Himmel, Hölle, Mensch - Monika Mansour - E-Book

Himmel, Hölle, Mensch E-Book

Monika Mansour

4,9

Beschreibung

Am Schweizer Nationalfeiertag wird im Trubel des Feuerwerks ein unbekannter Mann auf einer Weide im Wauwilermoos gefunden: jung, tätowiert, chinesisch - und totgetrampelt von einem Stier. Der charmante Luzerner Ermittler Cem Cengiz übernimmt den Fall: Erste Nachforschungen führen zu den chinesischen Triaden, in die Tattooszene und zu Menschenhändlern. Und ganz nebenbei hat Cem auch noch mit eigenen Problemen und dem weiblichen Geschlecht zu kämpfen . . .

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Monika Mansour, Jahrgang 1973, schreibt seit ihrer Kindheit Romane und Kurzgeschichten in den Bereichen Krimi und Thriller und zeichnet leidenschaftlich gern. Nach einer Augenoptiker-Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Heute ist sie hauptberuflich als kaufmännische Angestellte tätig und arbeitet nebenberuflich als Tattoo-Künstlerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Kanton Luzern.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Christina Vikoler Literary Agency, München.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/Susann Städter Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne(CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-854-0 Luzern Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für meine Eltern

Liebe und Hass sind die Hörner am selben Stier.

Aus China

Der Held hat ein Gesicht, der Feigling zwei.

Aus dem Kaukasus

EINS

«Einen Kuss.» Sie formte einen süssen Schmollmund. «Du schuldest mir einen Kuss.»

Es krachte über seinem Kopf. Eine Schar bunter Funken stob in den sternenklaren Nachthimmel. Cem zerrte an den Handschellen, es war sinnlos. Desperat sog er die schwüle Sommerluft in die Lungen, die Würze von geschnittenem Gras lag fein darin eingebettet. Seufzend liess er die Luft wieder entweichen: verbraucht und geruchlos. Er musste sich Lila ergeben. Hatte er eine Wahl?

Erneut ein Knall. Funken. Feuerregen.

Lila setzte sich rittlings auf ihn, wie er da so hilflos im Gras sass, an diese magere Birke gelehnt, mit seinen eigenen Handschellen hinter dem Rücken um den Stamm gefesselt. Ein warmer Lufthauch strich über Cems nackten Oberkörper und verfing sich in seinen Brusthaaren. Und Lila tat es dem Wind gleich, zeichnete mit ihren Fingernägeln kleine Herzen auf seine Brust.

Cem schüttelte den Kopf, seine Nerven angespannt.

«Heute Nacht sind Sie mein Sklave, Herr Kommissar.» Lila warf ihm einen Luftkuss zu.

Vor fünf Wochen kam sie raus. Er hatte sie mehrmals im Gefängnis besucht. Und jetzt? Jetzt war er ihr ausgeliefert. Sie hatte einen Rückfall, war in ihre Paraderolle als Lilou geschlüpft. Cem hatte sie nur einmal tanzen sehen, damals, letzten Januar, in jenem Nachtclub in Zürich. Schock und Erregung waren enge Verwandte. Auch heute Nacht. Was trieb sie für ein Spiel mit ihm?

Es krachte über ihren Köpfen. Im Licht des Feuerwerkes sah Lila göttlich aus. Oder teuflisch schön? Die Lkw-Fahrerin Lana Rot alias die sexy Stripperin Lilou. Für Cem war sie einfach zu Lila verschmolzen. Diese gefährliche Mischung ergab zwangsläufig eine unberechenbare Beziehung. Auch wenn sie ihren nächtlichen Nebenjob aufgegeben hatte und nach den Sommerferien abends wieder die Schulbank drücken wollte, um ihre Matura nachzuholen. Die dunkle Vergangenheit konnte Lila nicht abstreifen.

«Als mein Sklave darf ich mit Ihnen spielen, Cem Cengiz», hauchte sie.

Ihr rotes Sommerkleid war verführerisch hoch über ihre nackten Oberschenkel gerutscht, als sie sich auf seinen Schoss gesetzt hatte. Verdammt. Er wollte sie. Jetzt gleich. Er zerrte an den Handschellen, bis seine Handgelenke schmerzten.

Lila schüttelte den Kopf. «Mon Nounours…» Sie steckte ihm ihren Mittelfinger in den Mund. Er sog gierig daran. Sie lachte. «Immer noch hungrig, du unermüdlicher Hengst? Nur gut, dass ich dich an diesen Baum gekettet habe. Irgendwie muss ich meinen türkischen Lover ja bändigen, n’est-ce pas?» Sie entzog ihm ihren Finger und schob ihn sich selbst aufreizend langsam zwischen die feuchten roten Lippen.

«Komm her, du Biest», keuchte Cem und beugte seinen Oberkörper vor, soweit es die Handschellen zuliessen. Sie wich schmunzelnd zurück.

«Na, na, gleich so stürmisch?» Seelenruhig erhob sie sich und ging hinüber zur Decke, die ausgebreitet im Gras lag, gesäumt von zwei Lampions und den roten Windlichtern mit dem Schweizerkreuz darauf. Die beiden Teller ihres Festmahles waren noch halb voll: Hobelkäse, Trutenbrust, italienische Antipasti. Wichtigeres war dazwischengekommen. Cem musste bei dem Gedanken daran heimlich grinsen. Wohin seine Leidenschaft ihn getrieben hatte, sah man jetzt. Verfluchte Handschellen– Lila hatte die Dinger heimlich bei ihm zu Hause eingesteckt und mitgebracht.

Sie kramte ihr Smartphone aus der Handtasche am Boden und spielte Musik darauf ab: aus «Dirty Dancing» «Hungry Eyes».

Gut, dachte Cem erleichtert. Kein «Kill Bill».

Lila nahm einige der Kerzen von der Decke und verteilte sie im Gras vor Cems Füssen. Dabei wippte sie sanft mit ihren Hüften im Takt der Musik.

«Lila–»

Sie unterbrach ihn. «Schhhh– nur für dich.»

Sie legte den Kopf zurück in den Nacken. Ihre Brust hob sich. Im Rhythmus der Musik drehte sie sich im Kreis, sinnlich, geschmeidig, professionell.

Cem spürte, wie die Erregung ihn erneut überfiel. Diese Frau trieb ihn noch in den Wahnsinn. Sie wollte für ihn tanzen. Hier! Im Mondschein, auf dieser Kuhweide, am Hang der Rigi, hoch über dem Vierwaldstättersee. Und das in der Nacht des Nationalfeiertages.

Die Spaghettiträger rutschten wie von Geisterhand über ihre zarten Schultern. BHtrug sie keinen. Er erhob sich, streifte dabei mit den gefesselten Händen hinter dem Rücken die raue Rinde der Birke hoch. Er ignorierte die süssen Schmerzen. Doch Lila liess ihn warten, kostete die Musik bis zum letzten Takt aus. Als erneut ein Feuerregen den Nachthimmel erhellte, gab Lila seinem Betteln nach. Sie riss Cem die Khakishorts von den Hüften und drückte ihren zarten, weichen, nach Granatapfel duftenden Körper an den seinen.

Ein Halleluja auf den Rütlischwur!

* * *

Louis Armstrong riss Cem aus tiefstem Schlaf. Die Luft, die er einatmete, war ungewohnt feucht und frisch. Sein Rücken schmerzte. Er brauchte einen Moment der Orientierung. Noch bevor er die Augen öffnete, spürte er Lilas nackten Körper. Sie war eng an ihn gekuschelt. Das Licht war grell. Sonnenlicht. Er fühlte sich eingeengt. Der Schlafsack. Genau.

«I see trees of green…»

Cem öffnete die Augen. Wie recht der alte Louis doch manchmal hatte. Cem seufzte leise und strich Lila sanft über ihr braunes Haar.

«… red roses too…»

Nur widerwillig griff er nach seinem Handy. Bereits trübte eine dunkle Vorahnung den perfekten Sommermorgen. Heute war sein freier Tag, verdammt. Er drückte das Telefon ans Ohr. «Was gibt’s?», nahm er flüsternd den Anruf entgegen.

«Eine Leiche. Verunstaltet. Sieht übel aus. Regelrecht zu Mus zerstampft.» Barbaras energiegeladene Stimme war eine Zumutung zu dieser Stunde.

«Oh, danke für das appetitliche Bild noch vor dem Frühstück», sagte Cem. «Ich habe heute frei. Mir ist nicht nach Recherche hinterm Schreibtisch. Erst recht nicht bei dieser Hitze.»

«Wymann trommelt das ganze Team zusammen», sagte Barbara, seine direkte Vorgesetzte. «Also beweg deinen Hintern aus dem Bett. Ausserdem habe ich gute Neuigkeiten: Du darfst heute raus. Wie schnell kannst du in Wauwil sein?»

Er durfte raus? Oder hatte sich Cem da verhört? «Ich darf den Tatort untersuchen? Wow!»

«Wann kannst du dort sein?»

«Wauwil? Hm, mal überlegen– der Abstieg von hier, wo ich gerade gemütlich liege, dauert etwa eine Stunde. Das erste Kursschiff legt, glaube ich, erst kurz vor zehn Uhr in Vitznau ab. Vielleicht fährt früher auch schon ein Bus. Nach Hause, duschen, eine halbe Stunde Zugfahrt nach Wauwil, da mein Alfa Romeo noch vor Lilas Wohnung in Nebikon steht.– Ich denke, zum Mittagessen könnte ich es schaffen.»

«Das reicht nicht. Ich lasse dein Handy orten. Eine Streife holt dich gleich ab.» Damit war für Barbara der Fall erledigt. Sie legte auf.

Na toll, dachte Cem und liess den Kopf wieder zurück auf die Decke fallen.

«Arbeit?», nuschelte Lila schlaftrunken.

«Was muss man auch am 1.August ums Leben kommen?»

Lila kicherte und wälzte sich im engen Schlafsack auf ihn. «Wir haben doch noch etwas Zeit? Ich habe meinem sexy türkischen Bullen noch einiges zu bieten an diesem Morgen.»

«Negativ. Barbara schickt eine Streife her. So, wie ich sie kenne, sind die schon unterwegs.» Er schaute sich auf der Weide um. «Eine Ahnung, wo unsere Kleider sind?»

«Hmm– gestern Nacht lagen sie noch im Gras. Vielleicht hat sie ein Fuchs gestohlen?» Sie kicherte und kringelte seine Brusthaare um ihren Zeigefinger.

«Unersättliches Biest.» Er schob sie sanft von sich und kroch aus dem Schlafsack. Jetzt bitte nur keine Wanderer, die sich an seiner nackten Schönheit ergötzen könnten. Halb versteckt unter einem Busch fand er seine Khakishorts. Weiter oben über einem Ast der Birke hing sein orangefarbenes T-Shirt. Rasch schlüpfte er in die Kleidung. Er brachte Lila ihr rotes Sommerkleid, das noch im Gras lag. «Wenn ich mich recht erinnere, hast du gestern keine Unterwäsche getragen?»

Sie nickte verstohlen. «Das kann ich auch von dir behaupten.»

«Biest.» Cem kniete sich neben Lila ins Gras und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Lippen. «Und jetzt schwing deinen süssen Hintern aus dem Schlafsack. Dein Bulle muss zum Dienst.» Er stand auf.

«Cem?»

«Was denn?»

Sie zögerte und knabberte an ihrer Unterlippe. «Hab dich lieb.»

Wow!

Überrumpelt brachte er ein Schmunzeln zustande und kratzte sich etwas unbeholfen die Stirn. «Ähm… ja

ZWEI

Der Streifenwagen holperte über den Kiesweg und zog eine Staubwolke hinter sich her. Die Morgensonne stand schon hoch, obwohl es erst kurz vor neun Uhr war. Cem roch unauffällig an seinem T-Shirt. Barbara hätte ihm wirklich die Zeit für eine Dusche geben können.

Lila beobachtete ihn vergnügt. Sie sassen nebeneinander auf der Rückbank des Wagens. Sie trug das rote Sommerkleid. Nur das Sommerkleid. Cem war innerlich zwiegespalten. Er hatte sich auf ein tolles Wochenende mit Lila gefreut, stattdessen orderte Barbara ihn hierher in die Luzerner Pampa: Wiesen, Äcker und Kuhweiden. Eine flache grüne Ebene von sanften Hügeln gesäumt und mit einem beeindruckenden, schneebedeckten Bergpanorama im Hintergrund, dem Cem heute wenig abgewinnen konnte. Denn mit jedem Meter, dem sie dem neuen Fall entgegenfuhren, wuchs seine Aufregung. Endlich wieder Feldarbeit.

Er drückte ihre Hand. «Mein Kollege setzt mich ab und fährt dich danach heim. Das tust du doch, Andy?» Lila wohnte nur zwei Dörfer weiter von hier.

«Kein Problem», sagte der Uniformierte am Steuer.

«Na toll», sagte Lila und konnte die Enttäuschung nur schwer verbergen. «Meine Nachbarn sind es ja gewohnt, dass ich im Streifenwagen kutschiert werde.»

«Hey, komm schon.» Cem mochte es nicht, wenn sie ihre Vergangenheit ansprach.

«Der Tatort», sagte Andy und trat auf die Bremse.

Cem verabschiedete sich von Lila, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und stieg aus. «Wow, hier ist echt was los.» Kurz winkte er noch dem Streifenwagen hinterher, wie er mit Lila in der Staubwolke verschwand, dann war seine Konzentration ganz auf das Schauspiel vor ihm gerichtet. Drei Polizeiautos, ein schwarzer Audi, ein rotes Cabriolet, ein alter Subaru, ein Krankenwagen und ein Leichenwagen standen am Wegrand Spalier. Rund ein Dutzend Beamte stampften auf der Weide herum und steckten die Köpfe zusammen. Die Leiche, von der Barbara gesprochen hatte, musste grosses Interesse wecken. Sie hatte auch bereits die ersten Schaulustigen angezogen, die hinter den Absperrbändern herumlungerten: eine Handvoll Spaziergänger und Sportler.

Cem verliess den Kiesweg, zwängte sich zwischen dem doppelten Elektrozaun hindurch auf die Weide und marschierte mit seinen Sandalen über das trockene Gras. Er musste aufpassen, dass er keine der Brennnesseln streifte, die sich hier munter ausbreiteten. Der Boden war mit Kuhfladen übersät. Er grüsste einige Kollegen, die er flüchtig kannte: den Surseer Staatsanwalt Lehmann und Karl Metzger von der Spurensicherung, in seinen weissen Schutzanzug gekleidet– und das bei dieser Hitze. In seinen Khakishorts und dem orangefarbenen T-Shirt fühlte sich Cem komplett deplatziert, wie ein Tourist. Kevin stand etwas abseits und tippte Notizen in sein iPad.

«Volle Action, was?», sprach Cem seinen Teamkollegen an.

Der Blondschopf drehte sich zu ihm um. «Schon hier, Kollege?» Er grinste, spitzbübisch, aber integer wie gewohnt. Doch plötzlich erstarrten Kevins Gesichtszüge. Er konnte sich gerade noch die Hand vor den Mund halten. Dann musste er heftig niesen. «Elendes Grünzeugs», hechelte er und wischte sich die tränenden Augen trocken.

Cem schmunzelte und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Pollenallergie. Sag ich doch. Ein junger Informatikfreak und Städter wie du gehört in sein klimatisiertes Büro in der Zentrale. Überlass die Feldarbeit den harten Jungs.»

«Klar doch, damit du nach einem halben Jahr Strafversetzung hinter den Schreibtisch endlich wieder Chaos in die Polizeiarbeit bringen kannst?» Kevin verscheuchte eine lästige Fliege von seiner Nase. «Mir soll’s recht sein. Barbara hat dich herbestellt. Sie gibt dir vorzeitig deine zweite Chance. Also komm mit.»

Der Boden war staubtrocken und das Gras schon fast braun verfärbt. Es hatte lange nicht mehr geregnet. Der Kanton Luzern hatte nichts von den heftigen Sommergewittern abbekommen, welche Zürich und die Ostschweiz fast ertränkt hatten. Drei Krähen flatterten vor ihnen her. Der Geruch des Todes musste sie angelockt haben. In der Ferne hörte Cem die Kirchenglocken läuten. Nur das leichte Dröhnen von Flugzeugdüsen, zehntausend Meter über ihren Köpfen, trübte das ländliche Bild.

Und natürlich die Leiche. Ein Uniformierter bewachte den Toten.

«Metzger ist mit der Spurensicherung noch nicht durch», sagte Kevin. «Also nichts anfassen. Der Amtsarzt hat einen ersten Augenschein genommen. Wir haben den Spezialisten vom Institut für Rechtsmedizin in Zürich angefordert. Für ihn gibt es viel zu tun. Ich hoffe, du hast gefrühstückt?»

Cem war erst seit Januar bei der Luzerner Polizei in der Abteilung Leib und Leben. Er hatte seither einige unschöne Leichen gesehen und glaubte, vorbereitet zu sein.

«Oh Mann!» Geschockt blieb er stehen und starrte auf den entstellten Körper am Boden. «Horror. Armer Kerl.– Seine Kleider? Er ist ja komplett…»

«… nackt. Genau», sagte Kevin. «Deshalb wissen wir zumindest, dass das Opfer männlich ist. Vom Gesicht ist ja kaum noch was übrig.»

«Wer oder was kann einen Menschen denn auf diese Art zurichten?» Cem ging in die Hocke, um den Leichnam genauer zu betrachten. Der Mann lag auf dem Bauch. Seine Gliedmassen waren platt gedrückt und deformiert. Sein rechter Oberschenkel stand in einem unnatürlichen Winkel zum Oberkörper hin ab. Da mussten einige Knochen gebrochen sein. Die Haut war an vielen Stellen aufgerissen und mit Kuhdung und Blut verschmutzt. «Was ist das da?», fragte Cem und zeigte auf den rechten Oberarm des Opfers. Unter dem Dreck und Blut konnte er ein Muster ausmachen.

«Ein Tattoo», sagte Kevin. «Vermutlich.»

«Na, das ist doch schon mal etwas. Und wer hat den armen Kerl gefunden?»

«Ein Jogger, der hier immer um sieben seine Runde dreht. Ihm sind die vielen Krähen aufgefallen. Und die Viehherde war ungewohnt aufgebracht. Er hat sich die Weide näher angesehen und den Leichnam entdeckt. Mehr kann er uns nicht sagen.»

«Todeszeitpunkt?»

«Der Arzt vermutet so gegen fünf oder sechs Uhr heute früh.»

«Also etwa vor drei bis vier Stunden.» Cem schüttelte den Kopf und starrte wieder auf das Opfer. «Und das ist auch ganz sicher ein Mensch?»

«Dem rechten Fuss nach zu urteilen schon», bemerkte eine energische, klare Stimme. «Der einzige Körperteil, der heil geblieben ist.» Barbara trat neben Cem. Ihre Sommersprossen schienen in der Morgensonne zu glühen. Sie hatte ihr feuerrotes Haar zu einem Zopf zusammengebunden.

Cem stand auf und blickte hoch in ihre blauen Augen. «Kann man dieses eingestampfte Ding mit dem menschlichen Fuss schon identifizieren?»

Sie stützte die Hände in die Hüften. «Nein. Ein junger Mann, mehr wissen wir nicht. Schwarze Haare, ein eher dunkler Teint, vermutlich ein Ausländer. Wir haben einen Spezialisten vom Institut für Rechtsmedizin aus Zürich angefordert. Er sollte jeden Moment eintreffen.»

«Und die Todesursache?», fragte Cem. «Ist der Unbekannte aus einem Flugzeug gestürzt? Von einer Ballenpresse erfasst worden? Oder haben Aliens ihn als Testobjekt missbraucht? Hat man irgendeine Ahnung?» Cem kratzte sich das Kinn und schaute sich um. In diesem Naturschutzreservat gab es nichts ausser Vögel, Insekten und ein paar Füchse. Diese Leiche war echt ein Fremdkörper.

Cem beobachtete die Leute, welche teils ebenfalls ratlos auf der Weide herumstanden: zwei Sanitäter und ein Sportler in Trainingskleidung, drei Uniformierte, welche noch immer den Tatort absteckten, Metzger mit einem Kollegen, mit Kameras und technischem Equipment ausgerüstet, der Bestatter, der neben seinem Wagen eine Zigarette rauchte und mit dem Herrn mit Krawatte diskutierte, Staatsanwalt Lehmann. Hinter den Absperrbändern fünf Schaulustige, die ihre Köpfe zusammensteckten. Interessant war der junge Typ etwas abseits auf der Weide. Er trug eine Militäruniform und telefonierte. Von hier aus konnte Cem seinen Rang nicht erkennen. «Ihr habt das Militär informiert? Ist die nationale Sicherheit gefährdet, oder warum ist der hier?»

«Das ist Benno Hodel, wohnt auf dem Hof dahinten.» Kevin zeigte auf einen Bauernhof in etwa einem halben Kilometer Entfernung. «Benno kam heute früh mit dem Zug. Ist zurzeit imWK. Wochenendurlaub. Er war uns eine grosse Hilfe, den Mörder zu fassen.»

«Mörder? Es war Mord? Ihr habt den Täter schon gefasst?»

«Haben wir.» Barbara wischte Cem ein langes braunes Haar von seinem T-Shirt. «Hab doch gesagt, du sollst dich beeilen.» Sie genoss es offensichtlich, ihn auf die Folter zu spannen.

«Und ihr habt ihn schon abgeführt, oder wo ist dieser Mistkerl?», fragte Cem.

«Er steht da drüben, gefesselt und geknebelt.» Barbara zeigte hinüber zu der Baumgruppe am anderen Ende der Weide. Dort, wo auch die Herde zusammengepfercht herumstand. «Der Arzt hat ihm eine Beruhigungsspritze verpasst.»

«Ist er vernehmungsfähig?», fragte Cem. «Ich möchte nämlich gern wissen, wie man einen Menschen so zu Pudding verarbeiten kann.»

Barbara und Kevin wechselten verschwörerische Blicke.

«Er spricht nicht», sagte Barbara. «Du kannst es gern versuchen.»

Cem runzelte die Stirn. Die verarschen mich, dachte er und stampfte leicht gereizt los, hinüber zu den Kühen.

«Er heisst übrigens Spartacus!», rief ihm Barbara hinterher. «Und sei vorsichtig, Kleiner! Spartacus ist extrem gewalttätig und überaus muskulös.»

«Ja, ja», murmelte Cem vor sich her, als ihm langsam dämmerte, wovon seine Kollegen sprachen.

Ein Mann winkte ihm zu. Er stand bei den Rindviechern. Er trug einen grünen schmutzigen Kittel. Klar doch, ein Tierarzt, dämmerte es Cem.

Sie schüttelten sich die Hände. «Imboden», stellte er sich vor. Ein sympathischer Mann, Mitte fünfzig, schätzte Cem, mit einem urchigen Vollbart und buschigen Augenbrauen.

«Und es gibt keinen Zweifel? Er hat das Opfer so zugerichtet?», fragte Cem, als Imboden ihn zu dem Bullen führte, der mit einem Halfter an einen Baum gebunden war. Das Seil verlief durch seinen glänzenden Nasenring. Der braune Fleischkoloss torkelte leicht. Geifer tropfte von seinem Mund, und er röchelte schwer. Seine Augenlider waren halb geschlossen, und die Ohren hingen seitlich weit nach unten. Blut klebte an seinen Hörnern. Cem konnte die Macht fühlen, die von diesem tonnenschweren Tier ausging.

Imboden klopfte dem Bullen liebevoll auf den Hals. «Ich habe ihn sediert. Dank Benno konnten wir ihn überhaupt einfangen. Ich kenne Spartacus, seit er ein Kalb ist. Eigentlich ein sanftmütiges Wesen. Keine Ahnung, was ihn dazu getrieben hat, einen Menschen so brutal anzugreifen. Munis, die eine Herde mit Kälbern beschützen, sind halt immer unberechenbar.»

Cem blickte hinüber, wo zwei Männer etwa ein Dutzend Kühe mit ihren Kälbern im Auge behielten.

Der Arzt zeigte auf das verschwitzte Fell des Stieres. «Seine Beine sind blutbespritzt, sehen Sie? Auch der Kopf.»

«Der Tote hatte keine Chance?»

«Wenn ein Bulle rotsieht…»

Cem schüttelte den Kopf. «Ich sehe schon die Schlagzeile: Stierkampf im Wauwilermoos endet tödlich.»

«Das ist wohl auch Spartacus’ Todesurteil», sagte Imboden.

«Na ja, jeder Angeklagte hat das Recht auf Verteidigung. Ein Muni greift doch nicht einfach so an? Etwas muss ihn wütend gemacht haben. Und der Tote hatte definitiv kein rotes Tuch bei sich.»

«Ich verstehe das auch nicht.» Imboden zog eine Pfeife aus seinem Kittel. «Es stört Sie doch nicht?»

«Als Tierarzt kennen Sie bestimmt die Besitzer des Bullen?» Cem schaute fasziniert zu, wie Imboden den Tabak anzündete und würzig duftende Rauchwolken in die klare Morgenluft blies.

«Die Familie Kaufmann? Gute Leute. Biobauern. Wohnen im Moosacher, nicht weit von hier.» Imboden zeigte nach Süden zu einem kleinen Hügel hin. Büsche und Bäume versperrten die Sicht auf das Gebäude. «Hanspeter verlor seine Frau vor etwa zehn Jahren. Autounfall. Schlimme Sache. Er hat wieder geheiratet. Eine Thailänderin. Gab ganz schön Gesprächsstoff im Dorf. Sie wissen schon…» Nachdenklich strich Imboden Spartacus über das nasse Fell. «Mir kann es ja gleich sein. Nora, die Tochter, hatte es sicher nicht leicht. Man hat sie in der Schule gehänselt wegen ihrer Stiefmutter. Ein stilles Mädchen, sehr…» Er suchte nach dem passenden Wort und zog an seiner Pfeife. «Sie werden sie bestimmt kennenlernen.»

«Warum ist Herr Kaufmann nicht hier?», fragte Cem.

«War er. Den ganzen Morgen. Im Moment kann er nichts weiter tun. Und Benno ist ja da. Sind Nachbarn, die Kaufmanns und Hodels.»

«Und Sie haben keinen Verdacht, wer der Tote sein könnte?»

Imboden klopfte seine Pfeife an dem Baumstamm aus und steckte sie zurück in den Kittel. «Tut mir leid.»

Cem bedankte sich für das Gespräch und ging zurück zu seinen Kollegen. In der Ferne sah er eine Staubwolke, die rasch näher kam. Ein Wagen.

«Das muss der Neue vom Institut für Rechtsmedizin sein», sagte Barbara, als Cem neben sie trat. «Man hat uns schon vorgewarnt.»

Noch war der Jeep zu weit entfernt. Und es gab zu viele Fragen, die Cem auf der Zunge brannten. «War das jetzt ein Mord oder ein Unfall? Was denkst du?»

Barbara zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Gesässtaschen ihrer engen Jeans. Obwohl in den Vierzigern, war Barbara eine ungemein attraktive Frau. Mittlerweile hatte Cem gelernt, mit ihrer bemutternden und dominanten Art umzugehen. Sie war streng und fordernd, immer ehrlich und hatte das Herz am richtigen Fleck. Probleme ging sie direkt an, sprach nie um den heissen Brei herum. Auch jetzt nicht. «Die Staatsanwältin hat dir ein Jahr Aktenstapeln aufgebrummt. Aber ich will dich wieder draussen in Aktion sehen, Cem Cengiz. Du hast ein gutes Gespür für die Menschen. Aber du hältst dich diesmal an die Regeln. Verstanden? Keine Alleingänge. Ich werde dich genau beobachten.»

«Verstanden, Mam.» Cem tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn.

Sie blickte streng auf ihn herab. Ihre Augen schienen wie Eisblöcke. Schmelzende Eisblöcke. Sie klopfte Cem auf die Schulter. «Herzlich willkommen zurück, mein Kleiner.»

«Ich sehe schon, ihr arbeitet hart und unermüdlich an diesem Fall.» Kevin kam auf sie zu. «Ich habe soeben mit Wymann telefoniert. Der Boss schickt noch zwei Kollegen mit Spürhunden her. Vielleicht können wir dadurch herausfinden, aus welcher Richtung der Tote kam. Bei diesem trockenen Boden gibt es leider keine Fussspuren. Und die Herde hat die ganze Weide verwüstet. Wir versprechen uns daher wenig Erfolg mit den Spürhunden, aber wir können es versuchen.» Kevin rieb sich die tränenden Augen. «Wymann will sich ausserdem gleich mit dem Gemeindepräsidenten von Wauwil treffen. Dieser kennt viele Einwohner. Vielleicht kann er uns einen Hinweis zur Leiche geben.»

«Sollte der Tote nicht von hier sein», sagte Barbara, «steht vielleicht irgendwo sein Auto.» Sie blickte hinüber zum Dorf, am Ende der Ebene. Die Einfamilienhäuser säumten den Hang des Santenberges. «Wir müssen alle parkierten Wagen im Dorf überprüfen.»

«Wenn er mit dem Zug kam?», fragte Cem. «Der Bahnhof ist gleich da am Dorfrand. Oder er besuchte Freunde. Es gibt tausend Möglichkeiten.»

«Denen wir allen nachgehen werden», sagte Barbara.

Kevin kämpfte gegen eine Fliege an. «Was ist mit der Strafanstalt Wauwilermoos? Sie ist nicht weit von hier. Gleich dahinten. Ein Zufall?»

«Ich habe schon mit dem Direktor telefoniert», sagte Barbara. «Wir besuchen ihn, sobald wir hier fertig sind.»

«Ein Streich unter Häftlingen?», dachte Cem laut nach. «Mobbing? Eine Flucht? Deshalb ein Opfer ohne Kleidung?»

«Zumindest eine Möglichkeit», sagte Barbara.

«Und wenn nicht? Warum läuft man in aller Früh nackt durch ein Naturschutzgebiet?», fragte Kevin.

«Ein Nudist?», spekulierte Barbara.

«Oder Sex?» Cem massierte sich die Schläfe. Hatte er nicht selbst noch vor ein paar Stunden nackt auf einer Weide gestanden? «Ein Streit. Die Freundin ist mit den Kleidern abgehauen? Die meisten Tötungsdelikte geschehen aus Eifersucht und verschmähter Liebe.» Cems Idee löste ein Lächeln bei seinen Kollegen aus. Die konnten doch unmöglich wissen, was er letzte Nacht getrieben hatte?

«Oder er war schwimmen», sagte Kevin. «In diesem Sumpfgebiet, auch wenn es trockengelegt ist, gibt es Teiche und kleine Wasserkanäle.»

«Was ist mit einer Clique? Eine Mutprobe unter jungen Männern?» Cem wusste, dass so etwas nicht selten vorkam. «Gestern war der 1.August. Es gab überall Partys. Ein Saufgelage mit tödlichem Ausgang?»

«Es gibt hier einige Holzhütten.» Barbara zeigte hinüber zu einer Baumgruppe. «Dort hinten neben einem Teich steht ein Beobachtungsturm der Vogelwarte. Da drüben ein Blockhaus. Wir müssen diese Orte absuchen, um zu klären, ob hier die letzte Nacht irgendwo gefeiert wurde. Wir finden so vielleicht Kleider, einen Ausweis, einen persönlichen Gegenstand des Toten. Alle Nachbarn auf den umliegenden Höfen müssen befragt werden. Sobald wir Näheres über sein Aussehen und Alter wissen, sollen unsere Kollegen mit den Einwohnern sprechen. Vielleicht war der Tote bei einer Grillparty dabei. Da liegt ein ganzes Stück Arbeit vor uns.»

Cem scharrte mit seiner Sandale auf dem staubigen Boden herum. «Warum spaziert jemand durch eine Kuhweide? Der Stier war ja schwer zu übersehen. Zwischen fünf und sechs Uhr morgens ist die Dämmerung bereits angebrochen, es war also nicht mehr stockdunkel. Ich nehme an, der Weidezaun war mit Strom geladen. Und es gibt genügend Kieswege. Warum die Weide? Was wollte der Unbekannte bei den Kühen? War er auf der Flucht? Und wohin flieht man splitternackt?»

«Eine gute Frage», sagte Barbara und starrte zu dem Wegrand hinüber. Der Jeep hatte soeben parkiert. Ein Mann stieg aus. Ein Hüne. «Interessantes Individuum», bemerkte sie und marschierte geradewegs auf den Neuankömmling zu.

Das konnte sich Cem nicht entgehen lassen.

Der Arzt sah aus wie ein Wrestler. Riesig, muskulös, braun gebrannt, mit einer polierten Glatze. Als Ersatz zierte ein kurz gestutzter Bart Kinn und Oberlippe. Er musste um die vierzig sein und präsentierte Barbara eine Reihe makelloser Zähne.

«Guten Morgen, schöne Frau.» Er reichte ihr eine Pranke von einer Hand.

Furchtlos nahm Barbara sein Angebot an. Sie schüttelten sich die Hände wie in einer feierlichen Zeremonie.

«Grüezi. Sie sind bestimmt Herr Berger», sagte Barbara und hob das Kinn. Es musste für sie eine neue Erfahrung sein, zu einem Menschen hochzuschauen. «Ich bin Barbara Amato, leitende Ermittlerin der Kriminalpolizei Luzern.»

«Richtig, ich bin Dr.David Berger. Bleiben wir bei Dave– wir sind schliesslich Kollegen in diesem Fall.»

Cem mochte den Hünen. Und Barbara offensichtlich auch. Kokett erwiderte sie sein flirtendes Lächeln.

«Auch ein Kollege?», fragte Dave und blickte auf Cem hinunter.

«Sieht so aus. Cem.» Er reichte ihm die Hand.

«Cool.»

Es war ungewohnt, einen Arzt in kurzen Hosen und einem AC/DC-T-Shirt zu sehen. «Arbeitest du schon länger im Institut?»

«Meine dritte Woche in Zürich. Ist voll was los. Und hier wohl auch. Muss übel zugerichtet sein, unser Opfer.»

Cem nickte. «Übel.»

«Na dann, machen wir uns mal die Hände schmutzig. Gerechtigkeit muss sein.» Dave griff nach seiner Tasche im Wagen.

Eine geschlagene Stunde verbrachte Dave schweigend mit der Leiche. Er ging gewissenhaft vor und arbeitete sich zu den Details durch, die ihm hoffentlich mehr über die Identität des Mannes erzählen konnten. Cem schaute geduldig zu. Die Sonne nahm an Intensität zu. Es war kurz nach zehn Uhr und die Dreissig-Grad-Marke beinahe überschritten. Eine Grille krabbelte über Cems grossen Zeh, als Barbara neben ihn trat.

Sie flüsterte, um Dave nicht bei der Arbeit zu stören. «Sobald wir hier mehr wissen, fahren wir zwei zu den Kaufmanns und schauen uns dort um. Wymann hat vorhin angerufen. Das Gespräch mit dem Dorfpräsidenten hat nichts ergeben.»

«Was gibt’s zu flüstern?», fragte Dave. «Geheimnisse?»

«Na, ich hoffe doch, die lüftest du.» Barbara kniete sich zu Dave neben den Leichnam. «Was hast du für uns?»

Er zog die Latexhandschuhe aus. «Männlich. Etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Dass er nackt ist, habt ihr sicher auch schon festgestellt. Sportlich fit, würde ich schätzen. Gute Zähne. Die Fingerkuppen sind babyzart. Keine Arbeiterklasse. Todeszeitpunkt: vor gut fünf Stunden, also so um fünf Uhr dreissig. Die Totenflecke haben sich schon gebildet, lassen sich aber noch leicht wegdrücken. Die Totenstarre ist bereits in Ausbildung. Todesursache: multiple Quetschungen und Brüche, mit Sicherheit innere Verletzungen. Schädel, Wangen- und Jochbein sind gebrochen, da ist von einem Hirntrauma auszugehen. Genaueres ergibt die Obduktion. Der Stier hat ganze Arbeit geleistet. Da, seht ihr die Fusssohlen? Der Tote muss ein ganzes Stück auf dem Kiesweg gelaufen sein. Gerannt trifft eher zu. Und noch ein wichtiges Detail: Augen und Nasenrücken sind interessant, die schwarzen Haare, der dunkle Hauttyp.» Dave stand auf und wischte sich trockene Erde von den Shorts. «Unser Tote ist kein Einheimischer. Er ist Asiate, vermutlich Chinese.»

«Ein Chinese?» Barbara schaute verwundert zu Dave hoch.

Cem kam ins Grübeln. «Ein nackter Chinese tot im Wauwilermoos, von einem Stier zertrampelt? Ganz schön schräg. Und das da?», fragte er und zeigte auf den Oberarm des Opfers. «Ein Tattoo?»

Dave stemmte die Hände in die Hüften. «Genau. Ein Drache. Ein chinesischer Drache. Cooles Motiv.»

* * *

Drachen gab es keine auf dem Moosacher Hof, aber einen Hund. Das Tier rannte bellend und japsend auf sie zu, eine geballte Ladung pure Energie. Seine Beine überschlugen sich in der Hektik, und so schnell der Hund auf die Schnauze fiel, so schnell schoss er wieder hoch.

«Dio mio!», rief Barbara aus und blieb stehen.

Cem ging sofort in die Hocke, um das Ego des Hundes nicht zu schmälern. Auch Chihuahuas brauchten Erfolgserlebnisse. Der Vierbeiner sprang furchtlos an Cems Brust und wirbelte in seinen Armen im Kreis herum wie ein Verrückter. Ein quirliges schokobraunes Langhaarbündel.

«Was finden die Hunde nur an dir?», fragte Barbara.

Barbara und Cem waren zu Fuss zum Hof gelaufen, der nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt war. Er lag idyllisch eingebettet zwischen Maisfeldern und einem Wäldchen. Der Hof bestand aus drei Gebäuden: Wohnhaus, Stall und Scheune. Er war in die Jahre gekommen. Mächtige Schindeldächer ragten weit über die hölzernen Fassaden und trotzten geometrischen Vorschriften, machten den Hof aber sympathisch. Sofort zogen einen die Farben der Blumen in den Bann: rosa Geranien an der Hausfassade, safranfarbige Petunien und Tagetes im Garten, purpurrote Wildrosen am Wegrand und Fleissige Lieschen und Männertreu in Himmelblau im Blumenbeet vor dem Eingang.

Wow, dachte Cem. Dieser Kitsch würde Lila gefallen. Obwohl das unangefochten ein klassischer Bauernhof war, musste Cem sich eingestehen, dass er so was von klinisch sauber gehalten wurde. Keine Strohhalme, die vom Wind über den asphaltierten Vorplatz wehten, keine Spur von Kuhscheisse auf dem Boden. Nirgends lagen Werkzeuge, Maschinenteile oder Futtersäcke achtlos herum. Er nahm einen tiefen Atemzug. Es duftete herrlich: Der Blumencocktail, frisch geschnittenes Gras und die Tannennadeln im Hintergrund vereinten sich zu einem exquisiten Geruchserlebnis. So stand das sicher in dem Ferienprospekt geschrieben, dachte Cem, als er das Schild vor dem Wohnhaus las:

Moosacher B&B, Familie Kaufmann

heisst Sie herzlich willkommen.

Ein energischer Pfiff drang zwischen Vogelgezwitscher und Insektensummen. Unweigerlich reagierte der Chihuahua auf das Kommando und rannte seinem Herrn entgegen. Das Tempo, mit welchem seine dünnen Beinchen über den Asphalt jagten, überforderte das menschliche Auge.

«Er ist gut erzogen, aber mit zwei Jahren noch immer ein Kindskopf.» Ein Mann um die fünfzig kam auf sie zu. Er trug Jeans und braune Reitstiefeletten. Das dunkelgrüne Hemd hing ihm lässig über die Hose. Sein Gang war aufrecht und dynamisch, und selbst das grau melierte Haar verlieh ihm Attraktivität. Ein Biobauer wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film, dachte Cem. Lila würde es hier gefallen.

«Wir beide kennen uns ja bereits», sagte Barbara. «Das ist mein Kollege, Herr Cengiz.»

Sie schüttelten sich die Hände.

«Wir würden Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen.» Barbara hob das Kinn. Das war keine Bitte.

«Selbstverständlich.» Herr Kaufmann machte eine einladende Geste. «Meine Frau hat für uns auf der Terrasse ein Znüni vorbereitet. Bitte schön.»

Sie folgten Herrn Kaufmann um das Wohnhaus herum, eifrig verfolgt von dem Chihuahua. Cem warf einen interessierten Blick auf die beiden Wagen, die auf dem Parkplatz neben dem Haus abgestellt waren. Ein weisser Toyota Prius Hybrid und ein schwarzer Volvo CX904x4 mit getönten Scheiben und glänzend wie auf einer Autoausstellung. Wo blieben die guten alten, verbeulten Subarus?, fragte sich Cem.

Die Terrasse war ein Juwel, gesäumt von einem Blumenmeer. Drei riesige Bambuspflanzen in Keramiktöpfen spendeten angenehmen Schatten. Die Lampions und Girlanden vom 1.August hingen noch über dem grossen Tisch.

Ein junger Mann spannte gerade einen Sonnenschirm auf. «Es wird heiss heute», sagte er und kam lächelnd auf sie zu. Ein etwas aufgesetztes Lächeln, fand Cem. «Ich bin Reto Kissling, Noras Freund. Die Frauen holen gerade die Getränke aus der Küche.»

«Barbara Amato.» Sie nickte kurz zur Begrüssung. «Sie waren letzte Nacht hier?», fragte sie.

«Am späteren Abend, ja. Ich habe erst noch mit meinen Parteikollegen angestossen.»

«Reto will kandidieren», bemerkte Herr Kaufmann.

Cem spürte sofort, dass zwischen den Männern eine Spannung lag. Beide Alphamännchen, dachte er. Reto Kissling war gross gewachsen, hatte dichtes braunes Haar und einen männlichen Bartschatten im Gesicht. Die Augen lagen tief, wirkten etwas zu bestechend. Sein Blick erinnerte Cem an den eines Raubvogels: fokussiert und gnadenlos. Da änderte auch das Lächeln nichts daran. Barbara hatte Cem schon tausendmal erklärt, als Ermittler bei der Polizei neutral zu bleiben, nur den Fakten zu folgen und keine Partei zu ergreifen. Auch diesmal hörte er nicht auf Barbara. Cem stellte sich ganz klar auf die Seite des Biobauern.

«Ich kandidiere für den Kantonsrat», sagte Kissling und zeigte auf einen Stapel Flyer auf dem Tisch. «Die wollte ich heute eigentlich verpacken und an unsere Mitglieder senden…»

«SVP.» Herr Kaufmann liess sich nicht das letzte Wort nehmen. Es klang alles andere als begeistert.

«Kantonsrat für die Schweizerische Volkspartei?» Barbaras Neugier war geweckt. «Die Partei der Bauern. Nicht die Ihre, Herr Kaufmann?»

Wie ein Gentleman schob er Barbara einen Stuhl zurecht und bat sie, am Tisch Platz zu nehmen. «Reto und ich verstehen uns gut», sagte er. «Aber auf politischer Ebene sind wir uns uneins.»

«Sie gehören den Grünen an?», riet Barbara.

Herr Kaufmann schob die Hände in seine Jeanstaschen und legte den Kopf schief. «Gut erkannt, Frau Amato.»

«Und trotzdem lassen Sie Herrn Kissling seine Flyer hier verpacken?», fragte Cem.

«Was tut ein Vater nicht alles für seine geliebte Tochter?» Er klopfte Kissling auf die Schulter. «Abgesehen von der politischen Einstellung ist Reto ein guter Junge. Lehrer halt. Die gehen manchmal mit Scheuklappen durch die Welt.»

«Vati, musst du Reto immer provozieren?» Eine junge Frau trat durch die Verandatür auf die Terrasse. Sie trug eine grosse Silberplatte in den Händen und stellte sie auf dem Tisch ab: Käse, Schinken, Speck, kunstvoll mit Gemüse und Früchten dekoriert.

«Wow, das sieht toll aus», rief Barbara aus.

«Bioprodukte von unserem Hof», sagte Herr Kaufmann.

«Ist noch etwas übrig geblieben vom gestrigen Puurezmorge. Greifen Sie also bitte zu.»

Barbara und Cem bedankten sich.

«Und das ist meine Tochter Nora», sagte Herr Kaufmann.

Die Tochter schien Händeschütteln zu meiden. Sie trat einen Schritt zurück und nickte stattdessen. Hier lag der Fehler im Klischee der perfekten Biobauern-Familie: Nora war anders. Definitiv. Cem ging direkt auf sie zu und streckte ihr seine Hand so lange entgegen, bis sie sie nehmen musste. Ihr Händedruck war provozierend kräftig.

«Ich bin Cem Cengiz, Ermittler bei der Luzerner Polizei. Das ist Barbara Amato, die leitende Ermittlerin.»

Die junge Frau, Cem schätzte sie auf gut zwanzig, entzog ihm die Hand und rückte ihre grosse schwarze Brille zurecht, welche ihr zartes Gesicht dominierte. Sie hatte sehr lange, gerade dunkelbraune Haare, welche sie offen trug. Ihre Lieblingsfarbe musste Schwarz sein: schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarzes Lederarmband und schwarzes Tattoo am Innenarm: «Amantes, amentes» stand da in schön verschnörkelter Schrift. Cem machte sich eine mentale Notiz, diesen lateinischen Spruch zu googeln. Das einzige nicht Schwarze an Nora war das neutrale Lipgloss, dieses wurde noch von dem Piercingring in der Unterlippe überstrahlt.

Der Chihuahua tänzelte um Noras Füsse herum und quietschte schrecklich. Sie hob ihn hoch und drückte ihm einen Kuss auf das Fell. «Braucht ihr mich hier?», fragte sie ihren Vater.

«Verraten Sie uns denn, wo Sie heute Morgen zwischen fünf und sechs Uhr waren?», übernahm Barbara forsch das Gespräch.

«Im Bett, wo sonst?», sagte Nora. «Ich habe geschlafen. Reto war bei mir.» Sie blickte ihren Freund an, der noch immer die Stange des Sonnenschirmes umklammerte.

Ay, dicke Luft, dachte Cem. Ein Liebespaar sah anders aus.

«Können Sie das bezeugen?», fragte Barbara. Auch ihr war die aufgeladene Spannung zwischen den beiden nicht entgangen.

«Ja», sagte Kissling ohne den Blick von Nora zu wenden.

«Kinder!», mischte sich Herr Kaufmann ein. «Jetzt ist aber genug.» Er legte den Arm um seine Tochter. «Die beiden hatten gestern eine hitzige Diskussion über Mode, müssen Sie wissen.» Er grinste schelmisch.

Nora wand sich aus der Umarmung ihres Vaters. «Ich bin Reto nicht spiessig genug.»

Kissling schüttelte den Kopf. «Wir haben Hochsommer, und alles, was ich sehe, ist schwarz. Da muss man ja depressiv werden.»

«Und wie Sie sehen», sagte Herr Kaufmann kopfschüttelnd, «ist die Debatte noch nicht ausgestanden.»

«Sollte ich nicht herunterkommen, um mit der Polizei über den Mann zu sprechen, der von Spartacus zu Tode getrampelt wurde?», fragte Nora und rückte ihre Hornbrille zurecht. «Alles andere geht niemanden etwas an.» Sie drückte den Chihuahua enger an ihre Brust.

Eigensinnig und starrköpfig war diese Nora auf jeden Fall, dachte Cem. Verschlossen und düster. Definitiv. Ausnahmsweise musste er diesem Reto Kissling recht geben. Leider. Etwas Farbe würde dem Mädchen guttun.

«Da haben Sie recht», sagte Barbara. «Sie haben heute früh nichts Verdächtiges gesehen oder gehört?»

Nora zupfte mit den Zähnen an ihrem Piercingring in der Unterlippe. «Wie denn, wenn ich geschlafen habe? Ich kann Ihnen bestimmt nicht weiterhelfen. Und ich kenne keinen Chinesen– nicht persönlich.»

Cem blickte sich in der Runde um. Erstaunte Gesichter– ausnahmslos. «Woher wissen Sie, dass der Mann Chinese ist?»

Nora zuckte halbherzig mit den Schultern. «Wir leben hier auf dem Land. Da sprechen sich Neuigkeiten rasch rum.»

«Das war nicht die Frage von Herrn Cengiz», mischte sich jetzt Barbara ein. Ihr Tonfall scharf.

Nora wich einen Schritt zurück. «Ähm, Benno hat mich vor zehn Minuten angerufen. Er weiss es von Imboden. Und der hat mit Ihrem Gerichtsmediziner gesprochen.»

«Weshalb hat Benno dich angerufen?», fragte Kissling. Seine geierartigen Augen fokussiert.

Eifersüchtiger Kontrollnerd versus unbeugsamer Gothicfreak, dachte Cem, was für eine Paarung.

«Benno und ich sind nur Freunde», schnaubte Nora. «Wir haben neun Jahre zusammen die Schulbank gedrückt. Da darf man doch telefonieren? Oder verstösst das gegen die Sitten der braven Bürgerpartei?»

«Was hat jetzt die SVP damit zu tun?», motzte Kissling zurück.

«Kinder! Genug», sagte Herr Kaufmann.

«Darf ich jetzt gehen?», fragte Nora zähneknirschend.

«Ja, danke», sagte Barbara.

So schnell gab sie auf, wunderte sich Cem.

Nora, noch immer den Hund auf dem Arm, verschwand im Haus ohne sich zu verabschieden.

Herr Kaufmann seufzte. «Sie müssen meine Tochter entschuldigen. Fremde kommen nur schwer an sie heran. Sie ist sehr verschlossen. Und was heute Morgen vorgefallen ist, hat niemanden von uns kaltgelassen. Und dann noch der Streit mit Reto…»

«Sie macht es mir nicht immer leicht», entgegnete Kissling und setzte sich an den Tisch.

«Du musst ihr ihre Freiheit lassen, Reto. Nora ist, wer sie ist. Versuche nicht, sie zu ändern.»

«In einer Beziehung muss man aufeinander zugehen. Doch Nora zieht stur ihre Ansichten durch.»

Herr Kaufmann lachte und klopfte Kissling auf die Schulter. «Das kenne ich, glaube mir. Ihre Mutter war genauso.– Wenn Sie mich jetzt bitte kurz entschuldigen, ich gehe meiner Frau etwas zur Hand. Man soll dem Partner ja entgegenkommen, nicht wahr, Reto?»

Der sass.

Kaum war Herr Kaufmann im Haus verschwunden, räusperte sich Kissling. Ihm schien etwas auf der Zunge zu liegen. «Wissen Sie schon, was geschehen ist? Ich meine, der Mann war nackt, wie mir Hanspeter erzählt hat. Ist das nicht seltsam? Ein Pädophiler?»

«Wir dürfen keine Informationen über die laufenden Ermittlungen preisgeben», sagte Barbara. «Sie waren die letzte Nacht hier? Haben Sie den Hof verlassen?»

Kissling griff nach einer Schinkenrolle. «Ich habe die Nacht durchgeschlafen wie ein Baby. Rotwein hat diese Wirkung auf mich. Am Morgen machte ich dann eine Runde mit Bigboy.»

«Bigboy?», fragte Cem.

«Der Hund», sagte Kissling.

«Um welche Zeit war das?», fragte Barbara.

«So um halb sieben. Kurz vor sieben war ich zurück. Dann hat auch schon die Polizei angerufen.»

«Und Sie haben nichts Verdächtiges gesehen oder gehört?», fragte Barbara.

«Nein. Ich habe auch einen anderen Weg eingeschlagen und bin nicht an der Weide am Teich vorbeigekommen.»

Barbara holte einen Notizblock aus ihrer Tasche und notierte einige Zeilen. «Sie wohnen in der Nähe?»

«In Beromünster. Ich bin eigentlich jedes Wochenende hier. Nora übernachtet nicht gern in meiner Wohnung.»

«Sie sind schon lange zusammen?»

«Ein halbes Jahr. Und eigentlich läuft unsere Beziehung gut. Manchmal gibt es halt Meinungsverschiedenheiten. Wir sind eben sehr verschieden.»

«Woher kennen Sie sich?», fragte Cem. Beziehungen waren sein Fachgebiet.

«Von der Fasnacht. Wir sind am Umzug in Sursee nebeneinandergestanden.» Kissling lehnte sich im Stuhl zurück. «Ich war als Teufel verkleidet. Und Nora als schwarze Hexe, dachte ich jedenfalls.» Er grinste. «Erst nach der Fasnacht habe ich festgestellt, dass sie immer solche Kleider trägt. Aber da hatte ich mich schon in sie verliebt.»

«Und beruflich», fragte Barbara. «Sie arbeiten als Lehrer?»

«Sekundarlehrer in Beromünster.»

«Gut.» Barbara legte den Stift weg. «Entschuldigen Sie, dass wir das alles fragen. Reine Routine.»

In diesem Moment trat Herr Kaufmann auf die Terrasse. Eine zierliche Frau folgte ihm. Eine Thailänderin. Sie stellte ein Tablett mit einer Kanne Kaffee und Porzellantassen auf den Tisch und lächelte.

Cem und Barbara standen auf und reichten der Frau die Hand. Sie war nicht mehr jung, Ende vierzig, vermutete Cem. Sie trug ein langes grünes Sommerkleid, die schwarzen Haare fielen ihr bis über die Schultern. Ihr sympathisches Lächeln überstrahlte die etwas schiefe Zahnstellung. Sie sprach ein gutes, wenn auch nicht akzentfreies Deutsch. «Bitte setzen Sie sich doch. Ich bin Anong. Mein Mann hat mir erzählt, was auf der Weide geschehen ist. Schlimm ist das.»

Herr Kaufmann stellte vier Flaschen auf den Tisch. «Trinken Sie gern Kaffee oder lieber einen kühlen sauren Most? Alkoholfrei natürlich.»

«Eigenproduktion?», fragte Barbara.

«Selbstverständlich.» Herr und Frau Kaufmann setzten sich zu ihnen an den Tisch. «Bitte, greifen Sie zu. Das wird bestimmt ein langer Tag.»

«Wir wollen Sie nicht lange aufhalten», sagte Barbara und griff nach einer Flasche Most. «Sie waren beide heute Morgen auf dem Hof? Haben Sie etwas Verdächtiges gehört oder gesehen?»

«Wir waren hier», sagte Herr Kaufmann. «Ich habe fünf Milchkühe im Stall stehen sowie zwei Pferde und die Schafe, die versorgt werden müssen. Ich bin um sieben aufgestanden, wie jeden Morgen. Dann kam auch schon Ihr Anruf, und ich bin sofort zur Weide gefahren. Benno und Herr Imboden hatten Spartacus bereits eingefangen.»

«Und Sie, Frau Kaufmann?», fragte Cem, der sich von Anong eine Tasse Kaffee einschenken liess.

«Ich stehe immer mit meinem Mann auf. Um sieben. Dann kümmere ich mich um die Blumen und den Garten und danach mache ich auf der Terrasse eine halbe Stunde Tai-Chi. Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.»

«Einen wundervollen Garten haben Sie», bemerkte Barbara.

Cem wollte sich gerade ein Stück Käse in den Mund schieben, als er am Schienbein gekratzt wurde. Der Chihuahua hatte sich unbemerkt angepirscht und bettelte um Futter.

«Oohoo, Lin-djii!», rief Frau Kaufmann aus. «Bpaakwáan! Lin-djii, màidàai! Entschuldigen Sie bitte den Hund. Er ist gierig.» Sie hob den Chihuahua hoch und setzte ihn sich auf den Schoss.

«Kein Problem», sagte Cem. «Sagen Sie, wurde im Wauwilermoos letzte Nacht gefeiert? Gab es Partys?»

Herr Kaufmann nickte. «Überall gab es Feuerwerke. Die Gemeinde organisiert wie jedes Jahr das Feuer auf dem Santenberg. Man sitzt mit Freunden zusammen, grilliert. Mir ist nichts Aussergewöhnliches aufgefallen.»

Barbara stellte die Mostflasche hin und griff nach einem Stück Hobelkäse. «Was ist mit Ihrem Vieh? Ist Spartacus aggressiv?»

«Nein, nicht wirklich. Etwas muss ihn wütend gemacht haben.» Herr Kaufmann rieb sich die Stirn. «Keine Ahnung, was. Er muss sich bedroht gefühlt haben und wollte wohl seine Herde vor dem Mann beschützen.»

«Kann ein einzelner Mensch einen Bullen bedrohen?», fragte Barbara.

«Wenn er die Kühe und Kälber aufscheucht, mit Steinen wirft, aggressives Verhalten zeigt, provoziert– ja, vielleicht.»

«Kennen Sie Chinesen in der Gegend?», wechselte Barbara das Thema.

«Der Tote war Chinese?», fragte Anong.

Barbara nickte und schob sich den Hobelkäse in den Mund.

«Chinesen in Wauwil? Nein», sagte Herr Kaufmann. «Wir haben Albaner, Türken, Tamilen, aber nein, keine Chinesen. In Sursee leben ein paar chinesische Familien. Auch meine TCM-Ärztin. Sie sollten Sie fragen. Ihr Name ist Bai-Yun Huang. Sie kennt alle Landsleute in der Gegend.»

«Guter Tipp.» Barbara stand auf. «Wir werden Sie jetzt vorerst in Ruhe lassen. Und vielen Dank für das herrliche Znüni.»

DREI

18.Oktober 2012– Die Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, an der Interdepartementalen Konferenz zum Europäischen Tag gegen den Menschenhandel:

Sehr geehrte Damen und Herren Botschafter, geschätzte Gäste und Anwesende,

die Begegnung mit der neunzehnjährigen Frau, die nach einer über einjährigen Odyssee durch Europa nach Rumänien zurückgekehrt ist, werde ich nie mehr vergessen. Die Frau wurde mit falschen Versprechen von einem Bekannten ins Ausland gelockt und dort zur Prostitution gezwungen. Ohne Papiere, ohne Möglichkeit, mit jemandem Kontakt aufzunehmen, täglich bedroht, geschlagen und in ihrem Innersten zerstört, wurde sie von Ort zu Ort verschoben. Meist wusste sie nicht einmal, in welchem Land sie sich befand. Heute lebt die Frau wieder in Rumänien– versteckt, verstört, traumatisiert– in täglicher Angst, dass ihre Peiniger sie finden könnten. Wird sie je wieder irgendjemandem vertrauen können?

Meine Damen und Herren, jede Gesellschaft hat ihre blinden Flecken. Der Menschenhandel ist ein solch blinder Fleck in unserer Gesellschaft.

Menschenhandel findet im Verborgenen statt, wir sehen ihn nicht, wir nehmen ihn kaum wahr. Aber Menschenhandel existiert sehr wohl– und zwar mitten unter uns, in unserem wohlhabenden Rechtsstaat. Opfer von Menschenhandel gibt es nicht nur in den Städten, sondern auch in den Agglomerationen, entlang der Verkehrsachsen und auf dem Land.

Eva Roos schenkte sich die restlichen zweieinhalb Seiten des Ausdruckes dieser Rede. Sie hatte damals, im Oktober 2012, persönlich im Saal sitzen dürfen. Eine gute Rede der Bundesrätin und ehrlich gemeint. Verändert hatte sich seither wenig. Das Handeln mit der Ware Mensch war nicht nur ein sehr lukratives Geschäft, sondern auch ein höchst risikoarmes. Es florierte mehr denn je.

Eva rieb sich die Augen und starrte auf die kleine digitale Uhr unten rechts auf dem Bildschirm ihres Laptops. Es war zehn Uhr. Ein schöner Samstagmorgen, aber ziemlich verschlafen. Eva blickte aus dem Fenster auf den Vierwaldstättersee hinunter. Das Wasser glitzerte fast golden in der Morgensonne. Sie unterdrückte ein Gähnen. Viel zu lange sass sie schon an ihrer Doktorarbeit. Alain würde jeden Moment in ihr Arbeitszimmer schleichen, in seinem neuen Superman-Pyjama, der ihm noch zwei Nummern zu gross war, mit einem Kissenabdruck auf der Wange und dem Pinguin unter dem Arm. Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln.