Liebe, Sünde, Tod - Monika Mansour - E-Book

Liebe, Sünde, Tod E-Book

Monika Mansour

4,8

Beschreibung

Im Zürich wird eine junge Marokkanerin erstochen, die Spur führt zu einer Speditionsfirma in Sursee. Der Luzerner Ermittler Cem und sein Team übernehmen den Fall. Ins Visier gerät die attraktive Lkw-Fahrerin Lana. Als eine Arbeitskollegin von ihr erstochen aufgefunden wird, schreibt die Polizei sie zur Fahndung aus. Doch Cem lässt sich von ihrem Charme verführen - nicht ahnend, dass damit sein eigenes Drama beginnt.

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Monika Mansour wurde 1973 im Kanton Zürich geboren. Nach einer Augenoptiker-Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Heute ist sie hauptberuflich als kaufmännische Angestellte tätig und arbeitet nebenberuflich als Tattoo-Künstlerin. Sie schreibt seit ihrer Kindheit Romane und Kurzgeschichten in den Bereichen Krimi und Thriller und zeichnet leidenschaftlich gerne. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie in Egolzwil, in der Nähe von Sursee.

Mehr auf www.monika-mansour.com, Facebook und Twitter.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Christina Vikoler Literary Agency, München.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/k_t Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-606-5 Zürich Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für meine Jungs

Alles, was wir auf der Welt sehen, ist das Werk der Frauen.

Mustafa Kemal Atatürk

Willkommen, Weib, du einzig lebenswerte Lüge!

Carl Spitteler

Frauen tun, was sie tun müssen, und Männer auch. So ist das im Leben.

EINS

Die Ratte lugte zwischen den Abfallsäcken hervor, welche die dunkle Seitengasse säumten. Der metallische Geruch von frischem Blut hatte ihre Gier geweckt. Lautlos dribbelte sie auf das Festmahl zu, folgte dem Duft des noch warmen Blutes und hinterliess dabei winzige Spuren im Neuschnee.

Habibas Augen waren geschlossen, es sah aus, als träume sie friedlich, als träume sie von glücklichen Zeiten, als träume sie von ihrer Kindheit. Wie sie es geliebt hatte, nach Treibgut im Sand zu suchen, welches das azurblaue Wasser an den Strand gespült hatte. Den Klang der sich brechenden Wellen des Atlantiks hatte sie nie vergessen. Auch nicht den warmen Wüstenwind, der sich in ihren wilden Haaren stets verfangen hatte. Ihre Grossmutter hatte ihr die lockige Pracht zu einem kunstvollen Zopfgeflecht gebändigt. Und ihre grosse Schwester hatte ihr Halsketten aus Muscheln geknüpft. Sie hatte sich wie eine kleine Prinzessin gefühlt, stolz gekichert und geglaubt, die Welt gehöre ihr.

Jetzt lag Habiba still. Jetzt waren es Schneesterne, welche ihre karamellfarbene Haut liebkosten. Jetzt lag die schwarze Haarpracht auf weissem Schnee, die ersten Strähnen bereits erstarrt. Jetzt lag keine Muschelkette um ihren Hals. Jetzt steckte ein kaltes, hartes Ding in ihrer ausgebluteten Halsschlagader.

Die Ratte tauchte ihre Schnauze in den rot getränkten Schnee und leckte an dem frischen Blut. Plötzlich blickte sie auf und stiess einen spitzen Schrei aus. Sie wollte ihr Festmahl mit der Meute teilen. Die Augen des Biestes leuchteten rot in der Nacht, geblendet von den Scheinwerfern der Wagen, die auf der Hauptstrasse, nur ein paar Meter entfernt, vorbeifuhren. Die Nacht war kalt, dunkel und neblig. Die Strassen waren rutschig, und die Bremslichter der Autos blitzten immer wieder unruhig auf.

* * *

Überquerte man diese Strasse und folgte ihr etwa einhundert Meter Richtung Hauptbahnhof, vorbei an einem türkischen Gemüseladen mit verriegelten Türen und einem chinesischen Coiffeursalon, so kam man in eine kleine Gasse, welche direkt zum Hintereingang eines der angesagtesten Clubs der Langstrasse führte: das «White Rabbit».

Eine junge Frau kämpfte sich in dieser kalten Nacht, in Ledermantel und Schal eingemummt, durch den Matsch zu diesem Hintereingang durch.

«Lilou, Mädchen», sagte der dunkelhäutige Hüne, welcher die eiserne Tür bewachte, «mach deine nächste Zigarettenpause drinnen. Du holst dir noch eine Erkältung bei diesem Sauwetter. Du weisst, Heiner kann nicht auf dich verzichten.»

Lilou formte ihren blutroten Mund zu einem Kuss und lächelte. Dann tätschelte sie den in eine warme Daunenjacke gepackten muskulösen Bizeps des Türstehers. «Du bist ein guter Kerl, Moses. Aber keine Angst, ich bin zäh. So schnell wird mich der Boss nicht los. Nicht, solange er gut bezahlt, n’est-ce pas?»

Die Türangeln stöhnten, als Moses ihr fast ehrfürchtig öffnete. Lilou eilte dem schmalen dunklen Korridor entlang zu den Garderoben. Es war heiss hier drinnen, laute Musik liess die Wände vibrieren.

Krystyna stürmte gerade aus der Garderobe Richtung Bühne. Zu ihrer Polizeiuniform trug sie halsbrecherisch hohe Absatzstiefel. «Du bist spät!», schnauzte sie Lilou an. «Ich möchte zu gerne wissen, was du in deinen Pausen immer draussen auf der Strasse treibst. Verdienst dir mit einer schnellen Nummer noch etwas Geld dazu, was? Wenn Heiner davon erfährt, bist du echt am Arsch.»

Lilou nahm es locker. Sie konnte es ihr nicht verübeln, dass sie sauer war. Bei der Eröffnung des Clubs war Krystyna der Star des Abends gewesen– bis Lilou neu ins White Rabbit kam. «Schau du besser, dass keine Rückstände zurückbleiben, wenn du dir in deinen Pausen Koks die Nase hochziehst. Darauf steht Heiner absolut nicht», sagte Lilou und fuhr sich demonstrativ mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang.

Krystyna strich sich hektisch mit der Hand über den Mund. Ihre Augen funkelten böse. «Ja, grins du nur. Jetzt bist du noch Heiners Liebling. Aber das wird nicht mehr lange so bleiben, Flittchen.»

Lilou hob, obwohl einen Kopf kleiner als ihre Kollegin, selbstsicher das Kinn. «Neidisch, Kryssy, weil dir meine Klasse fehlt? Und ganz ehrlich, die wirst du nie erreichen. Jedenfalls musste ich nie mit Heiner in die Kiste springen, um als Star des Abends angekündigt zu werden.»

«Zicke!», fauchte Krystyna, schob ihre Polizeimütze zurecht und eilte auf die Bühne. Die nächsten fünf Minuten gehörten ihr.

Lilou betrat die Garderobe und zog Mantel, Schal und ihre warmen Stiefel aus. Als sie sich die Lederhandschuhe abstreifte, kam die kleine Ming Ming in die Garderobe. Sie hatte ihren Auftritt soeben hinter sich und trug daher einzig schwarze Lackpumps und wollene Kniesocken– die angeblich zu einer offiziellen Schuluniform in Hongkong gehörten–, ansonsten war sie nackt. Ihre Kleidung, die sie über dem Arm trug, warf sie auf einen Hocker und kicherte dabei fröhlich wie immer. Ming Mings elfenbeinfarbene und schweissbedeckte Haut glänzte im Licht der Neonröhre. Ihr dunkles Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, dekoriert mit lila Schleifen. Sie holte sich ein Glas Wasser von der kleinen Spüle und trank es in gierigen Zügen leer. Dann musterte sie Lilou. «Wo warst du denn so lange?», fragte Ming Ming mit ihrem süssen, lispelnden Akzent. «Du bist gleich dran.»

Lilou trug bereits das goldbestickte Paillettenkleid, das zu ihrer zweiten Nummer gehörte. Sie musste sich also nicht mehr umziehen. «Ich war nur kurz eine rauchen», sagte sie. Sie nahm die blonde Langhaarperücke, die neben dem Schminkspiegel lag, und setzte diese auf. Den oberen schwarzen Lidstrich zog sie kräftig nach und griff nach dem roten Lippenstift. Sie lauschte der Musik im Club. Krystyna tanzte gerade zu Rihannas «Russian Roulette». Mit dem letzten Takt fiel der Schuss. Es wurde Zeit.

Rasch stäubte sich Lilou noch etwas Goldpuder auf den Körper, schlüpfte in ihre Stilettos und warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel. Sie hörte, wie Paul auf der Bühne bereits ihren Auftritt ankündigte: Sie sei der Höhepunkt des Abends, prophezeite er, die neue Brigitte Bardot, aber viel sinnlicher, viel beweglicher und so unglaublich sexy an der Stange!

Die ersten Takte von Serge Gainsbourgs «Je t’aime…moi non plus» klangen durch die Lautsprecher. Lilou wartete hinter der Bühne auf ihren Einsatz, presste ihre Hände auf den Bauch und schloss die Augen. Noch vier Takte…

«Darf ich vorstellen», rief Paul den Gästen zu, «die atemberaubende– Lilou!»

Sie nahm die drei Stufen hoch zur schwebenden Plattform, gehüllt in Trockeneis, das aus Düsen zu beiden Seiten der Bühne strömte und ihren Auftritt mit mystischen Nebelschwaden dramatisierte. Das Licht im modernen, futuristisch wirkenden Club war jetzt gedämpft, einzig violette Scheinwerfer spielten mit Lilous Silhouette. Sie stellte sich mit dem Rücken zu ihrem Publikum auf, bewegte ihren schlanken Körper langsam und sinnlich im Takt der Musik. Sie kreiste ihre Hüften, die Goldpailletten des kurzen Kleides kitzelten ihre Oberschenkel. Sie spreizte ihre Beine, stand plötzlich ganz still und warf ihren Kopf in den Nacken, die blonden Haare der Perücke reichten ihr bis fast zur Taille hinunter. Sie hob den rechten Arm über ihren Kopf, danach den linken. Mit den Fingerkuppen streichelte sie ihre Hände, spielte verführerisch damit…und liess plötzlich ihren Oberkörper nach vorne fallen, gewährte dem männlichen Publikum einen kurzen Blick auf ihren perfekt geformten Po. Nur ein goldener Tanga verbarg noch ihre intimsten Stellen.

Jane Birkin stöhnte in Ekstase durch die Lautsprecher, als Lilou sich aufrichtete, die Träger ihres goldenen Kleides löste und der Hauch von Stoff zu Boden glitt. Noch bedeckte einBH ihren Busen.

In der Mitte der Bühne glänzte die Stange, die bis zur Decke reichte. Lilou ergriff sie mit einer eleganten Bewegung, wirbelte um sie herum und zog sich daran hoch, schlang die nackten Beine um das kalte Metall und liess ihren Oberkörper nach unten fallen.

Der Club war zum Bersten voll, und jeder einzelne Gast starrte gebannt zu Lilou auf. Am hintersten Tisch sass ein Mann und setzte die Bierflasche an seine Lippen. Sein Atem ging stossweise, als er Lilous Brüste zu sehen bekam. Brüste, die er schon so oft bestaunt hatte und die doch so unantastbar für ihn waren. Er leckte sich mit der feuchten Zunge über die spröden, nach Bier schmeckenden Lippen und starrte gebannt auf die Bühne. Seine Männlichkeit regte sich hart in der Hose, als Lilou bei den letzten Takten der Musik auch noch ihren Tanga abstreifte und mit dem Hauch von Chiffon provozierend zwischen ihren Zähnen spielte.

Das Publikum johlte und applaudierte. Die Musik verstummte. Lilou verneigte sich, lächelte, hob ihr Kleid vom Boden auf und verliess rasch die Bühne.

ZWEI

Barbara seufzte und wischte Krümel von Cems Weste. «Du bist wie ein Baby», sagte sie und schaute auf ihn hinunter. In dem engen Lift wirkte sie noch grösser als üblich. «Die halbe Pizza klebt an deiner altmodischen Kleidung.»

«Keine Kritik an meinem Outfit», sagte Cem und hielt dem scharfen Blick der blauen Augen stand. «Auch Sherlock Holmes trug Mützen und Westen. Okay, Jeans vielleicht nicht.»

«Eben», seufzte Barbara.

Cem setzte sein bestes Grinsen auf. Hey, er war türkischer Abstammung, niemand konnte seinem Charme widerstehen. Auch nicht Barbara.

Sie musste lachen.

Kevin, der danebenstand, schüttelte belustigt seinen blonden Haarschopf. «Erst drei Wochen bei uns im Team, und schon wickelt er die Chefin um den Finger. Wenn du als Ermittler auch nur halb so gut bist wie im Flirten…»

«Das werde ich euch schon beweisen», sagte Cem und zog seine Schiebermütze aus der Stirn. «Ich brauche nur endlich meinen ersten richtigen Fall, und ihr werdet staunen, was für ein Bulle in mir steckt.»

«Männer!», rief Barbara aus. «An Selbstsicherheit hat es ihnen noch nie gemangelt.» Sie zupfte Cems Weste und seinen Hemdkragen zurecht.

«Mich hast du nie so bemuttert», sagte Kevin.

«Du bist hier auch nicht das Küken», sagte Barbara.

«Aber immerhin vier Jahre jünger als Cem. Er hat die dreissig schon passiert, ich noch nicht.»

Barbara liess es nicht zu, dass man ihr das letzte Wort stahl. «Cem ist der Neue, du dagegen ein alter Hase. Und du hast Gabi, die dich zu Hause verwöhnt. Unser Küken hier hat die Richtige noch nicht gefunden, also kümmere ich mich ein bisschen um ihn.» Damit war für sie die Diskussion beendet, und ihre beiden Kollegen wussten, wann es angebracht war, vor Barbara zu kuschen.

Die kleine Gruppe trat im sechsten Stock der Luzerner Polizeizentrale aus dem Lift.

Kollege Petersen von der Fachgruppe für Drogendelikte kreuzte ihren Weg. Er schob seine Nickelbrille den Nasenrücken hoch. «Wie war das Mittagessen mit der Stadträtin?», fragte er und beäugte Barbara dabei schon fast provozierend.

Cem beobachtete seine Chefin genau. Jetzt wurde es interessant. Sie konnte Petersen nicht ausstehen. Barbara liess sich diesmal nicht aus der Ruhe bringen und trat ungemütlich nahe an Petersen heran. Sie überragte ihn um Kopfeslänge. Bedrängt wich der Kollege einen Schritt zurück. Cem hielt sich zurück. Schadenfreude sollte man nicht zu offen zeigen.

«Wir führten ein privates, sehr konstruktives Gespräch», ging Barbara auf Petersens Frage ein. «Die Stadträtin wird sich hüten, Bestechungsgelder zu zahlen, nicht mal einen Schüblig. Sie hat sich nicht in meinen Fall einzumischen, bei dem es um schwere Körperverletzung geht. Ist mir egal, dass der Verdächtige der beste Kumpel ihres Sohnes ist. Auch wenn ich ihr die Schmiergeldaffäre nicht beweisen kann…so eine kleine Unterhaltung beim Mittagessen vollbringt oft Wunder. Sie ist sich jetzt bewusst, dass ich ihr peinlich genau auf die Finger schaue, und wird in Zukunft schön artig faire Politik anstreben.»

Petersen schnaubte. «Sie haben ohne stichhaltige Beweise eine Stadträtin angeprangert. Laut Gesetz gilt die Unschuldsvermutung, bis diese Beweise vorliegen.»

Barbara lächelte und warf ihre roten Haare in den Nacken. «Das Gesetz muss nicht zwangsläufig richtigliegen. Wir haben verlernt, auf unser Bauchgefühl zu hören– manchmal wenigstens. Und in diesem speziellen Fall, da hatten wir einfach ein Problem, die Stadträtin und ich, und das haben wir bei einem Mittagessen aus der Welt geschafft. Was regen Sie sich denn so darüber auf, werter Kollege? Sie haben doch nicht etwa auch am Fiskus vorbei verdient?»

Petersens Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben. «Sie leben gefährlich, Frau Kollegin Amato.»

«Sagen wir, meine Erfolgsquote bei der Verbrecherjagd ist unantastbar, und nach zwanzig Jahren in diesem Job ging es mir gesundheitlich nie besser. Ich denke, meine Eigeninitiative gegenüber gewissen Schurken hat mir nicht wirklich geschadet. Übrigens, wie sieht es in Ihrem Fall aus? Schon eine Spur, woher das Kokain stammt, das Sie letzte Woche aus diesem ominösen Lieferwagen sichergestellt haben?»

«Wir arbeiten daran», sagte Petersen. «Kollegen, das ist reine Zeitverschwendung hier.» Er nickte Cem und Kevin zu und marschierte zu den Liften.

«Ich kann den Kerl nicht ausstehen», sagte Kevin.

Cem schob seine Mütze aus der Stirn. «Nicht auszudenken, ich wäre in seinem Team gelandet.»

Barbara Amato leitete die Fachgruppe «Delikte Leib und Leben» des Ermittlungsdienstes der Kriminalpolizei und war für Cem ein wahrer Glückstreffer. Sie war eine Powerfrau mit italienischer Abstammung, was schwer zu übersehen war. Auch mit Mitte vierzig konnte sie optisch locker gegen jede Zwanzigjährige antreten. Sie war sportlich, schlank, hatte ungemein lange Beine und war gross. Riesig. Funkelten ihre blauen Augen erst einmal auf einen Kollegen nieder, wagte niemand mehr, ihr zu widersprechen. Barbara war der wahre Boss hier.

Sie drehte sich nach der Bemerkung zu Cem um und zog erfreut die Augenbrauen hoch. «Wow, das nenne ich ein Kompliment, wenn ein Türke weibliche Autorität einem männlichen Kollegen vorzieht.»

«Hey», sagte Cem, «das sind rassistische Vorurteile. Ich habe den Schweizer Pass und lebe seit meinem achten Lebensjahr hier. Und wer sagt denn, dass wir Türken die Frauen nur am Herd haben wollen? Ist nicht mein Ding.»

Barbara musste laut lachen. «Sieh einer an, ein emanzipierter Kanake. Komm her, mein Küken, lass dich drücken.» Sie zog Cem in ihre Arme und klopfte ihm kräftig auf den Rücken.

«Ist ja gut!» Cem kämpfte sich aus ihrer Umarmung. «Und keine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz bitte, sonst handle ich auch aus dem Bauch heraus.» Cem zog sein Hemd und die Weste zurecht. «Das war echt spannend heute, das Gespräch mit der Stadträtin. Ich kann noch viel von dir lernen, Boss– vorausgesetzt, du begrapschst mich nicht ständig.»

«Keine Sorge», mischte sich Kevin ein. «Sobald sie ihr nächstes Küken gefunden hat, bist du nur noch ihre Legehenne, die zu produzieren hat. Ich spreche aus Erfahrung.»

Barbara nickte zustimmend. «Genau, Kevin. Hast du den Bericht über den Raubüberfall von gestern schon druckreif?»

«Siehst du», rief Kevin aus. «Sag ich doch. Legehenne.» Er marschierte voraus zu seinem Büro.

«Echt jetzt», sagte Cem ungewohnt ernst. «Ich schätze es sehr, mit dir arbeiten zu dürfen. Du triffst faire Entscheidungen, das bewundere ich. Und du hast keine Angst, dich den Konsequenzen– oder wütenden Stadträtinnen– zu stellen. Du stehst zu dem, was du für richtig hältst.»

Barbara ging nachdenklich dem kalten Flur entlang. «Ja, aber es gab auch zwei, drei Fälle, da lag ich falsch. Auf sein Bauchgefühl zu hören heisst nicht, dass wir uns wie Cowboys aufführen dürfen und die Gesetzbücher im Garten verbuddeln können. Wir haben nach Vorschrift zu handeln. Wir müssen das Gesetz respektieren.»

«Respektieren. Genau. Aber ich bin kein Gesetzesfanatiker. Ich bin bei der Polizei, weil ich den Menschen helfen will.»

Barbara blieb stehen und drehte sich zu Cem um. «Dann hoffe ich für dich, dass die Realität dich nicht überfährt. Wir haben es hier fast ausschliesslich mit dem Bösen zu tun. Wenn du den Menschen helfen willst, hättest du Arzt werden sollen.»

Cem überlegte einen Moment. «Nicht ganz. Indem ich die Bösen zur Strecke bringe, ermögliche ich den Guten ein sicheres Leben.»

«Ach, Kleiner, man kann unseren Job auch auf rosafarbenes Papier niederschreiben, aber es ist und bleibt schmutzige Arbeit.»

Sie betraten ihr gemeinsames Büro. Barbara setzte sich an ihren ordentlich aufgeräumten Schreibtisch und fuhr ihren Computer hoch. Cems Platz war gleich gegenüber. Kevin sass bereits an seinem Tisch seitlich von ihnen und tippte auf der Tastatur herum. Eigentlich hatte Barbara ja ihr eigenes Büro, aber ein Wasserschaden hatte sie dazu gezwungen, sich bei Cem und Kevin einzumieten, bis die Reparaturarbeiten vorüber waren.

Cem legte seine Mütze ab, zog seine Dienstwaffe– eine neue, glänzende Glock– aus dem Holster am Hosenbund und legte sie auf seinen Tisch. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. Er hatte lange auf diesen Traum warten müssen, aber es war besser, als er es sich je vorgestellt hatte. Vier Jahre Ausbildung lagen hinter ihm. Erst die Polizeischule in Hitzkirch, die er als Jahrgangsältester, aber auch als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte. Es folgte die Generalisten-Grundausbildung. Danach hatte er zwei Jahre bei der Sicherheitspolizei gedient, um Berufserfahrung zu sammeln. Vor einem halben Jahr hatte er sich hier beim Ermittlungsdienst beworben. Er hatte das Aufnahmeprozedere und die Prüfungen bestanden, die zwei Monate Zusatzausbildung abgeschlossen, und jetzt, seit drei Wochen, seit dem 1.Januar, war er offiziell ein Mitglied der Fachgruppe «Delikte Leib und Leben». Und glücklich. Kein Sicherheits-, Bereitschafts- oder Verkehrsdienst mehr. Jetzt konnte er die echt bösen Buben jagen. Aber wie durch einen Fluch waren seit drei Wochen all die üblen Kerle verschwunden. Vielleicht war sein Ruf ihm vorausgeeilt und hatte die Verbrecher verjagt. Tatsache war, ausser belangloser Büroarbeit gab es im Moment eigentlich nicht viel zu tun. Cem hatte sich schon bei seinem Freund Emre darüber beklagt, als der ihn gestern Nachmittag überraschend besuchte. Ganz egal, wie sehr Emre aus purer Neugier nachgefragt hatte, ob denn nicht ein einziger kleiner Fall vorliege, von dem er ihm berichten könne. Es war frustrierend. Und zu allem Übel hatte Cem eine weitere Schachpartie gegen seinen Freund verloren. Wenn er als Polizist auch so strategisch schwach ermittle, wie er Schach spiele, dann wäre seine Karriere nur von kurzer Dauer, hatte Emre gescherzt.

Cem starrte nachdenklich aus dem Fenster. Der schneebedeckte Pilatus ragte an diesem klaren, kalten Wintertag majestätisch in den Himmel und verbarg seine Krone hinter einem grauen Wolkenschleier.

«Hey, Cem, hast du von unseren Kollegen aus Wien schon die Statistiken im Brüder-Fall erhalten?», fragte Kevin und holte ihn aus den Gedanken zurück.

«Öde Statistiken.» An dem Brüder-Fall arbeitete die Polizei schon seit zwei Jahren. Erfolglos bisher. Hinter einer Serie von Autodiebstählen, die sich auf ganz Europa ausdehnten, vermutete man vier Brüder, Beweise fehlten. Und da in ihrer Fachgruppe zurzeit kein Delikt vorlag, halfen sie eben den Kollegen zwei Stockwerke tiefer vom Innenfahndungsdienst aus.

Cem seufzte und reichte Kevin den geforderten Ausdruck, dabei fiel eines der Bilder um, die Cem auf seinem Schreibtisch aufgestellt hatte. «Brutus, Kumpel, nicht schlappmachen», sagte er und stellte den Bilderrahmen mit dem Foto eines Boxers wieder sorgfältig auf. «Guter Hund.»

«Wenn du Action willst, musst du Schauspieler werden», sagte Barbara. «Im Kino liegen dir die Leichen zu Füssen. Hier in Luzern hatten wir letztes Jahr genau einen Mordfall. Und der Täter war ein eifersüchtiger Ehemann. Wir haben ihm zwei Stunden nach der Tat Handschellen angelegt. Dann gab es noch fünf Fälle von schwerer Körperverletzung– auch alle aufgeklärt. Du weisst, unsere Kunden sind weitgehend Kriminelle, die dem organisierten Verbrechen angehören: Diebe, Fälscher, Betrüger. Auf Serienkiller triffst du bei CSI und Criminal Minds, nicht bei uns in der Kasimir-Pfyffer-Strasse in Luzern.»

«Ja, ja. Leben wir nicht in einer lammfrommen Gesellschaft?» Cem stützte seine Ellbogen auf dem Tisch ab und liess sein Kinn in die Hände sinken. Dabei fiel sein Blick auf ein weiteres Bild vor sich. Lustige Locken zierten das kleine Gesicht des Mädchens. Sie lachte in die Kamera und zeigte dabei stolz ihre erste Zahnlücke. «Elin», rief Cem aus, «fast hätte ich dich vergessen.» Er öffnete eine Schublade und holte eine pinkfarbene Schachtel hervor.

Als Kevin den Gegenstand erkannte, den Cem vor sich auf den Tisch legte, musste er grinsen. «Das ist jetzt nicht dein Ernst, Cem?»

Barbara blickte auf. «Willst du eine Aufklärungsstunde in weiblicher Physiognomie?»

«Hey», protestierte Cem, «die ist für die Tochter meiner Cousine. Elin wird übermorgen sechs.»

«Diese Dinger sind doch reinste Pornografie.» Barbaras Nase mit den vielen Sommersprossen kräuselte sich.

Cem hob abwehrend die Hände. «Sie hat sich diese Puppe gewünscht.»

«Diese Barbie sieht aus wie Britney Spears mit Brustimplantaten», entgegnete Barbara.

«Meinst du?» Cem zog die Stirn in Falten. «Also mir gefällt sie. Und, na ja– ich wollte nur fragen…du weisst doch, ich bin handwerklich eine echte Niete, und ich will Elin die Barbie nicht einfach so in die Hand drücken. Also könntest du vielleicht…?» Cem setzte seinen besten Südländercharme ein und blickte seiner Chefin treuherzig in die tiefblauen Augen.

«Uff», rief sie aus, «hast du denn wenigstens das Geschenkpapier dabei?»

«Natürlich», strahlte Cem und zog eine Rolle buntes Papier unter dem Tisch hervor.

«Gib schon her.»

Barbara war gerade dabei, das Geschenkpapier zurechtzuschneiden, als der Abteilungsleiter der Kriminalpolizei und Stellvertreter des Kommandanten ins Büro trat. Cem musste beim Anblick von Rolf Wymann immer an Elvis denken. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Wymann hätte locker dessen älterer Bruder sein können, aber ihm fehlte der Charme seines berühmten Doppelgängers– und dessen Koteletten.

Der Boss schaute sich ausdruckslos im Büro um. Seine Miene verriet weniger als die billigen, ungerahmten Landschaftsbilder an den Wänden. Cem gab sich beschäftigt, und Kevin tippte konzentriert auf seiner Tastatur herum. Nur Barbara liess sich von Wymanns Erscheinen nicht behelligen. Sie legte gerade die Barbie auf das Geschenkpapier, als Wymann hinter sie trat und mit hochgezogenen Augenbrauen über ihre Schulter blickte.

«Ein neues Mordopfer», sagte er trocken.

«Hat Cems Charme nicht überlebt», erwiderte Barbara. «Wir werden sie gleich zur Pathologie rüberbringen. Hübsch verpackt in Geschenkpapier.»

Cem glaubte tatsächlich, so etwas wie ein Schmunzeln auf Wymanns Gesicht zu erkennen. War das möglich? Niemand hier kannte den Boss wirklich, ausser Barbara vielleicht. Aber sie sprach nie über ihn. Cem wusste einzig, dass er lange beim Militär gedient hatte, in der Scheidung steckte, keine Kinder hatte und einen BMW fuhr. Hobbys, Vorlieben, Jugendsünden, Lieblings-Biersorte, Geliebte…alles ein grosses Geheimnis.

Wymann trat neben Barbara und legte ihr ein Foto neben die Barbie auf den Tisch.

«Ein Mord?», fragte Kevin und kaute auf einem Kugelschreiber herum.

Wymann nickte. Er war noch nie ein Mann der grossen Worte gewesen. Oft kompensierte Barbara dieses Manko auf der Führungsebene.

Sie nahm das Bild in die Hand und betrachtete es aufmerksam. «Da ist viel Blut», sagte sie. «Schnee. Ratten haben Spuren hinterlassen. Ältere Hausfassade. Graffitis. Eine dunkle Ecke. Abfall. Das sind die Abfallsäcke von Zürich. Lass mich raten: ein Innenhof? Langstrasse? Die Frau ist jung, etwas über zwanzig. Hübsch. Armes Ding. Keine Schweizerin. Aus dem arabischen Raum? Marokko möglicherweise. Sie trägt eine pinkfarbene Satinbluse. Die obersten Knöpfe aufgerissen. Da, man kann den schwarzen Spitzen-BH erkennen. Reizwäsche. Hautenge Jeans, Stiefeletten, viel Make-up. Entweder eine Prostituierte, oder sie hat ein Date nicht überlebt. Wo ist ihre Jacke?» Barbara betrachtete das Bild genauer. «Sie hat eine Kopfwunde, da, an der Schläfe, aber der Blutlache nach zu urteilen ist das nicht die Todesursache. Hier, die Halsschlagader, da steckt etwas drin. Was ist das?»

Wymann blickte auf. Wie jeder hier war er von Barbaras Spürsinn beeindruckt. Auch Cem war sich bewusst, dass er von Barbara noch eine Menge lernen konnte.

Kevin kaute nach wie vor auf dem Kugelschreiber herum, als Wymanns Blick unerwartet an ihm hängen blieb.

«Das da», sagte Wymann und zeigte auf Kevin.

Überrumpelt zog dieser seine Schultern stramm.

«Kevin ist die Tatwaffe?», wunderte sich Cem und konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken.

«Ein Kugelschreiber», stellte Wymann richtig. «Steckte in der Halsschlagader des Opfers.»

«Ein Kuli-Mord in Zürich? Und was haben wir damit zu tun?», fragte Cem aufgeregt. Er witterte bereits seine Chance. Endlich ein richtiger Fall!

Wymanns Blick blieb ernst. «Der Kugelschreiber ist von ‹TopSped›.»

«Dem Transportunternehmen aus Sursee?» Cem kannte die rot lackierten Lkws, die überall auf den Strassen anzutreffen waren. Sofort googelte er die Firma.

«Die Mordwaffe stammt also aus unserem Kanton. Will die Zürcher Kapo mit uns zusammenarbeiten?», fragte Barbara.

«Ich war soeben in Kriens bei der Staatsanwaltschaft. Unsere leitende Staatsanwältin in diesem Fall ist Eva Roos. Sie steht im Kontakt mit den Zürcher Behörden. Wir arbeiten in diesem Ermittlungsverfahren eng zusammen und bilden eine gemeinsame Arbeitsgruppe. Der Zürcher Kollege Breitenmoser leitet die Operation.»

Barbara sagte: «Ein Kugelschreiber mit einem Firmennamen ist kein ausreichender Beweis. Diese Dinger sind wohl in der ganzen Schweiz verstreut. Steckt mehr dahinter?»

«Die Fingerabdrücke auf dem Kugelschreiber», fuhr Wymann fort, «wurden abgewischt, aber man hat Spuren von Diesel und Motorenöl darauf gefunden. Und die Tote hatte einen Fetzen Papier in der Hand. Eine abgerissene Ecke von einer Visitenkarte. Die Analyse hat ergeben, dass das Papier mit den Visitenkarten von TopSped übereinstimmt.»

Kevin kratzte sich die Augenbraue. «Der Täter arbeitet also in Sursee?»

Wymann nickte. «Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Mörder bei TopSped zu finden ist. Deshalb sollen wir uns bei der Firma umhören», erklärte er und blickte tatsächlich in Barbaras strahlend blaue Augen. «Verdeckt.»

«Wow», rief Cem aus. «Eine verdeckte Ermittlung?»

«Motiv?» Barbara dachte nicht daran, Wymanns Blickkontakt zu beenden.

Wymann gab auf. Er drehte sich von ihr weg. «Wir warten noch auf mehr Informationen von den Zürcher Kollegen. Der Mord geschah Freitagnacht, wohl eine Tat im Affekt. Sie hat den Mörder offensichtlich gekannt. Unsere Kollegen befragen in diesen Tagen ihren Bekanntenkreis, sind aber bisher noch auf keine Spur gestossen. Den Spuren nach zu urteilen gab es einen Kampf. Ihr Kopf wurde gegen etwas Flaches geschleudert, ein Auto vermutlich. An den Hausfassaden gibt es nirgends Blutspuren.»

«Und wie kam der Kugelschreiber in ihren Hals?», fragte Cem.

«Wir vermuten, er war der erstbeste Gegenstand, den der Mörder in die Hand bekam. So wie das Ding in ihrem Hals steckt, muss es mit voller Wucht hineingerammt worden sein.»

«Der Kerl muss echt wütend gewesen sein. Was hat das arme Ding nur angestellt, dass es so enden musste?», fragte Barbara.

Wymann zog sich sein Jackett zurecht. «Genau das müssen wir herausfinden. Wir werden einen von unseren Männern bei TopSped einschleusen, um sich umzuhören. Gleichzeitig überprüfen wir in der Datenbank alle Angestellten der Firma. Vielleicht gibt es jemanden, der dem Täterprofil entspricht oder schon vorbestraft ist.»

«Was wissen wir über das Opfer?», warf Cem ein.

Wymann nickte. «Ihr Name ist Habiba Bensaïd, gebürtige Marokkanerin, in Paris aufgewachsen. Dreiundzwanzig Jahre alt. Sie lebt seit fünf Jahren mit ihrer Mutter in Zürich. Arbeitet in einem libanesischen Take-away an der Langstrasse und macht tagsüber eine Ausbildung zur Kosmetikerin.»

«Keine Professionelle also?», fragte Barbara.

«Gemäss unseren Zürcher Kollegen nicht. Aber sie war eine bildhübsche junge Frau und hat offensichtlich das Nachtleben nicht gemieden.»

«Was meinte ihre Familie zu ihrem offenen Lebensstil?», fragte Cem.

«Sie hat nur ihre Mutter, keinen Vater mehr, keine Brüder…Einen Ehrenmord können wir wohl ausschliessen.»

Kevin lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. «Und wir haben keine Hinweise auf den Täter, ausser den Kugelschreiber und den Fetzen Papier? Wird deshalb die verdeckte Ermittlung genehmigt? Ich meine ja nur, da wir keinen konkreten Verdächtigen haben und ein riesiges Unternehmen durchleuchten müssen.»

«Das ist doch unser Job», sagte Cem, «Wühlen im Dreck.»

Kevin zog eine Grimasse. «Und wen schleusen wir als verdeckten Ermittler ein? Und unter welcher Identität?» Seine Stimme verriet keine Begeisterung. Er war der Analyst, der Computerfreak. Für einen Cyberwar jederzeit zu begeistern, aber wenn es darum ging, sich die Hände schmutzig zu machen, war er der falsche Mann.

Cem fuhr mit dem Cursor über seinen Bildschirm, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. «Hier steht: TopSped sucht laufend Chauffeure KategorieB zur Ausbildung als Lastwagenführer. Einstieg per sofort. Gründliche Einführung in das Transportgewerbe garantiert.» Er zeigte aufgeregt mit den offenen Handflächen auf den Monitor. «Das ist doch die perfekte Gelegenheit, um sich umzuhören.»

Wymann ging auf dem grauen Laminatboden auf und ab. Seine Schuhsohlen quietschten dabei grässlich. Schon nach ein paar Schritten wurde es ihm offensichtlich zu peinlich, und er blieb stehen. Nachdenklich massierte er sein Kinn und schaute aus dem Fenster. Cem entging nicht, wie Barbara ihn aufmerksam musterte. Ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Cem griff sich an den Kragensaum seiner Weste. Was lief da zwischen Wymann und Barbara?

«Ich will dich als Führungsperson bei dieser verdeckten Ermittlung, Barbara», sagte Wymann trocken.

Sie nickte.

Klar, dachte Cem. Sie war perfekt dafür.

«Und wen setzen Sie als Ermittler ein?» Cem konnte seine Aufregung kaum unter Kontrolle halten. «Unsere beiden Kollegen Bättig und Gehringer sind kurz vor dem Abschluss ihres Falles. Die werden keine Freude haben, wenn man sie davon jetzt abzieht.» Ihre beiden Kollegen der Fachgruppe «Delikte Leib und Leben» sassen im Büro nebenan. Cem hatte sie nur selten zu Gesicht bekommen in den drei Wochen, in denen er hier war. Sie wollten ihren Fall demnächst der Staatsanwaltschaft übergeben.

«Ganz recht», sagte Wymann.

«Bleiben also einzig Kevin und ich übrig, die verdeckte Ermittlung zu übernehmen. Es sei denn, Sie wollen einen Aussenstehenden miteinbeziehen.»

«Herr Cengiz, Sie sind erst seit gut drei Wochen bei uns im Ermittlungsdienst. Ihnen fehlt die Berufserfahrung.»

«Bei der Polizei: ja. Was die Menschenkenntnis angeht– wohl kaum. Ich habe fünf Jahre lang ein Restaurant geführt. Glauben Sie mir, ich bin besser als jeder Psychoanalytiker.»

«Du bist unser Küken», sagte Barbara. «Das ist zu gefährlich.»

«Ach, kommt schon, Leute», rief Cem aus und verwarf die Hände. «Sich ein bisschen umhören, den guten Kumpel spielen, was kann da schon schiefgehen? Das wird nicht gleich in einer wilden Schiesserei enden. Ausserdem entspricht mein Profil genau den Anforderungen von TopSped. Die Staatsanwaltschaft wird mir einen netten Lebenslauf schreiben: Ich habe eine Lehre als Mechaniker gemacht, auf dem Bau gearbeitet, bin Schweizer mit Migrationshintergrund, etwas Türkenslang krieg ich auch noch hin…» Cem spuckte sich symbolisch in die Hände und strich sich die kurzen Haare glatt, dabei setzte er ein gespielt arrogantes Grinsen auf. «Eh Alter, von Luzern wir müssen fahren zu Bern über das Autobahn. Isch voll viel schneller Mann. Was? Weisch du nix, was?»

Kevin verkniff sich ein Lachen, Barbara liess es raus. Wymann zog besorgt die Augenbrauen tief.

Cem kratzte sich den Scheitel. Konnte irgendjemand diesen Mann je auftauen?

Barbara lachte noch immer, strich sich eine rote Strähne aus der Stirn und warf Wymann einen zweideutigen Blick zu– was immer der zu bedeuten hatte. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Barbie, packte die Puppe in das Geschenkpapier und band zum Schluss eine Schleife darum.

Das beklemmende Schweigen wollte nicht enden. Cem trommelte leise mit den Fingern auf seinen Oberschenkel ein. Er wollte diesen Fall. Unbedingt.

Endlich gab Wymann seinen Beschluss bekannt. «Ich habe Ihren Lebenslauf heute Morgen bereits der Staatsanwältin Eva Roos übergeben, Cengiz. Sie legt ihn soeben dem Zwangsmassnahmengericht vor, um den Einsatz zu genehmigen. Um fünfzehn Uhr ist oben ein Briefing angesetzt. Die Kollegen Breitenmoser und Kolb von der Zürcher Kantonspolizei werden ebenfalls anwesend sein.» Mit diesen Worten drehte sich Wymann um und ging.

«Wow», sagte Cem überrumpelt.

«Wow», sagte Kevin ebenfalls. «Womit hast du den Boss bestochen? Eine verdeckte Ermittlung in der dritten Woche im Ermittlungsdienst? Das ist neuer Rekord.»

Cem klopfte sich auf die Oberschenkel und lehnte sich im Stuhl zurück. «Keine Ahnung, Alter.»

DREI

Zwei Tage später, es war Mittwoch, schneite es wieder. Die Luft war eisig kalt an diesem Januarmorgen und liess Cems Atem in der Dunkelheit als weisse Wolke vor seinen Augen tanzen. Er fluchte leise vor sich hin: Fünf Uhr, das war definitiv zu früh für einen Mann mit türkischen Wurzeln.

Er hatte seinen Wagen auf dem Personalparkplatz von TopSped abgestellt. Die Firma lag im Industriegebiet von Sursee. Die normalerweise zwanzigminütige Fahrt von Luzern hierher hatte ihn heute Morgen mehr als das Doppelte gekostet. Er lag gerade noch im Zeitplan. Rasch schnappte er sich seine abgewetzte Sporttasche vom Rücksitz und schloss seinen Alfa Romeo ab.

Mit eingezogenen Schultern, die Hände in seiner Lederjacke vergraben, marschierte er zügig über den Platz. Er fröstelte, zog eine schwarze Wollmütze aus der Jackentasche und setzte sie auf. Der Tagesanbruch lag noch in weiter Ferne, aber TopSpeds Gebäudekomplex war bereits hell erleuchtet. In den Lagerhallen konnte Cem Stapler erkennen, die wie fleissige Ameisen umherdüsten, um die Camions zu beladen.

Er solle sich heute um fünf Uhr dreissig im GebäudeE auf der zweiten Etage im Büro des Disponenten melden, hatte die bebrillte Zicke gestern bei seinem Bewerbungsgespräch hochnäsig gesäuselt. Es war unüberhörbar gewesen, dass für die Personalchefin ein angehender Chauffeur ein Mensch niedrigerer Klasse war. Es hatte Cem alle Mühe gekostet, ihr nicht gehörig die Meinung zu pfeffern, aber er brauchte diesen Job, also hatte er die Klappe gehalten. Die Staatsanwältin hatte gute Arbeit geleistet und ihm einen Lebenslauf zusammengestellt, der perfekt zu einem angehenden Chauffeur passte. Und er hiess jetzt offiziell Cem Özer.

Er warf einen Blick auf den Lageplan der Firma, den er mit klammen Fingern aus seiner Jackentasche zog. Man konnte sich hier in diesem kleinstadtähnlichen Areal leicht verlaufen. Das nächste Gebäude links musste es sein. Tatsächlich stand ein riesigesE an der gläsernen Fronttür.

Rasch stieg er die Stufen hoch zur zweiten Etage. Das Büro war leicht zu finden. Alle anderen Räume waren noch dunkel und abgeschlossen. Cem hörte Stimmen, also war er nicht der Erste, der sich zum Dienst meldete. Er klopfte kurz an die offen stehende Tür und trat ein.

Es herrschte geradezu ein Papierchaos in dem modernen Büro. Dokumente stapelten sich auf dem überdimensionalen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes, und drei Computermonitore standen nebeneinander aufgereiht. Der Mann vor den Bildschirmen tippte konzentriert auf der Tastatur herum. Seine schüttere Haarpracht wies tiefe Geheimratsecken auf. Der gepflegte Dreitagebart war grau meliert, obwohl Cem den Mann kaum älter als dreissig schätzte. Er war schlaksig, und sein Kopf wirkte im Verhältnis zum Körper zu gross. Cem mochte ihn nicht, es war so ein Bauchgefühl.

Als der Mann aufblickte, musterten seine tief liegenden Augen Cem reserviert. «Oui?», fragte er hochnäsig.

Doch Cem überhörte sein schnippisches «Oui», war augenblicklich von der Frau abgelenkt, die hinter dem Disponenten stand und an ihrem Kaffee nippte. Sie hatte nur kurz aufgeblickt, als Cem eingetreten war, dann gleich wieder die Augen auf den Kaffeebecher gesenkt. Cem konnte eine daumenbreite Narbe über ihrer rechten Augenbraue erkennen. Und eine kleine Falte auf ihrer Stirn. Was hatte sie verstimmt? Ihr entging Cems neugieriger Blick nicht. Die Falte grub sich tiefer in ihre makellose Haut. Sie liess ihre dunkelbraunen, schulterlangen Haarsträhnen ins Gesicht fallen, als wollte sie sich dahinter verstecken. Die Frau war jung, vielleicht fünfundzwanzig, vermutete Cem. Sie war zierlich und klein, kaum eins sechzig gross. Sie trug ein dunkelblaues Sweatshirt, «Amsterdam» stand in dicken Lettern darauf geschrieben. Ihre schwarze Cargohose war mehr zweckmässig als modisch. Cem konnte ihre Traumfigur unter der Arbeitskleidung nur vermuten. Sie trat einen Schritt zur Seite und blickte desinteressiert aus dem Fenster. Cem bewunderte ihr Profil: Ihre Nase war klein und gerade, das Kinn weich, die Linie des Kieferknochens ausgeprägt. Sie wirkte sehr natürlich, etwas streng vielleicht und gleichzeitig fast kindlich. Make-up trug sie keines, sie hatte es nicht nötig.

«Monsieur?», fragte der Disponent ungeduldig.

«Grüezi», sagte Cem und konnte sich nur schwer vom Anblick der jungen Frau losreissen. «Ich bin der Neue.– Ich soll mich hier melden.» Er stellte seine Tasche auf den Boden.

«Cem Özer, richtig?» Der arrogante Typ versuchte erst gar nicht, seine Abscheu zu verbergen. «Lana wird Sie heute mit auf Tour nehmen.– Es geht leider nicht anders, Chérie.» Der letzte Satz war an die junge Frau gerichtet.

Sie verzog ihr Gesicht und nuschelte dem Disponenten etwas auf Französisch zu, dabei mied sie jeglichen Augenkontakt zu Cem. Nach einer kurzen, aber heftigen Diskussion, der Cem mit seinen spärlichen Französischkenntnissen nicht folgen konnte, ging sie hinüber zum Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit. Mit ihrem Finger folgte sie nachdenklich den Eisblumen, die sich aussen an der Fensterscheibe gebildet hatten.

Cem war nicht darauf vorbereitet gewesen, so kalt empfangen zu werden. Es würde ein harter Brocken Arbeit werden, das Vertrauen der Leute hier bei TopSped zu gewinnen, geschweige denn, ihnen Informationen zu entlocken. Und diese Lana schien nicht gerade gesprächsfreudig.

«Ich bin Hugo Lorenz», stellte sich der Disponent mit dem französischen Akzent widerwillig vor, sprach dabei seinen Vornamen wie Ügo aus. Er griff nach einem Ausweis, der auf seinem Tisch lag. «Der ist für Sie. Damit lassen sich die Türen öffnen. Und der Sicherheitsdienst verlangt ihn zu sehen, wenn Sie unser Areal betreten oder verlassen. Sie werden die ersten zwei Wochen mit Kollegen auf Tour gehen. Jeden Morgen um fünf Uhr dreissig melden Sie sich bei mir. Ich werde Ihnen jeweils den Fahrer zuteilen. Des questions?»

Cem versuchte, mit einem Lächeln die eisigen Temperaturen in dem Büro etwas zu heben. «Alles klar.» Er blickte zu der jungen Frau hinüber. «Dann werden wir zwei heute den Tag miteinander verbringen? Lana, richtig?»

Er war auf ihre heftige Reaktion nicht vorbereitet. Sie wirbelte herum, packte einen Kugelschreiber, der auf dem Tisch lag, und zielte mit dem Ding auf Cem. Genauso, als hielte sie eine Waffe in der Hand. «‹Wir zwei› gibt es nicht!» Sie kam auf ihn zu, um ihren drohenden Worten mehr Gewicht zu verleihen. «Es wird gearbeitet, und am Abend trennen sich unsere Wege. Du benimmst dich sittenkonform: keine faulen Sprüche, keine Anmache und kein türkisches Machogehabe, weil eine Frau am Steuer sitzt. Ich bin der Boss. Haben wir uns verstanden?»

Cems Blick fixierte den roten Kugelschreiber, der drohend auf ihn gerichtet war. Seit vorgestern hatte er Respekt vor diesem kleinen Schreibwerkzeug, das man durchaus für einen Mord missbrauchen konnte. Defensiv hob er die Hände. «Ich bin still wie der Schnee da draussen– nur nicht ganz so eiskalt.» Cem setzte sein charmantestes Lächeln auf. «Ich bin Cem Özer.» Er streckte ihr versöhnlich seine offene Hand entgegen. «Und auch wenn es gelegentlich Arschlöcher unter uns Türken gibt, so sind wir doch im Kern ein friedliches, lustiges und liebes Völkchen. Ganz ehrlich.»

Sie musterte ihn überrascht und starrte dann auf seine Hand, die er immer noch ausgestreckt vor sich hielt. Sie zögerte, griff aber doch zu. Ihr Händedruck war überraschend fest. «Lana Rot. Wir nennen uns hier alle beim Vornamen. Lana also. Schweizerin. Meine Grossmutter war Slowenin.»

Cem schmunzelte so vertrauenswürdig, wie er es hinkriegte. «Somit wäre unsere Abstammung also auch geklärt.»

Lana nickte.

Das erste Eis ist gebrochen, dachte Cem und schüttelte ihre Hand länger als notwendig. Ein Fehler.

«Ein Techtelmechtel am Arbeitsplatz?», rief eine derbe Stimme vom Flur her.

Lana liess sofort Cems Hand los. «Merde!