Der Himmel über den Alpen - Monika Mansour - E-Book
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Der Himmel über den Alpen E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Ein ungewöhnlicher Liebesroman, temporeich, gefühlvoll, leidenschaftlich. In einem Sanatorium in den Berner Alpen lassen sich vermögende Patienten mit psychischen Problemen diskret behandeln. Die quirlige Sunshine leidet unter der Misshandlung ihrer italienischen Mafiafamilie. Rainman, erfolgreicher koreanischer Popstar, ist mit einem tragischen Geheimnis belastet. Beide lassen sich am selben Tag einliefern – und entdecken hier, in ihrer Heimat, wo sie als Kinder glücklich waren, nicht nur eine neue Liebe, sondern finden auch die Kraft, ihre Zukunft neu zu schreiben.

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar und war Tätowiererin. 2014 erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende findet sich ein Glossar.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Motive von shutterstock.com/Andrea Ambrosino, shutterstock.com/TWINS DESIGN STUDIO

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-105-8

Roman

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Für das Leben – für dich

LIFE

isn’t about

waiting

for the STORM to pass …

It’s about

learning

to DANCE in the

RAIN.

Vivien Greene, Autorin (1904–2003)

Prolog

Sie tanzte in der Hitze der Mittagssonne, während er mit dem Regen weinte.

Ohne Hoffnung standen sie auf den Dachterrassen des hufeisenförmigen Sanatoriums im Berner Oberland, ein imposantes Bauwerk, über einhundert Jahre alt, frisch renoviert, mit einer Fassade in Weiß, grünen Fensterläden und einem Ziegeldach in Rot. Die beiden Dachterrassen befanden sich je am äußeren Ende des Ost- und Westflügels.

Das Sanatorium thronte einsam inmitten der Natur am Hang. Es glich einem malerischen Bild aus einem Märchenbuch: der geteilte Himmel, die Alpen im Hintergrund – Eiger, Mönch und Jungfrau mit ihren schneebedeckten Gipfeln –, die Wiese, die sich um das Sanatorium erstreckte, und weit unten der Brienzersee. Eine Serpentinenstraße führte von Iseltwald zu der Kurklinik, die Patienten vorbehalten war, die sich Ruhe, Erholung und medizinische Betreuung an diesem exklusiven Ort leisten konnten.

Die Frau stand auf der Terrasse des Ostflügels im Sonnenschein. Ihr Herz flatterte wie die bunten Stoffe, die ihren schlanken Körper umschmeichelten. Sie blickte hoch in den tiefblauen Himmel und bemerkte seinen Blick nicht, der starr auf sie gerichtet war, ohne sie wahrzunehmen.

Die Spitzen seiner schwarzen Lederschuhe ragten über die Kante der Mauer. Der Mann stand unter dem düsteren Wolkenhimmel auf der Terrasse des Westflügels. Regentropfen, schwerer als das Universum selbst, versuchten vergebens, sich an den Lederschuhen festzuklammern, bevor sie in der Tiefe verloren gingen.

Für Sunshine und Rainman war das Leben kein Märchen, es war ein Alptraum. Das Schicksal hingegen meinte es gut. Es schenkte ihnen an diesem wechselhaften Tag etwas Wertvolles …

Zeit.

Sekundenbruchteile vor dem Fall stürmten die Betreuer des Ost- und Westflügels auf die Dachterrassen.

Sunshine drehte sich wie ein Wirbelwind im Kreis. Der leichte Stoff ihres Sommerkleides tanzte mit ihr eine Salsa. Sie lachte, breitete die Arme aus, war entschlossen, auf dem Wind in den Abgrund zu reiten. Sie war nicht schnell genug. Ein Betreuer erwischte ihr Handgelenk und zog sie vom Tod zurück.

Rainmans Hände steckten in den Taschen seines schwarzen Anzuges. Die Augen waren geschlossen. Der Regen im Gesicht kaschierte die einzelne Träne, die sich ihren Weg aus seinem Augenwinkel erkämpfte. Er stand wie die letzte Note einer Ballade in e-Moll auf den Zehenspitzen, der Schwerkraft folgend, die ihn in den Abgrund ziehen würde. Er war nicht schnell genug. Ein Betreuer erwischte seinen Gürtel und zog ihn ebenfalls vom Tod zurück.

Sie bekamen vom Schicksal die Zeit geschenkt, ihr Leben zu ändern, aber sie hatten keine Ahnung, welche schicksalhafte Zukunft vor ihnen lag …

1

Professor Bernard starrte auf die beiden Akten, die ausgebreitet auf seinem Arbeitstisch lagen. Mit einem Ohr hörte er dem Wetterbericht im Radio zu: bewölkt, mit sonnigen Abschnitten und kurzen, heftigen Regenschauern, so war das Wetter in den Bergen, selbst mitten im Sommer.

Er tippte mit dem Finger auf die Akte von Anna Morrone, siebenunddreißig, eine Bernerin, aufgewachsen in Iseltwald, aber seit bald zwanzig Jahren wohnhaft in Italien. Verheiratet. Ein komplexer Fall und nicht ihre erste Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Er würde sein Bestes geben, ihr zu helfen.

Langsam neigte der Professor den Kopf und studierte die andere Akte. Tae-poong Kim, Künstlername Taifun. Vierunddreißig. Schweizer-koreanischer Doppelbürger. Aufgewachsen in Interlaken. Er war zwölf, als er seinen Vater verlor und mit seiner Mutter nach Südkorea zog. Ein schwieriger Fall, über den der Professor nur wenig Informationen besaß. Bisher hatte sich Tae-poong Kim nie in psychiatrische Behandlung begeben. Der Professor war entschlossen, auch diese Herausforderung anzunehmen.

Er war stolz darauf, von sich behaupten zu können, jedem Gast, der seine exklusive Privatklinik besucht hatte, geholfen zu haben. Sein Sanatorium war der ideale Rückzugsort für gequälte Seelen aus der ganzen Welt, denen Diskretion ebenso wichtig war wie die Heilung ihrer psychischen Eigenarten. Nur ungern sprach der Professor von Krankheit. Sein Sanatorium, das rund dreißig Patienten und Patientinnen Erholung bot, war nicht zu vergleichen mit der Luxus-Rehaklinik Paracelsus an der Goldküste Zürichs, dem Meadows in Arizona oder dem The Priory in Großbritannien, welche den Milliardären vorbehalten waren. Sein Sanatorium war für jene Gäste ausgelegt, die Normalität in ihrem Leben suchten. Wohl waren die Suiten groß, aber dennoch bescheiden eingerichtet. Gruppentherapien und Gemeinschaftsräume wirkten der Isolierung entgegen, in die sich Milliardäre, Millionäre, Mitglieder königlicher Familien, Personen des öffentlichen Lebens oder andere Stars und Berühmtheiten aus Angst flüchteten. Es war untersagt, eigenes Personal mitzubringen, keine eigenen Haushälterinnen, Köche oder Personal Trainer. Diejenigen, die hierherkamen, wollten ihr Glück wiederfinden. Sie suchten nach einem familiären Umfeld, um ihre Wunden heilen zu lassen.

Dennoch, Diskretion war nur garantiert, wenn in seinem Sanatorium niemand außer ihm und Dr. Tribelhorn, Oberärztin und seine rechte Hand, die echten Namen der Patienten kannte. Deshalb war es Pflicht, bei der Anmeldung ein Alias anzugeben, unter welchem die Gäste angesprochen werden wollten.

»Seltsam«, murmelte der Professor. Selten gab es am gleichen Tag zwei Neueinweisungen. Und noch nie kam es vor, dass ihre Pseudonyme zueinanderpassten.

Er schloss die Akte von Sunshine und jene von Rainman. Ein Blick auf die Uhr bestätigte, dass ihre gemeinsame Zeit im Berner Oberland gleich beginnen würde. Um zwölf Uhr sollten sie an diesem Montag, Mitte Juli, eintreffen.

Der Professor hörte in der Ferne die Rotoren des Helikopters und beschloss, sich zum Empfang zu begeben, wo eine breite Fensterfront den Blick in das Tal freigab. Der Himmel war bedeckt, keine Sonne, die sich zeigte, kein Regen, der fiel.

Eine schwarze Limousine mit italienischem Kennzeichen fuhr die Serpentinenstraße hoch. Der Professor beobachtete, wie ein Helikopter aus den Wolken zu fallen schien und am Gebäude vorbei zum Landeplatz flog. Der Wind peitschte ihn hin und her wie einen Tennisball. Endlich setzte er auf. Die Tür ging auf, und ein junger Mann in einem dunklen Anzug stieg aus. Ein Begleiter folgte ihm. Das musste Rainman sein. Noch konnte der Professor sein Gesicht nicht erkennen, aber der junge Mann kam mit energischen Schritten und gerader Körperhaltung auf das Sanatorium zu.

Neugierig schaute der Professor hinüber zu der Limousine, die auf dem Vorplatz parkte. Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau stieg aus. Sie lächelte, streckte die Arme in die Höhe, atmete tief durch und band sich ihre langen blonden Haare mit einer geschickten Handbewegung am Hinterkopf zusammen. Sie trug ein gelbes Sommerkleid mit rosafarbenem Blütenmuster. Das Oberteil war tief ausgeschnitten, der Rock kurz und zeigte ihre schlanken Beine. An den Füßen trug sie hohe Riemensandalen. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Chauffeur, ein Bär von einem Mann, der ihr die Handtasche reichte, und tänzelte auf den Eingang zu.

Ein seltsames Paar, dachte der Professor. Gegensätzlicher hätten die neuen Patienten nicht sein können. Sie kamen nebeneinander die wenigen Stufen hoch, die zu den beiden breiten Flügeltüren in der Glasfront beim Eingang führten. Sunshine und Rainman nahmen keine Notiz voneinander, doch bereits nach der dritten Stufe hatten sich ihre Schritte synchronisiert.

Als sie das Sanatorium betraten, riss der Himmel über den Berner Alpen auf und ließ gleißende Sonnenstrahlen passieren, während sich hier die schweren Regenwolken entluden. Sunshine und Rainman sahen den Regenbogen nicht, der hinter ihnen eine Brücke schlug.

So kurz, wie sie sich begegneten, so schnell trennten sich ihre Wege erneut. Die Stationsleiterin des Ostflügels, des Frauentrakts, nahm Sunshine in Empfang und führte sie zu ihrer Suite. Der Chauffeur brachte ihr die drei schweren Koffer nach.

Der Stationsleiter des Westflügels, des Herrentrakts, begrüßte Rainman und zeigte ihm den Weg zu seiner Suite. Sein Begleiter aus dem Helikopter eilte ihnen mit einer Sporttasche und einer Gitarre hinterher.

»Das sind also unsere beiden Neuzugänge«, sprach der Professor vor sich hin und massierte seinen grau melierten Bart. »Interessant, interessant.« Wie üblich hatte er sich beim Empfang zurückgehalten. Seine Gäste sollten erst einmal in Ruhe ankommen. Zeit für Gespräche blieb später genug.

***

Rainman stand am Fenster und starrte hinaus in die Landschaft, die ihm mehr als vertraut war. Genau so hatte er sie in Erinnerung, seine Heimat. Ein Ort, an dem die Zeit dahinplätscherte, im Gegensatz zur pulsierenden Millionenmetropole Seoul. Hier würde er seinen Frieden finden. Er war zu Hause, nach über zwanzig Jahren.

Traurigkeit hüllte ihn ein wie ein Leichentuch, das er sich nicht vom Leib reißen konnte. Seine rechte Hand hatte die Vorhänge zur Seite gezogen, und noch krallten sich seine Finger an dem Stoff fest. Er atmete schwer. Seine Schultern waren verkrampft, den Kopf trug er gesenkt. Seine schwarzen Haare fielen ihm in die Stirn. Er drehte sich langsam um. Sein Gesicht war das eines Jungen, zart, und die Haut bleich und ohne Makel, eine Schönheit, die er sich teuer erkauft hatte. Auch wenn er sich dank seines Genmixes und perfekter Gesichtssymmetrie hatte vor Schönheitsoperationen drücken können, so waren die routinemäßigen Gesichtsbehandlungen oft eine Tortur gewesen. Alltag in Südkorea, nicht nur für einen Superstar.

Gerade wegen seines speziellen Looks war er beliebt. Für einen Koreaner waren seine Kieferknochen ausgeprägt und die asiatischen Augen trotz des Monolides groß. Es waren die Augen seiner Mutter, schöne Augen, die das Leiden seiner Seele nicht mehr verbergen konnten.

»Es ist unheimlich ruhig hier oben«, sagte Jun-ho, sein Assistent und Freund, der unschlüssig neben dem Bett stand. Er unterhielt sich mit Rainman auf Koreanisch. »Ich habe für die nächsten Wochen ein Zimmer in der Pension Seeblick weiter unten gemietet. Wenn du etwas brauchst, ruf mich an. Meine Handynummer hier in der Schweiz habe ich in deinem Smartphone gespeichert.«

»Du verabscheust das Landleben.« Rainmans Gesicht fühlte sich wie das einer Wachsfigur an: ausdruckslos.

»Abstand zu Seoul tut auch mir gut. Für einmal muss ich mir keine Sorgen um die Feinstaubbelastung machen. Aber das Essen wird eine Herausforderung. Kimchi-Eintopf und Bibimbap gibt es hier wohl nicht.«

»Probiere ein Fondue – wenn du es im Sommer bekommst. Für Touristen gibt es das vermutlich während des ganzen Jahres.«

»Fondue. Ich werde es mir merken. Soll ich deine Tasche auspacken?«

Rainman deutete ein Nein an.

Unschlüssig knetete sich Jun-ho die Finger. »Gut, dann werde ich gehen. Kommst du hier oben zurecht? Die Luft ist dünn.«

»Geh schon.«

Jun-ho verbeugte sich, zögerte und verließ ohne ein weiteres Wort die Suite.

Rainman griff nach der Gitarre und verstaute sie im Schrank. Er riss den Reißverschluss der Sporttasche auf und leerte den Inhalt aufs Bett. Viel hatte er nicht eingepackt, nur Sportkleidung und einen Schlafanzug und den einen schwarzen Anzug, den er trug. Besitztum war wertlos geworden. Er hatte eine ganze Villa voller Luxusschrott in Seoul zurückgelassen. Nichts davon konnte er mitnehmen, dort, wo er hingehen wollte.

Rainman warf sich rücklings aufs Bett, streckte die Arme seitlich aus und fiel in diese komatöse Starre, in die er seit Februar oft verfiel. Warum konnte er seinem Körper nicht befehlen, das Herz-Kreislauf-System auszuschalten oder die Gehirnaktivität einzustellen?

***

Das war neuer Rekord. Lisi brachte das zweite Tablett mit Essen auf die Suite, da im Speisesaal das Mittagsbuffet längst abgeräumt war. Sie klopfte an und trat ein.

»Ist das meine Bauernbratwurst mit der Berner Rösti?« Sunshine hüpfte barfuß durch die Zwei-Zimmer-Suite und roch an dem Essen, das Lisi ihr auf den Salontisch stellte. Sie hatte zuvor bereits eine Portion Spaghetti Vongole gegessen. »Hmmm.« Sie inhalierte den Duft der Wurst mit einer dramatischen Geste, so als stünde sie auf einer Theaterbühne vor Publikum. »Ich rieche die Heimat. Ist das nicht traumhaft? Lisi, richtig? Lisi, kommen Sie her, schauen Sie aus dem Fenster. Diese Aussicht ist phantastisch. Sehen Sie da, weit unten, das kleine Dorf auf der Halbinsel im Brienzersee? Das ist Iseltwald. Da bin ich aufgewachsen. Können Sie sich das vorstellen? Ich bin zurück. Ja, ich bin daheim, endlich, nach bald zwanzig Jahren. Ich liebe es, liebe es! Aber«, sie packte abrupt Lisis Arm, »wird es hier oben nicht schrecklich langweilig? Was machen wir am Abend? Kann man tanzen? Da drüben, der andere Flügel des Sanatoriums, da sind die Männer einquartiert, richtig? Sind auch ein paar prachtvolle Kerle darunter?«

Lisi starrte in die türkisblauen Augen von Sunshine, die Berndeutsch sprach. »Na ja, die Männer hier sind nicht … ähm … der Professor wünscht sich Ruhe und Erholung für die Gäste im Sanatorium. Es gibt ein Spiel- und Lesezimmer, einen Fitnessraum, wir haben eine Yogalehrerin im Hause, und es gibt einen Hobbyraum und eine kleine Werkstatt. Ah, und natürlich den großen Saal für besondere Anlässe.«

»Mamma mia, ich wusste es. Langweilig und öde.« Sunshine sprang aufs Bett und hüpfte im Kreis wie ein kleines Kind. »Egal. Ich mache meine persönliche Party. Ich bin frei, nicht? Ich bin zu Hause, ja, das bin ich.«

»Bitte, kommen Sie vom Bett herunter. Sie verletzen sich noch.«

»Lisi, ich weiß, ich bin schwierig. Sie werden es nicht leicht mit mir haben. Aber Spaß darf zwischendurch sein, nicht? Kommen Sie, kommen Sie hoch aufs Bett, es ist groß genug für uns beide. Bitte, lassen Sie uns das Leben in diesem Moment genießen, es kann so unberechenbar sein.«

Lisi verwarf die Hände, atmete tief durch und setzte sich wartend auf die Bettkante.

***

»Ich kann Sie beruhigen, bei uns ist Ihre Frau in guten Händen.« Der Professor mochte es nicht, wenn Familienangehörige sich aufdrängten, doch der Anrufer ließ sich nicht zurückweisen.

»Tony wird bei ihr bleiben«, sagte Andrea Morrone, der Gatte von Sunshine. Er sprach ein gutes Hochdeutsch mit stark italienischem Akzent. »Tony ist ihr Bodyguard und Fahrer und wird meine Frau im Auge behalten. Er hat in der Pension Seeblick ein Zimmer gemietet und wird täglich nach ihr sehen. Wenn es Probleme gibt, und die wird es mit Anna geben, rufen Sie ihn unverzüglich an.«

Der Professor stimmte nur ungern zu, hielt es im Augenblick aber für die beste Strategie, und verabschiedete sich von Morrone.

»Ärger?«, fragte Dr. Tribelhorn, die auf einem Stuhl saß und sich ihr braunes, kinnlanges Haar hinters Ohr strich. Sie schob die schwarze Hornbrille auf der Nase zurecht. Auf dem Schoß hielt sie ihren Laptop, bereit, die ersten Vorgehensweisen betreffend die neuen Patienten mit dem Professor zu besprechen.

»Druck von der Familie fördert keine Behandlung, will man eine verletzte Seele heilen.«

»Italienische Sippen sind patriarchal ausgerichtet, vor allem die aus Kalabrien.«

»Ich habe Ihre Andeutung überhört.« Dr. Tribelhorn war oft klüger, als gut war. Sie war eine brillante Psychiaterin und Psychologin, der es manchmal leicht an Mitgefühl mangelte. Dafür war sie unvoreingenommen, wenn es darum ging, eine Diagnose zu stellen.

Der Professor stand von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster. Er beobachtete, wie dieser Tony die Limousine mit dem italienischen Nummernschild startete und in die erste Kurve lenkte.

»Sunshine spricht perfektes Berndeutsch«, sagte Dr. Tribelhorn.

»Natürlich«, sagte der Professor. »Sie ist in Iseltwald aufgewachsen, hat ihre Eltern aber früh verloren.«

»Familienangehörige?«

»Eine jüngere Schwester. Sie lebt ebenfalls in Italien. Und eine Tante in Iseltwald, soweit ich informiert bin.«

»Was ist mit dem Südkoreaner? Er hat sich kurzfristig bei uns angemeldet. Wie ist sein Englisch? Brauchen wir einen Übersetzer?«

»Er spricht auch Schweizerdeutsch.«

»Tatsächlich?«

»Die Mutter ist Südkoreanerin, der Vater war Schweizer. Rainman besuchte die Schule in Interlaken, wo er aufwuchs. Nach dem Tod seines Vaters zog seine Mutter mit ihm nach Seoul.«

Dr. Tribelhorn drehte einen Stift zwischen ihren Fingern. »Scheint so, als seien beide angekommen. Es geht nichts über die Erholung in der wunderschönen Heimat. Bereiten wir heute Abend die übliche Willkommenszeremonie im großen Saal vor?«

»Ja. Aber halten Sie die Zeremonie bescheiden. Rainman bekommt anscheinend seit ein paar Monaten Panik, wenn er vor einem Publikum steht.«

»Ein K-Pop-Star mit Panikattacken?« Dr. Tribelhorn schaute auf. »Da glaube ich wohl, dass er bei uns richtig ist.«

Der Professor nickte. »Planen Sie für morgen nach dem Mittagessen je zwei Stunden Zeit für die beiden ein. Wir wollen sie kennenlernen.«

Dr. Tribelhorn klappte ihren Laptop zu. »Das wird ein aufregender Sommer. Eine Mafiabraut und einen Superstar zu betreuen klingt nach spannender Arbeit.«

***

»Sieben Uhr? Lisi, das geht gar nicht.« Sunshine schmollte auf dem Stuhl vor dem Schminktisch.

Lisi schaute auf die Uhr. »Es ist fast acht. Die anderen warten. Im Sanatorium müssen die Gäste um zehn Uhr auf ihren Zimmern sein.«

»Lisi, eine Frau braucht Zeit, sich hübsch zu machen. Die Haare, das Make-up, die Kleider und vergessen wir nicht die Schuhe. Oh, Schmuck! Wo ist meine Schatulle?«

»Gleich vor Ihnen auf dem Tisch.«

»Oh, Sie sind ein Schatz. Was würde ich nur ohne Sie tun? Werden wir gute Freundinnen, ja? Oh bitte, ich brauche eine Freundin. Sie müssen mir sagen, dass ich traumhaft aussehe, das macht sonst Andrea, mein Mann, jeden Tag.«

Sunshine stand auf und betrachtete sich im Spiegel, verzog das Gesicht zu einigen Grimassen und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus. Lisi verstand nicht, was die Geste bedeuten sollte, aber sie würde dem Professor davon erzählen.

»Hätte ich nicht das türkisfarbene Kleid anziehen sollen?«, fragte Sunshine leise, die ihre Selbstsicherheit verloren zu haben schien.

»Sie sehen wunderschön aus in diesem rosafarbenen Kleid mit den Spitzen am Saum. Wir sollten gehen.«

»Nicht drängen. Es gehört zur Etikette einer wahren Königin, den Saal als Letzte zu betreten. Alle Augen werden auf mich gerichtet sein.« Sie strich sich über das platinblonde Haar. »Fallen die Locken weich genug?« Sunshine wirbelte herum. »Man weiß nie, wann man seinem Traumprinzen über den Weg läuft. Bestimmt habt ihr einige gut aussehende Doktoren im Haus.«

»Ähm, nicht wirklich. Suchen Sie denn einen Mann? Ich dachte, Sie sind –«

»Wer sucht nicht nach der einzigartigen Liebe? Die habe ich noch nicht gefunden. Leider bin ich schon seit fast zwanzig Jahren kirchlich und gesetzlich, und ich spreche hier nicht nur von dem staatlichen Gesetz, an meinen Gatten gebunden. Ein Scheusal. Ich hasse ihn.«

»Oh, darüber sollten Sie mit dem Professor reden.«

»Genau!« Sunshine hob den Daumen. »Genau deshalb bin ich hier. Und jetzt los, wir kommen zu spät zu meinem Glanzauftritt.«

Lisi fragte sich, ob Sunshine Drogen im Blut hatte. Aufputschmittel vielleicht. Auch darauf würde sie den Professor aufmerksam machen.

Oje, das ist alles andere als ein Glanzauftritt, dachte Lisi, als sie kurz darauf den Saal betraten. Das Buffet mit dem Abendessen war halb leer gegessen, die Torten angeschnitten und kein einziges Augenpaar auf Sunshine gerichtet. Rund dreißig Patientinnen und Patienten und ein Dutzend Angestellte saßen auf gepolsterten Stühlen um die kleine Bühne herum, auf der ein Mann saß und Gitarre spielte.

»Wir hätten früher kommen sollen«, flüsterte Lisi verlegen in Sunshines Ohr.

»Wer spielt da?« Sunshines blendende Laune war verpufft.

»Das ist der Neue, der heute ankam. Ein Südkoreaner. Ich glaube, er ist Musiker.« Lisi hörte ihm eine Weile zu. Die Melodie, die er spielte, war traurig, bedrückend und melancholisch.

»Der Song ist die reinste Spaßbremse«, beschwerte sich Sunshine. »Ich will tanzen und mich amüsieren.« Entschlossen drückte sie ihre Brust heraus und stolzierte auf die Bühne zu.

Einige Gäste bemerkten sie und starrten sie an. Lisi sah Tränen in deren Augen.

»Eine Stimmung zum Heulen herrscht hier«, sagte Sunshine. Sie blieb vor der Bühne stehen und betrachtete den jungen Mann in seinem schwarzen Anzug, die Gitarre in den Armen, den Kopf gesenkt, komplett versunken in sein Spiel. Er nahm nichts um sich herum wahr, auch nicht Sunshine.

»Hey!«, rief sie. »Hast du keine anderen Töne drauf? Das hier sollte eine Willkommensparty werden, keine Beerdigung.«

Er ignorierte sie und spielte unbeirrt weiter.

Lisi war die Szene unangenehm. Sie hielt im Saal nach dem Professor Ausschau, während sie ebenfalls nach vorne zur Bühne ging.

»Du da! Hör auf zu spielen. Ich ertrage diese Melodie nicht.« Sunshine stürmte auf die kleine Bühne und drehte sich zum Publikum um. »Dio mio, was für ein armseliger Haufen. Gibt es hier keinen DJ? Wo ist die Bar? Ich brauche einen Drink. Kellner? Hallo?«

Erleichtert sah Lisi, wie der Professor von einem Stuhl in der zweiten Reihe aufstand und neben sie trat. »Sunshine, bitte, lassen Sie Rainman sein Stück beenden, danach dürfen Sie sich den Gästen persönlich vorstellen.«

Sie zeigte mit dem Finger auf Rainman. »Dieser Kerl da stellt sich in den Mittelpunkt? Was glaubt er, wer er ist? Ein Popstar? Er singt nicht einmal.«

Rainman spielte seine letzten Akkorde, ließ die Saiten verstummen, stand auf, verließ die Bühne und den Saal.

»Hey, ich rede mit dir! Bleib stehen. Stronzo! Figlio di puttana! Vai a cagare!«

Der Professor nickte Emil zu, der auf die Bühne ging.

Dr. Tribelhorn trat neben Lisi und den Professor. »So hatten wir uns den Abend nicht gewünscht.«

Sie beobachteten, wie Emils muskulöse Arme sanft nach Sunshines Oberarm griffen. Wie eine Furie wehrte sie sich und schrie sich den Teufel aus dem Leib. Die anderen Patienten und Patientinnen berührte das wenig. Sie standen auf, wandten sich ab oder verließen den Saal.

»Eine Beruhigungsspritze?«, fragte Dr. Tribelhorn.

»Scheint unumgänglich. Sunshine wird heute im Überwachungszimmer übernachten, um sich zu beruhigen.«

***

Eine halbe Stunde später klopfte der Professor an die Tür von Rainmans Suite. Da er keine Antwort bekam, trat er unaufgefordert ein. Sein Gast stand vor dem vergitterten Fenster und starrte ins Tal hinunter.

»Ich wollte mich erkundigen, wie es Ihnen geht«, sagte der Professor und schloss die Tür hinter sich. »Ihr kleines Konzert hat dem Publikum gefallen. Danke, dass Sie für uns gespielt haben.«

»Es war das letzte.«

»Das letzte was?«

»Konzert.« Rainman drehte sich um. »Ich werde nie mehr spielen.«

Der Professor schmunzelte. »Nie mehr klingt endgültig.«

»Genau.«

»Ist es wegen Sunshine? Nehmen Sie es nicht persönlich. Sie ist neu bei uns und hat ein schwieriges Leben.«

»Sie ist mir egal.« Rainman trat an den Professor heran. »Ich bin freiwillig hier. Ich habe für vier Wochen bezahlt. In dieser Zeit will ich meine Ruhe. Können Sie mir die garantieren?«

»Die Therapie –«

»Ich will keine Konzerte geben, nicht mit anderen Patienten Karten spielen und vor allem nicht von hysterischen Prinzessinnen angeschrien werden.«

»Hat Sie die Beleidigung wütend gemacht?«

»Weshalb sollte ich wütend sein? Es ist vergeudete Energie. Und jetzt gehen Sie bitte. Ich habe Kopfschmerzen und will schlafen.«

»Haben Sie öfter Kopfschmerzen?«

»Nur wenn ich stronzo genannt werde.« Rainmans Nasenflügel bebten.

»Gut. Ich lasse Sie schlafen. Sie haben eine lange Anreise hinter sich. Emil wird nach Ihnen sehen und Sie morgen um sieben Uhr wecken und zum Frühstück bringen.«

***

Rainman wandte sich ab und trat erneut ans Fenster.

Kaum hatte der Professor seine Suite verlassen, schlug er mit der Stirn gegen den Fensterrahmen. Sein letztes Konzert hatte er vor einem lausigen Publikum gegeben. Wie jämmerlich.

Jämmerlich war auch sein Schlaf in dieser Nacht. Schmerz, Panik und komplette Desillusion wechselten sich mit kurzen Schlafphasen ab, die absolut dunkel und leer waren. Die Ruhe in den Alpen war beängstigend. Er war sie nicht mehr gewohnt.

2

Am nächsten Morgen rieb sich Rainman die brennenden Augen, da er die ganze Nacht an die Decke gestarrt hatte. Er setzte sich im Bett im Schneidersitz hin und blickte aus dem Fenster. Dicke Wolken zogen über die Berghänge. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Wie hatte er glauben können, dass Abstand und Einsamkeit es leichter machten? Wie hatte er glauben können, in seiner Heimat Trost zu finden? Wie hatte er gestern bloß diesen Song auf der Bühne spielen können? Noch fehlte der Text dazu. Rainman ließ seine Stirn auf die Matratze fallen, legte seine Arme über den Kopf und verharrte wie zu einem Kokon zusammengerollt. Er würde nicht als Schmetterling daraus entwachsen. Sein Kokon war seit Monaten von innen heraus am Verkümmern.

Es klopfte an der Tür, und Emil trat ein. »Schön, einen Musiker bei uns zu haben. Ihr Spiel gestern war grandios. Ich muss es wissen. Ich spiele auch in einer Band. Mundartrock, das mag ich, kennt man in Südkorea wohl nicht.« In Plauderlaune strahlte er Rainman an. Emil war groß, stämmig, stark, eine Berner Frohnatur. Er ließ sich durch die Unordnung im Zimmer die gute Laune nicht verderben. »Sie sind bestimmt eine Haushälterin gewohnt. Macht nichts. Vor dem Mittag werden die Zimmer gereinigt.« Er schaute Rainman herausfordernd an, der nach wie vor im Schneidersitz auf dem Bett saß. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten zum Anziehen, dann bin ich zurück.«

Exakt zehn Minuten später stand Rainman umgezogen und geduscht neben der Tür. »Gehen wir«, sagte er zu Emil, ließ diesen stehen und ging vor.

Im Speisesaal suchte sich Rainman einen Tisch in der Ecke, abseits der anderen Gäste. Emil fragte, ob er noch etwas brauche, und verabschiedete sich für den Moment.

Dresscode gab es im Sanatorium keinen, jeder und jede trug, was ihm oder ihr gefiel, die meisten wählten einen bequemen Trainingsanzug oder schlicht T-Shirt und Jeans. Rainman hatte sich für einen dunkelgrauen Sweater und eine schwarze Sporthose entschieden.

Unglücklich starrte er auf die Toastscheibe vor sich auf dem Teller. Er vermisste eine Fischsuppe und Reis zum Frühstück, aber auch die hätte er nicht angerührt.

»Der Platz gefällt mir«, sagte eine Frauenstimme.

Rainman blickte auf, in ein Paar türkisblaue Augen, die strahlten, als gäbe es bloß Glück auf dieser Welt. »Sonst kenne ich hier ja niemanden. Verstehen Sie eigentlich Deutsch? Englisch geht auch.«

Er schaute weg, hinüber zur Tür, über welcher ein grünes Notausgangschild angebracht war. »Wir kennen uns nicht«, sagte er zerknirscht.

»Sie sprechen Berndeutsch? Das macht es unkompliziert. Natürlich kennen wir uns. Haben Sie schon vergessen, gestern standen wir gemeinsam auf der Bühne.«

»Sie haben meinen Song ruiniert.«

»Hach, Sie sind nachtragend?« Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. »Wir hätten ein modernes Lied vortragen können. Ich habe eine schöne Stimme. Aber dieser Song, phuuu, den kenne ich nicht, und er verbreitete Weltuntergangsstimmung, und das an unserer Willkommensparty.« Sie fuhr sich mit der Hand über den Unterarm. »Da bekomme ich gleich wieder Gänsehaut.«

»Sie haben mich beschimpft.« Rainman schob den Teller mit dem Toast von sich weg.

»Habe ich?« Sunshine zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich nicht daran erinnern. Das kommt manchmal vor.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Aussetzer. Hier oben herrscht Chaos, sagen zumindest Freunde und Familie. Komisch. Ich fühle mich wunderbar. Ist das Leben nicht schön? Wie heißen Sie? Also mich nennt man hier Sunshine. Ich habe den Namen ausgesucht. Ich mag ihn. Ja, das bin ich, ein Sonnenschein, finden Sie nicht?«

»Sie reden viel.«

»Mamma mia, das haben Sie schön erkannt. Es gibt so vieles, das ich sagen will. Ich bekomme Depressionen, weil ich denke, dass das Leben zu kurz ist, um alles zu sagen, was mir auf der Seele liegt.« Sie griff beherzt nach dem Toast auf Rainmans Teller. »Ich verhungere. Die letzte Nacht war anstrengend. Das Bett ist zu hart für meinen Geschmack.« Sie biss in den Toast und sprach mit vollem Mund weiter. »Für das Geld, das man zahlt, sollte man wirklich einen besseren Service erwarten, nicht? Egal. Er zahlt, und ich bin ihn los.« Mit dem Toast tippte sie sich an die Schläfe. »Dadrin, dadrin ist, ja, was ist dadrin?«

Er musterte ihr Gesicht. Auf eine natürliche Art war es ein schönes Gesicht. Die Nase war eher klein, die Wangen rosig, die Oberlippe schmal, aber die Unterlippe glänzte im Licht der Morgensonne. Ihre Augen waren groß und ließen ohne Filter in ihre Seele blicken, so als sprächen sie direkt mit ihm und hörten nicht auf die Worte, die aus Sunshines Mund sprudelten. Er sah Schmerz in diesen strahlenden Augen und musste unweigerlich wegschauen.

»Ich schätze, kein Arzt der Welt kann definieren, was dadrin abgeht. Anarchie herrscht. Wahnsinn. Aber hey«, sie zeigte mit dem Toast auf ihn, »sagen Sie niemals, dass ich blöd bin. Das bin ich nicht. Ich bin klug. Sehr clever. Oh, ich esse Ihnen das Frühstück weg.« Mit einem Lächeln legte sie das Brot zurück auf den Teller und schob ihn Rainman hin. »Drei Uhr, von da kommen sie, richtig? Hinter meiner rechten Schulter. Mi dispiace, war schön, mit Ihnen zu plaudern, Sie sind ein angenehm stiller Zuhörer, aber ich muss leider ganz schnell weg. Ärger steht an.« Sie stand hastig vom Stuhl auf und warf ihm einen Luftkuss zu. »Ciao, bello.«

Weg war sie, rannte zwischen den Tischen Richtung Seitenausgang, Emil und Lisi hinter ihr her.

Rainman verbrachte den Rest des Morgens in seinem Zimmer. Das Mittagessen ließ er aus. Sein Magen blieb leer. Er fühlte sich schwindlig. Ein Zeichen? Er holte sein Mobiltelefon hervor und blätterte die Bildergalerie durch. Er hatte Fotos von einigen seiner Konzerte gespeichert, von seinen Eltern, von Jun-ho, der sein einziger Freund war, von Herrn Gu, seinem Manager und Mentor, und von koreanischem Essen, das er sich wegen der vielen Kalorien lieber anschaute, als es zu essen. Es gab kein Bild von einer Frau. Er würde kein gebrochenes Herz zurücklassen – von den Halos, wie sich seine Fangemeinschaft nannte, abgesehen.

Er schickte seiner Mutter eine Sprachnachricht, teilte ihr mit, dass es ihm gut ging und er sie vermisse. In Korea war es Abend, sie war um diese Zeit im Fitnessstudio und würde die Nachricht erst später abhören. Er wollte nicht an sie denken, es tat weh. Danach rief er Jun-ho an.

»Wie ist die Pension Seeblick?«

»Einzigartig und gewöhnungsbedürftig, aber sauber, und die Gastgeberin ist freundlich. Allerdings hat sie erwähnt, dass es in den nächsten Tagen ein Problem mit dem Zimmer geben wird. Ich habe eine Honeymoon-Suite für mich allein bekommen, kannst du dir das vorstellen? Und dabei habe ich nicht einmal die Zeit für eine Freundin, wegen des Stresses und vollen Terminkalenders, den ich mit dir habe.«

»Nimm dir ein schickes Hotel in Interlaken.«

»Das ist zu weit weg. Ich bleibe in deiner Nähe, für Notfälle. Man weiß nie, was du anstellst. Hast du gut geschlafen und dich eingelebt? Gefällt dir die Suite? Soll ich am Nachmittag vorbeischauen? Brauchst du etwas?«

»Ich brauche keinen Babysitter.«

Es war kurz still in der Leitung. »Hast du die dunklen Wolken gesehen, die aufziehen?«, fragte Jun-ho. »Das Wetter in den Bergen ist unberechenbar, fast wie bei uns zu Hause, nicht?«

Zu Hause, dachte Rainman. Es war ein Fremdwort für ihn. »Regen zieht auf, das ist gut. Danke, Jun-ho, dass du all die Jahre auf mich aufgepasst hast.«

»Sprich nicht so, ich hasse es.«

»Ich weiß.« Rainman legte auf. Er brachte kein weiteres Wort heraus. Aus dem Schrank holte er seinen schwarzen Anzug, den das Zimmermädchen aufgehängt hatte. Er zog sich um und überprüfte im Bad sein Spiegelbild, sparte nicht an Parfum und Haargel. Es war so weit. Von ein bis zwei Uhr war im Sanatorium laut Plan Mittagsruhe, die Angestellten beim Essen und die Patienten und Patientinnen auf ihren Zimmern. Niemand würde ihn aufhalten. Er wusste, wo er hinwollte. Es gab einen Grund, weshalb er sich diesen Ort ausgesucht hatte. Rainman hatte den Prospekt genau studiert und sich weitere Bilder im Netz angesehen. Die Dachterrasse bot einen fabelhaften Ausblick. Und sie war hoch genug.

In der fremden Heimat zu sterben war einfacher, und die Schlagzeilen waren leiser.

***

Konnte Sunshine gestern ihren Auftritt nicht genießen, so zumindest heute ihre unerlaubte Besichtigungstour. Sie kannte sich in dem großen Gebäude nicht gut aus, wusste aber, dass es vom Empfang links zum Westflügel ging, dorthin, wo die Männer untergebracht waren. Es war an der Zeit gewesen, das Sanatorium auszukundschaften. Die Betreuer mussten sich sputen, um sie einzuholen. Sie wusste, weshalb sie an diesem Morgen ihren Sportdress von Gucci gewählt hatte, auch wenn der einen falschen Eindruck hinterließ. Sport gehörte nicht zu Sunshines Lieblingsbeschäftigungen, Shopping hingegen schon. Es gab nichts Befriedigenderes, als Andrea Morrones Geld auszugeben. Es war ihre einzige Möglichkeit, ihm zu schaden.

Sie hatte nicht rebelliert, als sie von Emil eingefangen und von Lisi zurück in den Ostflügel gebracht wurde. Sie hatte ihren Spaß gehabt.

Zurück in ihrem Zimmer, musste sie an das Frühstück mit dem Asiaten denken. Sie hatte Lisi nach seinem Alias gefragt. Rainman. Ja, das passte zu ihm. Seine Traurigkeit war ansteckend. Er war seltsam, wie eine wandelnde Wachsfigur, wunderschön und zart, aber mit der Ausstrahlung eines weisen alten Mannes. Seine Haut war hell, Bartwuchs hatte er nicht, dafür waren seine Augenbrauen, wenn man sie hurtig unter dem vollen schwarzen Haarschopf aufblitzen sah, kräftig und dunkel. Die Lippen waren voll, die Augen typisch asiatisch, aber keinesfalls schmal. Rainman war groß gewachsen, bestimmt über eins achtzig, zu schlank, wie Sunshine fand, aber sein Körper war durchtrainiert, dafür hatte sie ein Auge.

Der Professor kam unangekündigt vor dem Mittag in ihre Suite. Das Gespräch verlief gut. Sie entschuldigte sich für ihren Ausflug und versprach, ihre Medikamente zu schlucken. Lügen war ihre Stärke. Sie war eine grandiose Schauspielerin. Seit neunzehn Jahren spielte sie die Rolle ihres Lebens, und es wurde Zeit, dass sie sich ihren Oscar abholte.

Das Mittagessen nahm sie auf ihrem Zimmer ein, obwohl Lisi das nicht guthieß. Es gab Pouletbrust an Rahmsauce und einen Trüffelrisotto. Danach stellte sie sich schlafend. Lisi schaute kurz ins Zimmer und schloss leise die Tür. Viel Zeit blieb Sunshine nicht vor Lisis nächstem Kontrolldurchgang und dem nächsten Termin am Nachmittag beim Professor, aber genug, um endlich in die Freiheit zu fliegen.

Nur Minuten später tanzte sie auf der Mauer der Dachterrasse entlang. Sie hatte Andreas Lieblingskleid angezogen, eine Einzelanfertigung. Haute Couture. Leicht, luftig, bunt und sündhaft teuer. Es war der perfekte Moment, um dem Leben zu entkommen. Sie würde mit dem Kopf auf dem Boden tief unter ihr aufklatschen und all die schrecklichen Bilder töten, die ihr Hirn auffraßen. Das Problem war bloß die Sünde. Sie war nach fast zwanzig Jahren Sonntagsgottesdienst in Kalabrien zu einer gläubigen Katholikin geworden, obwohl ihre Eltern reformiert gewesen waren. Manchmal hasste sie ihren Glauben, aber in den dunkelsten Stunden gab er ihr Halt. Vielleicht lag es auch an dem väterlichen Beichtvater, dem sie ihre Sorgen anvertrauen konnte und der von der Güte Gottes und vom Paradies geschwärmt hatte. Ein Problem, dem sie als Katholikin gegenüberstand, war, dass Selbstmord als Sünde galt. Aber Selbstmord war bei Weitem nicht ihre schlimmste Sünde, deshalb hatte sie die Hoffnung, in den Himmel zu kommen, schon lange aufgegeben. Sie hatte ihn nicht verdient.

Sie blickte hoch. Über ihr war die Wolkendecke aufgerissen und ließ die Sonnenstrahlen durch. Das musste ein Zeichen Gottes sein. Er hatte Mitleid mit ihr und würde ihr die Sünde vergeben oder zumindest das Höllenfeuer auf eine niedrigere Flamme stellen, denn er wusste, weshalb sie es tat.

»Hallo, Gott da oben, sei nicht böse auf mich, ja? Es geht nicht anders, das verstehst du bestimmt. Lass uns ein Gläschen italienischen Merlot zusammen trinken, denn auf einen Shot mit dem Teufel verzichte ich gerne, also lass mich rein, okay? Ich habe genug gelitten. Lass mir eine einzige freie Entscheidung. Weder braucht diese Welt mich, noch brauche ich sie.«

Sie drehte sich im Kreis, versuchte, die Balance zu halten, noch. So musste sich ein Vogel fühlen.

Freiheit! Endlich.

Sunshine lachte im Sonnenlicht.

***

Rainman stand auf der Mauer der Dachterrasse des Westflügels, steif und regungslos wie eine wunderschöne Skulptur. Er sah den bunten Wirbelwind gegenüber auf dem Ostflügel nur mit den Augen, welche das Signal nicht bis in sein Gehirn weiterleiteten. Rainman war in sich gekehrt, ging ein letztes Mal seine Liste durch. Alle Punkte waren abgehakt.

Der Himmel verdunkelte sich. Die schweren Regenwolken entluden sich wie ein Sturzbach. Er war augenblicklich durchnässt, das Haar klebte ihm an der Stirn. Er ignorierte den kalten Schauer auf seinem Rücken, das Herzrasen, die feuchten Hände. Rainman gehörte keiner Religion an. Seine Mutter war Buddhistin, sein Vater war reformiert gewesen. Weder glaubte er an Wiedergeburt oder Karma noch an Himmel und Hölle. Glaubte er an das Schicksal? Seines war fies und hinterhältig – und gnadenlos. Also musste er es umgehen und seine eigene Entscheidung fällen. Er musste ihm zuvorkommen, damit er nicht die Kontrolle verlor. Er trat näher an den Abgrund, bis die Spitzen seiner Lederschuhe den Kontakt zur Mauer verloren. Er schloss die Augen, überzeugt davon, die Welt nie mehr zu sehen.

Rainman weinte im Regen.

3

Dr. Tribelhorn saß dem Professor gegenüber in seinem Büro. »Wir hatten seit über einem Jahr keinen Selbstmordversuch mehr in unserem Sanatorium und dann gleich zwei am selben Tag. Die beiden sind hochgradig gefährdet. Wir können sie nicht bereits nach drei Tagen aus ihren Schutzzimmern entlassen. Sie werden früher oder später einen Weg finden, es erneut zu versuchen.«

Der Professor stand am Fenster. »Man heilt eine gequälte Seele nicht, indem man sie einsperrt und ruhigstellt. Ich habe vor zwanzig Jahren dieses Sanatorium gegründet, um den Menschen zu helfen. Dies ist ein besonderer Ort, und Sie wussten bei Ihrer Anstellung, dass ich selten den Weg der üblichen Behandlung einschlage. Deshalb dürfen wir unser Haus auch nicht als psychiatrische Klinik bezeichnen. Wir sind ein Sanatorium, das gestressten Patienten und Patientinnen Entspannung und Gelassenheit bietet und sie mit therapeutischen Sitzungen unterstützt, sich ihren Problemen zu stellen.«

»Professor, bitte, Sunshines Familie ist gefährlich. Wenn –«

Mit stoischer Gelassenheit drehte sich der Professor zu ihr um. »Wir behandeln nicht ihre Familie. Sie braucht unsere Hilfe.«

»Wir können sie nicht von ihrer Familie trennen. Der Bodyguard schaut täglich vorbei, und ihr Ehemann ruft –«

»Ich habe das unter Kontrolle.«

Dr. Tribelhorn lehnte sich im Stuhl vor. »Sicher?«

»Ja.«

»Was ist mit unserem Popstar? In zehn Wochen beginnt seine Konzerttournee durch Asien. Wie soll er die meistern? Er ist nicht in der Verfassung –«

»Er liebt die Musik. Wir nutzen das für unseren therapeutischen Ansatz.«

»Sollen wir zusammen Lieder singen? Es ist fast unmöglich, mit ihm zu sprechen. Ich komme nicht zu ihm durch. Er hat keinen Satz gesprochen, der mehr als fünf Worte lang war.«

»Lassen Sie sich seine Liedtexte übersetzen. Er spricht durch die Musik.«

Dr. Tribelhorn stand auf. »Vielleicht hätte ich während des Studiums besser Musik statt Sport im Nebenfach wählen sollen. Mehr als ein paar Kinder- und Weihnachtslieder kenne ich nicht.«

»Emil ist Hobbymusiker. Er spielt in einer Mundartrockband. Ich werde ihm auftragen, mit Rainman ganz nebenbei über Musik zu plaudern.«

»Übernimmt Emil jetzt die Therapiesitzungen? Er ist Betreuer.«

»Und ein bodenständiger Kerl. Er kann uns helfen. Ich werde ihn anweisen, Rainman zurück in seine Suite zu bringen.«

»Er leidet unter einem Burn-out. Seine Depression bekommt er ohne Psychopharmaka nicht in den Griff, nicht in so kurzer Zeit. Wenn Sie mich fragen, sollte er ein ganzes Jahr aussetzen. Vier Wochen sind nicht genug. Wie kann er im Herbst schon wieder auf eine mehrwöchige Tournee gehen?«

»Trauen Sie dem jungen Mann mehr zu.«

Dr. Tribelhorn seufzte. »Was unternehmen wir betreffend Sunshine?«

»Sie wünscht sich eine Dusche und frische Kleider. Erfüllen wir ihr den Wunsch.«

»Die Medikamente?«

»Belassen wir so. Ihre Krankheit ist komplex. Sie leidet an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Vielleicht auch an Borderline. Ihre manischen Phasen sind dominant.«

»Was ist mit PTBS?«

»Offensichtlich«, sagte der Professor.

»Die posttraumatische Belastungsstörung ist auf ihr Umfeld zurückzuführen. Können wir nichts tun, um sie vor ihrer Familie zu schützen?«

»Nein, sie muss den ersten Schritt machen. Wir können sie dabei aber begleiten und unterstützen.«

Dr. Tribelhorn drehte den Stift zwischen ihren Fingern. »Diesen Mut hätte wohl nicht einmal ich.«

»Lassen wir sie zurück in ihre Suite. Lisi versteht sich gut mit ihr, sie soll oft nach ihr sehen.«

»Lassen wir ihren Bodyguard weiterhin die Kontrollbesuche machen?«

»Versuchen wir, die zu unterbinden. Setzen Sie sich gegen diesen Tony durch. Sunshine braucht Ruhe.«

Dr. Tribelhorn stand auf. »Vielleicht waren der Sport und das Selbstverteidigungstraining während des Studiums doch nützlich.«

***

Lisi ließ Sunshine den ganzen Tag schlafen. Sie war erschöpft gewesen. Die Medikamente und der gescheiterte Suizidversuch belasteten Sunshine, die seit drei Tagen in eine Art lethargische Starre verfallen war, am Morgen wortlos zurück in ihre Suite schlurfte und ins Bett fiel. Lisi weckte sie am Mittag, damit sie einen Teller Suppe aß. Danach fiel Sunshine gleich wieder in einen tiefen, unruhigen Schlaf. Alpträume plagten sie, Lisi erkannte das an der Stirnfalte und dem leisen Stöhnen. Weshalb war eine hübsche, vermögende Frau bloß so unglücklich und verstört? Lisi wusste wenig Persönliches über die Gäste im Sanatorium. Diskretion war das oberste Gebot. Das war Lisi üblicherweise recht, da sie die Probleme der Patienten und Patientinnen nur ungern mit nach Hause nahm. Sie hatte einen vierjährigen Sohn, der ein Recht auf ein unbeschwertes Leben und eine fröhliche Mami hatte.

Vorsichtig fühlte Lisi nach dem Puls der schlafenden Sunshine. Es war später Nachmittag. Sie sollte aufstehen und sich anziehen. Sunshine schreckte bei der Berührung an ihrem Handgelenk leicht zusammen, ohne aufzuwachen. Ihr Puls war schnell, und sie schwitzte. Lisi überprüfte die Temperatur, die leicht erhöht war. Vertrug sie die Medikamente nicht, oder wurde sie krank? Seelische Probleme konnten sich durch körperliche Symptome äußern. Ein Selbstmordversuch war ein dramatisches, einschneidendes Erlebnis. Gut, konnten sie sie rechtzeitig aufhalten. Ein doppelter Selbstmord im Sanatorium hätte für üble Schlagzeilen gesorgt. Überhaupt war es seltsam, dass zwei Patienten, die sich nicht kannten, gleichzeitig den gleichen Tod wählten. Wie kam das?

Lisis Handy klingelte. Alle Angestellten im Sanatorium trugen ein hausinternes Mobiltelefon bei sich, um jederzeit erreichbar zu sein, eine Sicherheitsvorkehrung, um im Notfall rasch reagieren zu können. Anita vom Empfang klang nervös, die Nachricht war keine gute. Lisi versprach, sich um die Angelegenheit zu kümmern, und steckte das Handy weg. Sanft strich sie Sunshine eine ihrer langen blonden Locken aus der Stirn.

»Hallo? Es wird Zeit, aufzustehen. Sie haben Besuch.«

***

Jun-ho wischte die Pfütze im Bad mit den gebrauchten Handtüchern zusammen, steckte die Deckel von Shampoo, Bodylotion und Gesichtscreme zurück auf ihre Flaschen und stellte die Zahnbürste ins Glas. »Fühlst du dich besser?« Er trat aus dem Bad und schaute seinen Freund an.

Rainman saß auf dem Boden mitten im Zimmer und starrte ein Ölgemälde an der Wand an, welches einen Sonnenaufgang in den Bergen zeigte. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine dunkle Sporthose.

»Dein Haar ist nass. Es tropft. Warte, ich bringe dir ein frisches Handtuch.« Jun-ho holte im Badezimmer ein Frottiertuch, stellte sich hinter Rainman und rubbelte damit dessen Haar. »Weshalb trocknest du es nicht, wenn du aus der Dusche kommst?«

Rainman reagierte nicht auf seine Worte.

Mit den Fingern ordnete Jun-ho Rainmans schwarze Haare. »Besser. Ich mache dir einen heißen Tee.« Als ob er mit einer Statue spräche. »Der Professor meint, du könntest heute im Speisesaal mit den anderen zu Abend essen.« Jun-ho füllte den Wasserkocher. »Oder du kannst hier essen. Ich darf aber nur bis fünf Uhr bleiben, bevor sie mich rauswerfen. Ich könnte heimlich zurückkommen. Fast so wie damals, in der Highschool. Erinnerst du dich? Wir hatten keinen eigenen Übungsraum für unsere Band, also schlichen wir uns nachts heimlich ins Musikzimmer der Schule. Uff, wir waren grottenschlecht als Schülerband. Jae-rim arbeitet heute bei einer Bank, und Yun-ah ist Reiseführerin. Aber sieh, was du aus deinem Talent gemacht hast. Erst die Boygroup und jetzt bist du ein erfolgreicher Solostar. Du hast den K-Pop auf einen neuen Level gehoben. Gib deine Musik nicht auf.« Das Wasser kochte, und Jun-ho goss es in eine Tasse mit frischen Kräutern. Er stellte Rainman den Tee auf den Beistelltisch und setzte sich neben ihn auf den Boden. »Ruh dich aus in den Wochen hier oben. Schreibe Songs, das hast du immer geliebt. Denke nicht an die Tournee, und deine Fans können auch mal einige Wochen ohne Schlagzeilen und News von dir überleben.« Jun-ho legte die Hand auf Rainmans Schulter, dessen Blick nach wie vor an dem Bild haftete. »Ich kann nicht schlafen, wenn ich nicht sicher bin, dass du auf dich achtest. Und was ist mit deiner Mutter? Hast du daran gedacht, was dein Suizidversuch für sie bedeutet? Weshalb warst du auf dem Dach? Du hattest noch nie Selbstmordgedanken. Das passt nicht zu dir. Du bist weder ein Egoist noch ein Feigling. Sag endlich die Konzerte ab.« Hörte Rainman ihm überhaupt zu? Jun-ho stupste ihn mit dem Ellbogen an. »Ya, Tae-poong-a, sprich mit mir.«

Rainman drehte den Kopf. »Danke.«

Jun-ho verharrte einen Augenblick ratlos. Er wollte nicht, dass Rainman sich bei ihm bedankte. Wozu? Er bekam einen fürstlichen Lohn für seine Arbeit. Bedankte er sich, weil er sein Freund geblieben war, in all den Jahren?

Motorenlärm holte Jun-ho aus den Gedanken. Er stand auf und trat ans vergitterte Fenster. Eine Limousine mit italienischem Nummernschild fuhr vor. Er kannte den Chauffeur, ein bulliger Typ mit dem Namen Tony, der ebenfalls in der Pension Seeblick logierte. Sie waren sich dort einige Male im Flur über den Weg gelaufen oder hatten sich misstrauisch beim Frühstück angestarrt. Jun-ho konnte ihn nicht ausstehen. Er war um die vierzig, bestimmt doppelt so schwer und mehr als einen Kopf größer.

Abschätzig beobachtete Jun-ho, wie Tony neben dem Wagen eine Zigarette rauchte. Erneuter Motorenlärm kündigte einen Sportwagen an. Ein roter Ferrari raste viel zu schnell auf den Parkplatz, bevor der Motor mit einem protzigen Aufheulen abgewürgt wurde. Tony eilte zu dem Wagen und öffnete die Fahrertür. Ein Mann stieg aus, groß, elegant, selbstbewusst und attraktiv. Der Mann öffnete die Tür der Beifahrerseite. Eine junge Frau nahm seine Hand, als er ihr beim Aussteigen half, hielt den Blick aber gesenkt, ein scheues Lächeln auf den roten Lippen. Sie trug einen modischen Hosenanzug und ihre braunen langen Haare offen über den Schultern. Sie war eine wahre Schönheit, mit der Eleganz einer Audrey Hepburn, dachte Jun-ho.

***

Sophie war nervös. Sie mochte diesen Ort nicht. Ein Sanatorium, wie gruselig, mit all den Spinnern, die hier frei herumliefen. Die größte Angst aber fühlte sie vor ihrer Schwester. Instinktiv fasste sie sich an die Wange, dort, wo Anna sie letzte Woche nach einem heftigen Streit geschlagen hatte. Die Ohrfeige war letztlich der Auslöser gewesen, Anna hierhin wegzusperren.

»Kommst du?« Kurz warf Andrea einen Blick über seine Schulter, dann ging er vor, die Stufen hoch zum Haupteingang.

Sie folgte ihm. Er war ihr Fels, gut aussehend, dominant und stark. Sophie liebte seine herrische Art, ihr devotes Wesen passte sich ihm gerne an. Nicht so Anna. Aufsässig war ihre Schwester, dumm und feige. Schlechte Eigenschaften in der mächtigen Familie Morrone.

Sie waren über Nacht mit dem Ferrari hergefahren. Übernachten würden sie in Interlaken in einem Luxushotel. Es war ein seltsames Gefühl, zurück in der Schweiz zu sein. Sophie konnte sich gut an ihre Kindheit am Brienzersee erinnern, an die Zeit vor dem Unfall …

Bis Andrea in ihr Leben kam. Anna verliebte sich Hals über Kopf in ihn. Falsch, nicht nur sie. Damals sah Andrea Sophie bloß als kleines Mädchen, er hatte nur Augen für ihre ältere Schwester mit ihrem vorlauten Mundwerk. Doch Sophie konnte warten, und sie tat es. Sie reiste mit Anna nach Italien, denn dort gehörte sie hin. Die Schweiz hatte sie nie vermisst, und sie wollte auch jetzt so rasch wie möglich zurück, deshalb war Sophie entschlossen, den Anstandsbesuch bei ihrer verrückten Schwester kurz zu halten. Der erneute Selbstmordversuch hatte Sophie nicht überrascht, vielmehr war sie enttäuscht, dass er abermals fehlgeschlagen war. Anna war selbst zu blöd, sich umzubringen, dabei ergab ihr Leben bei Gott keinen Sinn mehr auf dieser Welt. Sie war eine Last für die Morrones. Andrea hatte eine bessere Frau an seiner Seite verdient.

Im Flur, auf dem Weg zu Annas Zimmer, kamen ihnen ein älterer Herr mit weißem Kittel und eine Betreuerin entgegen. »Herr Morrone, wir haben nicht mit Ihrem Besuch gerechnet. Ich bin Professor Bernard. Wir haben telefoniert.« Er reichte Andrea die Hand, welcher diese ignorierte.

»Ich will zu meiner Frau.«

»Können wir uns zuerst in meinem Büro unterhalten? Ihrer Frau geht es nicht gut.«

Andrea griff nach Sophies Handgelenk und zog sie vor sich. »Das ist ihre Schwester. Sie macht sich Sorgen und will Anna unverzüglich sehen.«

Der Professor zögerte und musterte Sophie. »Wie Sie meinen. Sunshine weiß, dass Sie zu Besuch sind. Sie können kurz zu ihr, danach sprechen wir uns im Büro. Lisi, führen Sie die Herrschaften zu Sunshine. Fünf Minuten, länger nicht.«

***

Sunshine saß am Fenster. Sie hatte sich in Eile ein dunkelblaues Kleid übergezogen und die Haare notdürftig am Hinterkopf zusammengebunden.

Sie stand hastig auf, als Andrea und Sophie eintrafen, die Hände vor dem Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt, die Augen wachsam.

Lisi räusperte sich kurz und verließ die Suite.

»Anna, amore mio!« Andrea stürmte auf Sunshine zu und drückte sie fest an sich. Sie verschwand förmlich in seiner großen Gestalt. Er strich ihr über das Haar, schob sie jedoch gleich von sich weg. »Du musst dir die Haare waschen. Ich mag es nicht, wenn sie ungewaschen sind, das weißt du.«

Sunshine nickte, sagte aber kein Wort.

»Guarda! Deine Schwester kommt dich besuchen. Sie hat aus Sorge die Nächte durchgeweint.«

Sophie trat vor. »Hallo, Anna. Wie geht es dir?«

»Ich bin müde. Die Medikamente, ihr versteht …« Sie drehte sich um und schaute aus dem Fenster.

»Lassen wir sie in Ruhe«, hörte sie ihre Schwester leise zu Andrea sagen.

Sunshine sah in der Reflexion der Fensterscheibe, wie Sophie ihre Hand auf Andreas Oberarm legte. Sie wirbelte herum. »Bist du jetzt zufrieden, Schwesterherz? Nein? Ginge es nach deinem Wunsch, hätte ich schon vor Jahren einen Abgang machen sollen. Blöd, dass ich so zäh bin.«

»Anna!«, rief Andrea zornig.

»Geht! Geht und genießt euer Leben. Ich bleibe im Sanatorium. Es gefällt mir hier oben.«

Andrea zupfte den offenen Kragen seines weißen Hemdes zurecht. »Du gehörst zur Familie. Die Morrones kümmern sich um Familienmitglieder. Du kommst bald zurück.«

»Ist das so? Weshalb? Weil du mich liebst oder weil mein Wissen eine Gefahr für euch ist?«

»Anna, sei still«, zischte Sophie.

Andrea trat einen Schritt vor, fasste Anna ins Haar und zog grob ihren Kopf zurück. Sie stöhnte kurz auf. »Wasch dir die Haare, sie sind schmutzig.« Ohne sie eines weiteren Blicks zu würdigen, drehte er sich um und verließ die Suite.

Sophie folgte ihm.

***

Lisi brachte die beiden ins Büro des Professors. Kaffee und Gebäck standen bereit.

Andrea Morrone hielt es nicht für nötig, sich zu setzen. »Meine Frau wird wohl länger hierbleiben müssen als geplant. Sorgen Sie dafür, dass es ihr an nichts fehlt.« Er griff in sein Jackett und holte ein Bündel Hunderternoten hervor. »Ein kleiner Anreiz, damit sie sich nicht wieder etwas antut. Und auf keinen Fall darf sie das Sanatorium verlassen. Sie ist erfinderisch, wenn es darum geht, zu fliehen.«

»Einzig Gefangene müssen fliehen«, bemerkte der Professor und gab dem Italiener sein Geld zurück. »Sie meinen vermutlich, dass Ihre Frau vor ihrem Leben weglaufen will?«

Er sah, wie Sunshines Schwester bei seinen Worten nach Luft schnappte.

Morrone trat näher an den Professor heran und starrte auf ihn hinunter. »Dieses Sanatorium ist diskret und abgelegen, deshalb fand ich die Idee gut, sie herzubringen, denn ihr Verstand ist wirr – und gefährlich. Sorgen Sie dafür, dass meine Frau lernt, sich zu fügen und der Gesellschaft anzupassen.«

»Damit sie in der Öffentlichkeit vorzeigbar bleibt? Das ist nicht meine Aufgabe. Ich sorge dafür, dass sie ihr Leben in den Griff bekommt und hoffentlich glücklich werden kann, mit sich ins Reine kommt. Das wollen wir alle, oder liege ich falsch?« Wagte sich der Professor zu weit vor? Er konnte schwer einschätzen, wie gefährlich Sunshines Ehemann wirklich war. Ihm fehlte die Erfahrung im Umgang mit der Mafia, was gut war.

Morrone lächelte kalt und legte dem Professor die Hand auf die Schulter, dabei drückte er mit den Fingern so fest zu, dass es schmerzte. »Ich bezahle den Aufenthalt meiner Frau hier nur, solange ich mit Ihrer Arbeit zufrieden bin, Professor Bernard. Bisher bin ich mehr als enttäuscht. Da ich weiß, wie schwierig Anna ist, werde ich Ihrem Sanatorium eine zweite Chance geben. Sophie, andiamo!«

***

Rainman fand keinen Schlaf. Er hatte Hunger, aber er vertrug kein Essen, weil sein Magen nach fast zwei Jahrzehnten des Hungerns bloß noch ein verkümmerter Klumpen war. Wenigstens wirkte noch die Tablette gegen die Kopfschmerzen, die er vor zwei Stunden geschluckt hatte.

Es war nachts um drei. Rainman stieg aus dem Bett und öffnete das Fenster. Ein kühler Wind blies ihm durch das kunstvoll geschmiedete Eisengitter entgegen, das an der Außenmauer fest verschraubt war. Er schaute in die Tiefe. Die Fallhöhe wäre ausreichend. Seine Suite befand sich direkt unter der Dachterrasse. Er blickte nach links hinunter ins Tal, wo der Brienzersee im Mondschein schimmerte. Mit einem Seufzer schaute er geradeaus zur Fassade des Ostflügels. In einem der Zimmer brannte schwaches Licht. Rainman drehte den Kopf nach rechts und musterte das Hauptgebäude mit der gläsernen Front. Er ließ die Stirn gegen das Gitter fallen und klammerte sich daran fest. Zweifel machten sich breit, ob es eine gute Idee gewesen war, in die Schweiz zu kommen. Er hätte sich in Seoul auf seine Tour vorbereiten sollen, zumindest hätte es ihn abgelenkt. Hier war er bloß am Nachdenken, jetzt, nachdem er weiterleben musste. Seine Gedanken zogen ihn in ein dunkles, tiefes Loch. Das Leben war eine Bürde. Er war müde. Die letzten achtzehn Jahre, seit seinem Debüt mit der Boygroup, hatte er für seine Fans alles gegeben, beinahe jede Minute, auf und neben der Bühne, ließ er sie teilhaben an seinem Privatleben, das nichts als eine Show war. Er erinnerte sich an die Zeit, als sein erster Manager, Herr Choi, ihm aufzwang, täglich nach all den Stunden des harten Trainings noch bis in die frühen Morgenstunden einen Song zu schreiben, um sein Talent als Komponist zu perfektionieren. Nach Hunderten von Songs war in Rainmans Kopf kein Platz mehr für Töne, Akkorde oder Rhythmen, geschweige denn für Texte. Er fühlte sich leer. War es das Alter? Mit vierunddreißig gehörte man in dem Business schon fast zum alten Eisen. Es wurde mit jedem Jahr schwerer, sich gegen die oft auch minderjährigen Sänger, Tänzer und Rapper durchzusetzen, welche die Industrie fast monatlich debütieren ließ. Die jungen, meist überaus talentierten Künstler, seit ihrer Kindheit für das K-Pop-Business gedrillt, träumten vom Ruhm, doch die Musikindustrie erwartete phantastische Umsatzzahlen ohne Rücksicht auf die zarten Seelen, die sich wie Marionetten fügen mussten. Rainman kannte die knallharten Verträge, die sich verlockend lasen, aber bei deren Unterzeichnung die Nachwuchsmusiker einen Pakt mit dem Teufel schlossen.

Ein verzweifelter Schrei hallte durch die Nacht und ließ ihn zusammenschrecken.

Der Schrei kam aus dem erleuchteten Zimmer gegenüber. Er sah eine Silhouette am offenen Fenster stehen. Es war die blonde Frau, die ihn auf der Bühne beleidigt und ihm den Toast vom Teller gegessen hatte. Jun-ho hatte ihn gestern informiert, dass auch sie einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Details kannte er keine. Rainman konnte sich selbst nur vage an den eigenen Suizidversuch erinnern. Es war, als wäre er bei vollem Bewusstsein schlafgewandelt.

Verlegen schaute er zu ihr hinüber. Sie stand einzig mit einem Trägershirt bekleidet am Fenster und schrie ihren Schmerz in die Nacht hinaus.

Langsam streckte Rainman seine rechte Hand durch das Schmiedeeisengitter, so, als wollte er sie berühren. Ein Abgrund lag zwischen ihnen. »Alles wird gut«, wollte er ihr zurufen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Nicht einmal zu sich selbst konnte er diesen tröstenden Satz sagen, denn er wusste, es war eine Lüge, bloß ein Märchen, an das er glauben wollte.

Hätte er gekonnt, hätte Rainman in dieser Nacht mit ihr geschrien.

4

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, welches er nicht angerührt hatte, folgte Rainman Emil hoch ins Grüne Zimmer.

»Ich halte meine Sitzungen mit Patienten und Patientinnen am liebsten hier ab«, erklärte der Professor, »denn eine ungezwungene Atmosphäre und eine traumhafte Aussicht beflügeln den Geist – und die Sprache. Was meinen Sie?«

Dr. Tribelhorn war ebenfalls anwesend. »Guten Morgen. Wie fühlen Sie sich heute?«

Er deutete eine höfliche Verbeugung an. Lust zu sprechen hatte er keine. Er setzte sich in den Sessel, der ihm zugewiesen wurde.

»Wir machen uns Sorgen, weil Sie zu wenig essen«, begann der Professor.

Rainman hob das Kinn und blickte aus dem Fenster. Ein Raubvogel kreiste über dem Vorplatz.

»Sie müssen mit uns zusammenarbeiten«, fuhr der Professor fort, »sonst können wir Ihnen nicht helfen. Von Ihrem behandelnden Arzt in Seoul haben wir einzig die Diagnose Burn-out und Depression erhalten. Er hat uns nicht mitgeteilt, dass Sie Suizidgedanken quälen.«

Rainman legte den Kopf leicht schief und atmete flach.

»Wir haben Ihren Lebenslauf studiert.« Die Stimme von Dr. Tribelhorn war schärfer und höher als die des Professors. »Sie waren erst sechzehn, als Sie ins Musikbusiness einstiegen. Wir können verstehen, wenn ein Leben in der Öffentlichkeit hart ist. Ihre Jugend war alles andere als normal. Der Druck muss enorm sein. Ihre Depression und die Panik, vor Publikum aufzutreten, können wir nur bekämpfen, wenn Sie uns erzählen, was genau Ihnen Angst macht.«

Rainman nickte, die Lippen fest aufeinandergepresst. Er war nicht bereit, die Wahrheit mit ihnen zu teilen.

»Wir haben Zeit«, sagte der Professor.

»In gut zwei Monaten beginnt meine Konzerttournee«, antwortete Rainman. »Ich weiß, dass mein Assistent die täglichen Anrufe meiner Agentur und der Entertainmentfirma abblockt, damit ich zur Ruhe komme. Ich müsste in Seoul sein und die Choreo für den Auftritt trainieren.«

»Können Sie die Konzerte absagen?«, fragte Dr. Tribelhorn.

»Ich habe die letzten Tage nachgedacht. Ja, ich könnte die Tour absagen.«

Der Professor und Dr. Tribelhorn wechselten einen kurzen Blick miteinander.

»Möchten Sie gerne länger bei uns bleiben?«, fragte der Professor.

»Nein«, antwortete Rainman. »Ich werde gehen.«

»Wohin?« Dr. Tribelhorn zog die Augenbrauen hoch.

»Ich folge dem Regen.«

»Wie meinen Sie das?«

Rainman zog seinen rechten Mundwinkel leicht hoch. »Das wäre ein guter Titel für einen neuen Song.«

Der Professor legte sein Papier auf den Tisch. »Sie mögen den Regen?«

»Ich mag das Wetter. Es fasziniert mich. Sturm und Regen inspirieren mich. Ich komponiere Balladen nur, wenn es regnet.«

»Gibt es einen besonderen Grund?«, fragte Dr. Tribelhorn.

Rainman blinzelte ein paarmal. »Regen berührt die Seele, er ist Schmerz und Trauer.«

»Wie das?«

»Weil er nass und kalt ist und das Leben in einem anderen Licht zeigt.«

»Es gibt Regenschirme, die einen trocken halten, auch in stürmischen Zeiten.«

»Aniyo. Nein. Man muss lernen, den Regen auszuhalten. Darf ich gehen?«

»Sie sind bei uns kein Gefangener«, antwortete der Professor. »Aber wir würden es begrüßen, wenn Sie bei den Sitzungen mit uns zusammenarbeiten. Sprechen wir das nächste Mal über Ihre Kindheit in der Schweiz? Wie ist Ihnen diese Zeit in Interlaken in Erinnerung geblieben?«

Rainman überlegte kurz. »Alles war gut damals. Ich denke, ich war glücklich.«

»Wunderbar«, sagte Dr. Tribelhorn. »Damit können wir arbeiten. Positive Erinnerungen sind wertvoll.«

Rainman stand auf und wollte das Grüne Zimmer verlassen, aber der Professor hielt ihn zurück. »Ihre Mutter ist in die Schweiz geflogen. Sie wird Sie am Nachmittag besuchen.«

Erschrocken starrte Rainman den Professor an. Für zwei Sekunden brachen die Emotionen durch, die er so krampfhaft zu beherrschen versuchte. Er biss die Zähne aufeinander, bis sich sein Kiefer verkrampfte. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen. Es war eine Kombination aus Wut, Entsetzen und Schuldgefühl, die ihn überrollte und die er unmöglich vor dem Professor verbergen konnte.

***