Luzerner Totentanz - Monika Mansour - E-Book

Luzerner Totentanz E-Book

Monika Mansour

4,8

Beschreibung

Ein mystischer Krimi aus der Zentralschweiz. An Heiligabend wird im Luzerner Männliturmein kleines Kind, als Engel verkleidet, schlafend aufgefunden – zuvor war es entführt worden, angeblich von der Sträggele. Ermittler Cem Cengiz begibt sich auf die Spur der Hexe, die Kinder raubt. Als seine Suche erfolglos bleibt, wendet er sich an einen Experten in okkulten Fragen. Doch dessen Eingreifen verschärft die Lage nur noch, und die Medien schaukeln das Drama weiter hoch. Die öffentliche Jagd auf die Hexe beginnt, und der Scheiterhaufen ist bereits errichtet ...

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Augenoptikerlehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar, war Tätowiererin und erledigte die Buchhaltung für einen Handelsbetrieb. 2014 erschien ihr erster Krimi, und damit erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Heute wohnt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: cydonna/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-268-7

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Christina Vikoler Literary Agency, München.

Für die Engel, die nicht fliegen

Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alles, was zum Abfall verführt, und die da Unrecht tun, und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein. Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich.

Neues Testament, Matthäus-Evangelium 13, Vers 41–43

«Ein schönes und zuchtloses Weib ist wie ein goldener Reif in der Nase der Sau.» Der Grund ist ein von der Natur entnommener: weil es fleischlicher gesinnt ist als der Mann, wie es aus den vielen fleischlichen Unflätereien ersichtlich ist. Diese Mängel werden auch gekennzeichnet bei der Schaffung des ersten Weibes, indem sie aus einer krummen Rippe geformt wurde, d. h. aus einer Brustrippe, die gekrümmt und gleichsam dem Mann entgegengeneigt ist. Aus diesem Mangel geht auch hervor, dass, da das Weib nur ein unvollkommenes Tier ist, es immer täuscht.

Der Hexenhammer, 1. Teil, 6. Frage: Über die Hexen selbst, die sich den Dämonen unterwerfen

Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.

Exodus, Das 2. Buch Mose, Kapitel 22, Vers 17

Prolog

Schwer und dunkel hingen die Wolken wie Betonklötze über ihrem Kopf. Sie drückten sie nieder, raubten ihr den Atem. Die Angst war so greifbar und real. Die Angst vor dem Leben.

Celina starrte hinunter in die Tiefe. Buntes Laub lag auf dem Pausenplatz, eingebettet in kalten Nebel. Der Tag brach gerade an. Sie zitterte und starrte auf ihre einbandagierten Handgelenke. Es waren Herbstferien. Wann würde man ihren leblosen Körper finden? War sie dann schon verwest? Unter dem Laub begraben? Nagten bereits Würmer und Käfer an ihrem Fleisch, oder war sie dann ein kahles Gerippe?

Gerne hätte Celina die Gesichter der Teufel gesehen, wie sie ihren toten Körper anstarrten. Die Teufel, die sie auf dieses Dach getrieben hatten. Würden sie Schuld fühlen? Oder weiter lachen und sich auf die nächste Matheprüfung vorbereiten? Sich ein neues Opfer suchen? Auch von ihm heimlich Fotos beim Duschen nach der Sportstunde machen? Die Bilder ins Netz streuen, mit blöden Kommentaren versehen?

Es war Celina egal. Wichtig war nur, dass sie es nicht mehr sein würde.

Sie trat näher an die Dachkante. Nur ein Schritt, ein Sprung aus der Hölle raus in den Himmel hinein. Sie konnte das tun. Es war nicht schwer. Und es ging ganz schnell. Und sie war frei. Dann war sie ein Engel.

Celina nahm den Schritt und flog dem Himmel entgegen.

EINS

Die Sträggele war zurück.

Sie warf ihre roten Haare über die Schulter und liess den Blick zu dem frischen Stroh in der Ecke des Stalles gleiten. Da lag das Kind, das unschuldige kleine Mädchen, die hellblauen Augen geschlossen. Die Sträggele hatte sich Mühe mit ihm gegeben. Das Mädchen war perfekt geworden, wie es so da lag, in seinem weissen Kleidchen und mit den goldfarbenen Locken, die sich um das rosige Gesichtchen kringelten.

Die Sträggele konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit und strich mit der Bürste über das glänzende Fell des Pferdes. Schwarz, so musste es sein. Ihre Stute schnaubte leise, als der Hund in den Stall kam. «Ihr habt ja recht», sagte die Sträggele, «wir müssen los.»

Sie sattelte Korrigan, zäumte die Stute auf und führte sie in die eisig dunkle Nacht hinaus. Feiner Nebel kroch den Boden entlang. Es war still. Einzig der Ruf des Steinkauzes hallte durch das Tal: Ku-i-mit, Ku-i-mit.

Die Sträggele sprach beruhigende Worte zu Korrigan. Auch das Pferd fühlte die Geister, die Dämonen, die sie heute Nacht begleiten würden.

Ihre Tat war grausam, das wusste die Sträggele. Es war nicht ihr erstes Kind. Nein. Sie hatte viele Mädchen in den dunklen Nächten vor Weihnachten aus den warmen Stuben der Eltern geraubt. Doch das war damals gewesen, im finsteren Mittelalter. Heute Nacht war anders.

Die Sträggele lachte leise, ihre Stimme wurde vom kalten Wind emporgetragen.

Es war Heiliger Abend, im 21. Jahrhundert. Die Hexe war zurück.

***

Engel schwebten über ihr. Barbara sass in der hintersten Reihe, ganz aussen, auf der harten Holzbank. Das Gesangbuch lag schwer in ihren Händen. Es bot keinen Trost.

Sie senkte den Blick von der Decke und blickte über die Köpfe der Kirchgänger nach vorne zum Altar. Die weissen Wände und die hohe Decke der Jesuitenkirche waren mit den prächtigsten Stuckaturen und Bildern geschmückt. Eine Herrlichkeit, die heute Nacht nicht ihr Herz erwärmte. Barbara wollte sich auf die Predigt konzentrieren, Erlösung in den Worten Gottes finden. Wie sonst sollte sie diese Weihnachten überstehen?

Weihnachten ohne Rolf.

Acht Wochen. Acht Wochen schon kämpfte sie sich ins Leben zurück. Nach aussen hin funktionierte sie. Als Ermittlerin der Luzerner Polizei hatte sie gelernt, professionell zu handeln. Doch innerlich war sie ein Wrack. Jeden Tag, an dem sie in der Polizeizentrale an der verschlossenen Tür von Rolfs Büro vorbeiging, schrie sie innerlich auf.

Konzentriere dich auf die Messe, mahnte ihre innere Stimme. Barbara lauschte den Worten des Pfarrers: «Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkünde euch grosse Freude …» Er sprach von der Geburt Jesu. Von den Engeln. Wo war Rolfs Schutzengel geblieben, als er ihn gebraucht hatte? Nein, das war nicht fair.

Barbara stand auf und schlich sich aus der Kirche. Sie ertrug Gottes Nähe noch nicht. Da war zu viel Wut, die in ihr brodelte.

Draussen atmete sie die klare, eisige Luft ein. Die Lichter der Stadt vertrieben die Dunkelheit – aber nicht den Schatten auf Barbaras Herzen.

Sie lauschte dem leisen Rauschen der Reuss und ging die paar Schritte über den Jesuitenplatz bis zu den Stufen, die zum pechschwarzen Wasser führten.

Und wohin jetzt? Sie wollte nicht nach Hause.

Barbara seufzte und blickte sich um. Sie war still heute, ihre Stadt. Ausgestorben.

Es war Heiliger Abend.

Den Heiligen Abend verbrachte man mit den Menschen, die man liebte …

Herzlos schrillte Barbaras Handy durch die gottlose Nacht.

***

«Feiert schön, ihr zwei Racker.» Cem stellte den Meerschweinchen einen Tannenzweig in den Käfig. Dann legte er die Christbaumkugel, die er heute extra im Shoppingcenter gekauft hatte, zusammen mit einem Rüebli, um das er eine Schleife gebunden hatte, in den Käfig neben den Tannenzweig. Die beiden Meerschweinchen quietschten aufgeregt. Cem griff nach seinem Handy. «Und jetzt sagt Cheeeese.» Er schoss ein Foto. Nicht schlecht, grinste er und schickte das Bild an seine Cousine Aygül. Heute Morgen hatte er am Telefon eine lange Diskussion mit Elin geführt, der Jüngsten von Aygül. «Onkel Cem», hatte Elin eifrig erklärt, «Schneeball und Winnetou sind in der Schweiz geboren, also sind sie Christen. Du musst ihnen einen Christbaum basteln und Geschenke machen – und ein Weihnachtsessen kochen.» Sein kleiner Liebling. Nächsten Monat wurde sie schon sechs.

Winnetou quiekte vergnügt und holte Cem aus den Gedanken. Er streichelte das rot gefleckte Meerschweinchen. Die Tiere gehörten Elin. Cem hatte ihnen Asyl geboten, weil Elin allergisch auf die Haare reagierte und Aygül die beiden weggeben musste. Jetzt stand der Käfig schon über ein Jahr in seinem Flur. Aber hätte er gewusst, dass Schneeball und Winnetou keine Moslems waren … «Frohe Weihnachten euch Christen.» Cem schloss die Käfigtür und ging zurück ins Wohnzimmer. Heute war DVD-Abend. Ein einsamer DVD-Abend. Lila war zu ihren Eltern nach Lausanne gefahren, um Weihnachten zu feiern. Auch Kevin und all seine anderen Freunde verbrachten den Abend im Kreise der Familie.

Egal, für Cem war es ein Abend wie jeder andere. Und den wollte er mit dem «Paten» verbringen. Er schob gerade die DVD in den Player, als sein Handy klingelte. Cem warf einen Blick auf das Display. Halb elf. «Hey, Barbara, alles okay?»

«Cem! Du musst sofort zum Männliturm, Nordeingang. Die Sicherheitspolizei ist schon vor Ort, die Ambulanz unterwegs. Ich komme auch gleich.»

«Was ist passiert?», fragte er, während er bereits in den Flur rannte und in seine Jacke schlüpfte.

«Etwas ist dort», sagte Barbara. «Und es sei unheimlich.»

«Unheimlich?»

«So haben es die Kollegen beschrieben.»

«Bin in fünf Minuten beim Turm», sagte Cem und legte auf. Er wohnte in der Luzerner Altstadt, in der Hertensteinstrasse, gleich vor der Museggmauer. Bis zum Männli war es nicht weit. Ein Verbrechen praktisch vor seiner Haustür. Na toll! «Der Pate» musste warten.

Er schnappte sich seine Wollmütze und Handschuhe und rannte hinaus in die dunkle, nebelverschleierte Nacht.

Vor dem Eingang zum Turm wartete ein Kollege in Uniform, in der Hand eine Taschenlampe, die flackerte. Cem ging mit raschen Schritten auf ihn zu und zog seinen Ausweis. «Cem Cengiz, Leib und Leben. Was habt ihr für uns?»

«Na, das ging aber schnell», sagte der Kollege der Sicherheitspolizei. Strebler, las Cem den Namen an dessen Uniform. «Hier.» Strebler zeigte auf den Boden vor dem Eingang. Schwarze Federn lagen im Kreis gestreut auf Kies, in der Mitte eine tote Ratte.

Cem verzog angewidert den Mund. «Wegen einer toten Ratte habt ihr uns aber nicht alarmiert?», fragte er.

«Nein», erklärte Strebler. «Die anderen beiden Kollegen sind oben beim Opfer.»

«War der Turm nicht abgeschlossen?»

«Wurde aufgebrochen.» Strebler zeigte zur Tür, die unterirdisch lag. «Das Schloss ist kaputt. Und sieh dir das an.» Strebler ging ein paar Stufen hinunter und leuchtete mit der Taschenlampe auf die raue Steinwand. In roter Farbe war ein Symbol aufgemalt: ein fünfzackiger Stern in einem Kreis.

«Was bedeutet das?»

«Keine Ahnung. Aber oben ist es noch schlimmer.»

Cem tauchte eine Fingerspitze in die noch feuchte Farbe und roch daran. «Blut?»

«Wir vermuten es.»

Cem blickte hoch. Er sah den Lichtkegel einer Taschenlampe auf dem flachen Dach des Turmes, die das «eiserne Männli» anstrahlte, die Kriegerfigur, die dem Männliturm seinen Namen gab und mit Schwert und Standarte auf einem der beiden Erkertürme thronte.

«Was ist mit dem Opfer?», fragte Cem.

«Ein Engel», sagte Strebler.

Cem reckte das Kinn vor. Hatte er sich verhört? «Ein Engel?»

«Ja. Oben, auf der vierten Ebene.»

«Lebt er denn noch, der Engel?»

«Ja.» Strebler reichte Cem seine Taschenlampe.

Ungläubig betrat Cem den Eingang. Eine steile Wendeltreppe führte hoch zur ersten Ebene auf Bodenhöhe. Hier fehlte die südliche Turmwand, der Turm war zur Stadtseite hin offen. Einzig ein hoher Lattenzaun schützte vor Eindringlingen. Cem rüttelte an der Tür im Zaun. Abgeschlossen. Er schaute sich um. Der Männliturm war ein rechteckiger Bau mit grob verputztem Mauerwerk. Über zwei Wände wand sich eine enge Treppe nach oben. Obwohl Cem gleich vor der Museggmauer wohnte, war er noch nie in einem der neun Türme gewesen, die sich entlang der alten Stadtbefestigung aufreihten.

Der Lichtstrahl von Cems Taschenlampe streifte ein mit Frost überzogenes Spinnennetz. Echt gruselig. Von oben hörte er gedämpfte Stimmen.

In der Ferne bellte ein Hund.

Die Holzstufen knarrten unter seinen Füssen, als er die Treppe erklomm. Die Kälte kroch durch die Jacke bis zu seiner Haut durch. «Ein Engel am Heiligen Abend», flüsterte Cem leise vor sich hin, um die beklemmende Stille zu brechen. Er hörte polternde Schritte über sich auf dem Holzboden und blickte auf. Ein Kollege stand am Treppenabsatz. «Paul?», rief dieser.

«Nein. Cem hier, Leib und Leben.» Sie trafen sich auf der zweiten Ebene. Das Gesicht des Kollegen wirkte angespannt. «Oh, Leib und Leben? Das ging aber schnell. Felix», stellte sich der Polizist vor. «Ist die Ambulanz noch nicht da?»

«Sollte jeden Moment eintreffen», sagte Cem. «Ist der – der Engel schwer verletzt?»

«Komm, ich bring dich hoch zu ihr.» Felix ging vor. «Wir wissen nicht, was der Kleinen fehlt. Sie atmet. Ich vermute, sie wurde betäubt. Als ob sie schlafen würde … Wir bekommen sie nicht wach.»

Ein weiblicher Engel! Cem stellte sich das Wesen bildlich vor, mit langen blonden Haaren, einem weissen Kleid und grossen Flügeln aus glänzenden Federn.

Sie stiegen zwei weitere Ebenen hoch.

«Hier liegt sie», sagte Felix oben angekommmen. «Unter der Treppe.»

Cem richtete das Licht seiner Taschenlampe auf den Boden. «Bei Allah!»

Ein uniformierter Kollege sass neben dem Engel am Boden und schaute hilflos zu Cem hoch.

«Ein Kind!» Cem kniete sich sofort neben das Mädchen. Es war etwa in Elins Alter. Es lag auf dem Rücken in einem Bett aus Stroh. Hübsch drapiert war es, die goldenen Locken fielen über seine schmalen Schultern. Cem sah, dass es unter dem Kleid Strumpfhosen und Handschuhe trug. Sein Gesicht war bleich vor Kälte. Goldstaub klebte auf der Stirn. Es lag ganz still, die Hände über seinem Bauch wie zum Gebet gefaltet. Seine Flügel waren klein. Das Mädchen wirkte so zart, so zerbrechlich. Cem fühlte seinen Puls. Normal, stellte er erleichtert fest. «Habt ihr denn keine Decke?»

«Ähm, doch, ein Kollege ist zum Wagen zurück und holt gerade eine. Wir wussten nicht, ob wir die Kleine bewegen dürfen, bis die Rettungssanitäter hier sind.»

Cem riss den Reissverschluss seiner Jacke auf. Am Heiligen Abend durfte kein Engel sterben. Nicht, wenn er Dienst hatte.

Barbara traf auf den Kollegen beim Wagen unten am St. Karliquai. Er holte gerade zwei Decken aus dem Kofferraum. «Barbara, guten Abend. Dein Fall?»

«Paul, auch im Einsatz? Was hast du für mich?»

«Sieh es dir selbst an. Das glaubst du mir ja doch nicht.»

Zusammen gingen sie den kleinen, steilen Pfad entlang der Mauer hoch zum Männliturm.

Vor dem Eingang grüsste Barbara Strebler, den sie nur flüchtig kannte. Dann sah sie die tote Ratte, die Federn und das blutige Symbol an der Mauer. Kalt kroch ihr der Ekel über die Haut. Musste das ausgerechnet heute Nacht sein?

Sie folgte Paul ins Innere des Turmes. Die Sirenen der Ambulanz näherten sich.

«Ein kleiner Engel», sagte Paul.

Barbara blieb auf den Stufen stehen. «Ein Engel?»

«Ja.»

Das ist die Strafe, weil ich an Gott gezweifelt habe. Dio mio! Sie fühlte Schwindel und suchte mit der Hand Halt an der kalten, rauen Steinmauer.

Paul blickte über die Schulter zurück. «Der Engel ist ein kleines Mädchen.»

Blut pochte hoch in Barbaras Kopf. Ein Kind. Oh nein! Barbara hatte in ihrer über zwanzigjährigen Karriere bei der Kriminalpolizei schon viel gesehen und erlebt. Woran sie sich aber nie gewöhnen konnte, waren Verbrechen an Kindern. Das war gegen die menschliche Natur.

«Hier liegt es, vierte Ebene», keuchte Paul, dem das Treppensteigen zugesetzt hatte. «Meine Kollegen – oh.» Er blieb stehen.

Barbara trat neben ihn und starrte auf die Szenerie vor sich. Zwei Kollegen der Sicherheitspolizei standen an der Wand, ihr Atem warf im Licht der Taschenlampen kalte Luftschleier in die Dunkelheit. In der Ecke unter der Treppe, die zum Dach führte, lag eine dicke Schicht Stroh auf dem Bretterboden. Cem sass im Stroh. In seinem Schoss wiegte er den kleinen Engel. Er hatte seine Jacke um das Mädchen gelegt, um es zu wärmen. Und es musste auch seine Wollmütze auf dessen Kopf sein. Er drückte es fest an sich.

Cem blickte auf, sein Gesicht wirkte gequält. Er war zu gut für diesen Job, dachte Barbara. Cem war erst seit einem Jahr bei Leib und Leben und hatte schon einiges erlebt. Ja, er war ein toller Polizist mit einer hervorragenden Menschenkenntnis, auch wenn er manchmal etwas blauäugig an einen Fall heranging und sich nicht immer an die Regeln hielt. Cems Problem war sein Herz. Es war einfach zu gross. Barbara wollte nicht, dass es in der brutalen Welt der Polizeiarbeit zerbrach. Sie musste wieder an Rolf denken. Ihren Boss. Ihren heimlichen Geliebten. Sein Herz war gewaltsam ausgetrocknet. Es stand für immer still. Alles nur wegen der verfluchten Arbeit.

Barbara verbannte die Gedanken und kniete sich neben Cem. «Wie geht es dem Mädchen?», fragte sie so leise, als hätte sie Angst, das schlafende Kind zu wecken.

Cem drückte die Kleine enger an sich. «Sie scheint unverletzt. Man hat sie vermutlich betäubt. Sie hat vorhin leise gestöhnt. Ich glaube, sie wacht bald auf.»

«Gut», sagte Barbara. Sie nahm Paul die Decken ab und wickelte sie um Cem und das Mädchen. «Bring unser Engelchen runter zum Ambulanzwagen.»

Vorsichtig stand Cem auf, die Kleine im Arm.

«Paul, hilf Cem. Er braucht Licht. Seid vorsichtig. Die Stufen sind eng und steil.»

«Ich schaff das schon», sagte Cem. «Sie ist nicht schwer.»

Barbara atmete tief durch. Das hier war ein makaberer Scherz. Wer setzte am Heiligen Abend ein kleines Kind mit Engelsflügeln im Männliturm aus? «Cem, wir brauchen das Kleid des Mädchens!», rief sie ihm hinterher.

«Ist gut», rief er zurück.

«Und die Flügel!»

«Ja, klar.»

Barbara winkte die beiden anderen Kollegen zu sich. Sie kannte sie nur flüchtig und konnte sich nicht an ihre Namen erinnern. «Ich bin Barbara, leitende Ermittlerin bei Leib und Leben.»

«Wolfgang», stellte sich der etwas ältere Kollege vor.

«Felix», meldete sich der Kollege mit der Brille.

«Wie habt ihr das Mädchen gefunden?», fragte sie.

«Bei der Zentrale gingen mehrere Anrufe von Anwohnern ein», sagte Wolfgang. «Alle sahen Licht auf dem Männliturm, der in den Wintermonaten ja nicht zugänglich ist.»

«Oben auf dem Dach brannte ein Feuer.» Felix trat von einem Fuss auf den anderen. Er war sichtlich durcheinander.

«Hat man nicht die Feuerwehr gerufen?», fragte Barbara.

«Wir waren schneller hier», sagte Wolfgang. «Wir haben das Feuer gelöscht und die Feuerwehr abbestellt. Da ist alles Stein und Beton, da oben. Es war nur ein kleines Feuer. Harmlos. Wie ein Mini-Lagerfeuer, aufgeschichtet aus Holzscheiten.»

«Und da habt ihr den Engel im Stroh entdeckt?», fragte Barbara.

Die Kollegen nickten.

«Habt ihr sonst noch etwas Auffälliges gefunden?»

«Das kann man sagen.» Wolfgang leuchtete mit der Taschenlampe die Steinwände entlang. Unzählige Symbole und Zeichen waren daraufgezeichnet. Okkulte. Unheimliche.

«In roter Farbe, wie unten beim Eingang», sagte Wolfgang. «Wir vermuten, es ist Blut. Und oben auf dem Dach sind noch mehr.»

«Danke», sagte Barbara. «Gute Arbeit. Ihr könnt gehen. Ich werde die Spusi anfordern.»

Alleine zurück auf der vierten Ebene fühlte Barbara die Kälte. Unheimlich, das traf es schon.

Rasch zog sie ihr Handy und rief die Zentrale an. Sie brauchte professionelle Verstärkung. Und Licht. Sie brauchte verdammt noch mal Licht.

Cem übergab die Kleine den Rettungssanitätern. Sie war bereits dabei aufzuwachen. Ein gutes Zeichen. Unruhig tigerte er während der nächsten Minuten vor dem Ambulanzwagen auf und ab.

Endlich öffnete sich die Tür, und ein junger Sanitäter steckte den Kopf heraus.

«Wie geht es ihr?», fragte Cem.

«Sie ist stabil», sagte der Sanitäter. «Noch etwas durcheinander, aber das ist normal. Ihr wurde vermutlich ein Schlafmittel verabreicht.»

Cem schenkte Allah ein stilles Dankesgebet. «Wir brauchen das Kleid. Und die Flügel.»

«Klar doch», sagte der Sanitäter. «Aber da ist etwas anderes, das Sie sich ansehen sollten.»

Alarmiert kletterte Cem in den Wagen. Die Kleine lag auf der Bahre und starrte ihn mit grossen hellblauen Augen an. «Hey, Süsse», sagte Cem. «Alles gut, du brauchst keine Angst zu haben.» Er strich ihr mit den Fingern über die Stirn.

«Sie will nicht sprechen», sagte der ältere Sanitäter, der neben ihr sass. «Wir wollten Ihnen das hier zeigen.»

Er schob die Decken zurück. Auf dem Bauch des Mädchens waren drei Zeichen aufgemalt – in roter Farbe: eine Kerze, ein Totenschädel und eine Sanduhr.

Cem trat näher und betrachtete die Motive. Sie waren detailliert gezeichnet. Er vermutete, dass eine Schablone benutzt und die Farbe mit Airbrush-Technik aufgesprüht worden war. Die Luzerner kannten sich damit aus. An der Fasnacht verzierten sie ihre Gesichter auf diese Weise mit kunstvollen Motiven. Cem strich vorsichtig mit einem Finger über die Farbe. Sie liess sich nicht verwischen. «Wow, da hat man dich ganz bunt angemalt, was?», sagte er zu der Kleinen und lächelte, so lieb er konnte. «Darf ich mal ein Foto machen, ja?» Er zog sein Handy und schoss einige Bilder. «Ich brauche einen Abstrich von der Farbe», sagte er zu den Sanitätern. «Können Sie noch einige Minuten warten, bis meine Kollegen von der Spurensicherung hier sind, bevor Sie das Mädchen ins Kinderspital bringen?»

«Sicher», sagte der ältere Sanitäter und deckte das Mädchen wieder zu. «Wenn es nicht zu lange dauert.»

«Kann ich ihm schon ein paar Fragen stellen?», fragte Cem.

«Geben Sie ihm ein paar Minuten. Es ist noch etwas benommen.»

«Gut.» Cem wandte sich an die Kleine. «Ich lass dich kurz mit den beiden netten Sanitätern alleine und schaue nachher nochmals vorbei, okay?»

Das Mädchen blinzelte ein paarmal, sagte aber nichts.

Er fand Barbara ganz oben auf dem Dach des Turmes. Vom Feuer war nur noch ein verkohlter Holzhaufen übrig. «Das war kaum gross genug, um eine Cervelat zu braten», sagte Cem und trat neben seine Chefin. «Aber es hat uns zum Kind geführt. Das war Absicht. Wir sollten das Mädchen finden. Rasch finden. – Hey, ist mit dir alles okay?» Er schaute hoch in ihre blauen Augen, die in der Nacht ungewohnt dunkel wirkten. Einzig ihre rote Haarpracht verlor selbst in der Finsternis nicht an Sättigung.

Barbara starrte auf die Stadt hinunter. «Okay ist es nie, wenn ein Kind das Opfer ist.»

«Es geht ihm gut», sagte Cem. «Es hat vermutlich die ganze Action verschlafen und wundert sich, warum es nicht zu Hause im Bett liegt.»

«Der Mistkerl hätte mich nehmen sollen. Einfach alles verschlafen. Klingt gut.»

«Hey, du packst das. Wir lösen diesen seltsamen Fall, und schon ist Weihnachten vorbei. Versprochen.»

Barbara zog ihre Hände aus der Winterjacke. «Was haben wir?»

Cem schritt die vier Seiten des Turmes ab und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die mystischen Zeichen, die rund um das Feuer auf den Boden gemalt waren. «Da bin ich nicht der Spezialist. Sieht mir nach Zauberei, Okkultem oder so Kram aus. Unser Täter ist ein Magier – oder ein Teufel, so was in der Art. Hier ist wieder dieser Stern in dem Kreis. Und da …», Cem zeigte auf einige Symbole, die aus geraden und schrägen Strichen bestanden, «diese Zeichen sehen aus wie Runen – denke ich jedenfalls.» Er liess den Lichtstrahl zum nächsten Symbol wandern. «Aber hallo, dieses Zeichen kenne ich.» Er kniete sich nieder, um es genauer zu betrachten. Es sah aus wie ein kleines m, an dessen letztem Strich eine Schlaufe angehängt war. «Ist das nicht das Zeichen für die Jungfrau im Horoskop?»

«Ja», sagte Barbara. «Aber etwas stört mich hier.»

Cem stand auf. «Nur etwas?»

«Die Symbole sind chaotisch. Da ist ein Mond. Dann all die Kreise. Einer mit einem Punkt in der Mitte, ein anderer mit einem Kreuz. Es gibt Dreiecke und da: das Anch-Zeichen der Ägypter. Dann die Runen, das Horoskop. Feuer, Federn, eine tote Ratte. Und ein Engel?»

«Das Werk eines Dämons?» Cem zeigte auf den Ritter, der auf einem der beiden kleinen Türme thronte und stolz seine Luzerner Fahne in der rechten und sein Schwert in der linken Hand hielt. Regungslos und steif wachte er über seine Stadt. «Vielleicht hat er etwas gesehen?»

Cem entlockte Barbara ein Lächeln. «Das hier ist das Werk eines Spinners, und unser Männli schweigt. Die Spurensicherung ist bald hier und wird alles dokumentieren. Morgen müssen wir einen Spezialisten zuziehen, der sich mit alldem auskennt.» Sie seufzte. «Und das an Weihnachten.»

Cem lehnte sich an die Mauer der Zinnenkrone, die den Turm umgab. «Unseren kleinen Engel muss sich die Spusi auch vornehmen. Der Täter hat den Bauch der Kleinen ebenfalls bemalt. Eine Kerze, ein Totenschädel und eine Sanduhr.»

Barbara prustete Luft aus den Wangen. «Zeichen des Todes. Das gefällt mir nicht. Wetten, da kommt noch mehr?»

«Soll ich Eva anrufen?», fragte Cem.

«Nein. Lassen wir der Staatsanwältin den Heiligen Abend mit ihrer Familie. Das können wir morgen tun.»

«Was geschieht mit der Kleinen? Informieren wir die KESB?» Innerlich sträubte sich Cem dagegen, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde einzuschalten.

Barbara ging einige Schritte auf und ab. «Warte noch. Wir wissen ja nicht, was passiert ist. Vielleicht verrät uns das Mädchen seinen Namen. Dann besuchen wir seine Eltern.»

«Könnte ihnen etwas zugestossen sein?», fragte Cem.

«Keine Ahnung. Vielleicht sind sie Opfer oder Täter oder ahnungslos. Diese Nacht schläft das Mädchen erst mal im Kinderspital. Ich organisiere eine Polizistin, die bei ihm bleibt.»

«Wenn die Kleine nicht spricht?», fragte Cem.

«Dann durchsuchst du heute Nacht die Datenbanken nach vermissten Mädchen. Ich will, dass unser Engel morgen einen schönen Weihnachtstag erlebt. Und besorg ein Geschenk für das Mädchen.»

Das mochte Cem an seiner Chefin: Sie fällte Entscheidungen mit Herz. Er hoffte, dass sie Rolf Wymanns Posten als Abteilungsleiterin übernahm. Wenn sie sich nur nicht so mit seinem Tod quälen würde. Es war nicht ihre Schuld gewesen. Niemand konnte wissen, dass Barbara und Wymann an der Määs in einen Hinterhalt gelockt wurden. Die Kugel hätte auch sie treffen können. Das war Schicksal.

Ein Geräusch riss Cem aus den Gedanken. Es kam von unten. Er lehnte sich über die Brüstung und schaute in die Tiefe. Da war alles dunkel. Wo war der Mond, wenn man ihn einmal brauchte? Das Licht seiner Taschenlampe war nicht stark genug. Er war sich sicher, unten auf der Wiese vor der Nordseite der Mauer einen Schatten zu sehen, der sich bewegte. «Hey!», rief er. «Wer ist da?»

Er bekam keine Antwort.

Auch Barbara spähte hinunter. «Was hast du gesehen?»

«Da war jemand. Er hat uns beobachtet. Den Turm beobachtet.»

«Ich sehe nichts», sagte Barbara, nachdem sie mehrmals mit der Taschenlampe hin und her geleuchtet hatte. «Wenn jemand dort lauerte, hast du ihn verjagt. War bestimmt nur ein neugieriger Nachbar.»

Paul kam die Treppe hoch aufs Dach. «Die Sanitäter schicken mich. Das Mädchen ist jetzt wach genug für erste Fragen.»

«Ich rede gleich mit ihm», sagte Cem und wollte schon losstürmen.

Barbara hielt ihn zurück. «Das mache ich. Frauensache.»

«Aber …» Cem sah ein, dass sie recht hatte.

«Was ist das?», rief Paul. Mit seinem ausgestreckten Arm zeigte er nach Norden.

Auf der Wiese, keine einhundert Meter von ihnen entfernt, loderte ein kleines Feuer auf. Es bewegte sich, wanderte ostwärts. Jemand hatte parallel zur Museggmauer eine Spur gelegt, die sich entzündete. Die Flammen loderten nur einen knappen Meter in die Höhe, aber zogen sich bald an die fünfzig Meter dem Boden entlang fort.

Cem hörte ein Pferd wiehern.

«Heilige Maria!», rief Barbara aus. «Seht!»

Cem traute seinen Augen nicht. Vor dem Feuer galoppierte ein Pferd der flammenden Spur entlang. Das Feuer beleuchtete Pferd und Reiter auf gespenstische Weise als schwarze Silhouette. «Ein Geisterreiter.» Täuschte er sich oder hatte dieser Geist rote lange Haare? Die Farbe war im Licht des Feuers schwer zu erkennen.

«Da ist auch ein Hund», sagte Paul, seinen Arm hielt er noch immer ausgestreckt.

Der Reiter zügelte sein Pferd. Das Tier tänzelte nervös im Kreis. Dann gab er ihm die Sporen, und es galoppierte weiter, verschwand ostwärts hinter ein paar Bäumen im Dunkeln auf einer Quartierstrasse. Man hörte noch die Hufeisen auf dem Asphalt aufschlagen. Dann war es still. «Wo will der hin?», fragte Cem. Sie befanden sich hier mitten in der Stadt. «Und wo kam der Teufelsreiter her?» Bereits erlosch die Feuerspur.

«Ein Alptraum», sagte Barbara. «Ich hole jetzt Schnellmann aus der warmen Stube. Ich brauche mehr Personal.»

Der Chef der Kriminalpolizei würde toben, dachte Cem. Ihm war Weihnachten heilig. Aber da Wymanns Posten noch immer nicht besetzt war, musste er wohl oder übel einspringen.

Während Barbara telefonierte, sah sich Cem eine Etage tiefer um. Hier hatte das Mädchen gelegen. Auch hier gab es an den Wänden seltsame Symbole. Cem kniete sich neben das Stroh und wühlte mit der Hand darin herum. Er stiess an etwas Hartes. Er zog den länglichen Gegenstand heraus. Gut trug er seine Handschuhe, sonst würde Metzger von der Spusi lauthals meckern. «Was haben wir denn da?» Cem hielt eine Flasche in der Hand. Es war eine Literflasche aus Glas. Sah aus wie eine Mineralwasserflasche. Das Originaletikett war durch eine Selbstklebe-Etikette ausgetauscht worden. «Grüne Fee» stand darauf. Die Schrift war aus einem Drucker. Die Flasche war fast leer. Cem öffnete den Blechverschluss und roch daran. Absinth. Hässlich. Er leuchtete mit der Lampe auf das Glas. Zwei astreine Fingerabdrücke waren zu sehen. Und der Abdruck von rotem Lippenstift am Verschluss.

Barbara kam die Treppe herunter. «Schnellmann tobt.»

«Sag ich doch.»

«Sagst du?»

Cem grinste. «Hier, eine Flasche Absinth mit Lippenstift und Fingerabdrücken.»

«Wenigstens etwas.» Barbara seufzte. «Überlass die Flasche Metzger und seinem Team. Wir verschwinden hier. Ich will mit dem Mädchen sprechen.»

Vor dem Ambulanzwagen trafen sie auf den älteren Sanitäter, der etwas verloren auf den Turm starrte.

«Wie geht es der Kleinen?», fragte Barbara.

«Fredy ist bei ihr. Sie ist in Ordnung. Medizinisch gesehen. Sie hat viel Wasser getrunken und meinen Schokoladenriegel verputzt. Aber sie spricht nicht.»

«Kein Wort?», fragte Cem.

«Nein.»

«Hat sie Angst?», hakte Barbara nach. «Ist sie verstört?»

Der Sanitäter schüttelte den Kopf. «Nicht sonderlich. Etwas irritiert. Sie weiss nicht, wo sie ist.»

«Kann sie nicht sprechen oder will sie nicht?», fragte Cem.

«Wir müssen das im Spital genauer abklären, aber ich denke, das ist eher psychosomatisch.»

«Kann ich zu ihr?», fragte Barbara. «Vielleicht habe ich als Frau mehr Glück.»

«Sicher.» Der Sanitäter öffnete die hintere Tür des Krankenwagens. «Fredy, kommst du raus? Die Frau Polizistin möchte mit unserem Engelchen sprechen.»

Fredy stieg aus. Er war noch recht jung mit einem braunen Wuschelkopf. Seine markanten, leicht abstehenden Ohren waren nicht zu übersehen. «Wir haben da drinnen gerade stummes ‹Schere, Stein, Papier› gespielt», sagte Fredy. «Engelchen hat mich vier zu drei geschlagen.»

«Danke für den Tipp», sagte Barbara und stieg in den Wagen.

Fredy schloss die Tür.

«Frauengespräche», sagte Cem.

«Kennen wir», bestätigte Fredy und streckte Cem die Hand hin. «Ich bin Fredy. Wenn wir den Heiligen Abend schon bei der Arbeit verbringen müssen, können wir es wenigstens etwas familiärer als üblich angehen.»

Cem wollte gerade Fredys Hand schütteln, als ein herzzerreissender Schrei aus dem Wagen drang.

Das Mädchen!

«Was zum …» Sofort riss Fredy die Tür auf.

Cem sah, wie Barbara verdattert auf der Seitenbank sass. Das Kind hockte auf der Bahre und schrie wie am Spiess.

«Kommen Sie sofort raus!», sagte Fredy. So viel Befehlsgewalt hätte Cem dem jungen Sanitäter niemals zugetraut. Barbara gehorchte. Das war noch viel untypischer.

«Na, na, ganz ruhig», sagte Fredy, stieg ein und setzte sich neben die Kleine. Sie klammerte sich an seinem Arm fest und starrte mit blauen Kulleraugen Barbara an.

«Was hast du mit ihr gemacht?», fragte Cem.

«Nichts», sagte Barbara. «Sie hat mich angesehen und losgeschrien.»

«War wohl nichts mit dem Frauengespräch», nuschelte Cem. «Ich werde es mal versuchen. Mit Fredy hat sie ja auch keine Probleme.»

Barbara nickte. Das hatte sie ganz schön getroffen.

Cem kletterte in den Krankenwagen und schloss die Tür hinter sich. «Hey, Süsse, alles gut. Wir sind deine Freunde. Du musst keine Angst haben.»

Sie starrte Cem an. Er bereitete sich innerlich schon darauf vor, dass sie gleich loslegen würde, aber sie blieb stumm. «Ich bin Cem. Und wie heisst du?» Cem wusste, dass sein Charme beim weiblichen Geschlecht Wirkung zeigte. Er hatte die kleine Elin ebenso auf seiner Seite wie Grosstante Asel aus Istanbul. Aber von Engelchen bekam er eine Abfuhr. Zumindest keinen Namen. Es klammerte sich an Fredys Arm und schwieg.

«Hm», murmelte Cem, «der alte Fredy hier hat mir gesagt, dass du gerne Spiele spielst. Ich kenne da ein ganz tolles! Es heisst ‹Wer bin ich?›, und es ist voll cool, weil du dabei kein Wort sprechen darfst. Wollen wir das spielen, ja?» Er hatte die Aufmerksamkeit der Kleinen, wenn auch ihr Blick misstrauisch blieb.

«Ich fange mit Fredy an, okay? Ich stelle ihm Fragen, und er darf nur nicken oder den Kopf schütteln. Und ich darf so lange fragen, bis ich herausgefunden habe, wer er ist. Spielen wir das?»

Sie nickte eifrig.

«Also gut.» Cem rieb sich die Hände und liess seine Augen vor Begeisterung aufleuchten. «Fredy, wohnst du in New York?»

Fredy schüttelte den Kopf.

«Nein?», rief Cem verwundert aus. «Ja, wohnst du denn in Luzern?»

Fredy nickte.

«Super! Arbeitest du als Polizist?»

Fredy schüttelte den Kopf.

«Bist du Briefträger?»

Fredy schüttelte den Kopf.

«Auch nicht?» Cem kratzte sich am Kinn. «Ah, jetzt weiss ich es. Du bist der Samichlaus!»

Fredy schüttelte den Kopf.

Die Kleine kicherte scheu.

Cem machte weiter. «Dann bist du der Schmutzli? – Das Christkind?»

«Das ist doch der Doktor», rutschte es aus der Kleinen heraus. Als sie ihren Fehler bemerkte, hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Cem versuchte, ihre Reaktion zu ignorieren. «Fredy, bist du der Doktor?»

Fredy nickte euphorisch.

«Super!», jubelte Cem. «Und jetzt zu dir, kleine Lady. Kommst du aus Afrika?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Hm, vom Nordpol? Nein? Kommst du aus der Schweiz?»

Sie nickte.

Das war doch ein Anfang. «Wohnst du in Luzern, so wie Fredy?»

Wieder ein Nicken. Das war gut. Das schränkte den Suchradius enorm ein. Jetzt kamen die heiklen Fragen. «Wohnen Mama und Papa auch in Luzern?»

Sie nickte, als wäre es eine völlig normale Frage. Schien nicht so, als hätte sie Angst vor ihren Eltern. «Hast du eine Schwester?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Einen Bruder? Nein? Ein Haustier?»

Sie nickte begeistert.

«Super! Lass mich raten, du wohnst mit deinen Eltern in einer kleinen Wohnung?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Dann in einem schönen Haus?»

Sie nickte.

Das waren viele gute Hinweise. Sie würden die Identität der Kleinen bald herausgefunden haben. «Willst du zurück zu Mama und Papa?»

Sie nickte.

«Aber du willst mir deinen Namen nicht sagen?»

Sie zögerte.

Also wollte sie ihren Namen verraten, aber etwas hielt sie davon ab. «Hm?» Cem lehnte sich verschwörerisch zu ihr vor und winkte auch Fredy näher. «Ich denke, jemand hat dir verboten, zu sprechen. Ein Geheimnis, richtig?»

Die Kleine nickte.

«Und dieser jemand war eine – eine Frau?»

Das Mädchen nickte und klammerte sich wieder an Fredys Arm fest.

Cem wechselte zum Flüsterton. «Und die Frau hat gesagt, etwas Schlimmes passiert, wenn du mit uns redest?»

Das Mädchen nickte kaum merklich.

«Das bleibt jetzt ein Geheimnis unter uns dreien», flüsterte Cem, «aber ich denke, diese Frau war eine rothaarige Hexe.»

Engelchen begann zu weinen.

ZWEI

Cem sass schon über eine Stunde im Wartezimmer des Kinderspitals, in bester Gesellschaft mit Teddybären und Legosteinen. Ein Hello-Kitty-Kissen kuschelte seinen Kopf an die Wand. Spitalkomfort pur. Wie lange wollte der gute Onkel Doktor die kleine Maus noch untersuchen? Cem wühlte in seiner Jacke, die neben ihm auf einem Stuhl lag, und suchte nach einer Packung Kaugummi. Sie war leer. Er stand auf und streckte seine Glieder durch. Was für eine Nacht. Es war bereits nach ein Uhr. Barbara war noch immer mit der Spusi am Tatort.

Eine Krankenschwester streckte den Kopf ins Wartezimmer. «Herr Cengiz? Von der Polizei?»

«Der bin ich.»

«Ich bin Schwester Doris. Ich werde mich heute Nacht um unseren kleinen Engel kümmern. Dr. Reimers ist mit der Untersuchung fertig. Er will sich zuerst mit Ihnen unterhalten, bevor Sie zu dem Mädchen können.» Die zierliche Krankenschwester führte ihn in Dr. Reimers’ Büro.

«Der Herr von der Polizei», begrüsste der Kinderarzt Cem und reichte ihm die Hand. Ein fester Händedruck. Obwohl Dr. Reimers erst in den Vierzigern war, zierte bereits eine schöne Oberkopfglatze seinen Kopf.

«Cengiz, Ermittler bei der Luzerner Kriminalpolizei. Wie geht es der Kleinen?»

«Körperlich ganz gut.» Dr. Reimers bat Cem, Platz zu nehmen. «Die Laborauswertung liegt noch nicht vor, aber ich vermute, sie hat ein Schlafmittel bekommen. Wir haben auch eine Blutprobe an euer kriminaltechnisches Labor geliefert. Ihr könnt eine Vergiftung besser diagnostizieren als wir.»

«Und sonst?»

Reimers setzte sich auf die Tischkante. «Sonst zeigt sie keine Anzeichen von Misshandlung. Zum Glück.»

Cem atmete innerlich auf. «Spricht sie?»

«Nein. Wir haben alles versucht. Ohne Erfolg. Es ist aber normal, dass Kinder nach der Einnahme eines Schlafmittels Erinnerungslücken aufweisen. Das Mädchen ist gegen Ende der Untersuchung eingeschlafen. Wir müssen bis morgen warten. Ich bin sicher, dann klärt sich alles auf.»

«Wie alt ist es?», fragte Cem.

«Etwa sechs.»

«Und sein allgemeiner Zustand? Lässt der Rückschlüsse zu?»

Reimers strich sich über die Glatze. «Gut ernährt. Gepflegte Zähne – verwahrlost ist es nicht. Aber …»

Cem horchte auf. Er mochte kein Aber.

«Es gibt da schon ein paar Punkte, die wir näher untersuchen sollten. Das Mädchen hat ein Hämatom am Oberarm, das etwa vier bis fünf Tage alt ist.»

«Ist das aussergewöhnlich?»

«Muss nicht sein. Kinder toben herum, da ist es oft ganz normal, dass sie sich blaue Flecken holen. Wir haben auch einen verheilten Bruch diagnostiziert. Das Mädchen hat sich vor etwa zwei Monaten Elle und Speiche gebrochen.»

«Ein behandelter Bruch?»

«Ja.»

«Dann sollten wir ihre Identität bald herausfinden. Könnte sie hier behandelt worden sein?»

«Ich habe bereits veranlasst, dass sich alle Angestellten das Mädchen kurz ansehen. Wir werden auch in den Akten nachsehen. Morgen wissen wir mehr.»

«Kann ich zu ihr?»

Dr. Reimers willigte ein und versprach, gleich den Bericht für die Polizei zu schreiben.

Als Cem in den Korridor hinaustrat, war es fast unerträglich still. Cem mochte Spitäler nicht. Er hasste diesen Geruch nach Desinfektionsmitteln. Im Oktober hatte er stundenlang in solch einem Korridor gesessen, während Wymann operiert wurde. Sein Chef hatte das Spital nicht mehr lebend verlassen. Cem blieb stehen, zog sein iPhone aus der Jeanstasche und wählte Barbaras Nummer.

«Alles gut bei dir?», fragte sie.

«Ja. Die Kleine ist in Ordnung. Sie schläft. Wann kommt die Kollegin, die mich ablöst und bei dem Mädchen bleibt?»

Er hörte Barbara am Telefon schnauben. «Finde du mal heute Nacht eine freie Polizistin. Alle Streifen sind unterwegs. Ist ganz schön was los.»

Cem verstand. Die Auswirkungen der Budgetkürzungen. «Ich denke, Engelchen ist nicht in –» Er hörte ein Geräusch und blickte auf.

Das war doch nicht möglich!

Ein Mann trat in diesem Moment aus dem Zimmer des Mädchens, welches gegenüber dem Treppenhaus lag. Einen Arztkittel trug er nicht.

«Hey!», rief Cem.

Der Mann drehte sich nicht um, steuerte geradewegs aufs Treppenhaus zu.

«Polizei!», rief Cem. «Stehen bleiben!» Er rannte los.

So auch der Mann. Wie von der Tarantel gestochen rannte er die Stufen hinunter.

Cem wollte hinterher, blieb dann stehen. Engelchen! Es war wichtiger. Er schaute sich um. Wo waren die Schwestern und Ärzte, wenn man sie brauchte? Er rannte zurück und stürmte ins Zimmer.

Es brannte gedimmtes Licht. Das Mädchen lag da, ein kleines, zierliches Wesen in einem übergrossen Bett, der Kopf regelrecht verschluckt von dem riesigen Daunenkissen. Es atmete. Allah sei Dank. Der Kerl hatte ihm nichts getan. Dennoch drückte Cem den Knopf, um die Nachtwache zu alarmieren. Cem musste sicher sein, dass das Mädchen okay war.

«Hallo? Cem!»

Barbara! Sie war noch immer in der Leitung. Er hielt sich das Handy ans Ohr. «Ich bleibe heute Nacht hier», sagte er. «Unser Engelchen hatte soeben Besuch von einem Unbekannten.»

***

«Cem. Hallo. Aufwachen.»

Cem stand mit dem Rücken zur Museggmauer und beobachtete, wie Barbara auf einem Hexenbesen an ihm vorbeiflog. «Hä? Was?» Er fühlte nur Schmerz. Sein Rücken explodierte gleich.

«Du bist eingeschlafen», sagte die Frauenstimme.

Er rieb sich die Augen.

Vor ihm stand ein Engel in Uniform, in blauer Polizeiuniform. «Barbara schickt mich. Ich soll dich hier ablösen.»

Cem stand vom harten Stuhl auf, rollte seinen Kopf und schaute hinüber zu Engelchen. Die Kleine schlief. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es bereits nach sechs war. «Danke, ich mach ’nen Abgang. Lass das Mädchen keine Sekunde aus den Augen.»

«Ich wache wie ein Pitbull.»

«Sehr gut. Und nimm dir ein Kissen, dieser Stuhl ist verdammt hart.»

Cem verliess das Zimmer und wollte die Treppe hinunter zum Ausgang nehmen, als er sich daran erinnerte, dass seine Jacke noch im Wartezimmer lag. Er holte sie und ging den Korridor wieder zurück.

Eine Krankenschwester kam ihm entgegen. «Sind Sie von der Polizei? Herr Cengiz?»

«So nennt man mich.»

Die junge Frau schob sich ihre braunen schulterlangen Haare hinters Ohr. «Ich bin Schwester Anita. Dr. Reimers und Schwester Doris sind nach Hause gegangen. Ich soll Ihnen das hier geben.» Sie drückte ihm ein Papier in die Hand. «Der Bericht von Dr. Reimers.»

«Oh, danke.»

«Keine Ursache.»

Cem blätterte in den Papieren, als er das Kinderspital verliess. Viel Neues stand nicht drin, soweit er den Text verstand.

Draussen empfing ihn ein eisiger Wind. Das würden ja tolle Weihnachten werden. Er steckte den Arztbericht in die Innentasche seiner Winterjacke und zog den Reissverschluss bis oben zu. Der Spaziergang nach Hause würde ihm guttun. Cem vergrub die Hände in den Jackentaschen. Irgendwo musste er in dem Trubel seine Handschuhe liegen gelassen haben. Er marschierte los.

Weit kam er nicht. Keine drei Schritte.

Was war das?

Da befand sich ein kleiner Gegenstand in der linken Jackentasche. Den kannte er nicht.

Er war kaum daumengross, rund, eingekerbt.

Cem zog das Ding heraus.

«Mist!»

Auf seiner Handfläche lag ein kleiner weisser Totenschädel.

***

«Das ist Knochen.»

«Du solltest nicht hier sein. Es ist Weihnachten.»

«Unheimlich, nicht?» Sie rollte den kleinen Totenschädel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Ihr roter Nagellack glänzte wie frisches Blut im Neonlicht.

«Alain braucht dich», sagte Cem.

Sie schaute abrupt auf. «Ich weiss.»

Cem verwarf die Hände. Er war mit Eva Roos alleine in seinem Büro. Die anderen waren schon oben. Er hatte sie zurückgehalten. Offenbar ein Fehler. Sie liess sich nicht umstimmen. «Du bist Staatsanwältin, keine Ermittlerin.»

«Ihr seid unterbesetzt, und ich helfe gerne.»

«Machst du auch mal frei?»

«Gestern hatte ich frei.»

«Ein freier Tag im Monat ist nicht genug.» Cem packte sie an den Schultern, nur sanft, aber sie zuckte zusammen. «Lass dir helfen. Sich in Arbeit zu stürzen verdrängt das Problem nur, es löst es nicht.»

Sie sagte nichts.

Cem strich ihr mit dem Daumen über die kleine Narbe, die an der Oberlippe zurückgeblieben war. Diese Schweine! In Cem kochte noch immer die Wut, wenn er daran dachte, was die Russenmafia ihr letzten Sommer angetan hatte.

Eva trat einen Schritt zurück, energisch wie immer. Sie hielt ihm den Totenschädel hin. «Dein Souvenir. Gib es Metzger. Gehen wir. Schnellmann will pünktlich um zehn mit der Lagebesprechung beginnen.» Sie marschierte aus dem Büro, liess nur ihren blumigen Duft zurück.

Das vertraute Klickern ihrer caramelfarbenen High Heels brachte Cem wie immer um den Verstand. Diese Frau. Er schaute ihr nach, wie sie mit erhobenem Kopf im sechsten Stock der Luzerner Polizeizentrale den Flur entlangmarschierte. Heute trug sie ein weisses Kostüm mit tailliertem Blazer und weich fallender Hose. Top gestylt wie immer. Aber Cem kannte Eva gut genug, um zu wissen, dass das nur eine schöne Fassade war. Zu schön. Obwohl er ihr abgeschworen hatte, spielten seine Hormone in Evas Nähe nach wie vor verrückt. Dabei lief mit Lila alles super.

«Kommst du, oder brauchst du eine Extraeinladung?», rief ihm Eva zu.

«Muss wohl», knurrte Cem vor sich hin und folgte ihr zum Lift. Er war müde, hatte nur kurz geschlafen, bevor er wieder ins Büro gekommen war.

Die nächste Herausforderung war die enge Liftkabine. Cem meisterte sie schweigend und ohne Blickkontakt, nur dem Parfüm konnte er sich nicht entziehen. Es war ihm zu vertraut. Er atmete einmal mehr als nötig tief ein. Um sich abzulenken, kontrollierte er den Sitz seiner Weste über dem blauen Hemd und rückte den Bund seiner Jeans zurecht.

Oben war das Team bereits bei Kaffee und Weihnachtsgebäck versammelt. Die Sitzung fiel heute ungewohnt familiär aus. Weihnachten und Budgetkürzungen waren dafür verantwortlich. Ausserdem ging es ja nur um Entführung, leichte Körperverletzung und Sachbeschädigung und nicht um Mord.

Barbara diskutierte mit Karl Metzger von der Spurensicherung, Jörg Schnellmann, der Chef der Kriminalpolizei, telefonierte, und Kevin hämmerte auf die Tastatur seines Laptops ein. Alle blickten auf, als Eva und Cem eintraten. Na toll.

Eva setzte sich zu Barbara.

Cem liess sich neben Kevin in den Stuhl fallen. «Alles okay, Kumpel?»

Kevin zog die Augenbrauen hoch, ohne vom Monitor aufzublicken. «Und bei dir?»

«Ich habe den Heiligen Abend mit einem Engel verbracht», sagte Cem.

«Schon gehört. Das hat Gabi nicht gefallen.»

«Was, dass der Engel mich ausgesucht hat?»

«Dass ich sie wegen deines Engels heute Morgen alleine frühstücken lassen muss.»

Cem boxte Kevin in die Seite. «Deine junge Braut kann dich heute Nacht wieder lange genug knuddeln. Ein paar Stunden wird sie schon ohne dich verkraften. Und nach Neujahr fliegt ihr ja eh in die Flitterwochen. Da werde ich euch nicht stören, versprochen.»

«Wir alle wollen heim zu unseren Familien», begann Barbara, stockte kurz, als ihr der Sinn ihrer Worte bewusst wurde. «Ähm … ich fasse mich kurz.» Sie trat ans weisse Board, den Filzstift schon in der Hand, und zählte die Fakten auf. Anschliessend schrieb sie ein Wort auf das Board: «HEXE».

Es wurde still im Sitzungsraum.

«Das Mädchen hat Angst vor einer rothaarigen Hexe», fuhr Barbara fort. «Das scheint unsere Täterin zu sein. Jedenfalls ist sie besessen von Magie und okkulten Dingen.» Barbara heftete mehrere Tatortfotos ans Board. «Die Wände des Männliturms sind dekoriert mit Symbolen, Zeichen und Gegenständen, die auf einen Hexenkult schliessen lassen. Ich hatte heute Morgen schon ein Telefonat mit Frau Widmer vom Verein für die Erhaltung der Museggmauer. Sie ist entsetzt über den Vorfall. Unser Kollege Bättig ist mit dem Turmwart vor Ort, um den Schaden durch die Schmierereien zu begutachten.»

«Was sagen uns die Zeichen?», fragte Schnellmann.

«Wir suchen noch nach einem Spezialisten auf diesem Gebiet, um das Chaos zu deuten.»

«Was ist mit der Farbe?», fragte Kevin.

«Das war Blut», meldete sich Metzger mit seiner krakeelenden Stimme. «Tierblut, vermute ich. Die Laborwerte stehen noch aus.»

«Was ist mit den Fingerabdrücken auf der Schnapsflasche?», fragte Cem.

Metzger schob seine schiefe Brille zurecht. «Daran arbeiten wir.»