Höllgrotten - Monika Mansour - E-Book

Höllgrotten E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Ein klug konstruierter, feinfühlig, erzählter Kriminalroman mit einer außergewöhnlichen Heldin. Natalie ist ein "Schmetterlingskind" und leidet an einem unheilbaren Gendefekt. Trotz ihrer Krankheit setzt sie sich aktiv für Frauen in Not ein. Als die junge Kongolesin Emeline tot unter der Lorzentobelbrücke gefunden wird, stellt Natalie auf eigene Faust Nachforschungen an, denn für sie ist klar: Emeline hätte niemals Selbstmord begangen, da sie erst vor Kurzem ein Kind zur Welt gebracht hat. Aber wo ist das Baby? Zu spät merkt Natalie, dass sie sich mit ihren Fragen selbst in höchste Gefahr bringt.

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Augenoptikerlehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar, war Tätowiererin und erledigte die Buchhaltung für einen Handelsbetrieb. 2014 erschien ihr erster Krimi, und damit erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Heute wohnt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Steffz/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-353-0 Originalausgabe

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Für Jenny

Der Schmetterling, der zwischen die Dornen fliegt, wird seine Flügel zerreissen.

Afrikanisches Sprichwort

Die Wahrheit ist ein geschliffener Diamant, sie hat viele Facetten.

Unbekannt

Ich wollte immer die Welt retten, diesen wunderschönen Ort. Doch je näher man kommt, desto deutlicher erkennt man die grosse Finsternis.

Diana Prince, Wonder Woman

Für meine Imani

Ich wurde in die Hölle hineingeboren. Auf verbrannter Erde traf ich einen weissen Engel. Er gab mir ein Geschenk. Maman nannte dieses Geschenk teuflische Sünde, und sie wollte dich aus mir herausprügeln, denn mit dir unter meinem Herzen würde der alte Monsieur Kalemba mich bestimmt nicht mehr zu seiner Frau nehmen. Ihn wollte ich nie, ich wollte dich.

Ich kenne Gottes Plan nicht, den er sich für uns ausgedacht hat, deshalb schreibe ich dir diese Zeilen. Dies ist meine Geschichte– und deine Vergangenheit. Du sollst die Wahrheit erfahren über den Muzungu, das Schmetterlingskind und mich.

Bukavu– November

Ich beginne meine Geschichte an jenem Tag, als ich das Hotel verliess. Es war später Nachmittag. Hinter mir lag der Kivusee, vor mir die lauten Strassen Bukavus, der Hauptstadt der Provinz Süd-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Stinkende Motorräder schlängelten sich wagemutig zwischen hupenden Autos vorwärts, Soldaten patrouillierten entlang der Strassen, Verkäufer riefen ihre Waren aus, und ein herrenloser Esel stand unbeeindruckt mitten im Chaos.

Ich wich schlammigen Schlaglöchern aus, als ich zur Busstation marschierte. Die dunklen Wolken hingen tief. Der Bus kam mit Verspätung und war bereits überfüllt. Ich zwängte mich hinein. Die Fahrt aufs Land dauerte über eine Stunde. Eine Stunde, in der mich der Mut verliess. Maman hat immer gepredigt, wir sollen uns nicht billig verkaufen, sie habe ihre Töchter zu anständigen, hart arbeitenden Mädchen erzogen. Ich war die Älteste, ihr ganzer Stolz, die Tochter eines ehrbaren Mannes, der bei Kämpfen gegen die Milizen im Ersten Kongokrieg, noch vor meiner Geburt, ermordet wurde. Meine beiden jüngeren Schwestern, die Zwillinge, wurden 2004 gezeugt, während des Massakers in Bukavu. Sie waren, wie so viele andere Kinder, die Folgen der Gräueltaten an den wehrlosen Frauen des Kongos…

Auf der Fahrt überflog mein Blick die grünen Felder und dunklen Hänge, die mit Regenwald bedeckten Hügel. Dies ist unsere Heimat. Ein wunderschönes Land, geplündert, ausgeraubt und die Natur ebenso vergewaltigt wie die Menschen, denen es gehört. Der Bus fuhr durch Dörfer, die Hütten wurden schiefer, kleiner und schäbiger.

Als ich ausstieg, hatte es aufgehört zu regnen. Zu Fuss ging ich auf dem matschigen Pfad zu unserem runden Schilfhäuschen. Onkel André sass draussen. Maman servierte ihm Tee. Sie beschimpfte mich, weil ich zu spät kam. Meine Schwestern seien bald zurück aus der Schule und hungrig. Ich setzte mich an die Feuerstelle und kochte Fufu.

Nach dem Essen marschierten meine Schwestern los, um Wasser zu holen, und Onkel André ging zu den anderen Männern ins Kaffeehaus am Dorfrand. Ich wusch das Geschirr ab, Maman flickte unsere Kleider. Meine Angst war gross, doch ich musste mit ihr sprechen, also kniete ich mich vor sie auf den Boden. «Maman», begann ich und erzählte ihr von dir und dem Muzungu.

Sie sagte kein Wort, legte ihr Flickzeug nieder, stand auf, ging zur Feuerstelle und griff nach dem rostigen Küchenmesser. Ich müsse verschwinden oder sie bringe mich um, weinte sie los. Für ein Freudenmädchen sei kein Platz unter ihrem Dach. Sie bekreuzigte sich immer und immer wieder. Ich hätte die Familie entehrt und den guten Namen meines verstorbenen Vaters beschmutzt– Gott habe ihn selig, wimmerte sie, bevor ihre Wut ausbrach wie ein Vulkan, in dem es brodelte, und sie mit dem Messer auf mich zustürmte.

Heulend rannte ich ins Freie und floh vor meiner eigenen Familie, denn Onkel André würde mich mit Sicherheit umbringen, wenn er zurückkam. Er tat immer, was Maman sagte. Ich rannte aus dem Dorf hinaus in die Wildnis. Ich hatte nichts bei mir ausser den Kleidern an meinem Körper– und dich unter meinem Herzen.

Als ich mich nach einigen Kilometern endlich sicher genug fühlte, setzte ich mich auf die knorrigen Wurzeln einer Würgefeige. Der mächtige Himmel begann zu weinen. Ein bunter Schmetterling suchte Schutz und setzte sich auf meine schwarze Schulter. Ich war eine Verstossene, aber ich war nicht alleine– und ich war bereit, um dich zu kämpfen, egal, wie hoch der Preis sein würde

EINS

Ein aussergewöhnlicher Todesfall also, dachte Sara und blickte hoch zum Bogenviadukt. Es war ein tiefer Fall von der mittleren der drei Brücken ins Lorzentobel. An die sechzig Meter, schätzte sie.

Sara war lange nicht mehr hier unten gewesen. Ein idyllisches Plätzchen, würde nicht die Leiche auf dem Kiesweg liegen. Sie übernahm an diesem Dienstagmorgen als stellvertretende Pikettoffizierin die Leitung am Tatort. Es waren fast alle hier. Zwei Einheiten vom Bereitschaftsdienst, die Kollegen von der Dienststelle Baar-Berg, Staatsanwalt Eckart Lind, der Kriminaltechnische Dienst, Rettungssanitäter und Dr.Keller, der Amtsarzt auf Pikett.

Sara grüsste ihr Team mit einem kurzen Nicken. Sie war erst seit gut zwei Monaten, seit April, die Chefin der Zuger Kriminalpolizei. Mehrere ihrer Kolleginnen und Kollegen waren über ihre Beförderung nicht begeistert gewesen.

Sie schob ihre Sonnenbrille auf den dunklen Haarschopf und trat neben Dr.Keller, der bei der Leiche kniete. Die Tote war eine junge Frau, eine Schwarze. Ihre schwarzen Haare waren zu kordelartigen Rastalocken eingedreht. Sie trug ein langes, schlichtes Baumwollkleid in Schwarz. Ihre Füsse steckten in Laufschuhen. Sie lag auf dem Rücken, ihr Rumpf war unnatürlich zur Seite gebogen. Wirbel mussten gebrochen sein. Der Oberschenkel des rechten Beines war geknickt, das Knie verdreht, ihr Kopf lag auf der Seite, und eine feine Blutspur rann ihr über die Lippen. Ihre Augen waren aufgerissen und starrten hoch zum Bogenviadukt. In dem leeren Blick spiegelte sich Entsetzen, als ob von oben ein Monster auf sie herunterstarrte.

«Dr.Keller, was haben Sie für mich?»

«Ebenfalls einen guten Morgen», sagte Dr.Keller wenig freundlich und ohne aufzublicken. «Sieht nach Suizid aus. Es sind jedenfalls keine äusseren Einflüsse zu erkennen, bis auf das hier, das gefällt mir nicht.» Er zeigte auf die offenen Hände der Leiche.

«Die Fingerkuppen sind abgeschliffen», sagte Sara. «Sie will anonym bleiben. Wie alt ist sie? Anfang zwanzig?»

Dr.Keller nickte. Er war ein grosser, hagerer Mann in den Fünfzigern, mit einer runden Hornbrille zwischen kantigen Wangenknochen und buschigen Augenbrauen.

«Herkunft? Haben Sie eine Idee?», fragte Sara.

«Zentral- oder Südafrika, würde ich schätzen. Das Institut für Rechtsmedizin wird uns weiterhelfen.»

Sara scheuchte eine lästige Fliege von ihrer Wange. «Todeszeitpunkt?»

«Die Leichenstarre ist fast vollkommen eingetreten, nur die Füsse lassen sich leicht bewegen; die Totenflecken kann ich wegdrücken, sie ist demnach nicht sehr lange tot. Sobald der Bestatter hier ist, werden wir sie für die Legalinspektion ins Friedhofsgebäude Waldheim bringen. Im Obduktionsraum kann ich sie mir genau ansehen. Auch Leichen haben ein Recht auf Privatsphäre. Ich will sie nicht hier auf dem Kiesweg am Boden ausziehen und untersuchen. Danach wissen wir mehr. Meiner groben Schätzung nach dürfte sie seit acht bis zehn Stunden tot sein.»

«Gegen Mitternacht letzte Nacht also.» Sara betrachtete das Gesicht der jungen Frau genauer. Sie war schön, auf ihre eigene Art. Ihre Haut war makellos und dunkel wie Zartbitterschokolade. Die Lippen waren voll, die Nase breit. «Erzähl mir deine Geschichte, schöne Unbekannte», sagte Sara und ignorierte den irritierten Blick von Dr.Keller. «Man springt doch um Mitternacht nicht einfach von der Lorzentobelbrücke?» Sara stand auf und ging zu Staatsanwalt Eckart Lind, der sich mit einem Kollegen von der Dienststelle Baar-Berg unterhielt. «Habt ihr was für mich?» Sie setzte sich die Sonnenbrille wieder auf.

Lind übernahm das Wort, massierte sich dabei seinen grau melierten Bart. «Scheint sich um einen Suizid zu handeln», sagte er. «Wir haben fast nichts. Der Kriminaltechnische Dienst sucht die Gegend nach Hinweisen ab.»

Sara sah das nicht so eindeutig. Die abgeschliffenen Fingerkuppen machten sie stutzig. «Auch wenn sie gesprungen ist, heisst das nicht, dass sie es freiwillig tat. Die Gitterabsperrung oben auf der Brücke ist hoch, die sollte Selbstmordgefährdete eigentlich davon abhalten, zu springen. War der KTD schon oben?» Sara winkte einem der Kollegen in den weissen Schutzanzügen zu und zeigte hoch zur Brücke. Er nickte.

«Sie hat keinen Ausweis bei sich», sagte Lind, «kein Handy– nichts.»

Sara starrte ihn an. Lind war ein alternder Hippie, der sich nicht um die Normen der Gesellschaft scherte. Er war ein brillanter Anwalt, menschlich jedoch nicht ihr Typ. Mit seiner ausgefallenen Art war er das pure Gegenteil von ihr. Er war der beliebteste Mann im Team von Polizei und Staatsanwaltschaft. Sara kannte keinen anderen Anwalt, der mit fast sechzig lange Haare, bunte Kleidung und geknüpfte Armbänder trug. Sein Dauergrinsen ging ihr auf den Keks. Manchmal fragte sie sich, ob er als Kind in einen Kessel Haschsuppe gefallen war so wie Obelix in den Zaubertrank. «Wer hat sie gefunden?», fragte Sara, um ihre Gedanken wieder auf den aussergewöhnlichen Todesfall zu richten.

«Ein älterer Herr», sagte der Kollege. «Ein Hans Peter Glanzmann. Wir haben seine Personalien aufgenommen. Er kam hier heute Morgen gegen halb neun mit seinem Hund vorbei.»

«Der kann uns kaum weiterhelfen.» Sara strich sich ihre schwarzen, kinnlangen Haare hinters Ohr. Es war schwül. Sie hätte nicht die weisse Bluse anziehen dürfen– oder mehr Deodorant benutzen sollen. «Gut, dann…»

«Frau Jung, ich hab da was», rief Dr.Keller herüber.

Das klang gut. Sara marschierte zu ihm hin. Lind folgte ihr.

«Einen Hinweis auf ein Tötungsdelikt?», fragte sie.

«Sehen Sie selbst. Ich habe der Leiche die Sportschuhe ausgezogen, da, am Fuss…»

Widerwillig kniete sich Sara auf den Kiesweg. Sie mochte Füsse nicht und rümpfte die Nase. «Unser Opfer hatte mindestens Grösse41.» Sie schob ihre Sonnenbrille ins Haar.

«Das ist nicht relevant», sagte Dr.Keller genervt. «Sehen Sie da? An der Innenseite des grossen linken Zehs?»

«Was ist das?»

«Ich habe es erst übersehen wegen ihrer dunklen Haut… Da steht eindeutig etwas geschrieben.»

«Tätowiert?»

«Nein, ich tippe auf Kugelschreiber. Die Buchstaben sind leicht verwischt und zudem unsauber geschrieben. Ich kann es nicht lesen.»

Sara richtete sich auf und rief einen Kollegen vom KTD zu sich. «Gib mir mal deine Taschenlampe.» Sie zog ein paar Latexhandschuhe aus ihrer Hosentasche. Es war nicht einfach, die steifen Zehen auseinanderzuziehen. «Wartet mal, da steht… Kip… Kipeko… nein, Kipekapeka. Kipekapeka!»

«Was bedeutet Kipekapeka?», fragte Lind.

Schweigen.

Sara griff nach ihrem Handy und tippte das Wort in die Suchmaschine ihres Browsers. «Hm, da erscheint nur Peka Peka. Das ist ein Ort auf Neuseeland. Sagt euch das was? Nein? Gut, ich werde unsere Analytiker darauf ansetzen.»

«Denkst du, die Tote hat das geschrieben?»

«Eine junge Frau springt in den Tod. Sie verschleiert ihre Identität und hinterlässt uns eine versteckte Botschaft. Weshalb?»

«Könnte sie vor Menschenhändlern geflohen sein?», fragte Lind.

«Möglich», antwortete Sara. «Oder sie ist eine abgewiesene Asylsuchende oder… Keine Ahnung. Wir haben einfach nicht genügend Informationen.»

«Kein eindeutiger Suizid also?»

«Ich weiss nicht.» Sara legte der Toten die Hand auf den Kopf. «Ich werde dein Geheimnis lüften, das ist ein Versprechen.»

***

«Ein schöner Morgen, nach dieser schrecklich kühlen Nacht.» Alexandra betrat den gläsernen Käfig, bunte Tücher auf dem Arm. «Du hast erneut hier geschlafen?»

Natalie setzte sich in ihrem Bett auf. Ihr ganzer Körper schmerzte, Blut klebte am Bettlaken. «Mist, der Arm ist wieder aufgerissen.»

Alexandra setzte sich neben sie. «Schlimm?»

«Nichts, was ich in meinen dreiundzwanzig Lebensjahren nicht schon erlebt habe. Was soll’s? Blöd rumjammern bringt nichts. Wo sind die anderen?»

«In der Küche.»

Ein Schmetterling flog vorbei und liess sich auf dem Kopfkissen nieder. «Es werden jeden Tag mehr», sagte Natalie und streckte ihren Arm aus. Der Schmetterling schien sich an der verkrüppelten Hand nicht zu stören. «Sie sind wunderschön, nicht?» Ein zweiter Schmetterling setzte sich auf Natalies Schulter. «Sie sind voll zart und doch so mutig.»

«Du bist eine Schmetterlingsflüsterin, sag ich ja.» Alexandra legte die bunten Tücher aufs Bett. «Khangas in den Farben des Monarchfalters, zufrieden?»

«Ja. Danke für die Klamotten. Wann kommen sie?»

«Zehn Uhr.»

«Bis dann sollte ich mich herausgeputzt haben, was? Wir wollen die Herren ja nicht erschrecken. Wie schlimm ist die Wange?»

«Die Wunde ist fast komplett verheilt.»

Alexandra war wie eine grosse Schwester für Natalie. Sie war geduldig, mitfühlend, aber nicht zu sehr bemutternd. Natalie bewunderte sie für ihre strahlende Haut und die langen blonden Haare, die im Morgenlicht glänzten. Natalie wandte den Blick von ihr ab. Sie hasste sich dafür, dass sie Alexandra manchmal heimlich beneidete, denn Alexandra war nicht zu beneiden…

«Musa kommt gleich und holt dich ab. Ich muss zurück in die Küche.»

Wieder alleine, blickte Natalie hoch zur Kuppel des Glasdaches. Hunderte Schmetterlinge hingen dort an den Ästen der tropischen Pflanzen. Ihr Papiliorama war mit einem Durchmesser von fünf Metern nicht gross. Natalie liebte es. Es fühlte sich fast so an, als lebe sie in einem Dschungel, die üppige Vegetation und die exotischen Blumen, die hier gediehen, waren traumhaft. In der Mitte des Papilioramas stand ein kleiner, runder Glastisch mit zwei antiken weissen Schmiedeisenstühlen. An der einen Seite, eingebettet zwischen Bananenpflanzen, stand ihr zu einem Bett umfunktioniertes Schlafsofa.

Natalie atmete die warme, feuchte Luft ein. Hier drinnen konnte sie mit ihren Freunden leben, den Schmetterlingen, den Heuschrecken und den Käfern. Ein Taggecko haftete an der Innenseite einer Glaswand. Das Papiliorama war ihr kleines Paradies, und mit ein wenig Phantasie wandelte sich die Aussicht auf den Zugersee in ein Meerespanorama. Einzig die Wärme tagsüber im Sommer war das Problem, doch für das Gefühl der Freiheit nahm Natalie sie in Kauf. In der Nacht war es erträglich.

Ein Tagpfauenauge setzte sich auf ihre Hand. Behutsam berührte Natalie die Flügel des Falters. Dieser öffnete seine ganze Pracht. «Es heisst, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Kettenreaktion auslösen kann, die man am anderen Ende der Welt zu spüren bekommt. Es ist schon passiert, nicht? Wir müssen sie finden, kleiner Freund.»

Das Tagpfauenauge auf Natalies vernarbter Hand flog aufgeschreckt davon, als Musa die Tür ihres gläsernen Käfigs öffnete und eintrat. Er trug Shorts und ein weisses T-Shirt auf seiner schwarzen Haut. «Es wird Zeit», sagte er.

«Wirst du es nie leid, mich zu quälen?», fragte Natalie und fügte sich einmal mehr ihrem Schicksal. Sie folgte Musa ins Haus.

Zwei Stunden später sass Natalie noch immer halb nackt im Beautysalon im oberen Stockwerk der Villa. Der Beutel für die Magensonde hing neben ihr. Frühstück aus der Konserve war ihr auch heute lieber als Halsschmerzen. Musa tupfte ihre Wunde am Bein mit einer Desinfektionslösung ab. Natalie kannte die Prozedur und ertrug sie schweigend. Anders war die Wunde auf ihrem Arm. Ein glatter Schnitt von der zerbrochenen Fensterscheibe.

«Du grinst ununterbrochen, seit du mich in die Folterkammer gelockt hast», bemerkte Natalie. «Liegt das an den total krassen Typen unten im Entrée?»

«Sind echte Prachtexemplare dabei.»

Natalie zuckte zusammen, als Musa ihr Bein einbandagierte. Sie schaute auf die Uhr. Es war halb elf. «Wie lange dauert das heute?»

«Ich bin Krankenpfleger und kein Jetpilot. Da sind einige Wunden, um die ich mich kümmern muss. Nächste Woche kommt Dr.Wild vorbei. Dein linkes Bein gefällt mir nicht. Sie soll sich das genauer ansehen.»

«Seit wann gefällt dir irgendetwas an mir?»

Musa stand vom Hocker auf und schaute Natalie tief in die Augen. «Mir gefallen dein Mut, dein gutes Herz, dein Humor und deine Seele. Okay, ich muss zugeben, deine Hülle ist kein Qualitätsprodukt.»

Natalie boxte ihm ganz leicht gegen den Oberarm. «Du wirst echt frech für einen Sklaven.»

«Mylady bekommt ja bald ein neues Spielzeug. Schon einen Favoriten? Du hast bestimmt alle Bewerbungsunterlagen gelesen.»

«Und einen coolen Typen ausgesucht. Er heisst Tom Engels.»

«Dass er cool ist, weisst du, ohne ihn zu kennen?»

«Ich habe alle Bewerbungsmappen studiert und im Netz weitergeforscht. Tom Engels ist mein Mann.»

«Er ist nicht mehr der Jüngste, geht auf die vierzig zu, richtig? Er könnte fast dein Vater sein.»

«Ha! Du hast die Dossiers also auch heimlich gelesen?» Natalie lachte. «Ja, Mann, du hast recht, Tom Engels ist bereits achtunddreissig.»

«Was ist anders an ihm?»

«Er ist Mitglied im Fanclub vom EVZ.»

«Aha, und das qualifiziert ihn?»

«Er war Kickboxer, hat ein paar fette Preise gewonnen, und er hält sich nicht immer an die Regeln, sass einmal in U-Haft, es kam nie zur Anklage.»

«Dann fällt er bei deinem Vater durch.»

«Ich brauche keinen Lackaffen, der Paps gefällt, ich brauche einen Draufgänger, der für das kämpft, woran ich glaube.»

«Einen Söldner also. Na, wenn das mal gut geht.» Musa hängte den Beutel ab und verschloss die kleine Öffnung der Magensonde. «Fertig. Madame kann sich anziehen und die Bodyguards mustern– wenn dein Vater nicht schon einen eingestellt hat.»

Natalie wickelte sich zwei der grossen Khangatücher um, so, wie es ihr eine Bekannte aus Tansania gezeigt hatte. Musa half ihr, ein drittes Tuch um den fast kahlen Kopf zu drapieren. «Nicht einen», sagte sie. «Ich will Tom Engels.»

***

Tom stolperte über den Wäschekorb am Boden. «Mist, verdammter! Hör zu… Karo?» Sie hatte aufgelegt. Tom blickte auf das Display seines Handys und wählte erneut ihre Nummer. Während er darauf wartete, dass sie seinen Anruf entgegennahm– was lange dauern konnte, er kannte ihre Spielchen mittlerweile–, holte er Kleider aus dem Schrank und suchte in der Schublade nach frischen Socken. «Jetzt mach schon.» Er schlüpfte in die Jeans, streifte das dunkelblaue T-Shirt über und blickte zwischendurch auf die Armbanduhr. Er war spät dran. Um zehn hätte er dort sein müssen. Es war bereits halb elf. Sie hatte wieder einmal den perfekten Augenblick ausgesucht, um ihn zu ärgern.

Karo nahm endlich seinen Anruf entgegen und legte gleich los: «Du bekommst sie nicht, nicht bevor du mir mehr Geld überweist.»

«Du willst mir meine eigenen Töchter verkaufen und Profit aus meinem Besuchsrecht schlagen? Ist das ein Rat von deinem schleimigen Anwalt, mit dem du neuerdings ins Bett steigst? Der lässt dich kaum verhungern. Mein Bankkonto ist leer, Karo. Du hast alles genommen. Behalte das verdammte Geld, aber Lucy und Alicia bekommst du nicht für dich alleine. Ich bin ihr Vater, schon vergessen?»

«Sie fürchten sich vor dir.»

«Mach dich nicht lächerlich. Du manipulierst die Mädchen.»

«Das Gericht wird mir glauben. Die wissen von deiner bösen Seite, und die Richter mögen keinen Kickboxer als alleinerziehenden Vater.»

«Sagt wer? Dein neuer Lover? Sag mal, weigerst du dich eigentlich, den Begriff gemeinsames Sorgerecht zu lernen?» Tom ging ins Bad, sparte nicht an Deodorant, machte sich die Finger nass und richtete sein kurzes Haar. «Wir können am Abend weiterdiskutieren. Ich habe ein Bewerbungsgespräch.» Seine Agentur hatte ihn gestern angerufen und ihm den Termin und die Adresse durchgegeben. Offensichtlich war jemand in Gefahr und brauchte dringend Personenschutz, mehr wusste Tom nicht.

«Zahlen sie gut?», fragte Karo. «Lucy braucht einen neuen Tennisschläger.»

«Ich habe ihr letzten Monat erst einen geschenkt.»

«Eben.» Karo legte ohne ein weiteres Wort auf.

Frustriert steckte Tom sein Handy in die Gesässtasche der Jeans. Beim Verlassen der kleinen Ein-Zimmer-Wohnung schnappte er sich den Wäschekorb und trug ihn eine Etage tiefer. Er klopfte kurz an die Wohnungstür und trat ein. «Paps, bist du da?» Blöde Frage. Wo sollte Paps alleine auch hin? Der Fernseher lief auf höchster Lautstärke. Tom ging ins Wohnzimmer und stellte ihn leiser.

«Junge, die zeigen einen Film über Gürteltiere. Mach uns Kaffee, schön stark mit Schuss, und setz dich zu mir.»

«Paps, für Schuss ist es definitiv zu früh am Morgen, und die Schwester von der Spitex hat Kaffee auf die schwarze Liste gesetzt. Da steht Tee auf dem Tisch.»

«Phä, bittere Brühe.» Paps hustete und zog ein altes Stofftaschentuch mit aufgestickten Initialen aus seiner dünnen Strickjacke. Überbleibsel von Mutter.

«Tun die Gürteltiere da, was ich denke, was die tun?», fragte Tom und starrte auf den Bildschirm.

Paps putzte sich die Nase. Seine schütteren grauen Haarsträhnen standen wie elektrisiert in die Höhe.

«Morgen rufe ich den Sender an», sagte Tom gespielt entrüstet. «Pornografie im Morgenprogramm geht gar nicht. Ich habe dir die Wäsche gebracht. Ich werde sie am Abend einordnen. Ich muss los.»

«Bring Bier mit, wenn du zurückkommst. Wir machen einen Männerabend. Rösli ist heute Abend mit ihren Jassfrauen im Beizli in der Linde.»

«Ja, sicher.» Tom klopfte seinem Vater auf den Rücken. Die Schulterblätter standen knochig ab. Toms Blick fiel auf die Fotos an der Wand. Seine Mutter war bald zehn Jahre tot. Der alte Herr fühlte sich einsam.

Tom verliess den Wohnblock, der über einem Lebensmittelladen in Steinhausen stand. Er zwängte sich hinters Steuer seines roten Peugeot

ZWEI

Vincent Raschak wartete auf den Rückruf. Das dauerte zu lange. Dabei hätte er sich auf die Sitzung heute Nachmittag vorbereiten sollen. Es gab Probleme in den Minen. Der Verwaltungsrat von GeoFoss war einberufen, da die kongolesische Regierung die Schürfrechte nicht verlängern wollte.

Schürfrechte waren Vincents kleinstes Problem. Er blickte aus der Fensterfront hinunter auf den Zugersee. Schlafmangel zerrte zusätzlich an seinen Nerven, und sein Bluthochdruck machte ihm zu schaffen, dabei war er noch keine vierzig. Er massierte sich seinen kurzen Bart und lockerte die Krawatte. Es war erst Juni, aber schwül, auch in seinem klimatisierten Büro. Oder lag das an ihm? Seine in harter Arbeit aufgebaute Welt bröckelte an allen Seiten. Amanda jammerte ihm den Kopf voll, die Rückzahlungen waren fällig, das Bankkonto leer, und jetzt kam der ganze Ärger mit Emeline dazu.

Sein Telefon klingelte. Leonie, seine Sekretärin, stellte den Anruf durch. Es war nicht wie erwartet Godefroid Kakoko am Apparat. Vincent kannte die dunkle Stimme nicht, die sich auf Französisch vorstellte.

«Bonjour, Monsieur Raschak. Ich bin Lionel. Ich rufe Sie im Auftrag von Monsieur Kakoko an. Wir haben ein grosses Problem. Emeline ist tot.»

Vincent liess beinahe den Hörer aus der Hand fallen. Emeline war tot? Unmöglich. «Wie ist das passiert?»

«Sie ist von einer Brücke gesprungen.»

«Niemals. Sie lügen!» Vincent schrie die Worte beinahe ins Telefon. «Emeline würde sich niemals umbringen.» Er liess sich aufgewühlt in den Bürostuhl fallen.

«Die Polizei transportiert gerade ihre Leiche ab. Fragen Sie nach, wenn Sie mir nicht glauben. Das Dumme ist nur, dass sie die Ware nicht ausgeliefert hat, und das wird ein Problem für Sie. Monsieur Kakoko hat Sie schon mehrmals gewarnt. Er will den Deal endlich abschliessen, seine Geduld neigt sich dem Ende zu.»

«Wer sind Sie überhaupt?», fragte Vincent überfordert.

«Mein Name ist Lionel. Monsieur Kakoko hat mich in die Schweiz geschickt, um die Angelegenheit für ihn zu regeln.»

«Sie wissen, wo das Problem lag. Emeline zu schicken war ein Fehler. Euer Fehler.»

«Monsieur Kakoko war sehr geduldig und hilfsbereit. Wir wussten, dass Emeline schwierig war. Deshalb bin ich hier– zu Ihrer Unterstützung.» Lionel legte eine kurze Pause ein und sagte dann: «Sie sind vor drei Wochen Vater geworden. Ihre süsse kleine Tochter heisst Anna, richtig? Ich hoffe, Ihre Frau ist wohlauf?»

«Lassen Sie meine Familie aus dem Spiel! Meine Frau hat nichts damit zu tun.» Die Stimme dieses Fremden war furchteinflössend. Lionel klang gebildet, sprach aber mit der Kälte eines Schlächters.

«In Afrika ist die Familie Teil des Geschäfts, Vincent. Wir helfen einander und versichern einander Treue und Ehrlichkeit. Kann ich das von Ihnen erwarten?»

Vincent schwieg. Schweiss perlte von seiner Stirn.

«Ich brauche ein Zeichen von Kooperation, Vincent. Geben Sie mir etwas. Wo könnte Emeline die Ware versteckt haben? Hatte sie andere Kontakte in der Schweiz? Bei wem war sie untergekommen?»

Vincent zerrte an seiner Krawatte und zog sie aus. Sein Atem ging heftig. Er zögerte. Er hatte einen Namen, doch wenn er ihn preisgab, konnte das gefährlich für sie werden. «Kipekapeka», sagte er, um seine eigne Haut zu retten.

***

Tom wollte keinen Zorn fühlen, als er auf das Grundstück der Kriegers einbog. Er tat es dennoch. Diese Welt war ungerecht.

Eine jüngere blondhaarige Frau empfing ihn an der Einfahrt. Tom parkierte, stieg aus und bewunderte neidisch die grandiose Aussicht auf den See und die Stadt Zug. Der weisse Kiesel unter seinen Füssen blendete ihn, aber er setzte seine Sonnenbrille nicht auf. Er wollte nicht arrogant rüberkommen. Die Frau lächelte, was ihn besänftigte. Eine schnippische Hausdame hätte er nicht ertragen.

«Natalie wird sich freuen, dass Sie hier sind, Herr Engels. Besser spät als nie. Wir haben vor einer halben Stunde mit der Vermittlungsagentur telefoniert und nach Ihnen gefragt.»

«Tatsächlich?»

«Ich hatte Sie mir grösser vorgestellt. Und kräftiger.»

Tom trat näher an die Frau heran. Sie schreckte einen Schritt zurück. Er ging irritiert wieder auf Distanz. «Sie sind…?»

«Ich bin Alexandra Bierbaum, die Haushälterin.» Sie ging vor und führte ihn zum Haus.

«Ich habe mir Haushälterinnen konservativer vorgestellt», scherzte Tom und folgte ihr, vorbei an blühenden Blumenbeeten, zum Eingang.

«Wir leben im 21.Jahrhundert, nicht? Verabschieden Sie sich von Klischees, vor allem in diesem Haus. Hier ist nichts konventionell.»

Sie betraten die Villa. Das Entrée war beeindruckend. Hell und freundlich, aber protzig genug, damit Tom mit gutem Gewissen die Nase rümpfen konnte.

«Die anderen Bewerber sind bereits gegangen. Herr Krieger erwartet Sie im Arbeitszimmer.» Alexandra klopfte an eine schwere Eichentür mit Goldbeschlägen. Sie öffnete die Tür und liess Tom eintreten.

Er hatte einen älteren Herrn im Anzug erwartet. Stattdessen sass ein sportlicher Mittvierziger in Shorts und T-Shirt auf dem Arbeitstisch und telefonierte mit dem Handy. Mit einem Handzeichen deutete er Tom an, es sich auf dem Sofa an der Wand gemütlich zu machen. Alexandra brachte ihm unaufgefordert eine kühle Cola und verliess den Raum.

Tom kam nicht darum herum, dem Telefongespräch zu folgen. «Fragen Sie erneut beim Bundesamt für Veterinärwesen nach, es muss eine Lösung geben. Wie lange wollen die den Affen noch am Zoll in Quarantäne halten?– Nein.– Okay, machen Sie das. Wir sehen uns später im Labor.» Er legte das Handy weg und kam mit offener Hand auf Tom zu. «Sie sind reichlich spät. Aber gut, Natalie hat darauf bestanden, dass ich Sie mir ansehe. Ich bin Harri Krieger, ihr Vater.»

Tom stand vom Sofa auf und schüttelte ihm die Hand. «Entschuldigen Sie die Verspätung. Familienangelegenheiten.»

«Kommt das öfter vor? Ich muss mich auf den Bodyguard meiner Tochter verlassen können.» Harri war ein attraktiver Mann. Seine dunklen Haare waren an den Schläfen grau meliert. Sein Gesicht war kantig, was ihm Stärke verlieh. Er war gross, grösser als Tom, und blickte mit dunklen Augen auf ihn herunter.

«Ist Ihre Tochter in Gefahr?», fragte Tom.

«Es gab einen Einbruch Sonntagnacht. Natalie hat den Einbrecher in der Küche überrascht. Seither ist sie verunsichert. Natalie ist sehr… sehr verletzlich.»

Na toll, dachte Tom, ein verzogenes Schickeria-Püppchen, das bei der kleinsten Gefahr nach einem Bodyguard schrie. Er hatte keine Lust, ein verwöhntes Töchterlein zu beschützen. Eine weitere Frau, die ihn nervte, ertrug er nicht. Vermutlich würde er den halben Tag in Designerläden herumstehen müssen. Nein danke. Das Gespräch mit Herrn Krieger würde kurz werden. «Was war der Grund für den Einbruch?», fragte Tom mehr aus Höflichkeit. «Was sagt die Polizei?»

«Wir haben sie nicht eingeschaltet. Es wurde nichts gestohlen. Ein Anfänger von einem Dieb hat wohl sein Glück versucht. Solche Kerle kriegt die Polizei eh selten zu fassen. Natalie wollte lieber jemanden, der auf sie aufpasst, statt die Polizei im Haus.»

Toms Abneigung wuchs. «Ich bin Bodyguard, kein Babysitter. Ich denke nicht, dass Ihre Tochter wegen eines Einbruchversuchs in ernsthafter Gefahr ist.»

Harris Miene verfinsterte sich. «Das ist meine Entscheidung, nicht Ihre. Der Job wird gut bezahlt, und ich will meine Tochter beschützt wissen, wenn ich nicht hier bin. Meine Arbeitstage sind lang.» Er ging zu seinem Tisch und holte Toms Bewerbungsunterlagen, die er von der Vermittlungsagentur erhalten hatte. «Sie waren nicht mein Favorit. Um ehrlich zu sein, hätte ich Sie heute nicht eingeladen, hätte Natalie nicht darauf bestanden. Ihr Lebenslauf weist wesentliche Mängel auf, Herr Engels. U-Haft macht sich nicht gut darin.»

«Da steht klar geschrieben, dass ich nicht angeklagt wurde. Ich hätte dieses Kapitel in meinem Lebenslauf verschweigen können. Mein Fehler, dass ich zu der ehrlichen Sorte Mensch gehöre.»

Harri legte die Papiere weg. «Hören Sie, Natalie ist besonders. Ich–»

«Jede Tochter ist für ihren Vater besonders, Herr Krieger. Ich weiss, wovon ich spreche, ich habe selber zwei Töchter. Vielleicht sollten Sie Natalie mehr Selbstvertrauen beibringen.»

Harri zeigte mit dem Finger auf Tom. «Sagen Sie mir nichts von Selbstvertrauen. Sie kennen Natalie nicht. Sie haben ja keine Ahnung.»

«Herr Krieger, ich denke, zwischen uns ist alles geklärt. Ich bin nicht der Richtige für die Bedürfnisse Ihrer Tochter.»

Harri nickte.

Tom verabschiedete sich, verliess das Büro und steuerte im Entrée direkt auf die Haustür zu.

«Sie gehen?», fragte eine junge, weibliche Stimme hinter ihm. Sie klang leicht heiser.

Tom blieb stehen. Das musste Natalie sein. Er drehte sich mit aufgesetztem Lächeln um.

Natalie kam die seitliche Treppe herunter auf ihn zu.

Sein Lächeln erstarrte. Auf ihren Anblick war Tom nicht vorbereitet gewesen. Sie hinkte leicht und verzog vor Schmerzen kurz das Gesicht, als sie die letzten Stufen nahm. Gekleidet war sie wie eine Afrikanerin. Sie trug bunte Tücher und eine Art Turban auf dem Kopf. Ihr Gesicht war im Kontrast zu der Kleidung bleich und eingefallen. An den Füssen hatte sie Stricksocken übergezogen. Langsam kam sie näher. Sie war recht gross, fast so gross wie Tom. Selbst die locker gebundenen Tücher kaschierten nicht, wie mager sie war. Es war ihr Gesicht, das Tom in Beschlag nahm. Die rechte Wange war aufgeschürft– sie musste übel verprügelt worden sein. Ihre Augen waren hellwach und der Blick herausfordernd. Sie blieb vor ihm stehen, ohne ihm die Hand zu schütteln. «Wollten Sie mich nicht wenigstens kennenlernen?» Natalie lächelte. Ein ehrliches Lächeln, keine Spur von Arroganz, dafür schwangen Enttäuschung und Trauer mit, gepaart mit Entschlossenheit. «Ich habe Sie mir echt grösser vorgestellt und muskulöser. Die anderen Bewerber waren Gorillas in Anzügen.»

«Ich trage nie einen Anzug», sagte Tom, unfähig, den Blick von ihr zu nehmen.

«Und ich keine Designerkleider. Ich werde Sie also nicht stundenlang bei Armani, Gucci und Chanel ausharren lassen. Wir haben anderes zu tun.»

Tom runzelte die Stirn. Anderes zu tun?

In diesem Moment trat Harri aus seinem Arbeitszimmer. «Herr Engels, Sie sind noch hier?»

Tom starrte ihn an. «Sie haben mir nicht erzählt, dass Ihre Tochter bei dem Einbruch verletzt wurde. Sie müssen ehrlich sein, wenn ich für Sie arbeiten soll. Weshalb wurde die Polizei nicht eingeschaltet? Der Kerl muss gefasst und bestraft werden.»

Natalie lachte.

Tom starrte sie überfordert an. Eine geprügelte Frau, die Angst hatte, sah anders aus. Entweder dieses Mädchen war extrem mutig und stark, oder…

«Sie können denjenigen nicht bestrafen, der mir das angetan hat, Herr Engels. Es sei denn, Sie seien ein Engel, was ich bezweifle– trotz Namensverwandtschaft.»

Tom verstand nur Bahnhof.

«Mensch, machen Sie sich locker. Der Schnitt am Arm von der Glasscheibe ist nun echt kein Drama und meine Schuld», sagte Natalie. Sie streckte ihren Arm aus. Ein Verband war um die Schnittwunde gewickelt. Was Toms Atem stocken liess, war Natalies Hand. Sie war gerötet, die Haut vernarbt, die Finger gekrümmt und zusammengewachsen. Fingernägel fehlten.

Natalie war auf seinen Schock vorbereitet. «Nein», sagte sie, «ich habe mir die Hand nicht verbrannt. Ich bin krank. Ein dummer Gendefekt. Ist nun mal so, ich lebe damit. Man kann ja schlecht hochfliegen und Gott dafür bestrafen. Wenn es Sie stört, dass ich kein hübsches Modepüppchen bin, ist das natürlich ein Problem.»

«Ähm, nein», stammelte Tom und schaute in ihre blauen Augen. Sie waren hell und glänzend. «Nein, ich bin erleichtert, dass…»

«Erleichtert, dass ich krank bin?», beendete sie lächelnd seinen Satz, die Stimme rau und sanft wie Schmirgelpapier auf Ebenholz.

Sie hatte ihn voll erwischt. Er drückte die Brust raus und korrigierte seinen Fehler: «Erleichtert, dass kein arrogantes Püppchen vor mir steht. Wann darf ich anfangen?»

«Moment mal», wandte Harri ein, «ich habe Sie nicht eingestellt. Schon vergessen, Sie wollten gehen.»

«Cool», sagte Natalie. «Gehen wir auf mein Zimmer und verhandeln über die Anstellungsbedingungen.»

Eine junge Frau, die Entscheidungen traf und auf den Punkt kam, das gefiel Tom. «Cool», wiederholte er.

«Hallo? Hier habe ich das Sagen», beschwerte sich Harri.

Natalie warf ihm einen Luftkuss zu. «Paps, du bist der Beste. Danke!» Sie drehte sich um und humpelte die Stufen hoch.

Tom folgte ihr. Sie nannte ihren Vater ebenfalls Paps. Wenn das kein gutes Omen war. Wie hatte Alexandra vorhin gesagt? In diesem Haus sei nichts konventionell. Schien vielversprechend zu werden, die Stelle.

***

Sie mochte ihn. Es war ein Bauchgefühl. Tom Engels war ehrlich, direkt und kein Schleimer, der auf das Geld aus war. Hatte er tatsächlich geglaubt, er müsse eine reiche, versnobte Tochter beschützen? Gut, reich war sie, dafür konnte sie nichts. Versnobt? Niemals!

Sie führte ihn auf einen Rundgang durchs Haus. «Der Nordflügel der Villa ist von mir besetzt», sagte sie, während sie Tom die Treppe hochführte. «Hier rechts ist das Zimmer von Alexandra.»

«Die Haushälterin habe ich bereits kennengelernt», sagte Tom und schloss zu ihr auf. «Andere Mitbewohner, von denen ich wissen sollte?»

«Musa, mein Personaltrainer.»

«Personaltrainer?»

«Und bester Freund.»

«Alles klar.»

«Dann ist da Jonas.»

«Lassen Sie mich raten: der Gärtner?»

«Chauffeur und Paps’ Mädchen für alles. Musa und Jonas wohnen drüben im Pförtnerhaus.»

«Weitere Angestellte?»

«Wir sind nicht die Trumps.»

«Für die würde ich nicht arbeiten.»

Natalie grinste zufrieden. Lief ganz gut, das Gespräch. Sie öffnete die Tür zu ihrem Reich und liess Tom vor.

«Oh wow! So habe ich mir das Zimmer einer vermögenden jungen Frau nicht vorgestellt», sagte er und schaute sich neugierig um. «Ist eher leer das Zimmer, nicht?» Ein grosses Bett und ein alter Sessel, mehr Mobiliar stand nicht im Raum ausser… «Die vier Helden gefallen mir– und diese komischen… Figuren.»

«Die Helden waren schwer zu kriegen.» Natalie trat neben die lebensgrosse Plastikfigur von Wonder Woman. «Ich musste die Kinobetreiber bestechen, damit sie sie mir verkauften. Verraten Sie’s nicht dem Finanzamt. Die anderen, komischen Figuren sind Kunstschätze aus Afrika. Der süsse Kerl in der Ecke mit der langen Nase ist ein Grebo.»

«Aha.» Tom trat vor den mannshohen Superman. «Ganz ehrlich, der ist mir lieber als der mürrische Grebo. Verträgt er sich mit Batman da drüben?» Er nickte zur Begrüssung kurz Batman zu, der neben dem Sessel stand.

«Iron Man sorgt für Frieden, und Wonder Woman ist der Boss hier.»

Tom wandte sich Natalie zu. «Ein starkes Quartett. Brauchen Sie die zu Ihrem Schutz?»

«Helden sind mein Beruf. Ich bin Comiczeichnerin, war Comiczeichnerin, wollte Comiczeichnerin werden. Mist. Heute kann ich nur noch mit Grafikprogrammen arbeiten, und die Aufträge werden immer weniger. Stifte halten ist das Problem.» Sie hob ihre geschundenen Hände.

Tom schwieg.

Natalie wusste, er musste sich erst an ihre Krankheit gewöhnen. Die meisten Menschen reagierten verlegen und überfordert, wenn sie auf sie trafen. «Willst du die restlichen Räume sehen?», fragte sie.

«Wir sind beim Du?»

«Ist das ein Problem?»

«Ich befürchtete schon, ich müsse dich mit Fräulein Krieger anreden.»

«Fräulein? Sicher. Ich und Fräulein passt super. Das kannst du dir gleich abschminken.» Wenn Tom lachte, zeigten sich in seinen Wangen zwei tolle Grübchen. Natalie schluckte leer, was heute wieder extrem schmerzte. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren, sie wollte sich diesen Tag nicht von ihrer Krankheit vermiesen lassen. Tom war der erste Mann, dem sie ihre Zimmer zeigte, abgesehen von Musa. Aber Musa tickte anders, also war Tom der Erste. Sie war nervös. Natalie öffnete die Tür links. «Das hier ist mein Beautysalon. Riecht steril, ich weiss. Hier geh ich nur rein, wenn Musa mich dazu zwingt, und das tut er täglich. Zwei bis drei Stunden in diesem Zimmer sind normal für mich, gewöhne dich daran. Für dich hingegen ist es Sperrzone. Komm niemals rein, wenn Musa an mir arbeitet, kapiert?»

Natalie entging nicht, dass Tom sich auf die Lippen biss, als sein Blick über die Krankenliege und die Regale mit all den Medikamenten und Verbandsutensilien glitt. In der Ecke des Zimmers gab es eine grosse Duschkabine hinter Glas mit einer Sitzbank am Boden verankert. Schamgefühle keimten in Natalie auf. Kein Mitleid, betete sie still, ich will kein einziges Wort von Mitleid hören.

«Regel verstanden», sagte er.

Sie atmete erleichtert auf und schloss rasch die Tür. «Hier rechts ist die Toilette. Geradeaus ist der Balkon, die Treppe daneben führt hinunter in mein Arbeitszimmer.» Er folgte ihr die Stufen hinab.

«Ein ganz normales Arbeitszimmer», sagte er, nachdem er es besichtigt hatte. «Da bin ich froh. Ich war besorgt, Loki könnte uns auflauern oder der Hulk.– Wohin führt diese Tür?»

Natalie stellte sich daneben und zeigte auf den Boden. «Siehst du die rote Stopplinie davor? Es ist verboten, die Schwelle zu überschreiten. Dahinter ist mein Geheimzimmer, und niemand– absolut niemand hat Zutritt.»

«Ein Geheimzimmer? Verwandelst du dich da drin in Supergirl oder Wonder Woman?»

«Schön wär’s. Hältst du dich auch an diese Regel?»

«Du bist der Boss», sagte er mit einem lockeren Schulterzucken. «Hey! Du bist ein EVZ-Fan?» Tom zeigte auf die Poster vom Eishockey-Club an der Wand. «Toll. Wir können nächste Saison die Spiele besuchen.»

«Nein. Zu gefährlich für ein Schmetterlingskind. Na ja, das ist Paps’ Meinung. Er übertreibt es manchmal mit dem Beschützerinstinkt.»

«Schmetterlingskind?», fragte Tom.

«Ich erklär’s dir. Gehen wir ins Papiliorama. Dort penne ich den Sommer über.»

«Ganz schön viel Glas und nicht gerade einbruchsicher, dein Sommerquartier. Was ist das, eine Gottesanbeterin?» Tom betrachtete die Stabschrecke auf einem Feigenblatt.

Natalie bot ihm einen der Gartenstühle in ihrem Papiliorama an. Sie setzte sich ebenfalls. «Ich mag Tiere», sagte sie, «Hunde und Katzen sind zu gefährlich für mich– meint Paps. Insekten erlaubt er, solange sie nicht stechen.» Sie streckte ihre Hand aus, und ein grosser Schmetterling nahm darauf Platz. «Ein blauer Mosaikfalter. Ist er nicht krass schön?»

«Weshalb willst du einen Bodyguard?», fragte Tom.

Natalie musterte ihn durchdringend. Er hatte ein zartes Gesicht. Die kurzen dunkelblonden Haare standen kreuz und quer in alle Richtungen ab. Seine Ohren waren eng anliegend, die Nase leicht schief, und die Mundwinkel waren asymmetrisch. Die Augen waren eher schmal, die Iris war wasserblau, die Pupille tiefschwarz.

«Ich habeEB, Epidermolysis bullosa, die schwere Form davon. Jackpot!» Sie seufzte. «EBist ein Gendefekt, für den es keine Heilung gibt. Meine Haut ist verletzlich wie die Flügel eines Schmetterlings. Deshalb nennt man uns Schmetterlingskinder. Mir fehlt ein Kollagen, das meine Haut zusammenhält. Die kleinste Berührung verursacht Megawunden. Ich verlasse selten die Villa, weil es da draussen unberechenbare Faktoren gibt, die mich verletzen könnten, und Paps ist überängstlich und behütet mich wie eine Glucke. Ich habe die ersten Jahre eine Privatschule besucht. Dort hatte ich einen schlimmen Unfall auf dem Pausenplatz. Ich lag zwei Monate im Spital. Mein ganzer Rücken ist seither vernarbt. Paps hat mir danach einen Privatlehrer besorgt. Meine Teenagerjahre waren der Hammer, abgeschottet unter Bediensteten. Hey, wenigstens lebe ich!»

«Das war nicht meine Frage», sagte Tom ruhig und bestimmt.

DREI

Mittwochmorgen, dampfenden Kaffee in der Hand, und Sara war bereit, den Sitzungsraum zu betreten. Ihre beiden Kollegen Rizzo und Bolander von der Abteilung Kapitaldelikte schauten auf, als sie an ihnen vorbeischritt und sich neben das Board mit den Tatortfotos stellte. Auch Staatsanwalt Eckart Lind sass am Tisch sowie Lüscher vom Kriminaltechnischen Dienst. Sara begann ohne Begrüssung mit der Besprechung. «Wir haben eine unbekannte Schwarze, die vom Bogenviadukt gesprungen ist. Ob freiwillig oder nicht, wird sich zeigen. Der Leichnam ist im Institut für Rechtsmedizin in Zürich und wird gerade untersucht.»

Anscheinend hatte Dr.Keller etwas gefunden, wollte aber nicht damit rausrücken, bevor seine Vermutung vom IRM bestätigt wurde. Es musste wichtig sein. Dr.Keller hatte darauf bestanden, dass die Obduktion der Unbekannten vorgezogen wurde. «Die Vermisstendatenbanken ergaben keinen Treffer», fuhr Sara fort. «Auch unter den Asylsuchenden ist sie nicht gemeldet. Hast du Neuigkeiten vom Tatort?» Sie schaute Lüscher an.

«Negativ. Da war rein gar nichts. Die Umgebung war sauber. Keine Reifenspuren oder verdächtigen Schuhabdrücke, keine ungewöhnlichen Gegenstände, einfach nichts.» Lüscher war jung und trug diese dicke schwarze Hornbrille, die Sara irritierte. Sie mochte ihn, aber Rizzo und Bolander hatten ihn auf ihre Seite gezogen. Männer.

«Die Medien haben den Fall bereits aufgeschnappt», fuhr Sara fort. «Offensichtlich hat unser Spaziergänger von der Leiche ein Foto gemacht, bevor die Polizei vor Ort war. Er dürfte sich ein gutes Sümmchen dazuverdient haben, als er das Bild an die Klatschpresse verkaufte. Daran können wir nichts mehr ändern. Rizzo, bist du mit Interpol in Kontakt?», fragte sie.

«Schalt einen Gang runter», antwortete Rizzo. «Wir wissen ja nicht mal, ob hier ein Verbrechen vorliegt.»

Sara starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Rizzo war ein italienischer Macho, jung und emotional, mit gelockter Haarpracht, auf die er mächtig stolz war. «Du hast Interpol nicht kontaktiert?», fragte sie.

«Es ist erst neun Uhr! Soll ich meine Schicht denn schon um sechs beginnen?»

Sara massierte sich ihren Nacken und hoffte, so Verspannung und Frust zu lösen. Sie wandte sich an ihren anderen Kollegen. «Hast du wenigstens Neuigkeiten für mich, Bolander?»

«Nein.»

«Ihr kniet euch nicht gerade in den aussergewöhnlichen Todesfall rein.»

«Wenn du meine Nachricht gelesen hättest», konterte Bolander, «die ich dir gestern aufs Handy geschickt habe, wüsstest du, dass ich Geburtstag habe und heute Morgen alle Kollegen in die Kantine zu Kaffee und Gipfeli eingeladen habe.»

«Ich war da», sagte Lind grinsend.

Die SMS. Sara hatte sie gestern gelesen und gleich wieder vergessen. Konnte passieren. Bolander sollte sich nicht kindisch anstellen. Sie hatte sich letzten Monat auch nichts anmerken lassen, als sie ihren einundvierzigsten arbeitend verbracht hatte. «Wir haben einen aussergewöhnlichen Todesfall, der hat Priorität», sagte Sara, hängte nach kurzem Zögern doch Glückwünsche zum Geburtstag an. Sie fuhr mit dem fort, was sie am besten konnte: Fakten zusammentragen. «Unsere Analytiker haben nach Kipekapeka geforscht und sind fündig geworden. Es ist ein Wort in Lingála, einer Bantusprache aus Ost- und Zentralafrika, die heute vor allem im Kongo gesprochen wird, dort auch als eine Nationalsprache gilt. Deshalb dürfen wir annehmen, dass unser Opfer aus dieser Region stammt.»

«Was bedeutet dieses Wort?», fragte Lüscher.

«Kipekapeka bedeutet Schmetterling.»

«Weshalb schreibt sich eine Frau, die in den Tod springt, ‹Schmetterling› auf den grossen Zeh?», fragte Rizzo.

«Weil Kipekapeka eine Organisation ist. Viel wissen wir nicht. Sie betreibt eine simple Website, deren Ursprung sich nicht leicht zurückverfolgen lässt. Offenbar operiert die Organisation vor allem im Darknet. Es kann dauern, die Initianten ausfindig zu machen. Unsere IT-Spezialisten arbeiten daran. Ich vermute, Kipekapeka hat ihren Sitz in der Schweiz.»

«Wofür steht die Organisation?», fragte Rizzo. «Drogen, Waffen, Kinderpornografie?»

«Es handelt sich um eine Organisation, die vorwiegend Frauen in Not hilft und Umweltsünder an den Pranger stellt.»

«Eine Hilfsorganisation? Und weshalb so geheimnisvoll und im Darknet?», fragte Bolander.

Sara wollte gerade antworten, als Linds Handy klingelte. «Aha, Dr.Berger vom Institut für Rechtsmedizin.» Er stand auf, ging ans Fenster und hörte einen Moment lang nickend zu.

Lind steckte sein Telefon zurück in die Brusttasche seines mintgrünen Hemdes. «Wir haben einen Fall von höchster Priorität», sagte er. «Es gibt brisante Entwicklungen.» Er schaute alle der Reihe nach an. «Unser Opfer war schwanger. Sie hat vor wenigen Tagen entbunden.»

«Entbunden», wiederholte Sara und schluckte leer. «Wir haben kein Baby.»

«Finde es», sagte Lind.

***

Tom war gerade auf die Vorfahrt gefahren, als ein junger dunkler Typ mit strahlendem Lächeln auf ihn zukam. Tom stieg aus.

«Du musst Tom sein.» Der Mann reichte ihm die Hand. «Ich bin Musa und werde dir hier alles zeigen– Anweisung vom Lady-Boss. Lass deinen Wagen hier stehen.» Musa verzog das Gesicht, als er Toms verbeulten Peugeot musterte. «Jonas wird ihn später in der Garage parkieren.»

«Musa, freut mich. Du bist Natalies Personaltrainer, richtig?» Tom konnte Musa schwer einschätzen. Er war gross, eher schmächtig, so Mitte zwanzig. Seine Haut war braun wie Milchschokolade, das Haar einen Millimeter kurz rasiert. Ein leichter Bartschatten zeichnete sich ab. Er trug ein kariertes Hemd und weisse Shorts. Musa blieb ernst. «Personaltrainer. Krankenschwester. Verdammt, begreift denn niemand, dass ich als Sklave gehalten werde?»

Tom brauchte eine ganze Weile, bis er verstand, dass Musa scherzte.

«Dir wird es nicht besser ergehen.» Musa lachte heraus. «Natalie wird dich auf ihre Art auf Trab halten.»

«Soll ich gleich wieder gehen?»

Musa klopfte ihm auf die Schulter. «Keinesfalls. Endlich habe ich hier Gesellschaft, die mir gefällt. Du bleibst.»

Tom starrte Musa an und beschloss, den jungen Schwarzen zu mögen.

Musa führte ihn um das grosszügige Grundstück herum. Vor dem zweistöckigen, hufeisenförmigen Haupthaus lag der Swimmingpool mit dem Papiliorama daneben. Das Haus stand in Hanglage, die unverbaute Aussicht auf den Zugersee hinunter und die Rigi im Hintergrund war grandios. Seitlich vom Südflügel der Villa stand das Pförtnerhaus. Auf der Nordseite, nach hinten zur Zufahrtsstrasse versetzt, lag die Garage. Tom machte sich während der Führung Notizen betreffend der Alarmanlage, die eher dürftig ausgebaut war. Es gab zwei Kameras, eine beim Einfahrttor und die andere vor dem Haupteingang zur Villa, der auf der Rückseite des Gebäudes lag. Das Tor war elektrisch mit einer Fernbedienung zu öffnen. Nachts leuchteten Scheinwerfer auf, wenn sich jemand auf dem Vorplatz bewegte. Seitlich war das Grundstück durch einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun gesichert. «Die vielen Büsche und Bäume rund um die Villa machen es einem Einbrecher leicht, sich zu verstecken», sagte Tom, als sie zu den Garagen gingen. «Warum keine Wachhunde? Die sind besser als jede Alarmanlage.»

«Zu gefährlich», sagte Musa. «Wenn ein Hund Natalie anspringt, auch wenn er nur spielen will, kann das schlimme Verletzungen verursachen.»

«Wie erträgt sie das?»

«Darüber musst du mit ihr sprechen. Ich weiss nur, dass sie der mutigste und stärkste Mensch ist, dem ich je begegnet bin.– Da ist Jonas.» Musa ging auf den Chauffeur zu. Jonas war jung, bestimmt keine dreissig. Er hatte braunes gelocktes Haar, war schmächtig gebaut, und leichte Sonnenbräune hätte seinem Teint gutgetan. Neben Musa wirkte er fast kränklich, was wohl eine optische Täuschung war.

«Ist das der Bodyguard?» Jonas richtete seine Frage an Musa. Seine Freude über Tom hielt sich in Grenzen.

«Ja, Natalies neuer Sklave. Kannst du nachher Toms Peugeot in die Garage fahren?»

Jonas musterte Tom eingehend und streckte nach einigem Zögern seine Hand aus.

Tom schüttelte sie kräftig. Er mochte Menschen mit laschem Händedruck nicht. Jonas war ein solcher Mensch.

Musa schaute auf die Uhr. «Neun Uhr. Zeit für Natalies Wellnessbehandlung. Tom, wenn du hier fertig bist, geh in die Küche. Alexandra erwartet dich. Sie hat extra eine Kirschwähe gebacken.»

Musa liess ihn bei Jonas zurück, der wortlos in die Garage ging. Tom folgte ihm. «Wow! Nicht übel.» Vier Wagen standen parkiert: eine klassische Mercedes Limousine S-Klasse in Silber, ein schmucker roter Porsche911Carrera GTS Cabriolet, ein schwarzer VWTouareg und ein kleiner orangefarbener Honda Jazz Hybrid. Tom klopfte auf die Motorhaube des Honda. «Das muss Natalies Wagen sein, hab ich recht?»

Jonas stand im hinteren Teil der Garage und gab sich beschäftigt. Er antwortete, ohne aufzublicken: «Klar.»

Als Tom neben Jonas trat, sah er, dass dieser eine Küchenmaschine vor sich ausgeschlachtet auf der Werkbank liegen hatte.

«Die ist beim Einbruch zu Boden gefallen. Der Hund kam über das Küchenfenster rein.»

«Wie ist das genau passiert?», fragte Tom und schaute zu, wie Jonas geschickt die Teile zusammenbaute. Er entdeckte ein grosses Pflaster quer über Jonas’ Hand.

«Es war Sonntagnacht, kurz nach elf Uhr. Musa und ich schauten im Pförtnerhaus fern. Die anderen schliefen. Anscheinend hat Natalie ein Geräusch geweckt. Sie ging in die Küche und überraschte den Einbrecher, der durch die eingeschlagene Scheibe verschwand, dabei fiel die Küchenmaschine zu Boden. Natalie hatte grosses Glück. Wenn der Kerl ihr etwas angetan hätte…»

«Hat er nicht. Ich denke, Natalie kann sich ganz gut selber verteidigen.»

«Ach ja?» Jonas fuhr herum. «Wie denn? Sie ist ein Schmetterlingskind.»

«Sie ist mutig», sagte Tom ruhig.

«Genau. Das ist Natalies Problem. Sie denkt, sie kommt mit allem alleine klar.»

«Sie will deine Hilfe nicht?»

«Sie nimmt von niemandem Hilfe an.»

Tom zeigte Richtung Villa. «Musa hilft ihr. Und mich hat sie auch zu sich geholt.»

«Lass Natalie in Ruhe», zischte Jonas wütend. «Sie ist nicht wie andere Frauen. Sie kann keinen Mann–»

«Sie hat dir einen Korb gegeben?» Tom wusste, dass er sich soeben die Freundschaft mit Jonas verscherzt hatte, aber auf die konnte er verzichten. Wetten, Jonas hatte die Innenwand seines Kleiderschrankes mit Bildern von Natalie ausstaffiert? Er wechselte das Thema. «Was ist mit der Wunde auf deiner Hand? Ist die von einer Glasscherbe?»

Jonas schnaubte wütend und griff nach einem kleinen Schraubenzieher. «So ein Ding war schuld. Weshalb sollte ich durchs Küchenfenster einbrechen? Ich habe einen Schlüssel für die Villa, und ich habe die Alarmanlage persönlich eingebaut.»

«Wer sollte überhaupt in die Villa einbrechen und weshalb?», fragte Tom. «Ist Natalie wirklich in Gefahr, oder war der Einbrecher einfach auf Wertsachen aus? Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass sie mir ein Detail verschweigt.»

Jonas schraubte die Bodenplatte an die Küchenmaschine. «Natalie hat Geheimnisse, schon möglich», sagte er. «Wer hat die nicht?»

«Du sprichst ihr Geheimzimmer an?»

«Wichtig ist nur, dass sie in Sicherheit ist. Auch wenn ich dich nicht mag, ich hoffe, du bist gut in deinem Job.»

«Können wir persönliche Gefühle aus dem Spiel lassen und uns darauf einigen, dass wir beide Natalie beschützen wollen? Du bist der Chauffeur. Wir müssen zusammenarbeiten.»

«Ja klar, solange du professionell bleibst, habe ich kein Problem damit.»

«Ich fange nie etwas mit meinen Klienten an», verteidigte sich Tom. «Das wäre unprofessionell. Ausserdem könnte Natalie beinahe meine Tochter sein. Du kannst sie gerne für dich erobern.»

«Natalie will nicht erobert werden, sie will beschützt werden», sagte Jonas überzeugt.

Tom starrte Jonas in die Augen. Sah er Furcht darin? Verzweiflung? Hoffnungslosigkeit? «Natalie braucht keinen Beschützer», sagte Tom ruhig, «sie braucht Freunde.»

Der Schwingbesen schlug heftig gegen die Glasschüssel, als Alexandra den Rahm von Hand aufschlug. «Jonas repariert gerade die Küchenmaschine», sagte sie.

Tom sass am grossen Küchentisch, eine Tasse Kaffee vor sich und einen Teller mit einem Stück Kirschwähe. «Sie soll dem Einbrecher runtergefallen sein.»

Alexandra zuckte kurz zusammen und stoppte ihre hektische Bewegung. Sie nickte eifrig und schlug weiter auf den Rahm ein. Tom mochte sie. Sie hatte ein warmes Lachen und freundliche Augen. Ihm entging nicht, dass sie unruhig war, vorsichtig, wachsam. «Hast du von dem Einbruch etwas mitbekommen?», fragte er.

«Ich hörte Natalie rufen. Als ich in die Küche kam, waren Jonas und Musa schon bei ihr.»

«Hättest du nicht schneller unten sein sollen? Die beiden wohnen drüben im Pförtnerhaus.»

Alexandra nickte, stellte die Schüssel hin und holte aus einer Schublade einen Löffel hervor. Sie sagte nichts weiter und gab eine gute Portion Schlagrahm auf Toms Kirschwähe. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und setzte sich neben ihn. «Ich bin froh, dass du hier bist. Ich habe dir das Zimmer oben gleich gegenüber von meinem bereit gemacht. Es wird dir gefallen.