mich zur Polizeizentrale.»

Tom stellte die nächste Frage. «Konnten Sie mit Ihrer Frau sprechen?»

«Nein. Die Polizei hat mich nicht zu ihr gelassen. Heute wird sich ein Pflichtanwalt bei mir melden. Wir können uns keinen eigenen Anwalt leisten. Am Nachmittag darf ich dann kurz zu ihr.»

Wenn er sich keinen Anwalt leisten konnte, konnte sich Hubi auch keine Detektei leisten, dachte Tom. Kein zahlender Kunde, keine Tennisstunden für Lucy und kein dringend nötiger Service für seinen alten Peugeot, dessen Auspuff er seit Tagen halb am Boden mitschleifte. Tom hörte, wie unten die Tür geöffnet wurde. «Mit wem haben Sie bei der Polizei gesprochen?»

«Mit einem – ähm – Moment, er hat mir seine Karte gegeben.» Hubi griff in sein Sakko. «Hier.» Er schob Tom die Karte über den Tisch.

«Zuger Kriminalpolizei – Giovanni Rizzo – Ermittler», stand darauf. «Welche Details hat Ihnen Herr Rizzo erzählt, die Ihre Frau entlasten könnten?»

«Keine. Fünf Passanten haben den … den Mord –»

«Mord?» Sara stand unter der Tür.

Natalie nickte heftig. «Setz dich dazu. Herr Rosenstock braucht unsere Hilfe. Seine Frau wurde heute Nacht wegen Mordes verhaftet.»

Das liess sich Sara nicht zweimal sagen. Sie legte den Schalter gleich um und schlüpfte in die Rolle der Polizistin. «Was haben die Passanten beobachtet?»

Sie setzte sich neben Tom und warf einen Blick auf seine Notizen. Erstaunt hob sie die Augenbrauen und starrte ihn an. Tom nickte. Saras Zeigefinger tippte auf die Zahl «20+» auf dem Papier. Tom nickte erneut.

«Atmen Sie tief durch, Hubi, und erzählen Sie weiter», sagte Natalie ruhig. Sie wusste, dass Saras strenge Art auf manche Menschen einschüchternd wirkte.

«Fünf Zeugen haben den Mord beobachtet. Jemand hat gefilmt, wie Katja sich mit dem Messer in der Hand auf die Wartebank neben dem Gleis setzte.»

«Es gibt fünf Zeugen und einen Videobeweis?», fragte Sara. «Wie sollen wir Ihrer Frau helfen, Herr – ähm –»

«Rosenstock», ergänzte Tom.

«Herr Rosenstock.»

«Bitte, nennen Sie mich Hubi.»

«Ich bin Frau Jung.»

Natalie rollte die Augen. «Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb ein normaler Mensch plötzlich zum Mörder wird. Selbstverteidigung, Notwehr, Gehirnwäsche, Hypnose, ein Trauma in der Vergangenheit, Rache, Erpressung, ein Hirntumor.»

Tom kannte weitere Motive, wollte Hubi aber nicht damit belasten.

Sara entdeckte Rizzos Karte auf dem Tisch. «Haben Sie schon mit Staatsanwalt Lind gesprochen?»

«Nein.»

«Gut, den übernehme ich. Von ihm bekomme ich alle nötigen Informationen. Natalie, nimm Herrn Rosenstocks Personalien auf und händige ihm unseren Vertrag aus. Tom, ich will, dass du dir den Tatort ansiehst.»

Na toll, ihr erster Mordfall, und Sara führte sich auf wie die Kripochefin. In dieser Detektei waren sie Partner und Natalie und er keine Handlanger. Wenn Tom dieses Verhalten duldete, würde Sara nie lernen, was Partnerschaft bedeutete. Er wies sie und Natalie an, ihm ins Büro nebenan zu folgen. Dort starrten sie sich einige Sekunden herausfordernd an.

Bevor Tom zu Wort kam, setzte sich Natalie zur Wehr. «Sorry, Sara, ich habe bereits vor zehn Minuten mit Lind telefoniert. Er erwartet mich. Du darfst dich um das Administrative kümmern. Und sprich mit Herrn Rosenstock über die Ehe und die Vergangenheit seiner Frau, sie –»

Sara stemmte die Hände in die Hüften. «Ich werde nicht –»

Tom klopfte ihr auf die Schulter, beugte sich zu ihr vor und flüsterte in ihr Ohr: «Das ist die Strafe, wenn man zu spät zur Arbeit erscheint. Und sei lieb zu Hubi, ja? Kannst du das sein? Einmal nur?»

ZWEI

Sei lieb, sei lieb, äffte Sara in Gedanken Toms Worte nach. Durch Liebsein löste man keine Fälle. Sie hatte die Personalien aufgenommen. Hubertus Rosenstock war siebenundsechzig, seit zwei Jahren pensioniert. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre in Zug auf dem Sozialamt gearbeitet. Davor war er in Zürich als Sozialarbeiter auf den Strassen unterwegs. Die Rosenstocks zogen nach ihrer Heirat vor zweiundzwanzig Jahren in eine Wohnung an der Steinhauserstrasse in Zug, wo sie noch heute wohnten.

«Ihre Frau hat einen Mann erstochen.» Sara lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. «Sie hat sich der Polizei gestellt. Es gibt Zeugen. Weshalb wollen Sie unsere Dienste?»

«Helfen Sie uns.» Es war ein Flehen, ein verzweifelter Hilferuf nach Hoffnung.

«Ihnen oder Ihrer Frau?»

Hubi liess beschämt das Kinn in den blauen Schal fallen. Weshalb trug er zu dieser Jahreszeit einen Schal? Seine Hand zitterte, als er sie hob. «Ich liebe sie. Ohne mein Täubchen …»

Täubchen? Sara zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. «Wenn wir Ihnen helfen, müssen Sie uns etwas versprechen. Sie müssen uns die Wahrheit erzählen, die ganze Wahrheit, sonst funktioniert das hier nicht. Wir sollen einer Mörderin helfen, dazu muss es einen guten Grund geben.»

«Sie ist unschuldig.»

«Sind Sie sicher? Wie kann das sein? Glauben Sie an eine Verschwörung?»

«Es war Notwehr.»

Sara zog ihren Mund schief. «Sie denken, Ihre Frau wurde von einem Fremden angegriffen und verteidigte sich mit über zwanzig Messerstichen? Trägt sie das Fleischermesser immer in der Handtasche mit sich herum?»

«Nein.»

«Keine Notwehr also. Kannte sie den Mann?»

Hubi kratzte mit seinen kurz geschnittenen Fingernägeln über die Tischplatte. «Die Polizei hat mir nicht gesagt, wer der Mann ist.»

Sara schrieb einige Stichworte in ihr rotes Notizbuch. «Hat Ihre Frau viele Freunde und Bekannte?»

«Ähm – nein.» Er hob den Zeigefinger. «Sie ist im Samariterverein.»

Sara schob Hubi die Taschentuchbox zu, die in der Mitte des Tisches stand. Seine Augen waren wässrig. Sie sollte Mitleid fühlen. Er sah lieb aus, wie ein guter, treuer Ehemann eben. Sara würde darauf wetten, dass er jede Spinne in der Wohnung sorgfältig einfing und draussen in ein Gebüsch setzte. Niemals würde er ein Insekt platt drücken. Das war das Problem mit solchen Männern. Böse Weibsbilder suchten sich diesen Typ Mann, um auf dessen Nase herumzutanzen. War Katja Rosenstock ein böses Weibsbild? Sah danach aus. Hubi konnte von Glück reden, dass er lebte. Wenn die Trust diesen Fall annahm, dann nicht, um Katja zu helfen, sondern um Hubi die Augen zu öffnen.

Sara tat etwas, was sie nie tat: Sie wurde lieb. Behutsam griff sie nach Hubis zitternder Hand. «Wir gehen folgendermassen vor. Ich bringe Ihnen Papier und Stift, und Sie schreiben wichtige Hinweise, Ereignisse und Daten auf, die uns weiterhelfen könnten: die Vergangenheit Ihrer Frau, wie Sie sich kennengelernt haben, wann Sie heirateten, über ihre Familie und so weiter.» Sie zog die Hand weg und versuchte sich an einem Lächeln. «Notieren Sie Details über ihr Umfeld, über ihre Arbeit, Freunde, Feinde. Meine Partner stellen bereits erste Nachforschungen an. Ich bereite unterdessen den Ermittlungs-Vertrag vor. Bei einem Fall wie dem Ihren erheben wir einen Pauschal-Vorschuss von dreitausend Franken, der umgehend zu begleichen ist. Wir nehmen Bargeld, Kreditkarten, und sogar mit der Handy-App können Sie bei uns bezahlen. Wöchentlich wird eine Pauschalraten-Zahlung von eintausend Franken fällig. Definitiv abgerechnet wird mit der Schlussabrechnung, in der wir Ihnen die effektiv geleisteten Arbeitsstunden und Spesen detailliert aufführen. Erfolgsgarantie geben wir keine.»

Hubi griff nach einem der Taschentücher aus der Box. «Ich habe zwanzig Franken in meinem Portemonnaie und knapp eintausend Franken auf dem Bankkonto. Die nächste Überweisung der AHV kommt erst in zwei Wochen, aber die brauche ich für die Miete.»

Sara half gerne guten Menschen, aber ihr Nachname war nicht Pestalozzi. Sie lehnte sich über den Tisch. «Ihre Frau hat bestimmt ein Bankkonto. Sie arbeitet als Reinigungskraft. Auch sollte Ihre Frau für unsere Kosten aufkommen, schliesslich hat sie den Ärger verursacht.»

«Wir teilen uns nur ein gemeinsames Bankkonto.»

Bingo, dachte Sara. Katja Rosenstock war ein böses Weibsbild, bestimmt besass sie heimlich ein weiteres Konto auf ihren Namen.

***

Sie hatte geflunkert, ein klein wenig. Klar bemerkte Tom es. Er kannte ihr Talent, zu lügen. Aber Sara die Oberhand überlassen? Niemals. Natalie hatte gleich versucht, mit Staatsanwalt Lind zu telefonieren, kaum hatte sie die Trust verlassen. Bei der Staatsanwaltschaft hiess es, er habe nach einer Nachtschicht den Tag freigenommen. Natalie rief ihn zu Hause an, aber seine Frau, die den Anruf entgegennahm, reagierte wütend und verlangte, dass sie ihren Ehemann schlafen liess.

Na, dann liess sie den guten Lind eben schlafen. An Arbeit mangelte es ihr nicht. Natalie steuerte ihren extra für ihre Bedürfnisse umgebauten Honda Jazz Hybrid Richtung Walchwil. Sie würde von zu Hause aus recherchieren.

War das aufregend.

Der erste Mordfall lag auf dem Tisch der Trust – und was für einer.

Vor dem schmiedeeisernen Einfahrtstor gab sie den Sicherheits-PIN-Code in die Steueranlage ein, die Tom damals eingebaut hatte. Das Tor schob sich mit leisem Motorengeräusch zur Seite. Die grosszügige Auffahrt zur Villa war leer. Paps und ihre Stiefmutter Rebecca mussten bereits in ihr neues Labor gefahren sein, das sie seit ein paar Monaten führten. Natalie stellte den Wagen vor dem Eingang ab, nahm aber nicht die Stufen zur Tür, sondern ging um die hufeisenförmig angelegte Villa herum. Wie vermutet fand sie Alexandra auf der Terrasse neben dem Papiliorama vor. Sie sass mit der kleinen Imani auf einer Decke am Boden und spielte mit Bauklötzen.

Imani entdeckte Natalie und sprang auf. «Tili! Tili!»

Natalie ging in die Knie und umarmte ihre bald zweijährige Adoptivschwester. Sie strich ihr über das krause Haar. Imani hatte die wunderschöne dunkle Haut ihrer Mutter geerbt.

«Nanu?», wunderte sich Alexandra, ihre Haushälterin. «Schon zu Hause? Keine Arbeit in der Detektei?»

Natalie strahlte. «Im Gegenteil. Wir haben einen richtigen Fall. Aber ich arbeite lieber in meinem Geheimzimmer. Ist ruhiger.»

Alexandra band ihre blonden Haare im Nacken zusammen. «Es ist herrliches Wetter. Weshalb willst du dich in deine Dunkelkammer verziehen?»

«Ich mag es dunkel und düster. Ist Musa im Haus? Er soll sich mein rechtes Bein ansehen. Es brennt wie Lava.»

«Er ist drüben im Pförtnerhaus.»

Natalie nickte und genoss für eine Sekunde die traumhafte Aussicht auf den Zugersee mit der Rigi im Hintergrund. Sie humpelte hinüber zum Pförtnerhaus, wo Musa wohnte. Er war ihr Pfleger und Mädchen für alles in der Villa. Als er ihr die Tür öffnete, sprach er aufgebracht am Handy. Natalie verstand kein Wort. Musa musste mit seiner Schwester in Nigeria telefonieren. Natalie nahm auf seinem Sofa Platz und wartete.

Als Musa auflegte, prustete er Luft durch die Lippen. «Kleine Schwestern, die machen nur Ärger.» Er grinste plötzlich. «Nana ist schwanger. Ich werde Onkel.»

«Wow! Gratuliere. Darf ich dich dann Onkel Musa nennen?»

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich langsam von freudig erregt zu tief betrübt.

Natalie wusste, dass er seinen Neffen oder seine Nichte nie zu sehen bekommen würde. Musa war homosexuell und musste deshalb vor seiner Familie aus Nigeria fliehen. Sein Vater war erzkonservativ, und der Staat strafte Homosexualität mit Gefängnis oder Schlimmerem. Einzig mit seiner kleinen Schwester hatte Musa telefonisch Kontakt.

«Weshalb bist du zurück?», fragte er. «Schmerzen?»

«Immer», seufzte Natalie. «Die Blase an meinem rechten Oberschenkel brennt. Aber deshalb bin ich nicht hier. Ich muss einige wichtige Recherchen anstellen und eine Akte anlegen. Hilfst du mir mit den Papieren?» Natalie hob die Hände. Hände, die für Feinarbeit schwer zu gebrauchen waren. Durch die unzähligen Wunden und Verletzungen sah die Haut aus wie nach einer Brandverletzung.

Der Drucker ratterte, um die Informationen in dreifacher Ausführung auszudrucken. Da kam einiges zusammen, in kurzer Zeit. Im Netz war Natalie ein Genie. Sie fand Hinweise, egal, wie tief ein Geheimnis verborgen lag. Und wenn das World Wide Web ausgepresst war, wechselte sie an ihren Desktop und rief den Tor Browser auf. Natalie stellte sich das Netz wie einen Ozean vor. Die obere Schicht bestand aus warmem, salzhaltigem Wasser, perfekt zum Schwimmen und Schnorcheln oder um sich mit einer Tauchausrüstung die bunten Korallenriffe anzuschauen. Dann kam die Thermokline, welche das Oberflächenwasser von der kalten Tiefsee trennte. Der Tor Browser war ihre Thermokline. Öffnete sie das Tor und ging hindurch, tauchte sie ab in eine riesige, unbekannte Welt voller Untiefen, Gefahren, aber auch Möglichkeiten, Neues zu erforschen. Es war ihre einzige Chance, mit dem kranken, schwachen Körper so etwas wie Adrenalin und Action zu erfahren. Aber obwohl Natalie über zwei Stunden in der digitalen Tiefsee nach Katja Rosenstock suchte, sie fand dort unten nichts. Also zurück an die Oberfläche.

Natalie schaute sich die drei Ordner an, die Musa angelegt hatte. Ja, sie fand einiges über Katja, direkt unter der Oberfläche, aber nichts Tiefgründiges, nichts Spektakuläres. Die Frau war langweilig.

«Sie soll eine brutale Mörderin sein?» Musa blätterte durch einen der Ordner und zeigte auf ein Bild von ihr, das letzten Sommer am Zuger Stierenmarkt aufgenommen worden war. Es zeigte Katja vor einem Tisch des Samaritervereins, flankiert von zwei Frauen mittleren Alters.

«Seit über zwölf Jahren arbeitet sie als Reinigungskraft für ‹Tex Global Financial›», fasste Natalie ihre Recherchen zusammen. «Jeweils Dienstag bis Freitag. Die HR-Abteilung stellt ihr gute Referenzen aus: zuverlässig, pünktlich, sauber, ruhig, diskret und stets zuvorkommend. Davor arbeitete Katja für ein Putzinstitut. Kennen wir den Grund für den Stellenwechsel?»

Musa blätterte durch die angelegte Akte. «Nein.»

Natalie sprach in ihr Diktiergerät. «Abklärung Stellenwechsel.»

Musa blätterte weiter. «Keine finanziellen Probleme. Die Rosenstocks sind nicht vermögend, haben aber keine bekannten Schulden oder Betreibungen offen.»

Natalie nickte. «Hubi bezieht AHV, Katja ihren Lohn für die Achtzig-Prozent-Stelle bei der Tex. Sie sind seit über einundzwanzig Jahren verheiratet. Keine Meldungen über häusliche Gewalt. Der Auszug aus dem Strafregister der Rosenstocks ist sauber. Hubi und Katja zogen nach der Heirat in die Zwei-Zimmer-Wohnung an der Steinhauserstrasse in Zug.» Sie schaute auf. «Wir haben einiges, was ihr Leben die letzten zwanzig Jahre betrifft. Sie führte ein anständiges, bürgerliches Leben. Aber was fällt dir auf?»

Er klappte den Ordner zu. «Wir wissen, dass Hubi früher in Zürich als Sozialarbeiter tätig war. Aber Katja? Vor ihrer Heirat scheint sie nicht existiert zu haben.»

«Richtig. Fragen wir den Ehemann.» Natalie griff zum Telefon und rief Sara an. Hubi war nicht mehr bei ihr. Natalie wich Saras Frage, was Lind erzählt habe, aus. «Ich komme so gegen drei Uhr heute Nachmittag zur Trust, dann tauschen wir unsere Ergebnisse aus.» Sie legte auf. Es war kurz vor Mittag und wurde Zeit, Lind aus dem Bett zu holen. «Musa, fährst du mich?»

«Und dein Bein?»

Das Bein hatte Natalie beinahe vergessen. Die Erinnerung daran brachte die Schmerzen zurück. «Ich gebe dir fünfzehn Minuten.»

Sie gingen hoch in ihren Beautysalon, wie sie das Zimmer nannte, das einer Arztpraxis glich. Natalie legte sich auf die Behandlungsliege, und Musa entfernte vorsichtig den Verband, der fast ihr ganzes Bein bedeckte. Um sich von den Schmerzen abzulenken, griff Natalie nach dem Handy und rief Rico an. Sie hatten in den letzten Wochen ein paarmal telefoniert. Selten ging das Gespräch gut aus.

«Hey, Zigeuner, was treibst du so?», fragte sie gespielt locker. Ihre Hormone tanzten, wenn sie seine Stimme hörte.

«Wir stellen ein Baugerüst auf. Und du? Wie geht es dir?»

«Gut. Autsch!»

«Bist du mit Musa in der Folterkammer?»

«Sprechen wir nicht darüber. Wie geht es Gypsydancer?» Natalie liebte Ricos schwarzen Wallach. Letzten Herbst ritten sie auf den Rossberg und übernachteten dort. Eine eher unglückliche Romanze, wie sie schmerzhaft feststellen musste. Rico war nicht nur im Geiste ein Zigeuner, er war tatsächlich ein Jenischer und würde niemals sesshaft werden. Nicht für eine Frau. Und da gab es dieses Problem mit seiner Schwester Mirjam, das Natalie aus der Welt schaffen musste. «Hast du mit ihr gesprochen?»

«Es geht nicht, das weisst du. Ich kann ihr das nicht antun.»

«Die beiden haben ein Recht auf die Wahrheit.»

«Nat, es gibt Geheimnisse, die besser im Verborgenen bleiben.»

Sie musste über seine Worte nachdenken. Welche Geheimnisse hatte diese Katja Rosenstock vergraben?

***

«Zug Schutzengel». Tom starrte auf das blaue Schild mit der weissen Schrift an der roten Wand, an welcher die Treppe hoch zu Perron 2 führte. Oben war das Perron mit flatternden Bändern der Polizei abgesperrt. Tom blieb davor stehen und schaute sich um. Zwei Uniformierte unterhielten sich unter dem Vordach der Haltestelle. Einige Fahrgäste beäugten von Perron 1 aus den Tatort auf der anderen Seite der beiden Gleise.

Tom hielt eine Ausgabe der lokalen Zeitung in der Hand. Der Mord hatte es noch nicht auf die Titelseite geschafft, aber in den Online-Medien war er die Schlagzeile. Solch eine Bluttat sprach sich in dem kleinen Zug rasch herum. Dass es eine Bluttat war, daran gab es keine Zweifel. Sie geschah direkt vor der Sitzbank unter dem Vordach. Blut war wegen des Regens letzte Nacht keines zu sehen, bloss die weisse Markierung am Boden, wo die Leiche gelegen hatte. Er machte mit seinem Handy einige Fotos.

Einer der Polizisten bemerkte es und kam auf Tom zu. «Keine Bilder. Bitte gehen Sie zurück.»

Tom zückte seine Karte. «Trust Investigation. Wir wurden beauftragt, den Mord zu untersuchen.»

«Das ist Sache der Polizei.» Der Mann war jung, ehrgeizig und übte sich in einer ernsten Miene.

«Kennt die Polizei die Identität des Opfers?»

«Wir geben keine Auskunft, das ist Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Gehen Sie weiter.»

«Wann geschah der Mord?»

Demonstrativ legte der Polizist seine Hand an die Waffe am Hosenbund.

Tom wollte keinen Ärger und steckte sein Handy weg. Er hatte genügend Bildmaterial zusammen. «Bestellen Sie Bolander und Rizzo schöne Grüsse von mir. Und auch Oberstaatsanwalt Lind.»

Dem Polizisten missfiel Toms Ansage. «Gehen Sie. Das ist meine letzte Warnung.»

Tom hob defensiv die Hände. «Bin schon weg.» Er ging die Treppe wieder hinunter. Weshalb dieser Tatort? Hatte er eine Bedeutung? Der Name vielleicht? Das Trassee lag erhöht über dem gleichnamigen, dicht bebauten Quartier in Baar. Zwischen den modernen Wohnhäusern stand die kleine historische Kapelle, die dieser Haltestelle den Namen gab: die Schutzengelkapelle. Seine Frau nehme meistens die Bahn, um nach Hause zu fahren, hatte Hubi am Morgen erklärt, auch wenn es nur eine Station bis Zug Chollermüli war. Ihre Wohnung an der Steinhauserstrasse lag näher zur Chollermüli, und Hubi wollte nicht, dass Katja die Strecke von der Tex nachts im Dunkeln allein lief.

Unten an der Treppe klebte der Fahrplan auf einem blauen Schild. Der letzte Zug Richtung Luzern fuhr unter der Woche um zwölf Uhr zwanzig von Gleis 2 ab. Das musste mehr oder weniger die Tatzeit gewesen sein. Hubi sagte aus, dass Katjas Nachtschicht bei Tex Global Financial jeweils von siebzehn Uhr bis um Mitternacht dauerte. Tom schaute hinüber auf die andere Strassenseite, wo das Uptown gleich hinter dem Stierenmarktareal und vor der Bossard Arena in die Höhe ragte. Die Tex hatte sich in dem modernen Hochhaus mit der Glasfassade auf zwei Stockwerken eingemietet. Tom wusste wenig über das Finanzunternehmen. Das musste sich ändern.

Er ging die Allmendstrasse entlang, die Katja jede Nacht nehmen musste, wenn sie mit der Arbeit fertig war. Es waren keine dreihundert Meter bis zu ihrem Arbeitsort, schätzte Tom.

Es gab zwei Haupteingänge. Im Erdgeschoss befanden sich ein Restaurant und mehrere Geschäfte. Ab der sechsten Etage wurden in dem Gebäude Wohnungen vermietet. Ganz oben im achtzehnten Stockwerk lag die Sky Lounge. Tom kannte die Bar, von der aus sich eine grandiose Sicht über die Stadt und den See bot.

Er musste suchen, bis er einen Hinweis auf die Tex Global Financial fand. Einzig ein kleines Schild an der Tafel mit den Klingeln wies darauf hin. Typisch. In Zug mussten grosse Geschäfte diskret ablaufen. Tom betrat das Gebäude und ging zu den Liften. Die Tex hatte die Stockwerke vier und fünf für sich gemietet, wie er der Anzeigetafel im Lift entnehmen konnte. Er drückte auf die Vier.

Als er aus der Kabine trat, befand er sich in einem grossen, edlen Empfangsraum. Die Theke war aus weissem Marmor, der Boden aus schwarzem Schiefer. Es gab einen Brunnen neben der Ecke mit den ledernen Chesterfield Sesseln, aus dem es leise plätscherte. An den Wänden hingen moderne Ölgemälde. Drei Damen sassen am Empfang, eine schöner als die andere: blond, brünette, schwarzhaarig. Sie trugen Designerkleider, soweit das Tom beurteilen konnte. Was sie verband, waren der rote Lippenstift und die rot lackierten Fingernägel.

Blondie strahlte und stand auf. «Guten Morgen und herzlich willkommen bei der Tex Global Financial. Bei wem haben Sie einen Termin?»

Tom rückte sein altes dunkelblaues Hemd zurecht. Für einmal trug er kein T-Shirt zu der Jeans. Er versuchte es auf gut Glück. «Herr Müller erwartet mich.»

Blacky tippte auf der Tastatur ihres Computers herum. «Haben Sie den Termin bei Herrn Walter oder Herrn Beat Müller?»

Tom entschied sich für Beat.

Blacky kräuselte die Nase. «Er ist in einer Besprechung, die bis am Mittag dauert. Ich sehe hier keinen Termin. Wie ist Ihr Name?» Sie schaute Brownie an, die ebenfalls ihre Fingernägel über die Tastatur fliegen liess. Blondie hielt an ihrem antrainierten Lächeln fest.

«Iten», antwortete Tom, ein Nachname, der zu den häufigsten im Kanton Zug gehörte.

Die Frauen wurden hektisch. Tom beschloss, den Millionär in Lumpenkleidung abzugeben. «Sagen Sie nicht, Sie haben den Termin verschlampt. Ich bin nur selten in der Schweiz und habe mir vor Wochen den Termin durch meine Sekretärin bestätigen lassen. Ich will meine Millionen nicht auf einem lausigen Sparkonto verwelken lassen. Ich will zu Herrn Müller, umgehend.» Tom schaute auf seine Armbanduhr. «In zwei Stunden geht mein Flieger nach New York.» Hatte er zu hoch gepokert?

Blacky und Brownie griffen zeitgleich nach den Telefonhörern. Blondie kam auf ihren schwindelerregend hohen Absatzschuhen um die Theke herum und führte Tom zu den Chesterfield Sesseln. «Wir kümmern uns darum, Herr Iten. Tut uns sehr leid. Bei der Tex geht es heute Morgen ein … ein wenig hektisch zu und her. Darf ich Ihnen einen Kaffee servieren?»

Es tat Tom weh, die nette Dame wütend anzufahren. Er mochte solche Spiele nicht, aber da er schon mal hier war, wollte er sich bei der Privatbank umschauen. «Unglaublich. Sie lassen mich am Empfang warten wie einen gewöhnlichen Bankkunden. Inakzeptabel. Ich verlange, in Herrn Müllers Büro zu warten.»

Blondie war unschlüssig, aber Brownie übernahm entschlossen. «Folgen Sie mir, Herr Iten.»

Na also, ging doch. Tom folgte ihr durch die Glastür, die sie mit einem Badge öffnete. Der Korridor war lang, rechts und links befanden sich Vorzimmer und Büros hinter gläsernen Wänden. Privatsphäre gab es nicht. Tom schaute sich die metallenen Schilder mit den eingravierten Namen und Berufsbezeichnungen an den Türen an: Analyst, Associate Director, Director.

Beat Müller war ein Associate Director.

Brownie öffnete die Glastür. Im Vorraum sass eine Sekretärin. Ebenfalls brünett, teures Kostüm, rote Lippen, rote Nägel. Die beiden Frauen wechselten einige Worte.

«Meine Damen, ich muss auf die Toilette», sagte Tom. In diesem Büro gab es nichts Interessantes zu entdecken, und Beat Müller wollte er auf keinen Fall über den Weg laufen.

Die neue Brownie übernahm und führte Tom weiter den Gang hinunter.

Mehrere Personen standen vor einem Büro weiter vorne und diskutierten heftig. «Was ist das für eine Menschenansammlung?», fragte Tom.

Die Frau zuckte leicht zusammen. «Bitte entschuldigen Sie. Es gab einen … einen Todesfall in der Firma, deshalb …» Sie ging rasch an den Personen und dem Büro vorbei, dessen Türe weit offen stand. Statt einem metallenen Namensschild hing bloss ein Zettel mit ausgedrucktem Namen am Eingang: «Jacques Reynard, Director BRA». Tom warf einen Blick durch die Glaswand. Drei uniformierte Polizisten standen im Vorzimmer und unterhielten sich mit einem Mann mit langen braunen Locken. Rasch wandte Tom den Kopf ab. Zu spät.

«Tom! Was zum Teufel suchst du hier?», rief Rizzo ihm nach.

Tom brauchte eine hammermässige Ausrede. Aber immerhin wusste er, wen Katja Rosenstock mit über zwanzig Messerstichen ermordet haben musste: Jacques Reynard, Director BRA.

***

Natalie entschied sich für ein dunkelblaues Khangatuch mit einem sonnenähnlichen Muster in Gelb und Rot. Sie liebte diese leichten Baumwollstoffe, die auf ihrer Haut bequem zu tragen waren. Dass eine grosse, dünne und bleiche «Weisse» in der Kleidung afrikanischer Frauen durch Zug stolzierte, zog Aufmerksamkeit auf sich, vor allem, wenn Natalie zusätzlich ein Tuch wie einen Turban um den Kopf wickelte. Ihre eigene Haarpracht liess zu wünschen übrig. Blonde, dünne, kurze Büschel, dazwischen häufig kahle Stellen. Perücken trug sie nur in Ausnahmefällen, meist, wenn sie ihren Paps zu Anlässen der Zuger Schickeria begleiten musste. An Tagen voller Selbstvertrauen trug sie Naturhaar, an miesen Tagen lieber afrikanische Kopftücher.

Heute war ein guter Tag.

Sie trug blond.

Und der Tag wurde besser.

Sie verliess die Villa und ging zur Garage. Der silberfarbene Mercedes fehlte. Ihr eigener Jazz war ihr zu eng und der VW Touareg zu mächtig. Natalie tippte den Code in den kleinen Wandtresor ein und griff nach dem passenden Wagenschlüssel. Sie warf ihn Musa zu.

Der grinste.

Natalie hob das Kinn. «Verkneif dir die Vorfreude, Chauffeur. Wir halten uns brav an die Geschwindigkeitsbegrenzung.»

Die Forchwaldstrasse hinunter an den See war auf fünfzig Kilometer die Stunde begrenzt. Musa fuhr fünfundsechzig. Schade, dass das Wetter trüb und regnerisch war. Graue Wolken hingen wasserbeladen bis an die Wipfel der Bäume, der Zugersee war bedenklich schwarz verfärbt. Einzig das rote Porsche Carrera 911 GTS Cabriolet raste wie ein Farbklecks den Hang hinunter. An ein offenes Dach war nicht zu denken.

«Warum der Porsche?», fragte Musa, der selten zu dem Vergnügen kam, ihn zu fahren.

«Passt zu den Farben meiner Kleidung. Und vor Staatsanwälten darf man protzig aufkreuzen. Ich will meinem Team heute Nachmittag Antworten liefern und nicht mit leeren Händen ins Büro kommen.»

«Ihr seid keine Konkurrenten. Arbeitet miteinander, nicht gegeneinander. Das ist kein Wettbewerb.»

«Doch, ist es. Und deshalb werden wir die Besten in der Branche sein.»

Staatsanwalt Eckart Lind wohnte in einer alten, leicht heruntergekommenen Villa am Guggiweg, gleich hinter dem Rosengarten. Das Haus mit den Erkertürmen und den moosbewachsenen Fassadenschindeln war für Passanten beinahe unsichtbar hinter zwei mächtigen Trauerweiden, Haselsträuchern und Hecken verborgen.

Es war kurz vor ein Uhr. Musa liess den Motor des Porsches zweimal kräftig aufheulen, bevor er ihn zum Schweigen brachte. Er stieg aus, ging um den Wagen herum und half Natalie aus dem tief liegenden Beifahrersitz. «Soll ich mitkommen?»

Natalie musterte ihn von oben bis unten. Er trug eine Jeans und ein enges weisses T-Shirt, das seinen durchtrainierten Körper knackig in Szene setzte. «Kennst du dich mit Hühnern aus?»

Musa zog die Augenbrauen hoch. «Na ja, ich mag Eier. Und Coq au Vin.»

«Ich rede von quicklebendigen Seidenhühnern, Paduanern, Appenzeller Spitzhauben, Brahma Hühnern, den Phönix.»

Musa kratzte sich den kurz geschorenen Kopf. «Gerade benimmst du dich wie ein Huhn. Ich bin bloss der Chauffeur und warte hier.»

Natalie hakte sich grinsend bei ihm unter. «Nein, mein hübscher Sklave, du kommst mit und kannst die Dame des Hauses unterhalten. Sara meint, sie sei ein Federvieh liebender Hausdrache. Frau Lind hat eine kleine, feine Hühnerzucht im Garten. Lass sie dir zeigen. Ich brauche den Staatsanwalt allein unter vier Augen.»

Fünf Minuten später erweiterte Musa sein Fachwissen über Edelhühner-Rassen, und Natalie sass auf dem abgenutzten Ledersofa in Linds Wohnzimmer. Der Staatsanwalt schlürfte seinen Kaffee und liess sich durch ihren Besuch nicht aus der Ruhe bringen. Seine Haare waren ungekämmt, er hatte Augenringe, und der türkisfarbene Pyjama mit dem Donald-Duck-Aufdruck sass schief. Lind legte seine nackten Füsse auf den Hocker vor sich und starrte Natalie an. «Sie gönnen einem alten Herren keinen Schlaf, was?»

«Wir müssen einen Mord aufklären.»

Lind legte den Kopf zurück aufs Sofa. «Der Mord ist aufgeklärt.»

«Wir kennen das Ende, nicht, was davor war.»

«Kindchen, das ist Polizeiarbeit, und die Staatsanwaltschaft gibt keine Auskunft in diesem Fall.»

Natalie ging zu Plan B über, der half meistens. Sie rutschte auf dem Sofa hin und her, griff nach einem Kissen, setzte sich darauf, verzog schmerzerfüllt das Gesicht, hob das Khangatuch über ihrem Schienbein hoch, um Lind einen Blick auf ihr einbandagiertes Bein zu gewähren. Sexy war anders, aber die Rolle der Verführerin beherrschte Natalie eh nicht.

Deshalb Plan B: die Leidende.

Lind setzte sich auf. «Geht es Ihnen gut?»

«Nein», jammerte Natalie. Warum wollten diese verdammten Tränen nie fliessen, wenn man sie brauchte. «Ich lebe seit fünfundzwanzig Jahren in dieser Hölle gefangen, und nur die Ablenkung hilft gegen die Schmerzen. Die sind schön.» Sie zeigte auf Linds bunte, handgeknüpfte Armbänder.

«Wir unterstützen in Bolivien ein Kinderhilfsprojekt. Jedes Jahr bekommen wir von den Kindern solche Armbänder geschenkt.»

Natalie hatte über Lind recherchiert, bevor sie herkam. Sie kannte das Hilfsprojekt. Es wurde Zeit, zu pokern. «Sie wissen von Kipekapeka, der Organisation, die ich gegründet habe? Sie half in Bolivien zwei Schwestern. Sie sind seit einem Jahr bei ‹Risa de los niños› untergebracht, wo sie die Schule besuchen und eine Ausbildung absolvieren können.»

Lind setzte sich kerzengerade hin. «Das ist die Organisation, die meine Frau und ich unterstützen.»

Natalie holte tief Luft. «Ist nicht wahr! Voll krass! Kennen Sie Jimena und Olivia?»

«Natürlich.» Lind suchte hektisch nach einem pinkfarbenen Band an seinem Handgelenk. «Das hier, das hat mir Jimena zu Weihnachten geknüpft. Wir waren letzten Herbst nach dem Fall mit dem erschlagenen Nachtwächter dort zu Besuch. Die armen Mädchen, ihre Geschichte ist …»

«Traurig, ich weiss. Der Vater sitzt im kolumbianischen Knast wegen Drogenhandel, die Mutter verunfallte auf dem Feld, und ihre Tante hatte kein Geld, sie aufzuziehen.»

«Das ist unglaublich.» Lind stand auf und marschierte im Zimmer auf und ab. «Wir haben …»

«… vieles gemeinsam. Wir wollen den Menschen helfen, das Richtige tun. Es gibt keinen Mord ohne Motiv. Ich denke, Katja Rosenstock lenkt uns mit ihrem Geständnis ab. Wir müssen herausfinden, weshalb.» Die erste Person Plural war die Wahl, um Lind zum Verbündeten zu gewinnen.

Er zupfte sich am kurzen Bart. «Ablenken? Wovon?»

«Dem Motiv.»

«Was ist das Motiv?»

Natalie klopfte mit der Hand sanft auf das Lederpolster neben sich. Lind setzte sich zu ihr. Sie schwieg einen Moment, zog die Spannung mit Genuss in die Länge. Draussen gackerte ein Seidenhuhn, oder war es eine der Spitzhauben? Sie lehnte sich zu Lind hinüber und lieferte ihm ein Motiv, welches, spielte keine Rolle. Sie musste ihm bloss etwas liefern, um die Sache am Laufen zu halten. «Notwehr», flüsterte sie in sein Ohr. «Katja hatte Angst.»

Lind flüsterte zurück. «Woher wissen Sie das?»

«Hubi.» Eine weitere Lüge.

«Hubi?»

«Ihr geliebter Ehemann. Er ist unser Kunde. Die Staatsanwaltschaft sollte mit der Trust zusammenarbeiten. Wir sind gut, richtig gut. Sind Sie nicht auch an einem sauber gelösten Fall interessiert? Die Presse stürzt sich bereits auf den Schutzengel-Mord. Sie können sich keine Fehler erlauben – und sorry, aber Bolander als Saras Nachfolger kann ihr nicht das Wasser reichen. Tauschen wir Informationen aus. Ihnen winkt das Lob von Presse und Staat, wir haben einen zufriedenen Kunden, der zahlt und uns weiterempfiehlt.»

Lind überlegte.

Natalie massierte sich erneut das schmerzende Bein mit ihren geschundenen Händen.

Frau Lind betrat das Wohnzimmer. Sie war klein und zierlich, mit langen, offenen Haaren mit lilafarbenen Strähnen und einer rosafarbenen Pfingstrose als natürlichem Schmuck. Sie trug ein buntes Batik-T-Shirt zu der grünen, weiten Leinenhose. Ihr Lachen war fröhlich. Kein Hausdrache, dachte Natalie, eher ein in die Jahre gekommenes Blumenkind. Im Schlepptau kam Musa, ein schwarz-weiss gesprenkeltes Huhn im Arm.

«Mausebär, schau nur, Melodie lässt sich von Musa tragen. Ist das nicht phantastisch? Warte, ich hole einige Sonnenblumenkerne aus der Küche.»

«Elfchen, das ist unglaublich.» Lind starrte Musa an. «Wie machen Sie das?»

Musa setzte sich mit dem Huhn auf dem Schoss in den Sessel gegenüber. Das Huhn schloss die Augen und legte seinen Kopf auf seinen Unterarm. War Natalie gerade auf einem LSD-Trip? Lind schien es zu sein. Er lächelte verzückt. Was war in dem Kaffee gewesen? Seine Augen starrten sie glasig an.

Das war ihre Chance, zuzuschlagen. «Letzte Nacht, was ist da genau abgelaufen beim Schutzengel?»

DREI